Lily Braun
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Lily Braun

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Viertes Kapitel.

Vom großen Hoffen ohne Ziel.

Am Waldrand im Tale der Wiesent blühte der Rotdorn, die weißen Schlehen und die wilden Rosen; von gelben Butterblumen leuchteten die Wiesen, als habe der Himmel mit vollen Händen sein Gold verstreut. Konrad fuhr heim. Er saß auf dem hohen Selbstfahrer und lenkte die beiden feurigen Füchse, mit denen er am Bahnhof überrascht worden war. Die Obstbäume an der Chaussee waren lauter üppige Blütensträuße; sie standen ganz still und steif, wie geputzte Kinder in der Kirche; jedes Ästchen, durch sein weißes Kleid breit und voll geworden, spreizte sich in seiner Pracht. Von ferne flatterte vom Turme die Fahne der Hochseß: im weißen Felde die leuchtend rote Rose, und über dem verwitterten Torweg prangte ein Eichenkranz, und die Kastanien im Hof glänzten im Schmuck roter Blütenkerzen.

Ein Gefühl befreiten Aufatmens schwellte Konrads Brust. Ihm war, als sei hinter ihm eine schwere eiserne Kerkertür ins Schloß gefallen.

Da standen sie alle und warteten seiner: der alte Habicht, die welken Wangen in dem freundlichen, von langem Prophetenbart umrahmten Greisengesicht freudig gerötet; die beiden Tanten, vertrocknete Mumien, deren heruntergezogene Mundwinkel seine Ankunft doch zu etwas hoben, das einem Lächeln glich; und sie – die Großmutter – die immer Schöne! In weichen Falten, von keiner Mode mehr beeinflußt, umfloß das weiße Gewand ihre hohe Gestalt, über dem vollen silberglänzenden Haar lag ein duftiger Schleier, ein paar Brillanten blitzten in den kleinen Ohren, auf den schlanken Fingern, und die nachtdunklen Augen leuchteten, vom Alter ungetrübt, aus all dem Weiß, wie zwischen Firnschnee der tiefe See der Alpen.

Er sprang vom Bock, kaum daß die Pferde, noch unruhig stampfend, standen; er umarmte sie alle, stürmisch, leidenschaftlich, so daß dem alten Mann die Tränen in die hellen blauen Augen traten, die Tanten mit zitternden Knochenhänden dem Ungestüm wehrten und die Gräfin Savelli, all ihre vornehme Reserve vergessend, ihn minutenlang nicht losließ.

Sie führte ihn in sein Zimmer. Er sah sich staunend um: nichts war verändert, nichts vom Platz gerückt, und doch erschien ihm alles neu, fremd, fast feierlich. War er wirklich immer von diesen schönen, schweren, bronzebeschlagenen Mahagonimöbeln umgeben gewesen? Hatten diese goldenen, ernsten Sphinxe immer die Sessel getragen, hatten sich immer diese Lorbeergirlanden um die Schränke gerankt?

»Du hast sehen gelernt, mein Junge,« sagte die Gräfin auf eine staunende Bemerkung von ihm und streichelte zärtlich sein blasses Gesicht. Er sah sie groß an. Wie verändert seine Augen waren! »Und leben auch!« fügte sie langsam hinzu. »Leben?!« wiederholte er fragend. »Ich weiß nicht, Großmutter. Denn leben heißt schaffen, und ich –« »Schaffst du zunächst nicht dich selbst?« entgegnete sie, ihm mit gütigem Lächeln leise die Wange streichelnd.

Am nächsten Tage, – die Rückkehr des jungen Hochseß wurde in der Nachbarschaft um so mehr als ein Ereignis betrachtet, als sie für eine endgültige gehalten wurde – war der Vetter Rothausen vom Greifenstein der erste, der mit seinem Viererzug vorfuhr.

»Natürlich,« dachte Konrad geringschätzig, »vier armselige Klepper statt zweier anständiger Gäule!« und ihm fiel ein, wie der Greifensteiner sich vor fünf Jahren den Tanzsaal seines Schlosses, der eben noch ein Heuboden gewesen war, von einem Malermeister aus Forchheim mit altdeutschen Figuren hatte bemalen lassen, die er stolz als eine Renovierung entdeckter Fresken ausgab; die Touristen verfehlten dann auch nicht, sie gegen eine Mark Eintritt pflichtschuldigst zu bewundern. »Fortschritt – Fortschritt, meine Herrschaften,« pflegte er den Eingeweihten lachend zu versichern. »Mit der Plempe in der Faust lockten meine biederen Vorfahren den wandernden Koofmichs im Tal die Batzen aus der Tasche. Wir machen's milder.«

»Bist ja ein fescher Bursch geworden,« damit begrüßte er Konrad, während dieser den Damen aus dem Wagen half: der dicken, asthmatischen Baronin, deren Beiname »das Klageweib« von ihm stammte, und dem Töchterchen, der Hilde.

»Bist ja ein süßes Mädel geworden,« hätte er beinahe, ein Echo des Vaters, ausgerufen, wenn ihm nicht rechtzeitig zum Bewußtsein gekommen wäre, daß dieses blonde, weiße, schlanke Ding nach den Wünschen der Tanten seine Frau werden sollte. Schließlich stieg der Stammhalter vom Bock. Potsdamer Gardeulan, der eben auf Urlaub war.

»Ihnen ist wirklich zu dem Enkel Glück zu wünschen, liebe Gräfin,« sagte die Baronin, nachdem sie sich, schwer atmend, auf einen der tiefen Sessel des Salons hatte fallen lassen. »Denken Sie nur, wie gräßlich – eben erst schrieb mir's meine Cousine, die Vicky Heimburg –: Der armen Prinzeß Lyck ihr Ältester muß nun auch nach Amerika! Wenn den eine gute Partie nicht rausreißt! Und doch ist's ein Jammer, daß amerikanische Schweinezüchter immer wieder den Stammbaum verderben!« Sie hatte selbst eine bedenkliche Lücke in der Ahnenreihe – eine ehemalige Kuhmagd oder so etwas –, und suchte sie durch Ahnenstolz um so eifriger auszugleichen, als ihre Erscheinung einen peinlichen Atavismus darstellte.

Indessen versuchte Alex, der Sohn, mit Konrad Berliner Erfahrungen auszutauschen: Weiber – Kneipen – Pferde – der Vetter reagierte nicht. »Ein Stiesel oder ein Duckmäuser,« dachte der junge Offizier geringschätzig. Laut aber sagte er mit gönnerhaftem Lächeln: »Warum besuchst du mich nicht? Könnte dich überall einführen. Wäre doch standesgemäßer als dein Umgang.« »Was weißt denn du davon?« meinte Konrad. »Gott, man munkelt so allerlei,« antwortete der andere ausweichend, »für unsereins, der überall soviel beschäftigungslose Tanten und Onkels herumsitzen hat, ist die Weltstadt doch nur ein Klatschnest.«

»Warum hinterm Berge halten, Junge,« mischte sich der alte Baron ins Gespräch und fuhr, Konrad derb auf die Schulter klopfend, fort: »Du bist nicht staupefrei, mein Bester, und ich möchte dir gleich, noch ehe der Hochsesser Keller sich auftut, ein bißchen auf den Zahn fühlen.«

»Bitte,« lachte der Angeredete, wobei sein tadelloses Gebiß sich enthüllte, »alle zweiunddreißig stehen dir zur Verfügung!«

»Ja, wenn's noch Weibergeschichten wären, wie bei meinem Bengel,« erwiderte Rothausen, »das machen wir schließlich alle durch, ohne uns ernsthaft zu verplempern. Aber statt Frauenzimmer zu karessieren, was doch die reizvollste Beschäftigung ist, –« er schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen –, »fraternisierst du mit den Roten.«

»Bin ich dir, teurer Vetter, wirklich das Goldstück wert, mit dem du den Detektiv auf meine Fersen heftest?« spottete Konrad.

»Nee, mein Junge, dafür gieß' ich mir lieber einen Pommery hinter die Binde! Doch, Scherz beiseite, ich hab's von meinem Sprößling.« »Berghof von unserer Gesandtschaft sprach mir davon,« warf Alex etwas verlegen ein. Und der Alte fuhr erregter fort: »Man hat dich in zweifelhafter Gesellschaft gesehen, mit einem Russen vor allem, dem die politische Polizei ständig auf den Fersen ist, während du unsere Kreise geradezu vermeidest. Ich würde dir nicht so ohne weiteres mit der Tür ins Haus fallen, wenn wir nicht gerade in Bayern Exempel von Beispielen hätten, und das lebhafteste Interesse daran haben, daß der letzte Hochseß ein tadelloser Edelmann bleibt.«

Konrad stieg das Blut in die Stirn. »Dafür zu sorgen, lieber Onkel, wirst du gütig mir selber überlassen,« sagte er scharf. »Im übrigen gehen, wie ich sehe, unsere Ansichten zu sehr auseinander, als daß wir uns verständigen könnten, denn ich glaube bei meinem Verkehr die Würde meines Standes besser zu wahren als die – anderen bei Suff und Spiel und Frauenzimmern.«

Der junge Rothausen hatte eine heftige Erwiderung auf den Lippen, aber das etwas gezwungene Gelächter des Vaters schnitt ihm das Wort ab.

Die Baronin räusperte sich vernehmlich. Sie kannte ihren Mann: ahnte er nur das rote Tuch, so stürmte er blindlings vorwärts, gleichgültig, was für mühsam gezogene Hoffnungspflanzen dabei zertrampelt wurden.

»Du entziehst uns den lieben Hausherrn,« sagte sie zu ihm, ihre harte Stimme zu den sanftesten Flötentönen zwingend, und zu Konrad gewandt: »Er hat Sie sicher ins Gebet genommen! Gott, er hat so strenge Grundsätze –!« Konrad unterdrückte ein Lächeln. Der Skandal mit Hildens Gouvernante fiel ihm ein, der selbst ihm, dem Knaben, nicht verborgen geblieben war. »Aber die Jugend von heute will austoben, nicht wahr?« fuhr sie fort, »natürlich ohne die ehrenhaften Traditionen der Familie zu verletzen.«

Konrad sah unwillkürlich zu den Tanten hinüber: »Die Traditionen der Familie!« bei dem geringfügigsten Anlaß hatte er sie über dies Thema predigen hören. Sein Blick blieb an der Gruppe hängen: die beiden dürren Gestalten mit den farblosen Gesichtern und Hilde, das blühende Leben, zwischen ihnen. Doch im Augenblick, da er sich an dem Gegensatz weiden wollte, war ihm, als fiele ein Schleier von seinen Augen: sie waren ja Blüten von einem Stamm, die Natalie, die Elise und die Hilde! Nur, daß die eine im Frühling des Lebens stand. Die niedrige Stirne, die leeren, grünen Augen, der schmale Mund, das zurückfliehende Kinn, die schlanke Gestalt – nehmt ihnen die Farbe und die weiche Rundung der Jugend, und es bliebe nichts – nichts als: Fledermäuse!

Die Baronin war Konrads Augen gefolgt; sie lächelte vielsagend zu ihrem Mann hinüber.

»Nun aber sind Sie wieder der Unsere und werden das Erbe der Väter übernehmen, das Ihnen die liebe Gräfin so treulich verwaltet hat,« sagte sie salbungsvoll, ihm die kurze runde Hand auf den Arm legend. Es war wie eine Besitzergreifung.

»Nein, Frau Baronin,« antwortete er und lächelte die Großmutter an, die eben, da die Flügeltüren zum Eßsaal sich öffneten, den Arm in den Rothausens legte, »dafür sind wir beide noch zu jung – die Großmutter und ich.«

Für die nächsten zehn Minuten schien der Redestrom der Baronin versiegt. Konrads gute Laune sprudelte dafür über. Er fühlte sich auf einmal stark und reich, ein Gewachsener, ein Freier vor allem, für den keiner dieser Menschen irgendeine Bindung bedeutete. Auch daß er sich von der Heimat frei fühlte, ganz frei, kam ihm zu frohem Bewußtsein. Selbst die ruhige Hilde – man hält für vornehme Zurückhaltung, was oft Dummheit ist, dachte er – wurde lebendiger.

Und Rothausen, schon gerötet vom Wein, spielte der Gräfin Savelli gegenüber den Galanten, was sie mit einem gnädigen ein ganz klein wenig spöttischen Ausdruck entgegennahm, während sich auf den Gesichtern der Tanten die seit zwanzig Jahren nie überwundene Entrüstung über die »kokette Italienerin« spiegelte.

»Welch eine Künstlerin ist die Sonne Italiens,« sagte er, ihre Hand an die Lippen ziehend, »daß sie den Frauen unsterbliche Lilienfinger wie diese wachsen läßt –«

»Und Trauben, wie jene,« lächelte die Gräfin, zur Türe weisend, in der Giovanni, der sein Amt als Kellermeister wieder angetreten hatte, erschien, einen flachen Korb mit zwei alten Flaschen Chianti im Arm. Er trug ihn zärtlich, als wäre ein Kind darin, und entkorkte die Flaschen langsam, andachtsvoll, und ließ den dunkelgoldenen Wein feierlich in die Gläser fließen, so daß er zuletzt niedertropfte, schwer wie Öl. Rothausen verstummte, in den Anblick des köstlichen Trankes versunken. Erst als Giovanni gegangen war, hob er ihn an die Lippen und frug, nachdem er, den Genuß vorbereitend, den süßen Duft gesogen hatte: »Die schönsten Knaben von Capri sollten seine Schenken sein! Warum sind Sie in diesem einzigen Falle so stillos, Frau Gräfin, und wählen dafür den widrigen Zigeuner?«

Das Ausbleiben der Antwort, ein vorwurfsvoller Blick seiner Gattin schienen ihn an das Gespenst in diesem Hause plötzlich zu erinnern: an den mysteriösen Zusammenhang zwischen der Gräfin Lavinia und dem Seiltänzer. Er würgte mit einigen Bissen Brot seine Verlegenheit hinunter, um bald darauf um so gesprächiger und lauter zu werden, so daß jede andere Unterhaltung notgedrungen verstummte. Die ganze Nachbarschaft wurde durchgehechelt, kein Räuspern, kein vielsagender Blick auf die Tochter und die Baronessen, die alle drei krampfhaft auf ihre Teller sahen, vermochte seinem Redeschwall Einhalt zu tun; die Gräfin Savelli verstand es schließlich mit der großen Kunst ihrer Gesprächsbeherrschung, ihn abzulenken. An den Bericht einiger toller Streiche junger Majoratserben knüpfte sie an.

»Abenteuerlust liegt nun einmal im Blute des Adels,« sagte sie, »und findet heute so selten einen erlaubten Ausweg.«

Alex, der sich bisher ganz in die Genüsse der Tafel vertieft hatte, sah mit einem aufleuchtenden Blick zur Gräfin hinüber.

»Nanu!« brummte der alte Rothausen, verwirrt durch die Abschweifung, »uns fehlt's doch nicht an Möglichkeiten, ihr zu frönen: die Aeronautik, der Sport –«

»Wobei man Courage lernt und weiß nicht wozu, und die Muskeln stählt und weiß nicht warum!« rief Alex mit unterdrückter Erregung aus. »Oder ist's vielleicht ein unserer würdiges Ziel, in der Luft oder auf dem grünen Rasen eine neue Art Clown vor dem gaffenden Mob zu spielen?!«

Konrad nickte und bat dem Vetter in der Stille ab, was er an Groll gegen ihn empfunden hatte. »Wobei der Clown auch noch ein Geschäftsmann ist,« ergänzte er, »und aus einstmals heldischen, an idealen Aufgaben sich erprobenden Eigenschaften Kapital schlägt.«

»Ich sympathisiere durchaus mit meinen jungen Freunden,« sagte die Gräfin, »das alles ist ein für uns lebensgefährlicher Amerikanismus, der, wenn er nicht noch durch irgendein Machtgebot mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu werden vermag, uns des Besten und Höchsten berauben kann, was wir haben – wir: damit meine ich alles, was wahrhaft vornehm ist – der Fähigkeit nämlich, uns für eine große Sache nur um ihrer selbst willen einzusetzen. Jenen Abenteuermöglichkeiten, die Sie vertreten, lieber Baron,« damit wendete sie sich wieder ihrem ein wenig verdutzt dreinschauenden Nachbarn zu, »fehlt die Hauptsache, ein fernes, traumhaft verschwimmendes Ziel, wie es zum Beispiel die Kreuzfahrer hatten.«

Rothausen unterbrach sie mit schallendem Gelächter. »Verzeihen Sie, teuerste Gräfin, verzeihen Sie,« sagte er dann, sich die Tränen aus den Augen wischend, während sie ihn sehr kühl und sehr von oben herab betrachtete, »ohne es zu wissen, haben Sie Ihrem Enkel eine kostbare Waffe zur Verteidigung etwaiger späterer Seitensprünge geliefert und die rote Couleur unserer liebwerten Standesgenossen, der Vollmar und Haller, erklärt. Der Zukunftsstaat ist gewiß ein noch traumhafter verschwimmendes Ziel, als die Eroberung des Heiligen Grabes es jemals gewesen ist.«

Konrad war plötzlich ernst geworden: seine unbestimmte Sehnsucht, sein Suchen, ohne recht zu wissen wonach; seine Ernüchterung, sein Sichzurückziehen, sobald irgendein dunkel geahntes Ziel in greifbare Nähe geriet – war das Abenteuerlust – nichts weiter? »Kreuzfahrer und Sozialisten haben ein Gemeinsames: daß sie aus einer gefestigten Überzeugung in den Kampf gehen, während Abenteurer nur das Erlebnis suchen. Das übersiehst du, glaube ich, Großmutter,« sagte er nachdenklich.

»Das klingt schöner, heldischer – zweifellos,« antwortete sie, »aber für Raubritterblut wird Abenteuerlust stets das Primäre sein. Sie vergaßen übrigens,« damit wandte sie sich Rothausen zu, »jener anderen Kategorie unserer Standesgenossen, die Ihnen am nächsten liegt: der Vertreter konsequenter Reaktion. Sie sind desselben Geistes. Oder wäre Patriarchalismus und Absolutismus für uns Heutige nicht auch ein Märchen? Echte Adlige werden Sie immer in den Extremen sich bewegen sehen.«

»Sie anerkennen in einem Atem«, warf Rothausen erheblich ernüchtert ein, »Reaktionäre und Revolutionäre. Wenn das mehr ist als ein neues Zeichen Ihrer unvergleichlichen Liebenswürdigkeit, Ihres ausgleichenden Taktes als Wirtin, so –«

»Denken Sie beim Kaffee auf der Terrasse darüber nach, lieber Baron,« entgegnete die Gräfin aufstehend, »wir wollen uns doch den schönen Abend da draußen nicht entgehen lassen.«

Beim Hinausgehen drückte Konrad die Hand des Vetters besonders herzlich. »Ich begreife nur eines nicht,« sagte er dann, »daß du bei deinen Ansichten Offizier werden konntest. Man lernt Courage und weiß nicht wozu, man stärkt die Muskeln und weiß nicht warum – gilt das heute nicht in erster Linie für das Soldatsein?«

»Im Augenblick könnt's fast so aussehen,« antwortete Alex, »und doch ist's immer noch der einzige Edelmannsberuf. Denn siehst du« – dabei legte er im Weitergehen vertraulich den Arm in den Konrads – »er ist der einzige, für den man nicht bezahlt wird. Bei den paar hungrigen Kröten, die ein Offizier bekommt, würde selbst ein geborener Hungerleider darben. Man gibt nicht nur sich selbst, man gibt auch seinen Mammon. Und dann,« seine wasserblauen Augen verdunkelten sich, »wir haben die Hoffnung auf das Große, auf das Abenteuer, wie deine Großmutter sagt, auf Säbelgeklirr und Kugelgepfeif. Dabei wär's mir gleichgültig, ob's gegen deine Freunde, die Roten, oder gegen Franzosen und Briten ginge.«

»Und wenn deine Hoffnung am Revisionismus der Roten und am Pazifismus Europas, lauter Symptomen der Altersschwäche, zuschanden wird?«

Alex zuckte die Achseln: »dann bleibt unsereinem als Lebensinhalt, worüber du erhaben zu sein behauptest,« antwortete er, »die Karten, der Wein, die Weiber.«

»Klägliche Surrogate für Todesmut, Siegesjubel, Blutrausch!«

»Kläglich?! Na –« und mit einem amüsierten Seitenblick auf den puritanischen Vetter lachte Alex vielsagend. Dann erzählte er ihm frivole Geschichten. Als sie schließlich im Park die anderen wiederfanden, begannen die banalen, allgemeinen Unterhaltungen aufs neue.

Der Rothausensche Wagen stand schon vor der Türe, aber noch gab es eine phrasenreiche Auseinandersetzung zwischen den Tanten und der Baronin.

»Lassen Sie uns doch das Hildchen, Cousine!« flehten wie aus einem Munde Elise und Natalie.

»Unmöglich! Unmöglich, Liebste! Sie ist auf eine so gütige Einladung doch nicht im mindesten vorbereitet!« lautete die Antwort. »Was macht das?« meinte Natalie, den Arm um die Schulter des Mädchens legend, »solch süßes Kind bedarf doch nicht großstädtischer Toilettenkünste, ein Kamm, ein Nachthemd findet sich schon für sie, und die Kinder hätten dann Zeit, ihre alte Freundschaft zu erneuern.«

Nach langem Zieren, dem erst der rauhe Befehl des Vaters ein Ende machte: »Die Pferde werden unruhig!« – ach, sie standen mit krummen Knien mäuschenstill! – übergab die Baronin ihr »Kleinod« den Tanten. Es zeigte sich, daß sie doch nicht so ganz unvorbereitet gewesen sein mußte, denn Hildes Pompadour enthielt sogar die Brennschere, mit der sie in ihre straffen Haare kleine regelmäßige Wellen zu brennen pflegte.

Konrad seufzte. Er erinnerte sich der leersten Stunden seiner Kindheit mit dieser »Freundin«. Das Wahnsinnigste hatte er behauptet, nur um sie zum Widerspruch zu reizen, und immer war ihre Antwort, von gläubigem Augenaufschlag begleitet, dasselbe »Ja« gewesen. Sie schien sich in Gegenwart von Männern ihrer eigenen Nichtigkeit in einem Maße bewußt zu sein, das alles Persönliche in ihr auslöschte.

»Die alten Nachteulen!« dachte er grimmig, »müssen sie mir auch noch das Zuhausesein verderben!«

Er kümmerte sich nur soweit um sie, als es die Höflichkeit notwendig machte, aber es störte ihn schon, wenn sie nachmittags mit ihrer unvermeidlichen Weißstickerei am Teetisch saß und jeder Aufblick ihrer runden Augen ihm galt.

»Auf den Mann ist es dressiert, das Gänschen,« sagte er eines Abends verärgert zur Großmutter.

»Mußt es dem Mädchen nicht nachtragen, Konrad,« meinte diese, »nicht sie, sondern die Eltern haben das zu ihrem einzigen Lebensinhalt gemacht. Sie werden es einmal gräßlich büßen müssen!« Ihr Gesicht versteinte sich förmlich in rückschauendem Leid.

Von da an widmete er ihr hier und da ein freundliches Wort, was ihm stets ein verlegenes Lächeln eintrug. Nur als er entdeckte, daß die Greifensteiner mit dem Karren der Botenfrau einen Reisekorb für das Fräulein herüberschickten, der auf eine Verlängerung ihres Aufenthaltes schließen ließ, erstarb all sein guter Wille, und er zog sich hartnäckiger als vorher von ihr zurück.

Auf dem Turm saß er und träumte in die Welt hinaus. Im Walde, unter den großen Buchen lag er und horchte in sich hinein. Wie oft er Elses gedenken mußte, ohne Sehnsucht freilich und ganz ohne Verlangen, aber mit einer weichen Zärtlichkeit, die ihm das Herz warm machte! Er sah ihr zartes Gesicht, unschön, im Vergleich zu dem der Greifensteinerin, und doch durch sein lebhaftes Mienenspiel, seinen wechselnden geistig belebten Ausdruck von unerschöpflichem Reiz. Warum sie nicht antwortete? Schon zweimal hatte er ihr geschrieben! Ob es das Glück war, das ihr keine Zeit dazu ließ, oder der Kummer, der sie verstummen machte? Er bat Warburg, der den ganzen Sommer in Berlin bleiben wollte, selbst die Einladung nach Hochseß ablehnend, sich nach ihr umzusehen. Aber auch dieser schrieb zunächst nicht. Es war, als sollte jene Welt für Konrad ganz versinken.

An einem glutheißen Maientag saß er beim alten Giovanni, der neuerdings allerlei seltsames Getier in seinem Stübchen züchtete und dressierte. Eine große exotische Eidechse, der zuliebe er jetzt sogar den Ofen heizte, beschäftigte ihn besonders; sie saß am liebsten auf des Alten Schulter oder kletterte auf seine Glatze, von wo aus sie mit der langen blauen Zunge Fliegen fing. Auch eine Schildkröte hatte er, mit einem sonderbar verständigen alten Menschengesicht; sie watschelte schwerfällig auf Giovanni zu, sobald er sie beim Namen rief, und schüttelte wehmütig den Kopf, wenn ihr ein anderer als sein Herr Futter zu reichen versuchte. Und in einem Winkel des Zimmers gab es ein großes Gestell aus alten Scheiben und Medizinflaschen, in dem ein Volk fleißiger Ameisen unermüdlich hin und her kroch.

»Bei den Tieren erholt sich so einer wie ich, der nicht sterben kann, von den Menschen,« murmelte der Alte vor sich hin, Konrad scheinbar keinerlei Beachtung schenkend. »Zuerst möchte man die ganze Welt umarmen, dann wird einem ein Ameisenhaufen zur ganzen Welt.«

»Ist dies das Alter?« dachte Konrad gequält. »Wer suchte dann nicht als Jüngling den Tod?« Und laut sagte er: »Du willst am Ende noch einmal auf den Jahrmarkt gehen? – Und die Tiere den Menschen vorführen?«

»Nein! dazu sind sie mir zu schade,« antwortete Giovanni, die Blicke zärtlich auf die Eidechse richtend, die gerade langsam an seinem Arm emporkroch, während die Schildkröte geduldig mit eingezogenen Gliedern als Fußbank vor ihm lag.

Da klang aus der Ferne Gitarrenton. Der Alte fuhr auf, so daß die Eidechse herunterrutschte. Konrad lachte: Musik –, und Giovannis Menschenverachtung war verflogen. Näher und näher kam es. Sie gingen beide über den Hof bis zum Torbogen und sahen die Straße hinab. »Dort – dort – ein gelber Wagen – Kunstreiter sind's,« rief Giovanni aufgeregt und preßte beide Hände auf das wild klopfende Herz. »Ich sehe nichts – gar nichts; ich höre nur,« antwortete Konrad.

Da kam's um die Ecke, ein bunter Zug von Mädchen und Knaben, helle Stimmen: »Es steht ein Baum im Odenwald, der hat viel dürre Äst' . . .«

Eine ging voran, kraftvoll ausschreitend im flatternden blauen Kleid mit weißer Schürze, am gelben Band die Laute über der Schulter; die sonnengebräunte Rechte spielte darauf; über dem runden Gesicht, glühend wie reife Pfirsiche, wehten, von keinem Hut und keinem Kamm gehalten, die roten Haare.

»Grüß Gott, Herr Junker!« rief sie lustig, vor Konrad stehen bleibend.

»Grüß Gott, Herr Junker!« echote die ganze Schar.

»Gibt's frisches Wasser und Mittagsschatten für uns hier droben?« frug das Mädel, mit blitzenden Augen den vor ihr Stehenden freimütig musternd. »Arm sind wir am Beutel, doch reich an Gesang! Der soll's Euch vergelten!«

»Wenn das alles ist, was ihr wollt!« lachte er fröhlich – es war ihm auf einmal, als wehe würzige Bergluft durch das altersgraue Tor in die Schwüle – »dort habt ihr's beieinander: den Brunnen und die Kastanien.«

Und singend zogen sie ein.

Alle Schloßbewohner liefen zusammen: die Mägde aus der Küche, die dicke Mamsell, noch mit dem Schaumlöffel in der Hand, von dem die Sahne weiß heruntertropfte; die Burschen aus den Ställen, Halfter und Striegel in den Fäusten; die Tanten aus dem Garten mit echauffierten Gesichtern, die sich beim Anblick der sich lagernden Jugend zu abwehrender Entrüstung verzogen.

»Wer erlaubte den Leuten –« rief Natalie. Sie sprach nicht zu Ende. »Ich!« antwortete Konrad. Und sie duckte den Kopf mit bösem Augenblinzeln.

Jetzt kam auch Hilde Rothausen aus der Haustür, ganz weiß, ohne Fleckchen und Fältchen, den großen Mullhut auf dem Scheitel, Halbhandschuhe an den Händen. Mit erhobenen Armen trat ihr Elise entgegen: »Geh, Kind, geh! daß du mit der Gesellschaft nicht in Berührung kommst!« Sie wollte schon gehorchen, warf nur noch auf Konrad einen fragenden Blick. Aber er sah an ihr vorüber; nie war ihm das Mädchen in seiner tadellosen Wohlerzogenheit so lächerlich vorgekommen. Gesenkten Kopfes folgte sie den Tanten.

Da erschien die Gräfin unter der Haustür, mit einem Blick das Bild vor ihr umfassend: »Welch fröhliche Gäste haben wir heute,« sagte sie freundlich. Und sie sprangen alle auf; sie fühlten die Herrin. Die Rothaarige trat aus dem Kreise; wohlgefällig blieben die Blicke der gütigen Frau auf ihr ruhen.

»Woher, wohin, ihr fahrenden Sänger?« fragte sie lächelnd.

Das Mädchen griff in die Saiten der Laute, und brausend fiel der Chor der jungen Stimmen ein:

»Ob Forchheim bei Kirchehrenbach
Woll'n wir zu Berge steigen,
Dort schwingt sich am Walpurgistag
Der Franken Mainachtsreigen –«

Indessen brachten die Mägde Körbe mit Erdbeeren und Schüsseln voll süßer Sahne. Jubelgeschrei empfing sie.

»Fahrende Sänger zu bewirten, ist alter Brauch auf Hochseß,« damit wehrte die Gräfin allzu stürmischem Dank, »und gerade für euch, scheint mir, ließ die Sonne so rasch unsere ersten Früchte reifen.«

»Noch heut bis nach Kirchehrenbach?« staunte Konrad, während die ganze Schar, behaglich gelagert, schmauste.

»Wenn's sein muß, bis Nürnberg auch!« rief keck ein Bürschlein mit vollem Mund, und eine schwarzhaarige Kleine fiel ihm ins Wort: »Geleit uns!«

»Wenn's erlaubt ist!« entgegnete Konrad.

»Fahr' die Mädchen hinüber,« wandte sich die Gräfin an ihn.

Doch die Rote erhob sich rasch: »Schönen Dank, gnäd'ge Frau, doch wir wandern!« Und mit einem lachenden Blick auf Konrad: »Wer mit uns tanzen will, der wandert mit!« Sie streckte ihm die Hand entgegen, er schlug ein; der feste Druck eines Kameraden war's, den er spürte.

Durchs Tor hinaus, mit Sang und Klang, zog die Schar; die roten Locken, das blaue Kleid flatterten wieder voran.

»Wohlauf, die Luft geht frisch und rein,
Wer lange sitzt, muß rosten;
Den allersonnigsten Sonnenschein
läßt uns der Himmel kosten« – – –

Giovanni lehnte an der grauen Mauer; bis weithin erkannte er noch an der hohen Gestalt und dem federnden Gang den Konrad, »Jugend!« flüsterte er müde und schlich zum Turm zurück, zu den Eidechsen und der Schildkröte.

»Drum reicht mir Stab und Ordenskleid
Der fahrenden Scholaren,
Ich will zur guten Sommerzeit
Ins Land der Franken fahren . . .«

Droben am Fenster stand die Gräfin Savelli. Sie lauschte. Am vollen Ton erkannte sie unter allen Stimmen die ihres Enkels. »Jugend!« lächelte sie, und traumverloren glänzten die dunklen Augen.

Mit einem letzten aufleuchtenden Blick, der des Tages Glanz in eine Glut zusammenfaßte – so wie Liebende sich trennen, deren Abschied die ganze Wonne des Erinnerns, die ganze Vorfreude des Wiedersehens spiegelt, – war die Sonne untergegangen, als auf dem sagenumwobenen Walberla, der einsam und steil aus dem Tal emporstieg, das Leben erwachte. Allerlei Landvolk nahte sich der kleinen Kapelle der heiligen Walpurgis, mit deren Gründung die ersten Verkünder des Gekreuzigten den Kult des Sonnengottes an dieser uralten Weihestätte zu vernichten glaubten. Und von der anderen Seite, das Graubachtal bergauf, kamen die Hochsesser Gäste. Immer lauter mischte sich ihr Lied in das Gebetemurmeln der Frommen, bis sie es zuletzt jubelnd übertönten.

Konrad war der erste, der auf der kahlen Kuppe erschien und sich aufatmend ins Gras warf. Nicht aus Müdigkeit, denn drunten an der kleinen Mühle, deren Räder die silbernen Wellchen der Wiesent wie lustig spielende Kinder bewegten, hatten sie lange gerastet. Aber da waren die Stimmen, die im Gesang harmonisch zusammenklangen, im Gespräch schrill genug aneinander geraten. Und nun verfiel Konrad in mißmutiges Grübeln über all das Bunte, Widersprechende, das er gehört und durch das die Feierstimmung jäh unterbrochen worden war.

Einer hatte das Signal zum ersten Geplänkel gegeben: »So laßt doch endlich das Gegröl und Gezupfe,« hatte er übellaunig gerufen, »gerade, als ob wir nichts anderes könnten.«

Danach war der Streit über Ziel und Inhalt der Jugendbewegung, als deren Glied sie sich betrachteten, losgebrochen. Für die Freiheit der Persönlichkeit, für gemeinsame Erziehung der Geschlechter, für freie Schule, für Bodenreform und Abstinenz waren die Fünfzehn- und Sechzehnjährigen gegeneinander eifernd eingetreten, und das Erstaunen über ihr Wissen und Nachdenken hatte Konrad zunächst den Vorgängen nur wie ein Zusehender folgen lassen. Dann aber wurde der Sturm zum Orkan: gegen die Lehrer, gegen die Eltern, gegen Juden und Sozialdemokraten, gegen Schule und Religion tobten sie und überschrien einander, jeder, das rote Tuch, gegen das er wütete, für den Feind an sich erklärend, gegen den alle sich verbinden sollten.

»Jetzt lachen und singen sie wieder,« dachte Konrad, verstimmt über sich selbst, »nur mein Lebensgefühl wirft jeder verquere Wind aus dem Sattel.«

»Hallo, Sie Faulpelz!« rief eine lustige Stimme neben ihm, »wer nicht Holz zum Scheiterhaufen trägt, muß zusehen, wenn wir tanzen!«

Er sprang auf die Füße und schichtete den Reisig um die Wette mit den anderen. Das lief und hüpfte im Dunkel herum, das verkroch sich im Buschwerk und tauchte daraus hervor, das kletterte auf die Bäume und flog hinunter, wie ein Völkchen aufgescheuchter Nachtalben. Stumm sah das Landvolk, das von der Kapelle aus neugierig zusammenlief, dem Treiben zu, bis es sich, angesteckt vom Eifer der anderen, munter hineinmischte.

Hoch ragte bald der schwarze Holzstoß; dann ein Schwelen, ein Knistern; kleine Flammenzungen leckten gierig empor, als wollten sie erst die Speise versuchen, die ihnen winkte. Und plötzlich, entfesselt, stieg aus der Mitte, siegreich lodernd, die Flamme. Mit roter Glut malte sie die jungen Gesichter, in aller Augen spiegelte sie sich.

Und jetzt schleppte ein jeder noch die letzten schwarzen Scheite heran.

»Die Schulmeister!« – »Die Philister!« – »Die Protzen!« – »Die Vaterlandslosen!« – »Die Ausbeuter!« – »Die Dirnen!« – Bei jedem Ruf prasselte dürres Holz ins Feuer und der ganze Chor rief schmetternd: »Sie brennen!«

Dann sprang einer hervor, den ganzen Arm voll raschelnder Zweige. Er schleuderte sie, weit ausholend, in die Flammen.

»Die Intellektuellen!« schrie er. »Sie brennen – brennen!« jubelte es ringsum. Dann ward es still. Andächtig hoben sich die jungen Gesichter zu der himmelan steigenden Feuersäule, und die Augen strahlten von innen erleuchtet durch eine Begeisterung, die siegestrunken die schwarze Himmelskuppel zu durchbrechen strebte.

»Lodre empor! Allen Nachtalben ein Schrecken!« klang es schließlich feierlich durch die Runde wie die in einem Ton verschmolzene Stimme aller.

»Die Feuerrede,« ging's flüsternd von Mund zu Mund, und um den Sprecher, einen Knaben noch, mit schmaler Brust und langen Gliedern, der bisher kaum gesprochen, aber mit großen Augen alles um sich her in sich gesogen hatte, sammelten sie sich.

»Wir haben uns gestritten, wer wohl unserer Feinde ärgster sei! Und haben uns eben vereint, sie gemeinsam zu vernichten. Sammeln wir weiter trockene Scheite, dürre Blätter, die junge Keime zu ersticken drohen. Nehme jeder den Feind aufs Korn, dem er gewachsen ist, und wir, die große Armee der Jugend, über die schwarz-rot-gold die deutsche Fahne weht, schlagen sie alle! –« Konrad horchte auf: sollte vom Munde des Unmündigen ihm kommen, was er ersehnte? – »Wider Knuten und Ketten kämpfen wir. Wider Autoritäten, die uns, wie die Gärtner den jungen Obstbaum, in ihre Formen, an ihre künstlichen Spaliere zwingen wollen. Und Ungeziefer und Giftpflanzen rotten wir aus: die jüdische Gesinnung, die uns dem Golde statt der Ehre nachjagen, den welschen Geist, der uns Wollust statt Freundschaft wählen läßt. Aber mit dem Namen der ärgsten unserer Feinde das Feuer dieser Sonnwendnacht zu schüren, blieb dem letzten der Sprecher vorbehalten, und wie sein Reisig in die Gluten fiel, so fiel sein Ruf in unsere Seelen, daß sie hellauf loderten: die Intellektuellen! Wie sie die Kräfte der Natur in Kessel und Flaschen und Drähte bannten, so handeln sie an unseren Seelen. Wehe, wenn wir ihnen zum Opfer fallen! Dann ist des Germanentums letzte Stunde gekommen. Wir sind zähe Arbeiter – aber wir werden an der Arbeit zugrunde gehen, wenn wir verlernen, freudig Feiernde zu sein. Wir verstehen, zu erwerben, und werden auf unserem Golde bei lebendigem Leibe verfaulen, wenn wir uns zu opfern nicht mehr vermögen. Wir sind tiefe Grübler – und leer, leer und arm und kraftlos hinterläßt uns all unsere Weisheit, wenn wir nicht große Gläubige sind –«

»Glauben – woran!« sagte jemand sehr leise. Konrad war's, als wäre es seine Stimme gewesen.

Der Redner brach ab. Man kicherte verstohlen. Die Flamme sank. Der Kreis löste sich da und dort, um dem Feuer neue Nahrung zu holen.

»Geloben wir einander in dieser Stunde –« war das nicht der Tonfall des Oberlehrers an Kaisers Geburtstag? Konrads Stirn aber schwoll: daß jeder Steigende heute vor dem Gipfel zum Absturz kam! War's Schwäche, Feigheit, Verhängnis? »Geloben wir: Keuschheit, Treue – mit einem Wort: Deutschsein.«

Nur wenige hatten noch zugehört: vereinzelt ertönte ein beifälliges Wort; verletzt, beschämt, verlor sich der Redner unter den Bäumen. Konrad folgte ihm; irgend etwas hatte das Dunkel seiner Seele plötzlich erhellt wie der Blitzstrahl in der Nacht, der dem Verirrten den Weg zeigt. Er reichte dem Knaben, in dessen Wimpern noch eine Träne des Zornes hing, die Hand, und ein paar andere, die ihm aus dem Wege gegangen waren, wie das Publikum stets dem Erfolglosen, gesellten sich zögernd und neugierig wieder zu ihm.

»Lassen Sie sich's nicht anfechten,« sagte Konrad, »es geht uns allen nicht anders: wir möchten das Große sagen, das wahrhaft Begeisternde, Richtunggebende, aber: – wir kennen es selbst noch nicht. Und dann kommen uns die Worte zu Hilfe – die leeren Worte. Statt des brausenden Wassersturzes, den alles erwartete, das ausgetrocknete Flußbett.«

»Sicher, sicher,« meinte einer der Umstehenden eifrig; »das ist's ja, warum wir immer wieder auseinander kommen.«

»Die leeren Worte –« nickte traurig der Knabe.

»Das dürfte uns nicht entmutigen,« fuhr Konrad fort, »denn sehen Sie, und keine alte Weisheit ist's, sondern eine, die ich in Ihrem Kreise – eben erst! lernte, daß wir, daß die ganze Jugend diese Leere fühlt, ist doch schon ein ungeheurer Gewinn. Wissen, Persönlichkeit, Freiheit – das war die Parole von gestern. Wir suchen Unterordnung, Unterordnung unter eine Idee. Freilich: wir haben sie nicht, doch daß wir sie suchen, eint uns.«

Es war zuletzt wie ein Selbstgespräch; er fühlte, daß ihn die anderen kaum noch verstanden. Sie schauten schon wieder nach oben, wo, von vielen Armen hineingeschleudert, Holzbündel in die Gluten prasselten. Nur der Redner von vorhin stand noch wie angewurzelt neben ihm.

»Durch Himmel und Hölle such' ich sie, ich schwör's!« rief er dann, sich ihm leidenschaftlich in die Arme werfend.

Hochauf, strahlender als zuvor, denn wie schwarzer Samt stand jetzt der Himmel dahinter, züngelten die Flammen. Und in das Knistern hinein tönte eine helle Mädchenstimme:

»Ein Gelöbnis forderte er wie der Priester vom Firmling, wie der Kriegsherr vom Rekruten? Euer aller Antwort sei: Nein – nein – nein! Steigt zum Firmament unser Feuer empor, weil es gelobte, nicht zu fallen? Breitet die Eiche ihre schwarzen Zweige aus, weil sie versprach, groß und stark zu sein? Und zog der Kirschbaum sein Blütenkleid an, weil er den Schwur leistete, fruchtbar zu werden? Nein – nein – nein! Noch einmal sag' ich's. Nur wir laßt uns sein, nur wir! Keine Sklaven, auch die eines Eides nicht. Und nicht nüchtern, sondern allzeit berauscht – berauscht vom Leben!«

Tosender Beifall, Zuruf und Händegeklatsch umbrausten das Mädchen. Kräftige Jünglingsarme hoben sie hoch empor.

»Lotte – die rote Lotte!«

Ihre Locken wehten, dem Feuer vermählt.

»Vorsicht!« rief irgendein Ängstlicher.

»Ich und die Flamme sind Freunde!« jauchzte sie.

Dann sprang sie zur Erde und führte den Reigen, der in bacchantischem Taumel, getaucht in rotes, gelbes und blaues Licht, den Scheiterhaufen wild aufjubelnd umtoste.

Keiner entzog sich dem Kreise. Vergessen waren die Martern der heiligen Walpurgis.

Atemlos, mit klopfenden Pulsen, standen die Tanzenden still. An den Händen hielten sich noch die einen. Arm in Arm, die Schultern zärtlich aneinandergeschmiegt, standen die anderen, und manch ein Bauernbursch hatte seinen Schatz umschlungen. Mainachtluft, keine Hochsommerschwüle, umwehte die heißen Wangen, zarte Frühlingsliebe, nicht die verzehrende Glut letzter Sommertage, glänzte aus den hellen jungen Augen.

Mit einem Lächeln voll siegreicher Lebenslust sah die rote Lotte sich um: »Wer springt mit mir durchs Feuer?« »Ich – ich – ich,« tönte die vielstimmige Antwort. Doch sie zog den Junker von Hochseß aus der Menge: »Du!« und ihre roten Lippen wölbten sich über den weißen Zähnen.

Von irgendwoher aus dem Dunkel klang die Laute aufs neue:

»Schatzkind, halt Gürtel fest und Kleid –
Juchheisa – durch das Feuer!«

Die Paare sammelten sich hinter Konrad und Lotte. Sie flogen voran; einen Augenblick lang waren ihre Körper eins mit den Flammen.

»Einen Kuß zum Dank, daß ich dich nicht brennen ließ, Walpurgishexe,« rief übermütig der Jüngling. Und das Mädchen bot ihm lachend den frischen Mund.

»Schau den da drüben,« sagte sie dann, als sie nebeneinander im taufrischen Grase saßen, »den langen Braunen. War er's nicht, der drunten in der Mühle mit sauertöpfischer Miene von der Erziehung zur Kameradschaft sprach? Jetzt macht er der Frieda zärtliche Augen!«

»Was hältst denn du von der Kameradschaft?« frug er neckend und zog an der ungebärdigen Locke, die ihr tief auf die glühende Wange hing.

»Gar nichts,« antwortete sie lustig, und dann, mit ernstem Gesicht: »Liebhaben sollen wir uns, ohne Getue – liebhaben können, ohne daß die Mädel kokett und die Jungens gemein werden.«

Fern im Osten färbte sich der Himmel. Das war die Schläferin, die Sonne, die, ausgeruht, ihr rosiges Antlitz erhob und mit noch traumbefangenem Lächeln die Bergspitzen grüßte. In vielen jungen Augen fing sich ihr erster Strahl und blieb beglückt von den klaren Spiegeln seiner Schöne in ihnen hängen. Das Opferfeuer der Nacht zog scheu und beschämt vor dem ewigen Licht über ihr seine letzten Flämmchen in die schwarze Asche.

»Vom Himmel hoch, o Englein, kommt!
Kommt, singt und klingt, kommt, pfeift und kommt!«

tönte es feierlich in der Runde.

Händeschüttelnd, als gält's einen Abschied von alten Freunden, ging Konrad von einem zum anderen. Vor der Lotte, die niedergeschlagenen Auges am Bande der Laute nestelte, blieb er stehen.

»Lebwohl!« sagte er einfach. Sie legte ihre Hand in die seine und hob die Lider. Ihre Augen waren feucht: »Lebwohl –«

Und nach Ost und nach West stiegen sie ab zu Tal.

Konrad schritt kräftig aus. Kein Schlaf hatte ihn je so frisch und froh ins Freie entlassen.

* * *

Zwei Briefe warteten seiner. »Von Else –« dachte er. Aber so stark wie seine Erwartung gewesen war, empfand er im Augenblick ihre Erfüllung nicht. Als hätte er eben auf einem Berghange voll blühender Alpenrosen gestanden und träte plötzlich in ein Treibhaus blasser Azaleen.

»Nur um uns vor schmerzhaftem Mißverstehen zu bewahren, schreibe ich Ihnen heute,« las er; »aber Sie müssen sich an diesen wenigen Zeilen genügen lassen. Wer möchte einen lieben Freund, der sich des blühenden Sommers freut, an vereiste Seen und entlaubte Bäume erinnern. Sollte Ihnen Warburg, der mich neulich in meiner Klause überfiel, allerlei Sentimentalitäten von mir erzählen, so schenken Sie dem keine allzu große Beachtung. Er ist selbst verändert, wärmer, ich möchte fast sagen menschlicher und sieht mit anderen Augen –« Konrad, dessen volles Interesse wieder erwacht war, riß den Umschlag von dem anderen Brief. Warburg schrieb:

»Für Deine und Deiner verehrten Frau Großmutter Einladung danke ich von Herzen. Aber ich möchte in diesem Sommer hier bleiben. Ich will die Ferien benutzen, um mich mit einer Frage näher zu beschäftigen, die, je mehr sie außerhalb meines Studiums liegt, um so mehr meine Empfindung gefangen nimmt: dem Zionismus. Frau Sara Rubner – Du erinnerst Dich vielleicht der jungen Frau mit dem interessanten Mongolentypus aus dem Simmel-Kolleg – gewinnt mich mehr und mehr dafür. Für uns moderne Juden, die wir uns immer stärker unserer seelischen Heimatlosigkeit bewußt werden, bietet sich hier vielleicht – vielleicht – ein neuer Wurzelboden.« Also auch er, dachte Konrad verwundert, auch er, den das Studium, der kommende Beruf so ganz zu erfüllen schienen, bedurfte noch eines anderen Lebensinhalts! »Doch nicht dies ist der Grund meines heutigen Briefes. Ich hätte wohl noch lange mit ihm gezögert, wenn mein Besuch bei Else Gerstenbergk mich nicht fast zu einem Telegramm an Dich bewogen hätte. Es muß etwas für sie geschehen. Pawlowitsch scheint sie verlassen zu haben, wenigstens ließ er seit Monaten nichts von sich hören – man behauptet, er sei mit Frau Renetta Veit an der Riviera gesehen worden – und sie leidet unsäglich. Jedes Lächeln, zu dem sie sich zwingt, denn kein Wort der Klage kommt über ihre Lippen, schneidet ins Herz. Man sollte sie der Einsamkeit, der sie sich widerstandslos ergibt, gewaltsam entreißen, und Du, an dem sie mit rührendem Vertrauen hängt, wärst der rechte Mann dafür. Lade sie statt meiner nach Hochseß. Mache es recht dringend, als wäre ihr Kommen in Deinem Interesse notwendig.«

Konrad legte den Bogen erregt beiseite. Gewiß, es mußte geholfen werden, er mußte helfen. In Erinnerung an den, um dessentwillen sie zugrunde ging, ballte er unwillkürlich die Hände. Seine Freundschaft mußte ihm dies Opfer entreißen. Freundschaft!? Lachte ihn nicht eben wieder die rote Lotte an?! – Mit raschem Entschluß, jedes Bedenken weit von sich weisend, ging er zur Großmutter. Er war nicht ohne Sorge, ob sie sich würde gewinnen lassen.

Rückhaltlos erklärte er ihr die Lage Elsens, zeigte ihr auch Warburgs Brief. Die Gräfin antwortete zunächst nicht. Sie ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, um schließlich, vor dem Enkel stehen bleibend, einen langen forschenden Blick auf ihn zu werfen.

»Sie ist nicht deine Geliebte?« fragte sie langsam.

»Nein, Großmama,« antwortete er, ihrem Blick begegnend.

»So mag sie kommen,« lautete gleich danach der Bescheid. Stürmisch zog Konrad die Hände der Greisin an seine Lippen. Ein Ausdruck plötzlich aufsteigender Besorgnis huschte über ihr Antlitz. Sie beherrschte sich jedoch rasch. »Ich schreibe selbst,« sagte sie dann, sich vor den Schreibtisch setzend.

»Wie gut du bist!« er beugte sich über sie, ihre weißen Haare mit einer Bewegung scheuer Ehrfurcht streichelnd.

Sie sah auf: »Gut?! Sie ist eine anständige Frau, denke ich, und würde, nur von dir geladen, nicht kommen.«

Die nächsten Tage verlebte Konrad in wachsender Ungeduld, bis schließlich – endlich! – der Brief mit der bekannten Schrift auf dem Teetisch lag. Schon als sie den Bogen auseinanderfaltete, erhellte sich das Antlitz der Gräfin: diese zarten, ein wenig fallenden Schriftzüge – eine Wiese, deren seine Halme sich unter dem Abendwind leise senken – gefielen ihr weit besser als jene großen steilen, mit denen die dümmsten Frauen Originalität vorzutäuschen vermochten. Und auch der Inhalt befriedigte sie sichtlich.

»Ein liebes Geschöpf, warmherzig und einfach,« sagte sie, Konrad den Brief hinüberreichend, »du wirst sie am besten morgen selbst abholen.«

Die Tanten horchten auf. »Ich erwarte einen Gast,« fuhr die Gräfin fort, »eine mir sehr empfohlene junge Dame, Fräulein Gerstenbergk, die sich ein paar Wochen bei uns erholen soll.«

Die Tanten wechselten einen ihrer vielsagenden Blicke, nicht ohne Hilde dabei bedauernd zu streifen. »Von den sächsischen Gerstenbergs auf Heiligensuhl?« frug Natalie interessiert, »eine der besten Familien!« »Und durch die Mutter, eine Vierort, sehr vermögend,« ergänzte Elise voller Genugtuung. Hilde senkte den Kopf noch tiefer auf ihre Arbeit.

»Ganz und gar nicht, meine Lieben,« entgegnete die Gräfin mit jenem spitzbübischen Lächeln, das ihrem Gesicht einen oft kindlichen Ausdruck verlieh; »es handelt sich um ein einfaches Fräulein Gerstenbergk, eine Studentin,« und sie weidete sich an den langen Gesichtern der beiden Damen.

»Eine Emanzipierte!« rief Natalie entsetzt.

»Da wird unsere liebe Hilde wohl Platz machen müssen,« klagte Elise.

»Haben wir nicht genug Fremdenzimmer?« meinte die Gräfin mit bewußtem Mißverstehen; »der Umgang mit dem klugen Mädchen würde Ihnen, liebe Hilde, über manche leere Stunde hinweghelfen.«

Die Angeredete sah errötend auf: »Gewiß, Frau Gräfin; ich bleibe mit Freuden, wenn –«

Nataliens spitze Stimme schnitt jedes weitere Wort ab: »Du wirst jedenfalls die Erlaubnis deiner Mutter einholen müssen, liebes Kind. Nach deutschen Begriffen –« sie betonte das »deutschen« mit Nachdruck – »ist eine Person, die mit Männern zusammen studiert, oder zu studieren behauptet, kein erwünschter Umgang für junge Damen unserer Kreise.« Und alle drei standen auf.

Am nächsten Tage fuhr Konrad Hochseß mit seinen beiden Füchsen den Gast in den Hof. Hinter den Gardinen ihrer Fenster sah er die Gesichter der Tanten sich an die Scheiben drücken, und hinter der Küchentür verschwand, im Augenblick, als er Else vom Wagen half, Hilde Rothausens weißes Kleid.

Er lächelte wehmütig: sie mochten beruhigt sein, alle drei! Die Gefürchtete war wie das Silberwölkchen droben am Himmel, das ein kräftiger Ost jeden Augenblick auflösen konnte. Selbst die rasche Fahrt hatte ihre farblosen Wangen nur ein ganz klein wenig zu röten vermocht. Sie wäre eine ihrer Märchenpuppen gewesen, wenn sich nicht allmählich in den Augen ein Lebensfunke entzündet hätte.

»O, der Lindenbaum!« – »Und dort die Schwalben!« – »Wie das Wasser schwatzt!« – »Wie die Rosen blühen!« – hatte sie zwischen langen Pausen mit immer hellerer Stimme ausgerufen. Ganz zuletzt hatte sie Konrads Arm leise berührt und ihm, als wär's ein großes Geheimnis, mit einem verirrten Lächeln um die Mundwinkel zugeflüstert: »Seit zehn Jahren war ich immer in Berlin, immer!«

Gerührt schloß die Gräfin das blasse Mädchen in ihre Arme, auch der letzten, leisen Besorgnis enthoben. Das war keine, die auszog, Herzen zu brechen, ihr eigenes vielmehr mochte wohl schon gebrochen sein.

Es kamen jene stillen Sommertage, erfüllt von weicher, warmer Luft, die sich nur wie ein leises Atmen der Erde sanft bewegt, überwölbt vom immer gleichen milden Blau des reinen Himmels. Das ferne Dengeln der Sensen, das Plätschern des Bachs, Bienengesumm, Grillengezirp, Waldesrauschen und verhallendes Vogelgezwitscher vereinigten sich, von den Wellen der klaren Luft getragen, zu einem einzigen Schlummerlied der Seele, und am Abend fielen im Chor die tiefen Stimmen der Unken und der Frösche wie Orgelbegleitung ein.

Das ist die große Feierzeit des Jahres; die Zeit, die selbst auf harte Gesichter einen Zug von Frommsein malt.

Auch über Else kam das Wunder.

Die Sonne malte das krankhafte Weiß ihrer Haut mit durchglutetem Braun, die Luft wischte die schweren salzigen Tropfen aus ihren Augen, und der Gesang der Natur lullte die Stürme des Herzens ein. Sie ging umher wie der lebendige Geist dieser Tage, hell und still. Einem jeden wurde warm ums Herz, der sie in ihrem schlichten Kleide durch Hof und Garten wandeln sah.

Es hielt sie nie lange im Zimmer. Noch ehe die Mägde am Morgen mit den klappernden Milcheimern zu den Ställen gingen, war sie schon auf weichen Sohlen leise hinausgeschlüpft. Und noch ehe die Gräfin, die nach Art alter Leute keinen langen Schlaf hatte, ihr Wohnzimmer betrat, war sie wieder heimgekehrt und hatte die schlanken, vielfarbig schimmernden venetianischen Gläser auf den Tischen mit blauen Glockenblumen gefüllt. Selbst in die nüchternen Stuben der Tanten mit den gescheuerten Böden und stets blank polierten, stäubchenlosen gelben Holzmöbeln wagte sie sich hinein und gab ihnen mit ein paar Sträußchen von Heckenrosen ein frohes Gesicht.

Hilde, die dem neuen Gast zunächst keine Beachtung geschenkt hatte, erwachte allmählich aus ihrer Lethargie. Sie fühlte die Woge voll Wohlwollen, die der Fremden entgegenkam. Und sie fing an, ihr nachzugehen, sie zu imitieren. Es kamen Morgenstunden, in denen Hildens Stimme im Wechselgespräch mit der ihren zu den offenen Fenstern der noch Schlummernden emporklang. Die Weißstickerei ruhte verstaubt im Körbchen. Die enge, dumpfe Welt, um die ihre kleinen Gedanken, wie kaum flügge Vögel um das Nest, ängstlich geflattert hatten, erweiterte sich. Gab es wirklich für ein Mädchen, das auf den Mann wartete, etwas anderes zu tun, als still bei der Handarbeit zu sitzen? Sie horchte auf, wenn Else erzählte, und das einzige, für das sie bisher ein wenig Interesse gezeigt, eine gewisse spielerische Tätigkeit entfaltet hatte, der Garten, erschien ihr sogar im Lichte einer ernsten Arbeit.

Aber auch allerlei Lustiges gab es zu tun, das freundliche Worte und Blicke eintrug: im Walde Erdbeeren pflücken, die mittags überraschend im weißen Weine dufteten; im Garten die sich erschließenden Knospen von den verwelkenden Nachbarinnen befreien, und zuweilen heimlich, ganz früh, wenn es niemand sah, in das Knopfloch des Rocks, der vor Konrads Türe hing, die allerschönste stecken.

Zuerst hatte er sich wohl verwundert, wenn er sie sah, hatte sie sogar ärgerlich beiseite geworfen, da sie von Else nicht kommen konnte, die sich kaum um ihn kümmerte. Dann aber kam auch über ihn eine so seltsam weiche Stimmung, die ihm gebot, niemandem weh zu tun, und er ließ sich den Morgengruß gefallen, mit der Geberin harmlos darüber scherzend. Er bemerkte nicht, wie ihre fahlen Blauaugen dabei aufleuchteten, wie sie sich bemühte, durch allerlei kleine Aufmerksamkeiten, die sie Elsen ablauschte, noch mehr Beachtung zu finden.

Wenn Konrad von Ritten und Wanderungen heimkam, fehlte ihm das Gefühl, das ihn sonst in Gedanken an den Kreis um den Teetisch, an die Tanten, die Fledermäuse, die dem Himmel die Sonne nicht gönnten, beschlichen hatte. Jetzt, das wußte er, schwebte siegreich über ihrem bösesten Stirnerunzeln, ihrem bittersten Mundverziehen das frohe Gespräch der anderen.

Einmal aber fauchte in die Nachmittagsstille wie Gewittersturm der überraschende Besuch der Baronin Rothausen. Die Baronessen und die Frau Gräfin wolle sie sprechen, sagte sie mit röchelndem Atem dem Diener, der sie melden wollte. Von der Terrasse herein kamen die drei mit erstaunten Gesichtern.

»Ich will mein Kind, mein armes mißleitetes Kind,« rief sie ihnen entgegen, so daß Konrad, Else und Hilde es draußen hören konnten. »Das muß ja eine merkwürdige Dame sein, Frau Gräfin, die Sie meiner Tochter zur Gesellschaft so dringend empfohlen haben! Macht das Kind aufsässig, läßt sie aller Würde vergessen, die sie ihrer Geburt schuldig ist.« Sie schöpfte Atem.

»Aber –« begann die Gräfin, doch die Aufgeregte sprach bereits weiter: »Gärtnerin will sie werden – Gärtnerin! Ist so etwas je erhört gewesen?! Eine Rothausen, die Dung karrt und Kartoffeln buddelt!« Der Atem ging ihr aufs neue aus. »Ich will mein Kind zurück, mein armes mißleitetes Kind!« schrie sie mit überschnappender Stimme.

»Wir sind unschuldig,« sagte Natalie achselzuckend. »Ganz unschuldig,« wiederholte Elise mit einem schmerzbewegten Augenaufschlag.

»Ich weiß von der ganzen Sache nicht das mindeste, liebe Frau Baronin,« sagte die Gräfin kühl. »Es wird wohl das beste sein, Sie sprechen Ihre Tochter selbst.« Draußen auf der Terrasse beruhigte sich die Erregte etwas. Elsens unscheinbare Erscheinung – Hilde hatte von ihr in einer Weise geschwärmt, die sie als eine bedenkliche Konkurrentin erscheinen ließ – und Konrads freundliche Ritterlichkeit, mit der er Hilde verteidigte, dämpften ihren Zorn.

»Wir haben ja gar nichts dagegen, lieber Baron,« flötete sie, »daß unser Kind sich unter der Leitung unseres Gärtners und unserer Wirtschafterin über all die Dinge näher orientiert, die eine tüchtige Gutsfrau wissen sollte. Aber eine Schule! Eine Gartenbauschule!! Unmöglich, unmöglich! Das Fräulein« – und sie lorgnettierte Else neugierig – »ist sich natürlich nicht klar geworden, wen sie vor sich hat.«

»Ganz klar, Frau Baronin,« sagte Else ruhig, »ein Mädchen wie viele, das in Gefahr steht, vor lauter geschäftigem Nichtstun ein unglücklicher Mensch zu werden.«

»Wie können Sie sich erlauben –« fuhr Frau von Rothausen auf, sie nahm sich aber rasch wieder zusammen; vor solchen Leuten durfte man sich keine Blößen geben! Sie lehnte sich steif in den Stuhl zurück und sagte feierlich: »Den einzigen Beruf der Frau wird meine Tochter in der Ehe finden, mein Fräulein, und auch ihr einziges Glück. Und nun, mein Kind,« damit wandte sie sich an Hilde, die abwechselnd rot und blaß geworden war, »bedanke dich bei deinen gütigen Gastgebern, packe dein Köfferchen und komm. Der Vater kann deine Rückkehr gar nicht erwarten.«

Das Mädchen stand auf, krampfte die Hände ineinander, sah sich wie hilfeflehend nach allen Seiten um und sagte dann: »Wenn ich noch bleiben dürfte! Fräulein Gerstenbergk ist – ist so viel für mich. Nie – nie ist ein Mensch so gut zu mir gewesen.«

»Unerhört!« schrie die Baronin, fassungslos, »und das sagst du mir – mir, deiner Mutter!«

Hilde brach in Tränen aus. »Ich meinte doch nicht dich, nur die fremden Menschen,« schluchzte sie.

»Das ist Dankbarkeit,« sagte Natalie spitz.

»Gott – das ist doch auch nur eine veraltete Tugend, nicht wahr, Fräulein Gerstenbergk?« meinte Elise.

Die aber hatte sich Hilden, die nun noch verzweifelter weinte, zugewandt. »Geh, Hilde, gehorche deiner Mutter,« flüsterte sie ihr zu; »beweise ihr, wenn du zu Hause bist, daß du nicht verdorben wurdest. Dann erreichst du weit eher, was du willst.«

Hilde starrte Else an, entgeistert. Ihre Tränen waren versiegt. »So etwas rätst du mir!« rief sie, »du, die mir predigte, stark zu sein! Du!« Und ihr nichtssagendes Gesicht verzerrte sich plötzlich vor Haß und Hohn, während ihr Blick zwischen Else und Konrad hin und her flog.

»Ich werde selbstverständlich den Wünschen meiner Eltern Folge leisten.« Es war jetzt wieder die wohlerzogene junge Dame, die aus ihr sprach. Else bot ihr beim Packen ihre Hilfe an. »Danke, ich habe dem Mädchen geklingelt,« war die hochmütige Antwort. Und sie fuhr fort, ohne ihr noch die Hand zu geben.

Von da ab schlug die Stimmung in Hochseß um. Waren es die sich mehr und mehr zusammenziehenden Gewitterwolken, die schwer auf allen lasteten? War es die elektrische Spannung der Luft, die in gereiztem Wesen, in Ängstlichkeit und Unsicherheit zum Ausdruck kam? Die Tanten benutzten jeden Anlaß zu spitzen Bemerkungen gegen Else; sie begegnete ihnen mit schwer zu versteckender Verletztheit.

Häufiger als sonst kamen die Nachbarn nach Hochseß.

»Langweilen Sie sich auch nicht?« frugen die Herren augenzwinkernd und schnurrbartdrehend den jungen Hausherrn, der die Faust in der Tasche ballte. Und dann, wenn Else kam, musterten sie das junge Mädchen, prüfend, abschätzend.

Der Klatsch ging um in der Gegend. Auf dem Greifenstein war er zur Welt gekommen, das schattenhafte, großmäulige Ungeheuer ohne Knochen und Muskeln. Es wand sich durch alle Täler, es kroch zu den Bergen hinauf, es schlüpfte, zusammengezogen, durch alle Türen, um sich in den Zimmern breit und behäbig auszubreiten.

Konrad fühlte, daß irgend etwas die Freundin bedrohte, kaum, daß sie von der alten Last befreit worden war. Der Wunsch, sie zu schützen, ihr zur Seite zu stehen, wurde immer stärker, wärmer. Er, der sonst gern in den Tag hineinträumte, horchte, von der ersten Dämmerstunde an, auf ihren leichten Schritt im Flur.

Zuerst folgte er ihr nur von ferne.

Er sah ihr Kleid um die Baumstämme wehen, sah, wie sie auf den schmalen Füßen elastisch von Stein zu Stein stieg, wie ihre Arme sich in feiner Rundung hoben, um einen blütenschweren Ast zu sich niederzuziehen, wie der Körper sich bog, bei aller Schlankheit weiche Formen verratend, um die Blumen am Bach zu erreichen. Und einmal sah er auch hinter Büschen versteckt ihre Augen, in Träumen verloren, ihren Mund in Erinnerung lächelnd. Galten Träume und Erinnerungen wohl immer noch ihm, dem Ungetreuen?

Es hielt ihn nicht länger. »Fräulein Else,« sagte er leise.

»Konrad – Sie?!« und ein heller Schein flog über ihre Züge. Wäre sie nicht vor mir erschrocken, wenn sie an Pawlowitsch gedacht haben würde? fuhr es ihm befreiend durch den Sinn.

Sie gingen nun oft miteinander, ganz offen, vor den Augen der Tanten. Ihm war, als wäre sie jetzt erst angekommen. Zu ihm. Von der Vergangenheit sprach keiner von den beiden.

Auf ihren gemeinsamen Wanderungen, die sie mit eigensinniger Beharrlichkeit über die Grenzen des Gutsbezirks nicht ausdehnen wollte, wurde sie mehr und mehr die Führende, weil sie die Unterrichtete war. Besser als er kannte sie Weg und Steg, hatte sich mit offnen Sinnen und liebevollem Eingehen in die Eigentümlichkeiten der Natur, in die Bedingungen und Forderungen des Grund und Bodens, in das Leben und Treiben der dünn gesäten Bevölkerung versenkt, und mit einem aus Scham und Staunen gemischten Gefühl lernte er durch sie die Heimat kennen, die ihm vor lauter gewohnheitsmäßig gleichgültigem Anschauen im Grunde die Fremde gewesen war. In ihrem Eifer und ihrer Entdeckerfreude bemerkte sie zunächst wenig davon, nur manchmal entfuhr ihr ein Ausruf komischen Entsetzens, wenn er ihr über den eigenen Besitz und seine Bewohner so gar keine Auskunft zu geben vermochte.

»Sie gehen wie ein Gast im eigenen Hause umher,« sagte sie bei einer solchen Gelegenheit. »Der größte Teil der Menschheit krankt daran, daß er entwurzelt ist, daß seinem Lebensatem die natürliche Nahrungsquelle fehlt, und Sie besitzen dieses unschätzbare Gut und wissen es nicht.«

»Sie vergessen: ich hatte nie ein ungeteiltes Heimatsgefühl. Im Lande meiner Mutter lebte stets meine Phantasie; dorthin führte mich meine Sehnsucht,« entgegnete er. Erst jetzt war ihm, was er sagte, zu vollem Bewußtsein gekommen. Den Spuren der Großmutter, ihrer Tatkraft, ihrem Ordnungssinn, begegnete er in Haus und Dorf, in Wald und Feld; aber ihm wehte dabei etwas Kühles, Unpersönliches entgegen. Und Else, die mehr und mehr auch sein Schweigen verstand, meinte: »Wie eine fremde Königin ist sie, die das Reich treulich verwaltet, ohne sich ihm jemals zu eigen zu geben. Und doch,« fügte sie nach einer kleinen nachdenklichen Pause hinzu, »müßte es Seligkeit sein, sich mit den jungen Buchen dort um die Wette – tief in diesen Boden zu senken!«

Konrads Auge begegnete dem aufleuchtenden Blick, den sie zu ihm erhob. Es strömte ihm heiß zum Herzen. Und leise und zärtlich schob er seinen Arm in den ihren, als gehörten sie zueinander.

Die Landleute lächelten, wenn sie die Wandernden sahen. Sie fühlten sich dem schlichten blonden Mädchen vertraut, dessen Blick so warm war, dessen Händedruck keinen Handkuß forderte. Ihre Anteilnahme an ihrem Ergehen war ohne Neugierde, ihr Mitleid mit ihren Nöten keine Ankündigung verletzender Almosen. »Das wird eine gute Frau,« sagten sie.

In jedem, auch dem ärmsten Oberfranken, lebt etwas von echter Edelmannsgesinnung. Er bettelt nicht, er darbt lieber, und wenn er der kahlen Hochebene entstammt, so ist er rauh und unzugänglich wie sie. Konrad entsann sich nicht, hier oben je anders als zu Wagen oder zu Pferde gewesen zu sein. »Wie ein Grandseigneur, nicht wie ein Landesvater,« meinte Else mit leisem Vorwurf, als sie miteinander über die einsame Halde schritten. Hier, wo Kalkstein und Dolomit die Oberfläche bilden und weder Teiche noch Bäche vorhanden sind, vermag selbst härteste Arbeit dem Boden nur wenig abzuringen. Neben den vereinzelten kleinen Häusern wird das Regenwasser in Lehmgruben gesammelt, um wenigstens einen armseligen Küchengarten erhalten zu können. Wetterdisteln und blasse Waldanemonen wachsen zwischen dem spärlichen Rasen; schwarz und einsam richten dazwischen hier und da Wacholderbüsche ihr Haupt empor.

»Wie ein Totenacker!« sagte Konrad schaudernd.

»Wenn man Wasser hinaufzuleiten vermöchte, um wie Faust einem freien Volk den freien Grund zu erobern,« entgegnete sie, »wäre das nicht eine Aufgabe, wert, sich dafür einzusetzen?«

»Für diesen dürren Boden – das blühende Leben?!« rief er abwehrend aus.

»Beschränkung ist überall unser Los,« warf sie leise und wehmütig ein.

»Gewiß, gewiß,« nickte er eifrig, »aber erst nachdem wir für unser beschränktes Wirken den höheren, allgemeineren Zweck und Sinn gefunden haben. Wie in einem Gefängnis würd' ich ersticken, wenn ich dem Warum meines Lebens nicht auf den Grund gekommen wäre!«

Es war ein weicher Sommerabend damals mit silbergrau verhängtem Himmel. Sie schwiegen lange. Bis sie wieder leise zu plaudern begann. Er hörte kaum, was sie sagte, aber der Ton ihrer Stimme fiel, wie sanfter Regen nach dem Sturm auf Busch und Baum, beruhigend auf seine bewegte Seele. Sie sprach von der Gegenwart und nur von ihr, als wäre die Vergangenheit ganz und gar vergangen; sie sprach von Hochseß, als wäre dies Stückchen Erde die Welt. Und er wurde ganz still. Ihm war auf einmal, als wüchse eine Mauer um die Grenzen seines Guts, über die kein Suchen und Sehnen jemals hinüber zu steigen vermöchte. Er und sie – das war Ausgang und Ziel. Das war Glück.

»Liebe, liebe Else!« sagte er und legte den Arm um ihre Schultern.

War es der trübe Abend, der ihre Züge so bleich erscheinen ließ? –

Dann saßen sie zu dritt vor dem großen Kamin im Zimmer der Gräfin, denn ein Wetter, das in der Ferne noch grollte, hatte die Luft erheblich abgekühlt, und die alte Dame benutzte gern jeden Vorwand, um Hände und Füße, die sich immer schwerer erwärmen wollten, der belebenden Wirkung des Feuers auszusetzen. Ihre Augen hingen an dem Relief des Kamingesimses, einem feinen Gerank, das das Bild einer an den Felsen geschmiedeten Ariadne leicht umkränzte. Der stark herausgearbeitete Körper der Gefesselten wurde im Schein des Feuers lebendig.

»Ist sie nicht ein antikes Symbol der Knechtschaft, aus der Sie die Frauen befreien wollen?« sagte sie und spann, als keine Antwort kam, den Faden ihres Gedankens weiter; »Sie sollten nur nicht vergessen, daß es zwar ein Mann gewesen ist, der die Schöne ihrer Freiheit beraubte, aber auch ein Mann, der ihr Befreier war. Sie geht immer nur von einer Hand in die andere.«

Auch jetzt blieb es still.

»Nun, Sie schweigen –?« und sie hob ein wenig den Schirm der vor ihr stehenden Lampe, um Elsen ins Gesicht zu sehen. »Was ist Ihnen, mein Kind?« rief sie, ihn wieder fallen lassend, und beugte sich besorgt zu dem Gast hinüber.

»Ich spürte die Druckstellen meiner Ketten wieder,« sagte Else, während ein Frösteln ihren Körper durchlief.

»Der gesprengten, nicht wahr?« frug die Gräfin, die kleine Hand des Mädchens leise streichelnd. Es war das erstemal, daß sie das Schicksal ihres Gastes berührte. Wunden, das wußte sie, müssen erst vernarbt sein, ehe man ihre schützende Hülle lüften darf.

»Der gesprengten – ja!« antwortete Else mit ungewöhnlich heller Stimme.

»Wirklich?« fiel Konrad ein.

Forschend sah die Gräfin zu ihm hinüber. War es nur die Teilnahme des Freundes, die seinem Ton eine so warme Färbung gab? Aber Else schien ihn zu überhören. Mit tränenschimmernden Augen führte sie die Hand der Gräfin an ihre Lippen.

»Alles danke ich Ihnen – alles! Ich war erfroren, war leblos. Der Schmerz, der das Herz zerreißt, uns die wildesten Gedanken der Selbstzerfleischung ins Hirn hämmert, ist ein gütiger Freund, ist eine Art Reaktionserscheinung der Seele – wie das Fieber etwa für den Körper – im Vergleich zu dem Gift, das sie zerstören will. Nur die vollkommene Fühllosigkeit, jenes gräßliche Leersein in Kopf und Herz, jenes sich selbst zum Gespenste werden, das ist die Hölle. Ihr Brief – der Brief einer Frau, der ich fremd war, der mein ganzes Denken, Fühlen und Sein fast wie etwas Feindseliges erscheinen mußte, und die mich dennoch zu sich lud, und das in einem Augenblick, wo ich ganz verlassen war – Ihr Brief war der erste Sonnenstrahl auf das Eis, unter dem mein Leben schlief. Und jeder Tag, ach, was sage ich: jedes gütige Lächeln, das mir galt, jeder Händedruck, der mehr sagte, als hundert teilnehmende Worte sagen könnten – Worte, deren Tonfall schon zu beleidigen vermag! – lockten aus dem erstarrten Boden neue Blüten hervor. Und nun – nun,« in leidenschaftlicher Bewegung war sie der Gräfin zu Füßen gesunken, »lebe ich wieder!«

Zwei Hände legten sich um ihre Schläfen, zwei Lippen ruhten auf ihrer Stirn. »Im Schoß der Mutter,« dachte sie und meinte zu fühlen, wie von Händen und Lippen ein Strom von Ruhe ausging, sie umfloß und durchdrang. Sie hob den Kopf, zwei Augen trafen sie, – dunkel wie Weiher in der Nacht, in deren Tiefen goldene Schätze glühen. Sie starrte sie an, selbstvergessen: waren es die der Gräfin, die Konrads?!

Mit einem Lächeln, das ihr eigenes nicht war, erhob sie sich und sagte – fast fröhlich sollte es klingen: »Und nun ist es Zeit, daß ich gehe.«

Es blieb still in dem Zimmer. Jeder erwartete wohl vom anderen, daß er antworten würde. Die Uhr, die sonst niemand hörte, tickte plötzlich ganz laut.

»Ich muß arbeiten, ich büße sonst die Winteraufträge ein,« fuhr Else zögernd fort. Dann griff sie plötzlich, wie von einem Schwindel gepackt, nach der Stuhllehne hinter sich. Konrad sprang zu, um die Wankende zu stützen.

»Sie sehen selbst: daß es nicht Zeit ist – noch lange nicht – von uns zu gehen,« sagte er sehr weich. Mit geweiteten Augen sah die Gräfin von einem zum anderen; in jenem Ton klang Mannesliebe, jene echte, reine, schützende.

Else hatte sich schon wieder in voller Gewalt.

»Nur daß ich heute sprach, von mir sprach, hat mich so erschüttert,« sagte sie. »Gestatten Sie mir, Frau Gräfin, daß ich mich ein wenig früher zurückziehe?«

Noch ein Handkuß, ein freundliches, ein wenig zerstreutes »Gute Nacht«, und Else ging.

Ganz still, mit gesenkten Lidern – als wolle sie niemanden durch die Fenster ihrer Seele schauen lassen – saß die Gräfin zurückgelehnt in ihrem tiefen Stuhl.

»Willst du halbe Arbeit tun, Großmutter?« frug Konrad leise; »willst du sie wieder frieren lassen?« Sie sah nicht auf. Sie hörte nur: welch rührend zartes Beben war in dieser Stimme!

Es klopfte einmal, zweimal. Giovanni erschien unter der Türe. »Was ist's so spät?« herrschte ihn Konrad an. Er machte einen tiefen Bückling.

»Der Wind riß die Fahne vom Turm. Ich sagte längst, daß die Stange morsch ist.«

»Und damit erschreckst du uns jetzt?!«

»Damit Frau Gräfin morgen früh nicht erschrecken.« Er verschwand wieder.

Gräfin Savelli sah ihm nach; auch als er schon gegangen war, hafteten ihre Blicke noch in derselben Richtung. Was war es doch, was der Alte ihr einmal vor Jahren geraten hatte? Die Liese hatte sie ins Haus nehmen sollen, des Müllers Liese, als der Knabe zum Jüngling gereift war. Pfui!

»Großmutter, ich bitte dich, mir zuliebe, wenn du es um ihretwillen nicht tun magst: halte die Else fest!« drängte Konrad.

»Um deinetwillen – gut!« Sie erhob sich, ihm die Hand reichend. »Und nun kein Wort mehr darüber.« Eine fremde Härte lag auf ihrem Gesicht.

* * *

In dieser Nacht fand Konrad Hochseß keinen Schlaf. Er konnte es nicht erwarten, ihr zu sagen, daß sie bleiben dürfe, bleiben müsse! Er lauschte angestrengt; jedes Knacken im Holz, jedes Rascheln der Gardinen, jedes Knarren des Fensterladens ließ ihn auffahren: war es ihre Zimmertüre, ihr Kleid, ihr Schritt?

Aber auch als der Morgen dämmerte, wartete er umsonst. Schweißperlen standen auf seiner Stirne: war sie nicht totenblaß gewesen gestern abend, als sie schlafen ging? Vielleicht war sie über Nacht erkrankt, lag hilflos und in Schmerzen allein in ihrem Zimmer! Oder sie hatte sich gar nicht niedergelegt, hatte heimlich das Haus verlassen!

Er sprang aus dem Bett und fuhr hastig in die Kleider. Dann schlich er hinaus. Den langen Flur über die Galerie der Diele bis zum anderen Flügel, wo die Fremdenzimmer lagen, mußte er hinuntergehen, an der Wohnung der Tanten, an der des alten Habicht vorbei. Vor jeder Pforte horchte er, ob nicht ein Laut das Wachen der Bewohner verriete. Doch alles war still.

Aus den großen Fenstern der Galerie sah er auf den Hof hinab: nichts bewegte sich. Drückende Sommerschwüle ließ jedes Blatt am Baum reglos schlafen. Schwer hing das Fahnentuch von der niedergerissenen Stange am grauen Gemäuer des Turms. Wie blaß die rote Rose auf dem weißen Grunde aussah! Von der Sonne ausgezogen, vom Regen verwaschen – verwelkt.

Ein Fest wollen wir feiern, ein großes Fest und eine neue Fahne hissen, mit einem strahlenden Symbol des Glücks, dachte er freudig erregt und meinte Else vor sich zu sehen, im weißen Kleid mit Blumen im Haar, wie ihre kleine Hand mit silbernem Hammer das Tuch an die starke Stange nagelte.

Else! Das Herz schnürte sich ihm zusammen. An ihrer Türe stand er jetzt!

War es der Ton des brausenden Blutes in seinen Ohren, oder bewegte sich etwas hinter ihr?

Gewißheit – um Gottes willen, Gewißheit!

Er drückte die Klinke herunter –

»Wer ist da?« – eine geängstigte Stimme.

»Ich,« und schon stand er vor ihr.

Sekundenlang dunkelte es ihm vor den Augen. Dann sah er: ein unberührtes Bett – einen halb gepackten Koffer und sie – sie!

»Du bleibst – bleibst!« ein erstickter Schrei war's.

An jenem Morgen gab sie sich ihm.

* * *

Die Gräfin Savelli saß an ihrem Frühstückstisch; nachdenklich zerbröckelte sie das Brot zwischen den Fingern und überflog abwesenden Blicks die Postsachen, die ihr eben gebracht worden waren.

»Ist der Herr Baron schon auf?« frug sie den Diener.

»Als ich eben den Kaffee brachte, schlief der Herr Baron noch,« antwortete er.

Sie nickte.

Also wußte Else noch nicht, daß sie ihrem längeren Bleiben zugestimmt hatte. Ein befreiender Atemzug hob ihre Brust. Wie hatte sie nur einen Augenblick lang so grausam, so unmenschlich sein können! Dieses Mädchen mußte gehütet, nicht preisgegeben werden.

Der Diener erschien schon wieder. »Fräulein Gerstenbergk,« meldete er.

»Ich lasse bitten.« Mit ausgestreckter Hand ging sie ihr entgegen. Mitten im Zimmer aber stockte ihr Fuß.

Schwebenden Schritts, als hätte ihr Körper keine Schwere, war Else über die Schwelle getreten. Ihr Antlitz leuchtete. Ob es auch bleicher und schmaler war als sonst und die Augen dunkel umschattet. Es war nicht der Glanz eines Sieges, nicht das Strahlen genossener Lust. Es war wie alte Marienbilder, aus Holz geschnitzt, in dunklen Kapellen über der ewigen Lampe leuchten.

»Ich möchte fort, gleich jetzt, Frau Gräfin,« sagte sie, ohne daß ihr Ausdruck sich änderte.

Die Angeredete war zu benommen, als daß sie hätte antworten können. Sie sah das Mädchen nur an.

»Sie haben mich länger behalten wollen,« fuhr Else fort.

»Sie wissen?!« Der Blick der Gräfin war eine erstaunte Frage.

Ein Lächeln, das weich ihren Mund umspielte, ein großer, freier Augenaufschlag begegnete ihr. Und die Blicke der beiden Frauen tauchten tief ineinander. Bis sich die dunklen Sterne der Gräfin, tränengefüllt, niedersenkten.

»Setzen Sie sich zu mir – so – ganz nah, mein liebes Kind,« flüsterte sie, Else an sich ziehend.

»Ich möchte fort, ehe Konrad erwacht,« sagte das Mädchen mit bittend erhobenen Händen auf dem Fußschemel kauernd. »Er soll nicht wissen, niemals wissen, wohin ich ging.«

»Heißt das nicht zu grausam sein? Er – liebt Sie, Else,« antwortete die Gräfin. Das junge Antlitz vor ihr leuchtete noch heller.

»Er liebt mich. Mit einer rührenden, zarten Liebe, frühlingshaft. Er gab mir den Glauben wieder, den Glauben an die Menschen, an mich! Soll ich nun die weiße Wiesenlilie seiner Liebe selbstsüchtig und töricht in einen Scherben verpflanzen und die Hoffnung nähren, sie würde den Herbst überdauern? Ihren Duft will ich mit mir nehmen, reuelos.«

»Und – er?!«

Des Mädchens Lippen zuckten. »Wird leiden –« murmelte sie, um gleich darauf festen Tons fortzufahren: »Aber ein lebenslanges Unglück würde es, wenn ich bliebe. Er verließe mich nicht – aus Güte, aus Mitleid. Es würde eine jener Ehen sein, die wie mit einem Henkerschwert das Leben vom Körper trennten. Er aber soll leben, soll das Leben erst finden, das er so sehnsüchtig sucht. Ich will ihm die Türe öffnen, nicht zusperren. Darum muß ich fort – gleich fort! Jetzt bin ich stark, in einer Stunde könnte ich schwach sein.«

»Mir aber werden Sie nicht verheimlichen, wo Sie sind?« frug die Gräfin, aufs tiefste erschüttert.

Elsens Lippen schlossen sich fest zusammen, was ihren Zügen den Ausdruck starren Willens verlieh. »Doch – immer,« entgegnete sie.

»Auch, wenn Konrads Liebe Ihnen mehr bedeuten sollte als – eine Erinnerung?« Ein warmer mütterlicher Blick umfaßte sie, deren Wangen sich dunkel färbten.

»Auch – dann!«

* * *

Der gelbe Postwagen rollte über den Hof – durch das graue Tor – ins Tal hinab.

Konrad öffnete die Augen, um sie gleich darauf, selig lächelnd, wieder zu schließen.

 


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