Ida Boy-Ed
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Es schien Irenen, als habe sie noch nie so gut geschlafen, als sei sie noch nie so heiter erwacht.

Das Ballfest hatte ihr Freuden gegeben, die freilich ganz anderer Art waren als die, welche sonst Ballgäste suchen und finden.

Ihr war, als habe sie an diesem Abend herzerquickende Genugtuung erfahren für alles Demütigende, was ihr in den ersten Tagen ihres Aufenthalts in diesem Hause begegnet war.

Aus Fribos ganzem Gebaren, aus jedem Blick seiner Augen hatte eine unbegrenzte und sehr respektvolle Verehrung für sie gesprochen.

Und das tat wohl, sehr wohl. Ihr Hochmut, welcher doch ein wenig ihr Fehler war, sättigte sich daran. Sie hatte ihn besiegt, und er vermochte ihr nicht mehr mit erkünstelter Feindschaft aus dem Weg zu gehen. Und auch sie war ihm gut und freundlich begegnet, wie einem lieben Kameraden. Wenn es nun bald scheiden hieß, gingen sie ohne Groll und in voller Würdigung der gegenseitigen Art auseinander.

Die Wehmut, welche sie bei dieser Vorstellung beschleichen wollte, kämpfte sie tapfer nieder und sagte sich, daß es sehr gut so sei, denn mehr als solche wohlgesinnte Freundschaftlichkeit durfte und konnte nicht zwischen ihnen sein. –

Das Mädchen brachte ihr, noch während sie beim Ankleiden beschäftigt war, einen Brief.

Der Anblick dieser großen, festen Handschrift machte ihr Herz klopfen.

Was konnte Fribo ihr zu schreiben haben? Vor ihren Augen flirrte es, aber so wie sie den Brief eröffnet hatte, schienen die Zeilen wie in Erz eingegraben vor ihr zu stehen, so sicher und fest.

»Im Auftrag von Anny Bewer, die der Patient war, um dessentwillen man mich gestern abend abrief, teile ich Ihnen mit, daß sie die Stellung annähme, welche ihr durch Sie geboten ist, weil die Wendung der Dinge eingetreten sei, von welcher sie Ihnen gesprochen habe. Indem ich meinen Auftrag ausrichte, danke ich Ihnen zugleich für Ihre edle und tatkräftige Teilnahme an meiner armen Kusine.

Fribo Steinbrück.«

Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte Irene sich von einer Fassungslosigkeit ergriffen, die stundenlang anhielt, sie unfähig machte, irgendeinen Menschen zu sehen und die vor gar keinerlei Vernunftgründen zur Ruhe kommen wollte.

Kein Zweifel, Fribo hatte Anny Bewer gestanden, daß er liebe, vielleicht, weil er die schmerzliche Neigung, welche diese ihm weihte, herausgefühlt und ihr wenigstens, da er keine Gegenneigung geben konnte, Vertrauen schenken wollte. Er liebte – und wie Anny Bewer vorhergesagt: nun war sie bereit zu gehen.

Und da sie es durch Fribo selbst, ihr, Irenen, sagen ließ, mußte diese erraten, wem er sein Herz geschenkt.

Wahrscheinlich hatte Anny Bewer sich eingebildet, daß Fribo ihr die inhaltsschwere Bestellung mündlich machen werde und daß es dann zur Aussprache zwischen ihnen kommen müsse.

Er aber, wenn er vielleicht die volle Bedeutung der Worte nicht ahnte, war doch taktvoller gewesen, als die etwas derbe Anny. Er fühlte, daß er sich in gar keiner andern Form Irenen nähern dürfe, als der äußerster Zurückhaltung.

Denn er würde und mußte sich sagen, daß eine Aussprache zwischen ihnen nur schmerzlich sein könne. Daß jeder Hoffnungskeim im Gedanken zu ersticken sei.

Wäre sie eine arme Gesellschafterin, hätten die Steinbrücks sich nicht zu ihr herabgelassen, das wußte Fribo und begriff gewiß, daß umgekehrt sie sich jetzt nicht zu ihnen herablassen könne.

Der Hochmut zerrte an ihrer Seele, und mit grausam deutlichem Gedächtnis sagte sie sich wieder und wieder die Worte der Frau Steinbrück vor, mit denen diese sie vor Koketterien mit ihrem Sohn Fribo gewarnt.

Damals war das Weib in ihr beleidigt worden, und sie sagte sich immerfort: wenn ich nicht zufällig einen angesehenen Vater und Geld gehabt hätte, würde diese Frau mir persönlich alles Niedrige zugetraut haben.

Sie konnte das Gefühl nicht gewinnen, in diesem Hause um ihrer selbst willen gewürdigt zu sein, und das schien ihr, sei die nötige Voraussetzung für das Glück.

Fribo selbst würde sich der gleichen Erkenntnis nicht verschließen und nicht wagen, um sie zu werben.

Aber von heute an war ihres Bleibens kein Tag mehr.

Sie war es sich, mehr noch aber dem Manne schuldig zu gehen.

Es würde weh tun, sehr weh – ihm und auch ihr.

Aber kraftvolle Menschen überwinden dergleichen.

Wie oft hob sie den Fuß, um zur Tür zu gehen, zu den Frauen, um ihnen zu sagen: ich will fort. Aber immer wieder sank sie in sich zusammen und starrte träumend vor sich hin. Sie fühlte, wenn dies Wort erst gesprochen war, gab es keine Wahl mehr.

Und dies Kämpfen, diese Unentschlossenheit war noch ein, wenn auch schmerzlicher Genuß. Die Seele kann mit dem Wörtchen »wenn« noch spielen, unter dem Wörtchen »nie« kann sie nur leiden. –

Es mochte um die im Hause übliche Mittagsstunde sein, als das Dienstmädchen hereinkam und nach ihrem Befinden fragte. Als Irene zerstreut antwortete, daß es ihr besser gehe – denn sie hatte sich schon gesagt, daß sie hier nicht bis zum Abend unter dem Vorwand von Kopfschmerzen sitzen bleiben könne – blieb das Mädchen noch zögernd stehen.

»Der Herr hat heute plötzlich verreisen müssen,« sagte sie, »und die gnädige Frau ist heut morgen, so um elf oder zwölf kann's gewesen sein, weggegangen und ist noch nicht wieder da. Wir müssen wohl mit dem Essen warten?«

»Selbstverständlich,« sagte Irene. Als sie wieder allein war, wunderte sie sich doch, wohin denn die junge Frau gegangen sein könne. So viele und ausdauernde Besuche zu machen, war gar nicht ihre Art. Und zu langen Spaziergängen lud das Wetter wahrlich nicht ein.

Jetzt bemerkte Irene überhaupt erst, wie böse es draußen mit Sturm und Schnee wirtschaftete, von Unruhe erfaßt über diese Torheit der so überaus zarten Signe, vergaß sie für den Augenblick ihre eigenen Gedanken.

Sie ging treppab und fand auf der vor den Zimmern des ersten Stockwerks umlaufenden Galerie Frau Steinbrück in Beratung mit dem Dienstmädchen.

»Hat Signe Ihnen gesagt, wohin sie gegangen ist?« rief sie Irenen schon entgegen.

»Nein,« antwortete diese, »ich habe Signe gar nicht gesehen den ganzen Morgen.«

»Das hat einen Haken, dahinter steckt etwas,« rief Frau Steinbrück heftig; »mein Gott – sie wird doch nicht . . .«

Irene konnte diese rücksichtslosen Äußerungen in Gegenwart eines Dienstboten nicht begreifen.

»Mir fällt ein, daß Signe gestern abend davon sprach, Anny Bewer heute Gesellschaft leisten zu wollen,« sprach Irene. Sie konnte aber nicht verhüten, daß sie bei dieser Lüge doch blaß und unruhig aussah, was Frau Steinbrück sofort bemerkte.

Aber sie hatte doch die kleine Lehre empfunden und sagte barsch zu dem Mädchen:

»Na, dann wissen wir ja Bescheid. Bewahren Sie ihr Mittagessen nur auf, Fräulein von Meltzow kann bei mir essen. Bitte, Fräulein Irene, kommen Sie.«

Das war alles sehr herrisch gesprochen. Kaum waren sie in Frau Steinbrücks Zimmer, so fuhr diese auf Irene los:

»Das war natürlich von Ihnen bloß erfunden?«

»Ja,« mußte Irene antworten.

In diesem Augenblick trat Fribo ein, der ahnungslos zur gewohnten Stunde zu Tisch kam. Bei Irenens Anblick schien er zu erschrecken und stand zögernd an der Tür.

»Denke dir,« rief seine Mutter, die mit gerungenen Händen auf und ab rannte, »denke dir, Signe ist fort!«

»Unmöglich!« rief er.

Irene, obschon sie die fassungslose Erregtheit der Mutter begriff, hatte Mitleid mit dem Sohn, der leichenblaß geworden.

»Ich hoffe, wir ängstigen uns ganz unnütz. Es liegt nichts vor, wie die Tatsache, daß Signe schon früh fortgegangen ist, ohne zu sagen wohin, und nicht zum Essen heimkehrte,« sprach sie besänftigend.

»O, ich fühle es, ich weiß es,« sprach Frau Steinbrück, »so deutlich, als hätte mir das jemand gesagt. Sie ist fort, und zwar mit diesem Schweden!«

»Mutter!« rief Fribo drohend.

»Ach was, hier hilft kein Zartgefühl, man muß die Dinge beim rechten Namen nennen. Daß sie mit dem Arvid geheimnisvoll einverstanden war, konnte jedes Kind sehen,« grollte Frau Steinbrück. »Und nun ist Tom fort, was sollen wir machen?«

»Zunächst vorsichtig sein mit Beschuldigungen,« sagte Fribo streng, »ich habe gerade vor einer Viertelstunde Arvid im Gespräch mit Konsul Talker aus dem Klub kommen und zu Tisch gehen sehen.«

»So,« sprach Frau Steinbrück gedehnt und beinahe enttäuscht.

Sie war eine von den ungeduldigen Naturen, die lieber eine schreckliche Gewißheit ertragen, als einen unaufgeklärten Tatbestand mit ansehen.

»Sollten wir nicht,« sprach Irene mit größtmöglicher Gelassenheit, »zunächst vorsichtig versuchen, zu erfahren, ob Signe nicht in der Tat bei Freunden, vielleicht wirklich gar bei Anny Bewer ist?«

Fribo drückte ihr die Hand. Diese sanfte, feste Stimme tat ihm so wohl.

Und welche Wohltat war überhaupt auch ihre Gegenwart in dieser Stunde. Sie verlor nicht den Kopf, wie ein unreifes, junges Wesen getan haben würde, sie erging sich auch nicht in häßlichen Verdächtigungen, wie seine Mutter.

Und sie sah ihn an, als wollte sie sagen: sei nur ruhig, ich verlasse dich nicht.

Martin kam und trug die Suppe auf. An die Mahlzeit hatte niemand mehr gedacht.

»Ich kann nicht essen,« klagte Frau Steinbrück.

»Der Leute wegen – ich bitte dich,« flüsterte Fribo ihr befehlend zu.

Im Grunde war ihr dieser Befehl sehr angenehm. Sie behauptete immer, wenn sie nicht regelmäßig wie eine Uhr lebe, befinde sie sich nicht wohl.

Während der schnell eingenommenen Mahlzeit begann sich in ihr eine Hoffnung auf eine dennoch harmlose Lösung wohltätig zu regen.

Irene, welche nicht imstande war, viel zu genießen, erhob sich bald.

»Ich will in Signes Zimmer nachsehen,« sagte sie, »ob Sachen fehlen, ob sich irgendeine Spur findet.«

Frau Steinbrück, bei der ein schneller Wechsel ganz verschiedener Ansichten nichts Seltsames war, meinte, das sei wohl unnötig. Sie glaube jetzt selbst, daß man sich unnütz aufrege.

Fribo hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken, welches sich trotz der seltsamen Lage auf seine Lippen drängen wollte. Der Optimismus seiner Mutter nach Tisch war eine schon wiederholt von ihm beobachtete Tatsache.

Aber Irene ging doch und kam nach zehn Minuten wieder.

»Es fehlt nichts wie Hut, Mantel und Boa, sowie ein rotes Tuch, welches Signe aber bei kaltem Wetter stets unterzubinden pflegt. Sogar ihre Börse liegt voll Geld auf ihrem Schreibtisch.«

»Na – also,« schloß Frau Steinbrück beruhigt.

Fribo hingegen fühlte gerade bei diesem Bericht einen eisigen Schrecken.

»Sie wird sich mit Tom gestritten haben,« meinte Frau Steinbrück, »und ist aus Laune und Trotz zu irgend jemand für den Tag gegangen.«

»Und wenn sie – in – den Tod gegangen wäre?« sprach Fribo kaum hörbar.

Seine Mutter schrie auf.

»Schone doch meine Nerven,« rief sie, »du hast eine Art einen zu alterieren – es ist wirklich stark. Signe ist zwar sehr überspannt, aber zu so etwas fehlt ihr der Mut.«

Irene stand wie leblos vor Schreck da. Als Frau Steinbrücks Blick auf sie fiel, kamen ihr auf einmal allerlei kleinliche Gedanken.

»Entschuldigen Sie nur, liebes Fräulein,« begann sie in der festen Meinung, daß sie etwas Notwendiges und sehr passendes sagte, »daß Sie diese fatale Geschichte hier mit durchmachen. Aber, wie Sie sehen, wir können wirklich nichts dafür.«

Fribo, in aufwallender Beschämung, wollte etwas Heftiges sagen, aber schon hatte Irene die Hand seiner Mutter ergriffen und bat mit bebender Stimme:

»O, lassen Sie mich teilnehmen an Ihren Sorgen.«

Frau Steinbrück wurde plötzlich gerührt und drückte ihr Taschentuch an die Augen.

»Was wollen wir nun tun?« fragte Irene.

»Ich werde alle Bekannten besuchen,« sagte er. »Die Hälfte gehört zu meinen Patienten, der Besuch des Hausarztes ist nie auffällig. So werde ich hören, ob Signe sich irgendwo hat sehen lassen.«

»Kann ich nicht einige auf mich nehmen?« bat sie.

»Nein. Bitte, bleiben Sie im Hause bei meiner Mutter und halten Sie jeden Besuch und jedes Gespräch mit den Leuten fern.«

Irene fügte sich gehorsam. Nur in einem handelte sie eigenwillig: sie ließ im Kontor bestellen, daß man ihr Herrn Arvid Cederström senden solle, falls er sich heute blicken lasse.

Schwere Stunden vergingen. Frau Steinbrück war nicht die Frau, zu warten. Sie erging sich in heftigen Klagen, bald über Signe, bald über Tom. Einmal hatte ihr Sohn alle Schuld, und die arme kleine Frau war nur das Opferlamm, dann bejammerte sie wieder Tom und maß Signe alle Schuld bei.

Längst war es Abend geworden. Die Lampe brannte behaglich auf dem Tisch, die Vorhänge waren herabgelassen und man hätte vom warmen Zimmer aus voll Gemütlichkeit auf den heulenden Sturm hören können. Aber jedes neue Auftürmen der bösen Naturgewalt erschreckte die Frauen wieder.

Da Signe noch immer nicht zurückgekehrt war, blieb jeder Zweifel ausgeschlossen: Ungewöhnliches hatte sich begeben, die Aufklärung konnte Furchtbares bringen.

Fribo kam zurück, blaß, mit eingefallenen Zügen.

»Nichts,« murmelte er und sank auf den Stuhl nächst der Tür. »Sie ist bei niemandem gewesen.«

»Wir müssen doch mit Arvid sprechen,« sagte Irene leise.

Sie stand vor ihm und ließ ihm ihre Hand, die er mit seinen beiden Händen ergriffen. Er lehnte, erschöpft von der Sorge, die ihn mehr quälte, als er sich selbst eingestehen machte, seine Stirn gegen ihren Arm.

Und vergessen waren in diesem Augenblick die Gedanken an die Kluft, welche sie voneinander trennte.

Nach Sekunden stillen Ausatmens fuhr er empor und antwortete auf ihre letzte Bemerkung.

»Ich war auch bei ihm. Er war nicht daheim. Doch ließ ich ihm eine Zeile, daß ich ihn heute noch sprechen müsse und sei es Mitternacht.«

Frau Steinbrück schrie wieder auf. Es hatte geklopft, und sie war so schreckhaft heute.

Irene hatte wahrhaft Mitleid mit ihr und eilte an ihre Seite, als wolle sie sie vor dem etwa Eintretenden schützen.

Aber es war nur Martin, der meldete, daß draußen der Kutscher Rocksien sei und durchaus die Herrschaft sprechen wolle.

»Nur herein mit ihm,« sagte Fribo heiser. Er fühlte, da kam eine Nachricht.

Etwas umständlich und von Martins neugierigen Blicken begleitet, kam ein kleiner, stämmiger Mann über die Schwelle, im dunkeln Mantel mit großem Kragen, der aber nun an beiden Seiten zurückgeschlagen war, so, daß die Arme in den weiten Paletotärmeln und die Hände in graugestrickten Fausthandschuhen sichtbar waren. Sein Gesicht war blutrot von Kälte, der graue Backenbart, der unter dem Kinn bis zur andern Wange fortlief, das graue Haar naß von geschmolzenem Schnee. In der einen Hand hatte er seinen Hut, in der andern einen Brief.

»Guten Abend auch,« sagte er mit seinem breiten Hochdeutsch, das ihm offenbar nicht die tägliche Sprache war.

Fribo nötigte durch einen nicht mißzuverstehenden Blick den noch immer wartenden Martin abzutreten. Dann sagte er mit gewaltiger Beherrschung ruhig und freundlich:

»Na, Rocksien, Ihrer Frau geht's doch nicht schlechter?«

»Nee, danke vielmals, Herr Doktor, die Pulvers haben ihr fix wieder auf die Beine geholfen. Ich komme man bloß wegen die junge Frau, die bei das Wetter nach Walddorf gefahren ist.«

Irene preßte so fest die Hand von Frau Steinbrück, daß diese sich zitternd jeden Ausrufes enthielt.

»Das war'n Unverstand, wenn Sie's nicht übelnehmen, Herr Doktor.«

»Ja,« sagte Fribo mit unsicherer Stimme und dem Versuch, zu lächeln, »das fand ich auch. Aber meine Schwägerin wollte durchaus das zugefrorene Meer sehen.«

»I,« meinte der schlaue Mann gutmütig, »denn wär' sie wohl mit ihrem eigenen Fuhrwerk runtergefahren und hätt' einen bessern Tag abgewartet und wär' nicht dageblieben. Nee, nee, das hat 'en Haken. Aber mir geht es nichts an, und ich sprech' auch nicht aus mein Geschäft. Ein Kutscher erfährt manches. Darum können Sie ruhig schlafen.«

»Hat meine Schwägerin sehr von der kalten Fahrt gelitten?« fragte Fribo.

»Beinah als tot haben wir ihr aus den Wagen gebracht, die alten Möllers und ich. Aber, als ich meine Pferde verfüttert und ausgeruht hatte, und als ich noch mal vorsprach, ob sie auch wieder mit retour wollte, da hatte sie sich schon ein büschen besonnen und sagte, daß ich hier bezahlt bekomm und gab mir den Brief mit.«

Fribo nahm mit bebenden Fingern den sonderbar aussehenden Brief. Zugleich langte er in seine Tasche.

»Nee, ich kassier' Sonnabends ein,« sagte der Mann abwehrend, »aber wenn ich mir in der Küche was Warmes geben lassen darf – es war 'ne harte Fahrt, und da täte mir ein Happen aus der Steinbrückschen Küche besser, als meiner Alten ihr aufgewärmter Kaffee.«

Irene ging sofort zur Tür, um den Mann selbst hinaus zu begleiten und zu versorgen.

»Nichts für ungut; guten Abend auch,« sprach er und schwenkte seinen Hut grüßend aus.

»Guten Abend, lieber Rocksien,« sagte Fribo mit seiner gewohnten Leutseligkeit.

Als Irene dem Manne zu essen geben ließ, und noch zögernd in der Küche verweilte, da es ihr bedenklich schien, ihn unbewacht bei den Dienstboten zu lassen, sah er sie mit einem schlauen Lächeln an.

In einem Augenblick, als die Köchin in der fernsten Küchenecke am Geschirrschrank hantierte, raunte der alte Mann:

»Meinswegen brauchen Sie keine Wache zu stehen, Fräulein. Ich sprech' nicht aus mein' Geschäft.«

So ging sie denn, verzehrt von Spannung und Sorge, wieder ins Zimmer.

Frau Steinbrück unterbrach sich bei ihrem Eintritt nicht in einer lauten, schnellen und wortreichen Klage. Fribo saß am Tisch, den Kopf zwischen beiden Händen.

»Und so viel ist gewiß: ich hab' keine Schuld. Das kann keiner behaupten. Ich bin gut und liebevoll gegen sie gewesen. Jedermann ist Zeuge. Nein, mir kann man nicht die Schuld geben. Natürlich gibt es immer gehässige Menschen, die einem gern was andrehen, und obenein, die Schwiegermutter, ja, die bekommt immer Schuld. Aber ich weiß mich frei von Vorwürfen. Ich hab' sie immer an mich gehalten, und kein Tag ist vergangen, wo ich sie nicht besuchte.«

In dieser Tonart ging es weiter.

Fribo reichte Irenen schweigend den Brief. Es war ein Zettel von ganz vergilbtem Papier, wie er sich bei den alten Einhütern vorgefunden haben mochte. Mit ganz unsichern Zügen hatte mit einem Bleistift eine ersichtlich matte Hand darauf geschrieben:

»Lieber Fribo, sage Du allen, daß ich fortgehe. Sende mir, was ich dazu brauche. Ich will in meine Heimat gehen. Signe.«

Sie sahen sich an. Ihre und seine Augen waren feucht. Sie wußten es beide, sie fühlten das gleiche: eine unendliche Barmherzigkeit mit dem jungen, unglücklichen Geschöpf.

»Was werden wir tun?« fragte Irene.

»Mutter und ich werden morgen früh bei Tagesanbruch nach Walddorf hinunterfahren, wir werden Signe, wenn ihr Befinden es gestattet, wieder hierher bringen und sie mit Sorgfalt und Liebe umgeben, bis sie kräftig genug ist, in ihre Heimat zu reisen. Aber ich fürchte ...« er brach ab.

»Wie!« rief seine Mutter, »ich soll ihr, die uns so kränkt, noch den Hof machen, meine Gesundheit aufs Spiel setzen, indem ich ihr nachfahre? Und sie obenein ruhig abreisen lassen? Nein. Her muß sie wieder, und Tom muß ihr gehörig den Kopf zurechtsetzen, damit ihr die romantischen Flausen vergehen!«

Auf Fribos Gesicht stand ein Ausdruck des Leidens.

»So bleibe, Mutter,« sagte er sanft, »du magst recht haben – dein Recht!«

Nach einer sekundenlangen Pause, während welcher in Irenens Brust ein schwerer Kampf entstand, fragte Fribo mit sanfter Stimme:

»Und Sie, Irene – wollen Sie die Barmherzigkeit haben?«

Dieser weiche Ton voll Zärtlichkeit fiel Frau Steinbrück denn doch auf. Mit großen Augen sah sie beide an.

In Irenens Gesicht stand Abwehr geschrieben – keine trotzige, hochmütige mehr, sondern die bange Abwehr jemandes, der sich erliegen fühlt.

Da nahm Fribo ihre Hand und sprach voll Ernst:

»Können Sie in dieser Stunde nicht sich selbst besiegen und nicht emporkommen über die Erinnerungen an kleinliche Kränkungen – dann bleiben Sie. Dann will ich Sie nicht zwingen, teilzunehmen an dem Schicksal einer, die den Kleinlichkeiten des Lebens erlag.«

Sie hob ihr Auge zagend zu ihm empor. Als sie dann dem ernsten, männlichen und doch so unendlich guten Blick begegnete, der ihre Seele beschwören zu wollen schien, da sprach sie leise:

»Ich will.«

Überwältigt von einer jähen Aufwallung ungeahnten Glückes, schloß sie sekundenlang die Augen.

Aber es galt, sich zu fassen, sich selbst zu vergessen.

Schon kam auch eine neue Störung. Martin erschien und meldete Herrn Arvid an.

»In mein Zimmer,« befahl Fribo.

Er wandte sich zu den Frauen.

»Also bestelle den Wagen, morgen früh um sieben Uhr, Mutter. Du bleibst hier und erklärst Signes Flucht nach Walddorf auf schickliche Weise, vielleicht bringen wir sie zurück. Ich beanspruche das Recht, als Haupt der Familie zu handeln nach meinem Ermessen.«

Frau Steinbrück sagte schon gar nichts mehr. Sie bot dem Sohn gute Nacht, und er ging nach einem stummen Händedruck mit Irenen davon.

Auch die Frauen trennten sich. Mit ganz besonderer Freundlichkeit verabschiedete sich Frau Steinbrück von Irenen, und als sie in ihr Schlafzimmer ging, dachte diese immer dem Nützlichen und Vorteilhaftesten zugewandte Frau:

»Das wäre nach das einzig Gute bei der fatalen Geschichte, wenn Fribo sich bei der Gelegenheit das Mädchen fischte. Irene ist eine vernünftige, wohlhabende Person – zwar adlig – aber das weiß sie wohl nachgerade, daß uns das nicht weiter imponiert. Wirklich, es wäre zu nett.«

Mit diesem mütterlichen Gedanken schlief Frau Steinbrück fest ein, und nicht einmal im Traume erschien ihr das bleiche Bild der entflohenen, jungen Frau.

»Es ist schon zehn Uhr, Herr Doktor,« begann Arvid, der in Fribos Zimmer wartend neben dem Tisch gesessen hatte, »nur Ihre dringliche Bestellung veranlaßt mich noch...«

»In der Tat, ich habe dringlich mit Ihnen zu sprechen,« sagte Fribo.

Arvid ließ sich wieder in den Lehnstuhl nieder, von welchem er sich mit etwas gemachter Müdigkeit erhoben hatte. Da er ganz genau wußte, wovon die Rede sein würde, so war es ihm nicht sehr bequem, sein gewohntes, verbindliches Gesicht zu machen.

»Sie waren mit meiner Schwägerin Signe sehr befreundet, Sie waren ihr Vertrauter?« fing Fribo sein Verhör an.

Er stand mit dem Rücken am Ofen und sah mit klaren Blicken auf den anderen herab. Er gab sich gar nicht die Mühe, für das Gespräch verhüllende Formen zu wählen.

»Ja,« antwortete Arvid und begegnete dem Blick des Fragenden frei. Denn nach seiner festen Meinung hatte er gar keine Ursachen, die Augen niederzuschlagen. »Ihr Freund, weil ich lebhaften Gedankenaustausch mit ihr pflegte. Ihr Vertrauter? Das kann ich nicht so glatt beantworten. Außer ihren Seelenkämpfen, die alle das Ziel hatten, eine wahre Vereinigung mit Tom zu erringen, hat sie mir nichts vertraut – gewiß war in diesem unschuldigen Wesen auch nichts verborgen, was eines Vertrauten bedurft hätte.«

»Gut,« sagte Fribo weitergehend, »aber gerade diese Seelenkämpfe waren das Vorspiel der Katastrophe, um die es sich hier handelt. Sie wissen, daß Signe fortgegangen ist?«

Seine Stimme war ehern. Ein Lügner hätte vor ihr erbeben müssen. Aber Arvid dachte nicht an solche Niedrigkeit.

»Ja. Ich traf sie heute morgen im Sturm auf dem Kirchenplatz. Da gestand sie mir ihre Absicht. Ich versuchte, sie anderen Sinnes zu machen. Als sich das als umsonst erwies, war ich es, der ihr zur Fahrt nach Walddorf riet.«

Fribo konnte vor Erstaunen kaum noch die Frage herausbringen:

»Und Sie hielten es nicht für Ihre Pflicht, uns sofort zu benachrichtigen?«

»Nein,« sagte Arvid, frank und frei redend, »ich hätte erstens darin eine Beeinträchtigung des individuellen Freiheitsrechtes Ihrer Schwägerin gesehen und zweitens habe ich meinen Kavalierspflichten gemäß gehandelt, indem ich meine Person von den Handlungen der jungen Frau ganz fern hielt.«

Fribo wußte nicht, ob er lachen sollte, oder ob der Zorn ihn packen wollte. Er sah und hörte aus Angesicht, Rede und Ton des anderen, daß der glaubte, völlig recht gehandelt zu haben.

»Mein Herr,« sprach Fribo endlich mühsam, »was Sie getan haben, grenzt verzweifelt nahe an eine Leichtfertigkeit.«

Das feine, blasse Gesicht des Schweden übergoß sich mit hellem Rot. Stolz richtete er sich auf, und mit wirklichem Adel in der Haltung sprach er:

»In meinem ganzen Leben, Herr Doktor, ist keine Handlung, die ich nicht mit meiner ganzen Mannesehre decken kann. An der unglücklichen Ehe Signes habe ich weder Schuld noch Teil. Kein unerlaubtes Wort, kein unerlaubter Blick ist zwischen uns gefallen. Aber ich konnte von meinem Standpunkte aus einer Aufhebung dieser Ehe keine Hindernisse bereiten. Das hätte ich getan, wenn ich die Familie Steinbrück gleich hinter Signe hergehetzt haben würde.«

»Ich sehe,« sprach Fribo mit mehr Ruhe, denn seine Gerechtigkeit mahnte ihn zum Maßhalten, »Sie sind sich keines Unrechts bewußt, und wir schauen auf Menschen und Dinge von verschiedenen Punkten aus. Auch ich erkenne Signe das Recht zu, eine Ehe zu lösen, deren Unglück um so schmerzlicher und unheilbarer war, als nur sie allein es empfand – was mehr als alles die völlige Verschiedenheit der beiden Gatten beweist. Aber ich sehe ein Unrecht darin, daß sie diesen unklaren, mit ringenden Quälereien erfüllten jungen Frauenkopf noch vollpfropften mit Gedanken und Problemen, an denen schon reife Geister verzweifelt sind. Und noch ein größeres Unrecht sehe ich weiter darin, daß Sie Signe allein und ohne auf Hilfe bedacht zu sein in die Welt hinausfahren ließen. So wie ich ihre zarte Konstitution kenne, besonders nach der törichten Tanzraserei von gestern, wird sie diese Fahrt nicht ohne Schaden überstehen, wahrlich, die Torheit, sie zu begleiten oder sich durch Benachrichtigung an uns hineinzumengen, wäre warmherziger gewesen, als diese ausgeklügelte Beobachtung Ihrer vermeintlichen Kavalierspflichten.«

Arvid war doch etwas um seine Haltung gekommen.

»Sie haben vielleicht recht,« sagte er zweifelnd. »Bürden Sie mir aber nicht die Furcht auf, daß Signe Schaden leiden kann. Das würfe einen Schatten auf mein künftiges Leben!«

Fribo zuckte die Achseln.

»Was haben Sie mir noch zu sagen?« fragte Arvid.

»Nur dies. Wie sich auch dies Ereignis ausgestaltet: verlassen Sie uns nach einer schicklichen Zeit.«

»Das wäre ohne diese Mahnung geschehen,« sprach Arvid mit Würde.

Die Männer schieden voneinander und jeder verlor sich in Erstaunen über die Art des andern.

Arvid empfand den geraden Charakter, die einfachwahren Empfindungen des jungen Arztes als etwas Rauhes, ja, fast grob Verletzendes, und hielt ihn für eine minder reich organisierte Natur als sich selbst. Aber er versagte ihm nicht ein Gefühl der Achtung, und aus diesem heraus entschuldigte er die verschiedene Weltauffassung, die der andere hatte. Fribo hingegen bemitleidete den Mann, der die Haupteigenschaft des Mannes: klare, feurige Entschlossenheit verloren hatte vor lauter überfeiner und tiefer Selbstbeobachtung. Er empfand die zergliedernde Art des jungen Schweden als ein lediglich Zerstörendes und darum Ungesundes. Aber weil er erkannte, daß der andere an sich glaubte und sich für völlig ehrenhaft hielt, entschuldigte er ihn.

Und so sah einer auf den anderen herab.



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