Lily Braun
Lebenssucher
Lily Braun

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Neuntes Kapitel.

Vom großen Sterben.

Die Vögel sangen am frühen Morgen in Busch und Baum, der Bach im Tale rauschte zu ihrer hellen Melodie die tiefe Begleitung. Das war Norinas Grabgesang.

Sechs Männer trugen den blumenüberschütteten Sarg durch die Parkalleen. Die kleinen Chorknaben von Vierzehnheiligen mit den Weihrauchbecken schritten voran: vier greise Priester folgten, wie fremde Könige anzuschauen in den langen, gestickten Gewändern der ehrwürdigen Wallfahrtskirche, und eine Schar schneeweißer Nonnen dann, wie sanfte, verflogene Vögel. Dahinter einer, der allein ging. Es war wie ein weiter, leerer Raum um ihn. Er sah geradeaus mit dunklen, glanzlosen Augen, die still unter den Lidern standen wie die der Blinden. Seine blonden Haare waren hell geworden von den weißen Fäden, die sie durchzogen.

Als der älteste unter den Priestern ihn trösten wollte, weil sie ihm entrissen worden war, hatte er ihm staunend ins Antlitz gesehen und gesagt: »Ich bin es ja, der gestorben ist.« Und in der schwarzen Menschenschlange, die sich zum Geleit der Toten langsam hinter ihm durch die grünen Laubgänge schob, war, was er sagte, flüsternd von Mund zu Mund gegangen mit einem einzigen Beben des Grauens.

Erde fiel auf den Sarg – dreimal und wieder dreimal und noch einmal und so ins Unendliche fort. Noch monatelang hörte Konrad das Pochen, und meinte die schwarze Scholle zu fühlen, die über ihn rieselte, bis er ganz und gar unter ihrer Decke verschwand.

Nur sein Herz wollte zu schlagen nicht aufhören.

* * *

Trübe Herbstabenddämmerung lag in Frau Sara Rubners grauem Salon. In einen dunkelrot geblümten Kimono gewickelt, hockte sie im Winkel des Sofas und folgte mit den merkwürdig geschlitzten Augen in dem Mongolengesicht dem unruhig auf und nieder schreitenden Warburg.

Vom Drama auf Hochseß hatte er erzählt. Jetzt stockte er, tief aufatmend.

»Und dann?« frug sie mit gespannter Miene.

»Die Leute im Hof bemerkten noch, wie die Fahne auf dem Turme sank, aber als sie den Alten suchten, war er verschwunden,« antwortete Warburg.

»Vergebens durchforschte die Gendarmerie die ganze Gegend. Er hat sich gewiß in irgendeinem Winkel umgebracht.« Und wieder durchmaß er rastlos das Zimmer.

»Wollen Sie sich nicht endlich setzen, lieber Freund,« sagte sie gequält. »Ihre Unruhe wirkt wie eine Peitsche auf meine Nerven.«

Er ließ sich gehorsam ihr gegenüber in einem der tiefen Sessel nieder. »Verzeihen Sie, ich dachte einen Augenblick nicht an Ihre übergroße Empfindlichkeit. Sie leiden mehr als sonst, Frau Sara?« Sein forschender Blick blieb auf ihr haften.

Sie machte eine rasche, abwehrende Bewegung: »Sprechen wir nicht von mir. Das ist zwecklos. Erzählen Sie mir lieber mehr von Konrad. Ist es Ihr Verdienst, daß er noch lebt?!«

Warburg legte die Hand über die Augen. Den herben Spott, der in ihrer Frage lag, versuchte er zu überhören. »Er lebt nur – so seltsam das klingt –, um Norina zu neuem Leben zu erwecken. Sie darf nicht sterben – wiederholte er immer wieder. Zuerst wurde Tenda telegraphisch zurückgerufen. Er machte eine Skizze von der Toten und danach ein Bild, das ein wundervolles Kunstwerk ist: eine schwarzgekleidete Frau mit einem zarten weißen Schleier über dem Kopf, den Blick sehnsüchtig und doch entsagungsvoll in eine weite, lachende Landschaft gerichtet. Es ist vielleicht kein Porträt, doch Norinas Erscheinung und ihr Wesen ins Typische, fast Klassische erhoben. Während der Arbeit wich Konrad nicht aus dem Atelier; die beiden Männer befreundeten sich, und Norina war immer bei ihnen. Mir schien's zuweilen, als verscheuchte ich ihre lebendige Gegenwart, – dennoch glaubte ich um Konrads willen bleiben zu müssen.«

Frau Sara Rubner saß noch immer auf demselben Platz. Sie hatte die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen und starrte vor sich hin. »Wir alle, die wir uns selbst zum Mittelpunkt wurden, gehen daran zugrunde,« sagte sie mit abwesendem Ausdruck und fügte leise hinzu, als müsse sie einem unausgesprochenen Einwurf begegnen: »Denn die wir lieben, als gehörten sie uns, sind doch auch nur wir selber.«

Draußen ging die Eingangspforte. Sie sprang auf, und sah mit kaum beherrschter sehnsüchtiger Erwartung zur Türe. Auch Warburg erhob sich.

Gerhard Fink trat ein. »Pardon – ich störe wohl,« sagte er mit einer korrekten Verbeugung; keine Muskel in seinem glatten, schmalen Sportmannsgesicht zuckte.

»Bitte – ich war im Begriff zu gehen,« entgegnete Warburg eisig.

»Lassen Sie sich ja nicht stören, um so weniger, als ich mich nur verabschieden wollte,« warf der andere ein.

Frau Rubner preßte ihre großen weißen Zähne in die Unterlippe: »Sie fahren?«

»Zu den Eltern, heute abend noch,« und mit abermaliger leichter Verbeugung, wobei ein fast unmerklicher, prüfender Blick von einem der Zurückbleibenden zum anderen flog, ging er wieder.

Sie trat zurück, Warburg den Rücken drehend, und zerzupfte langsam die gelben Blüten einer langstieligen Orchidee, die in brauner Bronzevase auf dem Tische stand.

»Wird er –?!« frug Warburg leise.

Sie nickte: »Ich habe eine Entscheidung verlangt. Ob er sie bringen wird?! – Sagte ich Ihnen schon, daß die Albatroßwerke ihm einen glänzenden Posten angeboten haben?« Und sie lachte rauh und mißtönig.

»Sie wissen, daß Sie immer auf mich rechnen können – immer!« rief Warburg, einen leidenschaftlich-pathetischen Klang in der Stimme, der ihm sonst fremd war.

Sie wandte sich ihm wieder zu: »Ich weiß,« ihre Hand streckte sich ihm entgegen, »aber im Allerheiligsten der Seele und im Schwersten des Erlebens bleibt man doch immer allein.« Dann wechselte sie rasch, wie auf der Flucht vor intimerem Gespräch, den Ton: »Baron Hochseß kommt morgen, wie Sie sagten?«

»Er hat sich jedenfalls für einen dieser Tage bei Bernhard angemeldet, um seine Denkmalsentwürfe zu sehen.«

Es zuckte spöttisch um ihren Mund. »Sagen Sie selbst, lohnt sich ein Leben, das nur noch mit solchen Nichtigkeiten erfüllt ist?« sagte sie, um nach einer kurzen Pause hastig fortzufahren: »Nun aber gehen Sie, lieber Freund, gehen Sie! Wir geraten sonst in Gefahr, Ausgrabungen vorzunehmen, in denen man Welten erwartet und Scherben findet.« Und fast gewaltsam schob sie ihn zur Türe hinaus.

* * *

Auf den Wegen der Erinnerung ging Konrad Hochseß; er ging allein. Denn niemand wußte, daß er in Berlin war, und keiner hätte ihn erkannt, der ihm begegnet wäre. Er war noch nicht dreißig Jahre, aber seine Züge hatte das Schicksal so herb und hart gemeißelt, als bliebe nun nichts mehr übrig, in sie einzugraben.

Seltsam, wie alles, was er sah und hörte, ihm fern und fremd und tot erschien, während nur Eins ihm wahrhaft lebte: die Tote. Es gab Augenblicke, wo er vor sich hinlächelte in Gedanken an die Armen ringsum, die nicht wußten, wie reich er war in ihrem Besitz. Dann freilich gab es andere, wo ihn die ungeheure Einsamkeit überkam, jene erhaben-fürchterliche Einsamkeit der Gletscher, die nichts kennt als Fels und Eis und Schnee, und zuweilen den Schrei des Adlers um ihre Gipfel.

Während der vergangenen Monate hatte er Zeiten gehabt, wo er meinte, das Leben riefe nach ihm, und ein Fahnenflüchtiger, der Ehre und der Freiheit verlustig, würde er sein, wenn er sich dem Befehl widersetzte. Nun sah er mit einem Gefühl, aus Selbstqual und Genugtuung gemischt, daß ihn das Leben nicht hatte rufen können, – weil es nicht da war.

Beim Wandern zu den Stätten seines vergangenen Daseins kam er dorthin, wo Gina gläubigen Herzens den alten Zauberer gesehen hatte, der die Sterne in seiner großen Kuppel fing. Aber der kleine stille Platz war nicht mehr, und der alte Garten, der einst die Sternwarte dicht umschlossen hatte, lag begraben unter den schweren Pflastersteinen und dem grauen Asphalt der neuen Straße. Hier suchte niemand mehr nach den Sternen. Also war das Leben tot.

Irgendwo in der Stadt fesselte ihn die Auslage eines Spielwarengeschäftes: große Kinderpuppen, wie Else sie einmal geschaffen hatte. Er ging hinein und sah genauer zu: sie hatten gleichgültige Fabrikwarengesichter, und irgendeine Firma lieferte sie. Sollte er sich näher erkundigen? Aber was war ihm Else als eine wehmütige Erinnerung mehr, und was, vor allem, vermochte er ihr noch zu bieten. Denn das Leben war tot.

Er geriet immer mehr in das Gewühl der Straßen. War es stets das gleiche gewesen, oder bemerkte er nur zum erstenmal, wie die Menschen durcheinanderhasteten mit sorgenvollen Gesichtern, als ob jeder sich fürchte, der andere könne ihm die Beute abjagen, der er nachlief? Wozu blühten die leuchtenden Herbstblumen auf den Beeten der Plätze; wozu glänzte der grüne Rasen wie ein Smaragd; wozu wölbten die Baumkronen ihr Blätterdach? Niemand achtete der Pracht, niemand ließ sich Zeit, in ihrem Schatten zu ruhen. Niemand?! Doch: die Kinder! Konrad blieb wie angewurzelt stehen: da saß ein blondes Bübchen auf dem Sandhaufen und griff mit der kleinen, weichen Hand nach dem Sonnenstrahl, der durch die Blätter fiel und auf seinem Blecheimerchen glitzerte, und lachte den verspäteten Schmetterling an, der über der roten Aster neben ihm gaukelte. Durchtränkt von Leben war das Kind, und Leben strömte aus von ihm. Konrads Herz krampfte sich zusammen. Er strich ihm mitleidig über den Lockenkopf: es würde auch einmal bei lebendigem Leibe sterben. Wie gut, daß sein Sohn vorher gegangen war!

Am Tiergarten kam er entlang. Dort drüben hatte ein schlichtes, vornehmes Haus gestanden wie eine verirrte Edelfrau zwischen Marktgesindel. Er suchte es. An seiner Stelle erhob sich jetzt ein Palast in großen, starken Linien, eines Herrschers würdig. »Veit von Voßberg« stand in großen Lettern am Granitpfeiler des Torwegs. Konrads Stirnadern schwollen; er schämte sich: daß er, der Norina lieben durfte, sich jemals so hatte verlieren können. Dann aber war ihm plötzlich, als schaue er durch die Wände dieses Hauses, das der Künstler nicht für den kongenialen Bauherrn, sondern für den Meistbietenden gebaut hatte. Die drinnen wohnten, lebten nicht, ob sie gleich von früh bis spät in Bewegung waren. An der Spitze zahlloser Vereine stand Renetta, das wußte er durch die Zeitungen; aus Sitzungen, Wohltätigkeitsfesten, Flirts und Schneiderproben setzte sich die Hetzjagd ihres Daseins zusammen; und nichts haftete mehr an ihr als der Handschuh, den sie trug. Eben stieg eine Dame die Freitreppe am Seitenflügel des Gebäudes hinab dem harrenden Auto zu; sie hatte rostbraune Haare und eine gelbliche Haut; nur die meergrünen Augen verrieten noch, wer sie war. Konrad musterte sie wie eine völlig Fremde. »Sie würden auch ihre Augen wechseln, wenn sie könnten, diese Menschen von heute,« dachte er, »die niemals vom Leben zur Einheit geformt worden sind.«

Eines Abends ließ er sich durch ein großes Plakat verleiten, in eine Arbeiterversammlung zu gehen, in der jener junge Arbeiter, den er einmal in Pawlowitschs Bildungskursen kennen gelernt hatte, über den Balkankrieg und seine Folgen sprechen sollte. Der mit verstaubten, im Luftzug der auf- und zugehenden Türen trocken raschelnden Girlanden vom letzten Tanzfest her geschmückte Saal war kaum halb gefüllt. Zwischen dem Redner, der den Eindruck eines Privatdozenten machte und sehr nüchtern und leidenschaftslos begann, indem er die Entwicklung des Balkankrieges bis zu seinem Abschluß, dem Zusammenbruch der europäischen Türkei schilderte, und dem Publikum kam es nicht zu jenem geistigen Zusammenfließen des Gebens und Nehmens, aus dem allein Lebendiges zu entstehen vermag. Erst als er den Militarismus im allgemeinen angriff und einige scharfe Bemerkungen gegen den preußisch-deutschen im besonderen hineinverflocht, der »dem Volke soeben neue, unerträgliche Lasten auferlegt hatte«, spendeten die Zuhörer ihm lebhaften Beifall und warfen höhnend ein »Zabern!« – »Kruppskandal!« – »Knittel!« – dazwischen, an all jene Skandalgeschichten erinnernd, in die Offiziere verwickelt gewesen waren, und die in einem Augenblick die öffentliche Meinung bis tief in die bürgerlichen Kreise hinein erregt und entrüstet hatten, wo die Regierung mit neuen Militärforderungen vor den Reichstag trat. »Die Ansprüche der Offizierkaste haben Dimensionen und Formen angenommen, die nicht bloß für die arbeitenden Klassen, sondern auch für die Masse des Bürgertums verletzend, ja gefährlich sind –« rief der Redner, und der Agitator brach plötzlich aus dem Privatdozenten hervor. Das Publikum johlte. Dann fiel er wieder in das Dozieren zurück, keine der bekannten sozialdemokratischen Wendungen von den wirtschaftlichen Ursachen allen Geschehens, vom nahen Zusammenbruch des kapitalistischen Staats, von der alles und alle erlösenden Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln außer acht lassend; er leierte sie herunter wie der Kantor den Katechismus. Niemand hörte hin.

Auch hier sind die Ideale schal geworden, dachte Konrad; das Leben ist tot.

Er wollte sich leise entfernen und gelangte bis zur Türe. Es hatte sich inzwischen ein wenig mehr gefüllt, und er kam an Gruppen von Arbeitern vorüber, die sich im Hintergrund hielten und sich eifrig über gewerkschaftliche Angelegenheiten, über die Ereignisse des letzten Zahlabends und ähnliches unterhielten. »Halt's Maul,« rief ein Junger mit fanatischen Augen einem zu, der lauter wurde, so daß die an sich schwache Stimme des Redners ihre letzte Wirkung verlor.

»Gott's Donner, das Hemd ist einem näher als der Rock,« brummelte der Angefahrene in den struppigen Bart.

»Aber die Haut dürfte dir noch näher sein,« höhnte der Junge, »und ob du die zu Markte tragen willst, davon ist hier die Rede.« Jetzt verstummten die Umstehenden und hefteten ihre Blicke, in denen mehr Neugierde als Anteilnahme zu lesen war, dem Redner zu. Auch Konrad blieb noch einmal stehen.

»Nichts ist in diesem Augenblick so billig wie die Weissagung vom kommenden Weltkrieg,« tönte es lauter durch den Saal. »Serbien, dem der Bund der siegreichen Balkanstaaten zur Seite steht, drängt zum größeren Serbien, das bis ans Meer reicht, unwiderstehlich hin. Gegen diese Aspiration muß Österreich das Schwert ziehen. Rußland aber kann nicht zugeben, daß sein Schutzstaat zerstampft wird. Und Deutschland wieder kann seinen Bundesgenossen nicht im Stich lassen. Ist es aber einmal in einen Krieg auf Tod und Leben verwickelt, so naht für Frankreich die gute Gelegenheit, seine alte Rechnung mit dem Todfeind zu bereinigen – natürlich auch für England, das den Augenblick nicht vorübergehen lassen wird, um den unbequemen Konkurrenten ins Mark zu treffen. Dasselbe gilt Österreich gegenüber für Italien –.« Die Stimme des Redners wurde heiser, er gestikulierte heftig, auf seiner Stirn standen die Schweißtropfen. Unwillkürlich scharten sich die wenigen Zuhörer dichter um ihn. Im Hintergrund klafften die Flügeltüren breit auf. Die Girlanden an den Wänden hoben und senkten sich, vom Luftzug bewegt; dürre Blätter wehten hinab. »Unsere Stunde aber ist gekommen, – der große Augenblick, an dem die internationale Sozialdemokratie sich bewähren, ihre Macht in die Wagschale ungeheuren Weltgeschehens zu werfen hat. Mit dem Dampfhammer, den Marx einmal beschreibt, hat man unsere Bewegung verglichen. Er vermag mit leichten Schlägen kleine Nägel in weiches Holz zu treiben. Stürzt er aber, seine ganze Schwere ausnutzend, wuchtig ab, so splittert Granit zu Staub unter ihm. Behalten wir Besinnung, Bewußtheit, Einigkeit! Der internationale Sozialismus ist der Friede.«

Erschöpft fiel der Redner in den Stuhl zurück. Man applaudierte lebhaft. »Hoch die internationale Sozialdemokratie!« rief einer mitten im Saal. Aber alles geschah wie nach einem Schema, ohne innere Anteilnahme. Der Weltkrieg! Wie oft wurde davon geredet! Von nüchternen Politikern und spiritistischen Schwärmern; von Imperialisten, die Deutschlands überragende Weltmachtstellung, von Sozialisten, die die Weltrevolution von ihm erwarteten. Daß er kommen werde, kommen mußte, war zur Formel geworden, wie das Warten auf den Messias bei den Juden zur Formel geworden war. Nichts Lebendiges, nichts, das Kräfte zeugt oder steigert, lag mehr darin.

Konrad aber fühlte sich seltsam aufgewühlt: Krieg – konnte das mehr sein als die Rauferei von ein paar wilden Tieren um die Beute, als das Niederknütteln von Schwächeren durch der Stärkeren Habgier, als ein Spektakelstück auf einer der tausend Weltbühnen, bei dem der Gebildete halb gelangweilt, halb mitleidig zusieht? Krieg – verbarg sich unter diesem Namen noch eine Macht, die den einzelnen sich selbst entreißen, in die Sintflut eines einzigen Geschehens hineinzuschleudern vermöchte, so daß er wieder ein Teil würde, sich als Teil empfände, erlöst von der Grausamkeit eigenen Lebens? Das wäre – Leben!

Die Flamme, die flüchtig in ihm aufgeschlagen war, sank rasch in sich zusammen. »Tor, der ich bin,« dachte er, »mit der drastischen Darstellung ewiger Höllenstrafen suchten noch immer kluge Pfaffen die ihnen entweichenden Seelen wieder zu ködern. Die Schrecken des Kapitalismus verfangen nicht mehr, seitdem man anfing, sich mit Hilfe von Genossenschaften und Gewerkschaften und sozialer Gesetzgebung halbwegs bequem in ihm einzurichten, jetzt versucht man's mit dem neuen Gespenst.«

Sehr müde, wie immer, wenn er geschlafen hatte, – denn das Erwachen zur Wirklichkeit erschöpft den Unglücklichen mehr als das stete wache Bewußtsein ihres Schreckens – entschloß sich Konrad am nächsten Morgen endlich, die Menschen aufzusuchen, die er sehen wollte. Den kleinen Bildhauer zuerst. Er war inzwischen eine Berühmtheit geworden, und von ihm erhoffte Konrad jenes Denkmal, das Norinas würdig wäre: einen schlichten antiken Grabstein träumte er sich mit der Gestalt einer Frau, die ruhevoll in tiefem Sessel lehnt, die Augen auf einen zu ihren Füßen spielenden Knaben gerichtet und in Ausdruck und Gebärde wie Norina hätte sein müssen, wenn das Kind nicht gestorben wäre. So sollte man, meinte er, alle Toten ehren: indem die Kunst vollendete, was das Schicksal stümperhaft unterbrach.

Als er vor Bernhards Villa trat, leuchtete ihm aus dem herbstlich bunten Garten jene Statue entgegen, die des Bildhauers Ruf begründet hatte: ein nacktes Weib, sehr schmal, sehr schlank, von der keuschen Unnahbarkeit gotischer Heiligen. Er vergewisserte sich daran aufs neue, daß Bernhard schaffen würde, was er hoffte, und nun überkam ihn wieder jene freudige Gewißheit von Norinas Nähe, von dem Vollbesitz ihres Wesens.

Der Künstler begrüßte ihn mit übertriebener Herzlichkeit und vielem Geschwätz, das offenbar irgend etwas verdecken sollte. Sie kamen ins Atelier. Da saßen und standen und lagen dieselben Frauen wie die im Garten, nur daß die Oberkörper noch kleiner, die Beine dafür noch länger und schlanker geworden waren. Das war nicht künstlerische Entwicklung, sondern Manier. Bernhard errötete unter Konrads fragendem Blick und lachte gezwungen.

»Sie sehen,« sagte er, »ich bin bereits in jenes Stadium der Berühmtheit getreten, die es mir erlaubt, mich selbst zu wiederholen, ja gewissermaßen zu karikieren.«

»Schade,« meinte Konrad trocken und sehr ernüchtert.

»Was wollen Sie?« fuhr Bernhard fort. »Das große Publikum gewöhnt sich am raschesten an bestimmte Ausdrucksformen und liebt den Künstler, den es durch sie immer wieder erkennt. Unbequem, fast suspekt ist ihm einer, der stets aufs neue Probleme stellt.«

»Das große Publikum!« rief Konrad gereizt, »was geht es den großen Künstler an!«

Der andere lächelte überlegen: »Der große Künstler will leben, lieber Baron. Und seitdem ich mir dies Haus baute und dazu den Luxus einer armen Frau gestattete, ist die Erfüllung dieses berechtigten Wunsches nicht leicht, überdies: was hat man sonst vom Dasein, wenn das bißchen äußerliche Behaglichkeit nicht wäre?«

Dann zeigte er Konrad einige kleine Modelle für das Grabmal: gemeißelte Tragödien – kein Bildwerk. Konrad fühlte, daß für ihn hier nichts zu erwarten war. Sie trennten sich kühl und verstimmt. Auf dem Wege zum Gartentor sprachen sie noch flüchtig über alte Bekannte. Auch Eulenburgs Name wurde erwähnt.

»Wissen Sie noch nicht, daß er geheiratet hat, – Veits Stieftochter, über deren Häßlichkeit ihn ihre Millionen trösten sollten?« spottete der Bildhauer.

»Verdiente er nicht viel? Brauchte er sich in so ekelhafter Weise zu verkaufen?« frug Konrad in unbeherrschter Empörung.

»Viel, – aber nicht genug! übrigens hat sich der arme Kerl greulich verrechnet. Für Papa Veit ist das Dichten so was wie ein Makeln mit Börsenpapieren, und das Herstellen von Material für Druckerschwärze nicht viel anders wie das Weben von Leinwand, das man nach der Elle mißt und bezahlt. Sein Zuschuß an den Schwiegersohn richtet sich nach dessen prompter Lieferung von Geistesprodukten Darum ist er jetzt bis zum Zirkus und zum Kino gelangt – darum, mein lieber Baron, –« und der kleine Bildhauer, der sich offenbar lange im Zaum gehalten hatte, wurde feuerrot, »kommen wir alle auf den Hund.«

Konrad atmete auf – also lebte doch noch etwas in dem Künstler – und drückte ihm freundschaftlich die Hand. »Darum werden wir mit Gewalt aus diesem Sumpf gerissen werden,« sagte er mit ungewöhnlicher Zuversicht.

»Oder sanft in ihm ersaufen; wenn er auch dreckig ist, so ist er doch mollig und warm,« ergänzte Bernhard in bitterer Selbstironie.

* * *

Als er im Bedürfnis, sich auszusprechen, zu Warburg kam und an der Türe schon wieder umkehren wollte, da er die ärztliche Sprechstunde zu stören vermeinte, trat der Freund ihm entgegen, – sehr blaß, mit Augen, die tief und glanzlos in den Höhlen lagen.

»Bleib nur,« sagte er müde, »die Sprechstunde wird uns nicht stören, ich habe meine Kassenpraxis aufgegeben und meine Tätigkeit auch sonst erheblich eingeschränkt. Nur solchen Leuten helfen zu können, die sich Essen und Trinken, Luft und Licht, Ruhe und Bewegung zu bezahlen vermögen, und nicht imstande zu sein, denen, die es am nötigsten brauchen, diese Bedingungen allen Gesundens zu verordnen, das paßt mir nicht, das ist ein Hohn auf meine Wissenschaft und meine Ideale. Doch das nur nebenbei.«

Und er erzählte, daß Gerhard Fink seine Beziehungen zu Sara Rubner endgültig gelöst habe. »Sie hatte ihn vor die Wahl gestellt zwischen sich und den Eltern. Da spielte er zuerst den schmerzvoll Entsagenden vor ihr, den gehorsamen Sohn, der Vater und Mutter nicht unglücklich machen dürfe. Es muß darauf zu einer bösen Szene gekommen sein, nach dem zu schließen, was Sara noch bebend vor Zorn und Aufregung mir andeutete. In ihrem Verlauf hat er die Haltung völlig verloren und scheint ihr – ich habe auch das aus ihren wilden Reden nur herausgefühlt – zynisch erklärt zu haben, daß er,« Warburgs Stimme sank und das Blut schoß ihm jäh in die Stirn, »nicht mehr nötig habe, sie zu heiraten.«

»Elender Schurke!« stieß Konrad zwischen den Zähnen hervor.

»Sie ist ganz vernichtet«, fuhr Warburg fort. »Von Ausbrüchen elementaren Hasses und pathetischer Verzweiflung wird sie hin- und hergerissen.«

»Man muß sie vor sich selber retten, ihr die Hand bieten, daß sie zurückfindet,« warf Konrad lebhaft ein, »eine Aufgabe, die in diesem Augenblick niemand erfüllen kann als du.«

Warburg nickte. »Ich habe von Anfang an eine Katastrophe kommen sehen; wie eine Schildwache habe ich darum immer vor ihrem Leben gestanden. Nur, daß der Kerl sie einmal so – so wegwerfen könnte, –« er brach ab, um nach einer Pause leise und langsam fortzufahren: »Sie fühlt sich vor sich selbst und vor der Welt – entehrt.«

Konrad sprang so heftig auf, daß der Stuhl zu Boden krachte. »Weil ein Schuft sich als solcher enthüllte, – entehrt?!« rief er.

Warburg hatte sich gleichfalls erhoben, schritt ein paarmal stumm mit gesenktem Kopf im Zimmer auf und ab und blieb dann dicht vor dem Freunde stehen, ihm fest ins Auge blickend.

»Ich will ihr dienen, Konrad, dienen wie bisher,« sagte er leise, »vielleicht – vielleicht –« und er legte die Hand über die Augen.

»Armer Freund,« murmelte Konrad.

Dann ging er, um, von einem unbewußten Entschluß getrieben, Frau Sara Rubner aufzusuchen.

* * *

Er erschrak, als sie ihn empfing. Sie war blaß und schmal geworden. Die breiten Backenknochen standen scharf aus ihrem Gesicht.

»So sehen wir uns wieder –,« sagte sie. Er beugte sich über die dargebotene Hand, um sie zu küssen. Sie entzog sie ihm hastig. »Sie wissen nicht?!« Er nickte.

»Auch, daß ich – besudelt bin?« und ihre dunklen, fieberglühenden Augen richteten sich auf ihn.

»Sie – besudelt?!« Er lächelte ein wenig. Frau Sara ließ ihn nicht weitersprechen.

»Ich warf mich immer weg,« begann sie mit krampfhaftem Versuch, einen ruhigen, überlegen-spöttischen Ton anzuschlagen, »an eine Sehnsucht, die in den Sumpf führte, an ein Ideal, das sich als Fata Morgana erwies, an einen Menschen, der ein Schurke ist. Meinen Sie, man könne dabei reinlich bleiben? Man käme nicht schließlich um vor Ekel?«

»Das ist, wie mir scheint, übertriebene Selbstqual; es kommt doch wohl nur darauf an, sich nichts vorwerfen zu müssen,« meinte er, die ganze Kläglichkeit seines phrasenhaften Einwurfs, den er an Stelle eines Trostes fand, peinlich empfindend. Ihr Lachen verletzte ihn darum nicht.

»Gibt es einen stärkeren Vorwurf gegen sich selbst, einen deutlicheren Beweis für die eigene Nichtigkeit, als solche Sehnsüchte, solche Ideale und Neigungen zu haben?« antwortete sie. »Wahrhaft große, starke Menschen verlieren sich nicht!« Er suchte vergebens nach einer Erwiderung, – er war sich noch nie so hilflos vorgekommen. Sie empfand offenbar seine Verlegenheit. »Was plagen Sie sich, Baron,« sagte sie, »es tut mir wohl, daß Sie mir nichts sagen können, – ich sehe daraus, daß Sie mich verstehen, und das brauche ich mehr als alles. Doch genug, übergenug der Geständnisse.«

Auf ihren Glockenruf brachte das Mädchen den Tee, und sie saßen einander gegenüber als korrekte Gesellschaftsmenschen, die Konversation machen, auch wenn sie wissen, daß sie eine unwiederbringliche Stunde verpassen, in der sie einander so viel zu sagen gehabt hätten.

Konrad erzählte ihr von den Eindrücken der letzten Tage. Sie hörte aufmerksam zu und sagte dann: »Schon lange fühl' ich's: es liegt ein großes Sterben in der Luft.«

»Aber auch eine große Sehnsucht nach Auferstehung,« meinte Konrad.

Ein ironisches Lächeln flog um ihren Mund: »Glauben Sie? Mir scheint vielmehr, daß Ideen und Menschen sich noch im Grabe wehren würden, wenn ein grausamer Gott sie aus dem Schlafe wecken wollte.« Und rasch, als fürchte sie jede Möglichkeit einer Vertiefung, lenkte sie das Gespräch wieder in die ausgefahrenen Gleise der Konvention.

Konrad verließ sie nicht weniger enttäuscht, als er vorher Warburg verlassen hatte.

Aber schon am nächsten Tage bat sie ihn schriftlich um seinen Besuch. »Ich habe gezögert, ob ich es tun sollte,« schrieb sie. »Wir lieben uns nicht, sind nicht einmal befreundet, – die übliche Schlußfolgerung daraus wäre, daß wir einander Fremde sind. Es gibt jedoch, wie mir scheint, Situationen, in denen dies Fremdsein zum größten Nahesein berechtigt und befähigt, weil keine Empfindung Blick und Urteil trübt und zu Schonung und Lüge verleitet. Ich muß jemanden haben, der offen und unbestechlich ist wie das, was mich in der Wirrnis der letzten Tage im Stiche ließ: mein Gewissen . . .«

Konrad eilte zu ihr.

Eine einzige, große, gelbe Kerze brannte in Frau Saras grauem Salon. Darunter lag ihre schwarz gekleidete Gestalt lang ausgestreckt auf dem niedrigen Diwan. Ihre Lider waren gerötet, zwei dunkle Flecken brannten auf ihren Wangen.

»Ich habe keine Zeit zu verlieren,« sagte sie. Erst jetzt bemerkte er die Unordnung auf ihrem Schreibtisch, in ihrer Umgebung. In wirrem Durcheinander befanden sich Bücher und Papiere.

»Sie wollen fort?« frug er, umschauend, dabei fiel sein Blick auf die Kerze, die feierlich, wie in einer Altarnische, in der einen Ecke des Zimmers stand und mit den zarten Rauchschleiern den feinen Duft frischen Wachses um sich verbreitete.

»Vielleicht,« antwortete sie gleichmütig und dann, seinem Blicke folgend: »Meiner Schwester Todestag, – im vorigen Jahre vergaß ich, ihn zu feiern. Um so inbrünstiger geschieht es heut.« Sie kämpfte mit den Tränen. Er streichelte unwillkürlich ihre Hand wie einem kranken Kinde. »Nicht weich werden, Baron, bitte nicht,« fuhr sie fort, »wenn Sie mir helfen wollen, müssen wir Fremde bleiben. Denn eine deutliche Antwort erwarte ich – keine Ausrede – auf das, was ich Sie fragen will. Ich brauche Grausamkeit, keinen Trost.«

Und mit einem jäh hervorbrechenden Schluchzen vergrub sie den Kopf in die Hände.

»Sprechen Sie,« sagte er erschüttert, »wenn Ihnen Wahrheit helfen kann, wie könnte ich sie Ihnen vorenthalten?«

Sie hob den Kopf: »Ich danke Ihnen.« Dann fuhr sie mit vollkommen gefestigter Stimme fort: »Nach meiner Frage, Baron Hochseß – das wird Ihnen, sobald ich sie gestellt habe, ohne weiteres verständlich sein –, werden wir uns nicht wiedersehen. Sie dürfen mir, mag Ihre Antwort so oder so ausfallen, mag ich ihre Richtigkeit durch mein Handeln anerkennen oder nicht, danach nicht mehr begegnen. Und nun merken Sie gut auf: es stürzte sich jemand nächtlicherweile, in Fieberhitze glühend und fast erlöschend vor Durst, in dunkles Wasser, das ihm Erlösung schien. Dann erst, im Tageslicht, entdeckte er, daß es schmutzig war und häßliche Zeichen davon auf seinem Körper hinterließ. Und er lief weit fort. Und Scham und Verzweiflung liefen mit ihm. Trotzdem trieben ihn Fieber und Durst immer wieder zurück nach dem Wasser –«

Draußen knarrte die Eingangspforte; es ging ein Schritt. Sara schnellte empor, starrte mit reglosen Pupillen zur Türe, und ein Schrei tiefster Verzweiflung entrang sich ihrer Brust: »Wenn er käme, wenn er in diesem Augenblick käme, er, an dem ich mir selbst zum Spott und zur Verachtung geworden bin, – ich stürzte ihm in die Arme – ich küßte seine Füße –«

Sie sank zusammen. Draußen war es still. Konrad hatte sich abgewandt, bis Saras rauh gewordene Stimme sein Ohr traf. »Kann so jemand weiter leben, Baron Hochseß?« frug sie laut und scharf. Er öffnete schon den Mund zu rascher, beschwichtigender Antwort, als sein Auge dem der gequälten Frau vor ihm begegnete. Aus seiner dunklen Tiefe flehte eine in Ketten schmachtende reine Seele um Erlösung. Da verstummte er, verbeugte sich tief und ehrfurchtsvoll, ohne daß er gewagt hätte, auch nur die Fingerspitzen derjenigen, von der er Abschied nahm, noch zu berühren und ging.

In derselben Nacht erschoß sich Frau Sara Rubner. Die große, gelbe Kerze brannte noch immer ihr zu Häupten, als man sie fand.

Konrad legte Warburg ein rückhaltloses Geständnis von allem ab, was sich zwischen ihm und ihr begeben hatte. »Du wirst verstehen,« sagte ihm dieser mit jener Kühle, die er jetzt ständig wie eine Maske trug, »daß auch wir geschieden sind.«

Auf dem Totenbett, wohin er blasse Spätherbstrosen trug, sah er Frau Sara zum letztenmal. Man hatte ihr nach jüdischem Brauch die dichten, schwarzen Haare in kleine, feste Zöpfchen geflochten; zwei alte, häßliche Klageweiber plärrten Gebete und aßen dazwischen ihr Frühstück aus fettigem Zeitungspapier. Und nicht einmal mit Blumen durfte man das Lager bedecken. Das war gegen die rituellen Gesetze.

Lange stand Konrad neben der Toten, verloren in Phantasien. Das war ja gar nicht Frau Sara, die dort geschlossenen Auges ruhte, jedes Reizes beraubt, den sie einst besessen hatte, fast unschön. War das die Zeit, die sich aus Ekel vor sich selbst entleibt hatte, – die Vergangenheit, die an ihren unerfüllten Sehnsüchten verwelkt war? Und waren die draußen, die noch herumliefen und lärmten, als lebten sie, nichts als ihre Gespenster?

Schon am nächsten Tage fuhr er nach Hochseß zurück, glücklich, mit der wieder allein zu sein, die ihm einzig noch lebte. Da er weder einen Bildhauer noch einen Baumeister für das Werk, durch das er sie verewigen wollte, gefunden hatte, ließ er von einem alten Maurer aus dem Dorf aus unbehauenen heimischen Dolomitblöcken über ihrem Grabe im Park einen kleinen Tempel errichten. Nur eine Platte brauchte man in seinem Innern hochzuheben, um ihn zu ihr herabzulassen. Daß es nicht lange dauern würde, wußte er. Was konnte dem Leben an ihm noch liegen, nachdem ihm am Leben nichts mehr lag?

Im Laufe des Winters starben die Tanten, ohne viel Geräusch zu machen.

Nun war er ganz allein auf Hochseß. Am Wechsel der Jahreszeiten allein merkte er, daß sich die Zeit bewegte.

* * *

Unablässig fiel der Schnee. Die Hochebene der Langen Meile, wo die schwarzen Wacholderbüsche verstreut auf der Öde stehen, wie zerzauste Lebensbäume auf vergessenen Gräbern, und die kleinen, einsamen Häuser, die im Herbst, wenn in den dürftigen Gärtchen davor alles Blühende kahl und welk geworden ist, mit der Schamlosigkeit des Bettlers ihre Wunden und Blößen enthüllen, hatte er schon in den weißen Samt seiner königlichen Herrschaft geborgen. Und nun schlug er glitzernde Sternenschleier um die Bäume auf den Bergen und breitete unten im Tal die prunkende Schleppe seines Brautkleides aus. Er duldete nichts Dunkles. Wenn Wagenräder, Pferdehufe, Menschentritte sein Festgewand befleckten, so löschte er in einer Nacht jede Spur davon; wenn der Schneepflug mühselig durch die Dorfstraßen knirschte und der Landmann sich ächzend Fußsteige grub, so triumphierte er, ein Herrscher von Gottes Gnaden, schon in den nächsten Stunden über die Kärrner. Und danach gaben sie ihren Widerstand auf, saßen mit gefalteten Händen hinter den eisblumigen Scheiben und sahen zu, wie die Flocken fielen.

In der offenen Säulenhalle über Norinas Ruhestätte bedeckten blühende Blumen den Boden. Sie blieben lange Zeit hindurch das einzig Farbige. Bis der Schnee eines Nachts den Wind zu Hilfe gerufen und auch diesen letzten Gegner überwunden hatte. Nun war alles weiße, reine Unendlichkeit.

Und eine große Stille kam und verschlang jeden Laut.

* * *

Unwirklich erschien Konrad der Frühling, als er danach wieder begann, wie eine Komödie mit gemalten Kulissen.

Allmählich stellten sich die Nachbarn bei ihm ein, um ihn zu trösten, »herauszureißen«, »dem Leben zurückzugewinnen«.

Er hätte ihnen am liebsten ins Gesicht gelacht, als sie davon sprachen. Ihr Leben: Wirtschaftssorgen, Familientratsch, Parteihader, und daneben – um dieses unheilvolle Dreigestirn vergessen zu lassen – offene und versteckte, von Spiel, Wein und Weibern beherrschte Amüsements! Als ihm überdies Hilde Rothausen, die Verblühte, Verbitterte, mit deutlicher Absicht wieder zugeführt wurde, zog er sich in fast verletzender Weise zurück. Daß er der letzte seines Stammes war, – das wußte und das wollte er. Nachkommen in die Welt zu setzen, denen nur ein Erbe, in diesem mechanisierten Leben aber keine Aufgabe mehr zufiel, die mehr bedeutete als ein bloßes Erhalten dieses Lebens, – wie hätte er das verantworten können?

* * *

Die Kletterrosen um Norinas Tempel begannen zu blühen. Das war der Sommer, der kam. Noch nie war er so reich an Blumen und Erntehoffnung gewesen. Aber eine bleierne Schwüle lag in der Luft, die lastete schwer auf allem, was wachsen wollte, die verschleierte den Himmel, dämpfte die Farben und ließ die kleinen nesterbauenden Vögel unruhig flattern. Als in der Johannisnacht die Feuer von den Höhen flammen sollten – es war zum Brauch geworden, daß die Jugend sie überall schürte, ein Fanal ihres Frohsinns und ihrer Hoffnungen –, und die entfachte Glut schon zu knistern begann, brach ein Unwetter aus, und Ströme rauschenden Regens erstickten jeden Funken, wenn er auch noch so hartnäckig zu zünden begehrte.

Ein paar Tage später sprengte ein Reiter in den Hof von Hochseß: Alex Rothausen. Er war heiß und rot und überhörte völlig Konrads gemessene Begrüßung.

»Weißt du schon?« rief er, sein Pferd zügelnd. »Eben telegraphierte der Amtsrichter an den Vater: Ein Attentat! – Der österreichische Thronfolger ist ermordet! Beim Einzug in Serajewo von einem Russophilen, wie es scheint! Das ist das Signal –«

»Zum Kriege!« fiel ihm Konrad ins Wort; sein Antlitz strahlte – »nun hat das große Sterben ein Ende!«

Entgeistert sah der Reiter den Schloßherrn an: sollte die Nachbarschaft dennoch recht haben, wenn sie nur noch vom verrückten Hochseß sprach?! Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.

»Ich trag's weiter, um alle Schlafmützen wach zu rütteln,« rief er lachend und stob zum Tore wieder hinaus.

Danach stand der letzte des alten fränkischen Ritterstamms vor dem Bilde dessen, der auf dem weißen Mantel das große schwarze Kreuz trug, und hielt Zwiesprache mit ihm.

Vom nächsten Morgen ab aber bestellte er Haus und Hof, war von früh bis spät auf Feld und Flur zu finden, den Knechten und Mägden ein strenger Herr, den Bauern ein Vorbild. Alles regte wetteifernd die Hände, als gelte es zu schaffen und zu bergen auf mehr als ein Jahr hinaus. Und er selbst hißte auf dem Turm von Hochseß wieder die Fahne.

 


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