Ida Boy-Ed
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Die Lampe brannte still und beschien den auf Sofa und Tisch ausgebreiteten Ballstaat Irenens. Frau Steinbrück, welche sich in Aufmerksamkeiten gegen Irene nicht genug tun konnte, hatte vor einiger Zeit einen Ankleidespiegel hereinstellen lassen. An den Armleuchtern, welche aus dessen Rahmen vorsprangen, brannten schon die Kerzen. Ein leiser Duft von Heliotrop, der aus den Stoffen und Spitzen kam, erfüllte das ganze Zimmer.

Anny Bewer war hereingekommen und sah sich alles an.

Ihr kamen so merkwürdige Gedanken. So wenig wie die vornehme Schönheit und Pracht dieser Kleider und dieser zahllosen kleinen Gegenstände, welche zur Ausrüstung einer Frau gehören, in dieses Zimmer und zu dem altmodischen, gediegenen, aber gradlinigen Hausrat darin paßten, so wenig paßte die ganze Irene in dies Haus. Sie erschien darin wie ein fremder Gast, und es war undenkbar, daß es ihr gefallen sollte, sich hier eine bleibende Stätte zu erwählen. Ebensowenig war es denkbar, daß der kluge Fribo um eine Gattin werben würde, deren ganze Persönlichkeit einen Gegensatz zu dem Geist dieses Hauses bildete.

Das war ein solider, anständiger Geist, der fein ehrbarlich seinen Horizont an den Mauern der Stadt fand. Das war ein Geist der Zufriedenheit, der zwar im kleinen nörgelte, aber im ganzen sich's genügen ließ, besonders weil das, was man hatte, recht auskömmlich war. Es war der Geist der Satten, die weder grübeln, noch zweifeln, noch streben, noch sündigen mögen!

Die glücklichen Menschen! Anny Bewer wünschte sich manchmal neidverzehrt, nur einmal diese platte Ruhe empfinden zu können.

Aber, daß das nicht Irenens Ideal war, glaubte sie für gewiß annehmen zu können. Und wie hoch Fribo auch stand, – er war doch der Sohn seiner Mutter, der Bruder seines Bruders und konnte ihrem Lebenskreis nicht entfliehen.

Jetzt kam Irene, ungewöhnlich heiter sah sie aus und ihr Lächeln – das gestand Anny Bewer sich – wischte gleich die Zahl einiger Jahre von ihrem Angesicht.

Wenn Anny Bewer gewußt hätte, woher dies Lächeln kam! Eben hatte Irene erfahren, daß Fribo auf den Ball gehen wolle – Signe und Frau Steinbrück konnten seinen Entschluß gar nicht genug anstaunen, da er doch noch vorgestern erklärt hatte, daß er nicht mehr solchen inhaltlosen Vergnügungen nachzugehen denke.

»Ich brauche Ihre Hilfe gar nicht, liebe Anny, aber mir war nichts willkommener als Ihre Gegenwart jetzt, denn ich habe sehr ernsthaft mit Ihnen zu reden,« sagte Irene, indem sie begann, ihr Hauskleid aufzuknöpfen.

»Mit mir?« fragte Anny zögernd und dachte: »Sie wird wieder in mich hineinreden und mir Freudigkeit für meinen Beruf eintrichtern wollen.«

Anny Bewer haßte alle bevormundenden Absichten, mochten sie gleich von der größten Liebe eingegeben sein.

»Lassen Sie mich,« sagte sie mürrisch, »ich bin kein geeignetes Objekt für Ihre dilettantischen Humanitätsbestrebungen.« Irene errötete. Das herbe Wort tat weh. In ihr wallte es hochmütig und ablehnend auf. Aber die heftige und hochfahrende Entgegnung hemmte sie auf den Lippen. Sie hatte sich selbst bezwungen.

»Vielleicht,« sprach sie im oberflächlichen Ton, »lesen Sie einmal den Brief, welchen ich von meiner Erzieherin und Freundin, der Frau Doktor Johanne Ebermann erhielt. Bitte – in dem obersten Schubfach der Kommode. Ja, der da, welcher auf dem Fächerkasten liegt.«

Anny hatte herzlich wenig Neugier, den Inhalt des Briefes kennen zu lernen. Ihre Augen verfolgten Irene, deren schöne Schultern und Arme sie zum erstenmal enthüllt sah. Sie schaute zu, wie Irene sich die reichen, dunkeln Haare ordnete und einen kleinen Stern von flimmernden Steinen hineinsteckte, der an einer Spirale befestigt war und dadurch fortwährend in zitternder Bewegung blieb.

Ja, sie hatte etwas Stolzes, Schönes, Selbstbewußtes, welches man sich sehr gut und harmonisch der ernsten, ruhevollen Art Fribos zugesellt denken konnte.

Fort mit diesen unerträglichen Gedanken. Anny las den Brief.

»Meine liebe Irene. Heute lediglich eine definitive Auskunft auf Deine wiederholten Anfragen. Du hast so warm für Deinen Schützling gesprochen, daß es mir nicht schwer ward, zu reden. Behauptet doch Ebermann ohnedem stets, daß die Gabe der Rede mir etwas überreichlich verliehen sei. Ich bin zu der Antwort berechtigt worden, daß Fräulein Anny Bewer am fünfzehnten März als Gesellschafterin und Reisebegleiterin bei der jüngst verwitweten Frau von Oberhausen eintreten kann. Die gute, alte Dame will in ihr eine etwas leidende Tochter sehen, die zunächst noch rücksichtsvoller Pflege bedarf. Unsere alte Freundin hofft ein Zusammenleben der besten Art und meint, das von uns vorgeschlagene Fräulein Bewer passe besser zu ihr und könne ihr mit der Zeit mehr werden, als ein junges, ungeprüftes, vergnügungssüchtiges Ding. An Gehalt will Frau von Oberhausen dasselbe geben, was Fräulein Bewer bisher durch Stunden verdiente. Sie erbittet bis zum ersten März bestimmte Antwort, da am fünfzehnten schon die Reise nach Bellaggio angetreten werden soll. Ein Besinnen ist wohl hier fast undenkbar, denn es ist eine Stellung, wie man sie nie wieder findet, wie Ebermann und ich unsere Oberhausen kennen, wird sie sich ganz der Pflege des Fräuleins hingeben, anstatt von ihr Dienste zu beanspruchen. Und da Oberhausens einstens ihre einzige Tochter verloren, die gerade auch Anny hieß und jetzt das Alter Deines Schützlings hätte, so kann man nicht wissen, wieweit das Interesse noch Früchte tragen wird, vorausgesetzt, daß diese Anny Bewer imstande ist, der lieben Alten wirklich echte Zuneigung zu widmen.

Bei dieser Gelegenheit: Johanne Ebermann sagt täglich: ›sie kommt bald wieder‹. Oberlehrer, Doktor Fritz Ebermann sagt täglich: ›sie bleibt‹. ›Sie‹ – das bist Du. Lasse mich doch recht behalten, schon aus Prinzip gegen meinen Ebermann, der doch nicht immer der Klügere sein darf. – Unter uns, er ist es. – Du fehlst mir so sehr, besonders wenn ich Euer Haus besuche. Dein Vater ist mir derselbe geblieben. Seine Frau ist ein vornehmer, gütiger Mensch. Wenn Dein Opfer – das Fernbleiben – zu ausgedehnt wird, dürfte es beide, um die es gebracht wurde, drücken.

Einstweilen schicke uns diese Anny Bewer, nach ihr vielleicht kann ich die Welt beurteilen, in der Du nun stehst, oder, falls auch sie dorten das Anormale bedeutet, sie kann mir erzählen. –

Meine vierzehn Kinder schreien nach Brot, und da es Pflegekinder sind, darf ich sie keine Minute auf ihr Abendbrot warten lassen. Darum leb' wohl.

Deine Johanne Ebermann.«

Anny starrte lange hinab auf diese Briefblätter, welche in ihrer Hand zitterten.

»Nun?« fragte eine Stimme liebevoll.

Anny sah empor.

Vor ihr, der im Sofa Sitzenden, stand Irene, die Hände auf Tisch und Sofalehne gestützt, das schöne Gesicht zu ihr herabgeneigt. In den dunkeln Augen glänzte das Licht einer edeln Freudigkeit – jener Freudigkeit, die eine edle Seele empfindet, wenn sie einer anderen darbenden Seele Erlösung zu bringen vermag.

Hinter den Gläsern von Annys Kneifer funkelte es seltsam.

»Sie sind gut – o, sehr gut zu mir,« murmelte sie.

Irene beugte sich herab und küßte die Stirn des armen Mädchens.

»Ich habe hinter Ihrem Nacken für Sie gehandelt, liebe Anny,« sprach sie mit unbeschreiblicher Zartheit im Ausdruck, »und ich hoffte dabei, Sie würden es nicht mißverstehen. Der Tod des Herrn von Oberhausen war mir ein Fingerzeig, dem ich zu gehorchen hatte. Ich begriff, daß ich an der alten Dame ein gutes Werk tue, wenn ich ihr eine neue Pflicht, eine neue Lebensaufgabe zuschob...«

»Schweigen Sie,« rief Anny Bewer, umfaßte die Taille der vor ihr Stehenden und barg ihr Haupt an deren Schulter. »Sie schieben die alte Dame vor. Wie klein muß ich mich Ihnen gezeigt haben, daß Sie fürchten, Ihre himmlische Güte würde mich beleidigen.«

Irene streichelte liebevoll den glatten Scheitel des Hauptes, welches sich fast leidenschaftlich an sie drängte.

»Nun denn – ja. Ich wollte, daß Sie auf schönen Reisen, in einem milden Klima an Körper und Seele gesundeten. Ein besseres Los können Sie nie erwarten, als das neben der herrlichen alten Frau. Mein Verdienst dabei ist so gering, daß es mich beschämen würde, wenn Sie zu irgend jemand von meiner bescheidenen Vermittlerrolle sprächen.«

»Und doch,« sagte Anny Bewer, ihr Haupt erhebend, »doch kann ich diese Stellung nicht annehmen.«

Irene prallte förmlich zurück. Das schien ihr eine Verblendung, die an Verrücktheit, an Selbstzerstörung grenzte. Oder wollte Anny Bewer vielleicht noch obenein gebeten sein? Sah sie auch dies wieder als ein »Almosen« an? Als einen vortrefflichen Ausweg für die Steinbrücks, der Sorgen um sie ledig zu werden?

Annys Gesicht war blaß und alt in diesem Augenblick. Die scharfen Züge, die von den Nasenwinkeln herab die Wange gegen Lippen und Kinn begrenzten, erschienen besonders tief.

»Bedenken Sie doch, niemals wieder kann sich Ihnen dergleichen bieten. Eine reiche gütige alte Dame will Sie fast als Tochter zu sich nehmen. Keine Spur von Dienstbarkeit wird Ihre Tage trüben. Es ist sehr wahrscheinlich, daß für Ihre ganze Zukunft gesorgt werden wird, wenn Ihr Herz der guten Greisin nur ein bißchen echte Wärme zeigt. Und Sie, die Sie sich so verzweifelnd gegen den Zwang der Arbeit und Armut aufbäumen, Sie lehnen ab,« rief Irene mit jenem gerechten Zorn, der den Menschen erfaßt, der einen anderen eigensinnig im Elend verharren sieht.

Sie ließ Anny sitzen und wandte sich ihrem Ballkleid zu. Ihr war die ganze Freude verdorben.

Und was würden Johanne Ebermann und Frau von Oberhausen denken! Vor denen hatte Irene sich einfach lächerlich gemacht, indem sie anfeuerte, ein Menschenleben zu »retten«, das gar nicht gerettet sein wollte.

Einige Augenblicke war sie ganz von den sehr menschlichen und selbstsüchtigen Gedanken beherrscht, welche ihr die eigene Niederlage wichtiger erscheinen ließen, als Anny Bewers Schicksal.

Aber sie erkannte diese Regung sogleich als klein. »Darf ich die Gründe wissen?« fragte sie sanft.

»Kleiden Sie sich nur weiter an,« sagte Anny Bewer rauh; »ich will Ihnen helfen.«

Sie warf Irenen das seidene Gewand über und machte sich zu schaffen, die Spitzen und himbeerfarbenen Falten zurechtzuziehen.

Dazwischen sprach sie immer ruckweise – im klanglosen Tonfall der Stimme.

»Ich bin wahnsinnig. Ich weiß es wohl, die ganze Familie würde mich steinigen, wenn sie wüßte, was ich ausschlug.« –

»Und wie erst, wenn sie wüßten, warum ich es ausschlug.« –

»Ich bin arm, ich bin ein Sklave und gerade vor Ihnen hab' ich oft darum aufgeschrien.« –

»Aber in meinem Elend gibt es eine Sonne.« –

Nun schwieg sie ganz.

Irene wandte sich zu ihr um, die neben der seidenen Schleppe am Boden kauerte. Sie neigte sich und half Anny auf.

Anny stellte sich mit dem Rücken gegen den Bettpfosten, die Hände hinter sich. Sie sah ins Leere, von ihren Lippen gingen die Worte, die sie nicht mehr zurückhalten konnte und wollte. Das Elend ihres Herzens mußte einmal, einmal hervorbrechen und schrankenlos dahinströmen.

»Wer mir das Leben mit seinen Ungerechtigkeiten erklären wollte! Wer mir sagen, woher die Menschen das Recht zu ihren Grausamkeiten hernehmen. Die Liebe heißt es, die große Leidenschaft ist das Erhabenste und Höchste unter der Sonne. Im Theater weinen sie über Medea und Sappho und Brunhild, und seit es Menschen gibt, gibt es eine Dichtung, welche das unglücklich liebende Weib verklärt und Tränen für sie fordert. Aber im Leben, in der harten, poesie- und mitleidslosen Wirklichkeit lastet der Fluch der Lächerlichkeit auf dem vergeblichen Empfinden. Das Herz, das sich in hoffnungsloser Leidenschaft verzehrt, wird verspottet und nur vielleicht der Jugend, der Schönheit und dem Reichtum werden mildernde Umstände zugebilligt. Wenn die Welt wüßte, daß Anny Bewer, die arme, alternde Anny Bewer, ihre Nächte durchzittert vor Verlangen...«

»Anny!« rief Irene erschüttert und stand mit erhobenen, flehend gefalteten Händen vor ihr.

Mit diesem Ruf wollte sie sie beschwören zu schweigen – nicht weiter zu reden und nicht den Namen des Mannes über die Lippen zu lassen, dem dieses traurige Liebessehnen galt.

Aber Anny sprach doch weiter. Ihre Wangen röteten sich fieberhaft, ihre Augen strahlten, ein Glanz von Jugend und Schönheit schien plötzlich über sie gekommen.

»Meine Tage gehen hin in Arbeit und Unzufriedenheit. Aber zuweilen gibt es Tage, wo meine Schultern stark werden und geduldig tragen, was ihnen aufgebürdet ist – es sind die Tage, an welchen ich ihn sehe. Er weiß nicht, welche Gnaden er mir austeilt. Er lächelt mir nicht gütiger als andern, die seiner bedürfen, er ahnt vielleicht nicht einmal, daß er diesem sonst sonnenlosen Leben ein Licht geworden. Und wenn er es wüßte – er würde sich geängstigt und gedrückt fühlen davon. Denn seine stolze Seele lehnt sich dagegen auf, zu empfangen, wo sie nicht geben kann. Und noch ist er frei, und sein Herz ist frei, und ich darf ihn lieben. Und er soll mein Gott und mein Idol bleiben, bis zu jener Stunde, wo ich weiß: er hat gewählt. Deshalb, Irene, kann ich nicht fortgehen und ich will lieber meine Last weitertragen und ihn zuweilen sehen, als fern von ihm ein Wohlleben haben.«

Sie drehte sich plötzlich um und trat an das Fenster, um in die schwarze Nacht hinauszustarren.

Irene war wie betäubt. Das ungeheure Opfer, welches dieses arme, kranke Mädchen seiner stummen und hoffnungslosen Liebe brachte, erschütterte sie tief. Anny wies eine Versorgung von sich, wie sie ihr niemals wieder geboten werden konnte. Warum? Um den Schatten eines Glückes zu genießen, um der kargen Freude willen, den angebeteten Mann zuweilen zu sehen.

Und Irene wußte, obgleich der Name nicht genannt war, wem allein diese törichte und rührende Hingabe gelten konnte. Und sie fragte sich, ob sie selbst wohl so viel demütiger Geduld in der Liebe fähig wäre. Nein, sie würde, das fühlte sie tief, sich trotzig abgewandt, oder Gegenliebe erzwungen haben.

Sie ging hin, umfaßte Anny Bewer von hinten und drückte einen Kuß auf die eingefallene Wange.

»Verzeihen Sie mir? Sie gütiges Herz?« fragte Anny und wandte sich um.

Der Glanz war von ihrem Gesicht gewichen, sie sah wieder mürrisch und alt aus, wie immer.

»O schweigen Sie,« rief Irene und umarmte sie noch einmal.

»Das nennt man eine schöne Hilfe,« scherzte Anny Bewer mühsam, »nur aufgehalten habe ich Sie. Sie werden zu spät fertig.«

Irene sah nach ihrer Uhr, die auf dem Nachttischchen lag.

»Noch mehr als zwanzig Minuten. Und Herr Tom ist dann doch noch nicht fertig. Finden Sie, daß ich ein Halsband umnehme?«

»Nein,« sagte Anny, kritisch Irene musternd, »das würde die schönen Linien nur unterbrechen. Und gerade heute sollen Sie alle durch Ihre Schönheit übertrumpfen.«

»Warum gerade heute?«

»Damit jedermann begreift, für welche auserlesene Dame er seine Lanze gebrochen,« scherzte Anny Bewer.

»Wer? Welcher ›Er‹ hat eine Lanze für mich gebrochen? Und bei welcher Gelegenheit war das nötig?« fragte Irene, plötzlich aufmerkend. Trotz des scherzenden Tones war ihr die Bemerkung wie ein Sturmsignal.

Anny errötete.

»Fribo,« sagte sie und vermied Irenens forschenden Blick.

»Ich will wissen, was vorgefallen ist,« sprach Irene befehlend, »denn es ist etwas vorgefallen!«

Daß Fribo mit auf den Ball gehen wollte, erschien ihr plötzlich als verdächtig und ward von ihr sogleich mit den Reden Annys in Zusammenhang gebracht.

»Eine Klatscherei im Klub. Fribo war zugegen und hat dreingeschlagen. Er hat Kugler einen ›Schurken‹ an den Kopf geworfen.«

Anny sprach sehr widerwillig. Es hatte sie den ganzen Abend förmlich getrieben, davon zu sprechen, und nun war es ihr ärgerlich, sich zur Lobrednerin Fribos vor einer anderen gemacht zu haben.

Irene war auf einen Stuhl niedergesunken. Sie war ganz bleich geworden.

»Lassen Sie mich alles wissen.«

Und während die andere wortgetreu erzählte, was man ihr zugetragen, triumphierte in Irenens Herz jubelnd der Gedanke, daß er sich zu ihrem Ritter gemacht habe. Doch ein auftauchender Schreckgedanke tötete in ihr alles stolze Glück.

»Sie werden sich schlagen, Kugler wird ihn fordern,« sagte sie mit zitternder Stimme.

»Ach bewahre,« murrte Anny, »das ist hier keine Mode. Die Leute lassen ihrer Zunge den freiesten Lauf und nachher revozieren sie.«

»Aber es sind doch Kavaliere,« sagte Irene zwischen Staunen und Erleichterung.

»Imitation,« sprach Anny Bewer trocken.

Es klopfte an die Tür.

»Ich bin es,« rief Signe draußen.

»Nur herein, ich bin fertig!« rief Irene zurück.

Die Tür tat sich auf. Irene und Anny Bewer wechselten einen Blick. Beide waren wieder einmal betroffen von dem Anblick der jungen Frau.

Ihre zarte, überschlanke Gestalt, welche durch den Mangel an Fülle noch größer aussah, war ganz in weißen Krepp gehüllt. Ein weißer Rosenkranz ohne Blätter ruhte wie ein Diadem auf ihren blonden Haaren.

Anny Bewer, unzart wie so oft, sagte:

»Warum hast du dich denn ausstaffiert wie eine Trauerspielheldin, wenn sie im fünften Akt auf der Bahre liegt?«

Die junge Frau sah ihre Verwandte stumm an. Es war einer von den Blicken, die Irene nicht ohne Schmerz sehen konnte.

»Wie die verkörperte Reinheit und Unschuld hat Signe sich angezogen,« sagte sie begütigend. Es ist sehr schön.«

Signe, die sich immer »etwas dachte« bei der Wahl ihrer Anzüge, war glücklich, daß Irene doch annähernd verstand, was sie gewollt hatte.

»Der Wagen wartet schon so lange. So sollen wir ohne Tom fahren, da er eben erst anfängt, sich anzukleiden,« sagte Signe.

Anny lachte.

»Du kannst lachen,« sprach die junge Frau, der man übrigens anmerkte, daß sie vor Ungeduld wieder einmal entnervt war. »Wenn du es aushalten müßtest, solltest du nicht mehr lachen.«

Sie gingen die Treppe hinab; Anny trug ihnen die Mäntel nach, wobei sie ihren Dienst ausnahmsweise nicht bei sich zu Protokoll nahm. Denn in ihrem Herzen zitterte noch ein reiner Nachklang von vorhin.

Unten wartete Fribo, der mit den beiden jungen Damen fahren wollte, während Frau Steinbrück, die als Zuschauerin ungemein gern auf Bälle ging, sich opferte und mit Tom zu fahren dachte, wenn dieser endlich fertig sein würde.

Fribo errötete leicht, als er der Damen ansichtig wurde. Plötzlich kam ihm sein Vorhaben, auf den Ball zu gehen, so knabenhaft und unreif vor. Irene wiederum war befangen, weil sie nicht wußte, ob sie ihm danken dürfe oder Unkenntnis heucheln müsse über das Ereignis im Klub. Und nachdem sie den ersten Augenblick der Begegnung hatte vorbeigehen lassen, ohne diesen Dank auszusprechen, erschien es ihr nachher unmöglich, noch in unbefangener Weise anzuknüpfen.

Schweigend saßen alle drei im Wagen. Aber immer, wenn Fribo seine Augen von den vorüberziehenden Straßenwänden abwandte und sein Gegenüber ansah, flohen ihn scheue Blicke, die zuvor auf seinem Antlitz geruht. Und wenn Irene wieder den Mut faßte, ihn anzusehen, traf sie noch sein schnell abirrendes Auge.

Signe war mit ihren Gedanken wieder in den fernsten Ländern des Reiches ihrer Phantasie und schrak aus tiefsten Träumen auf, als die Wagentür aufgerissen wurde. Als sie ausstieg, fuhr gerade ein heftiger Windstoß die Straße daher und riß ihr den weißen Umhang von den Schultern, daß er, hochaufflatternd, wie große Flügel von ihrem Rücken abstand.

Nur drei Schritte über den Bürgersteig und sie waren in dem festlich geschmückten Hause.

Die große Kaufmannsdiele war mit Flaggen und Girlanden geschmückt, der Ausputz mahnte ein wenig an Sänger- und Schützenfeste. Oben in allen Zimmern und auf dem Flur, der ähnlich wie die untere Diele geschmückt war, drängten sich soviel Menschen, daß die Luft schon heiß und dick war. Die Hardings pflegten mit diesem einen Fest allen ihren geselligen Pflichten nachzukommen und luden alle ein, denen sie es »schuldig waren«. Das größte Zimmer des Hauses war völlig ausgeräumt und mit den Möbeln waren zwei sonst als Schlafgemächer dienende Räume ausgestattet worden, wobei eine schreiende Farbenfeindschaft zwischen den Tapeten und Vorhängen einerseits und den Möbeln anderseits nicht zu verhindern gewesen war.

Irene fühlte, daß man sie in besonderer Weise ansah; die meisten der Anwesenden hatten eine sehr unbefangene Art, sie dreist zu mustern, und hierdurch gereizt, nahm sie eine hochmütige Miene an.

Kugler strich an ihr vorüber mit ganz besonders ergebenem Gruß, den sie indessen kaum erwiderte.

Sie fing an sich sehr unglücklich zu fühlen und sehr allein. Signe war ihr gleich abhanden gekommen, aber als sie sich suchend umsah, bemerkte sie Fribo Steinbrück in ihrer Nähe.

Und so ging es in den nächsten Stunden weiter. Immer war er, unauffällig, gerade in dem Zimmer, wo sie sich plaudernd aufhielt, und diese Beobachtung gab ihr zuletzt ein Vergnügen ohnegleichen, so, daß sie aus der hochmütig ablehnenden Stimmung in die genügsam heiterste verfiel und sich alle Leute dadurch gewann, daß sie überzeugt versicherte, das Fest sei reizend. Sie tanzte nicht. Sie wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, etwa von Kugler aufgefordert zu werden und ihr war es, als ob Fribo sie dankbar ansah, da er ihre Ablehnungen hörte.

Unaufhörlich aber sah man Signes weiße Gestalt umherschweben. Sie tanzte mit einer geradezu verzweifelten Leidenschaft. Ihre Wangen blieben bleich, aber ihre Augen glänzten.

Arvid, welcher erst später gekommen war, machte ihr Vorstellungen und zwang sie zu einer Pause, ehe er selbst mit ihr tanzte.

Es ging ihm ein seltsamer Schreck durch alle Nerven, als er Signe heute sah. Die ungewöhnliche Art ihrer Kleidung erregte ihn, halb in Mißbilligung, halb in Bewunderung. Er war sicher, daß man ihrer heimlich spotte, und mußte sich doch sagen, daß Signe in ihrer phantastischen Weise schön sei, wie noch nie. Alles Körperliche schien von ihr abgestreift. Sie war ganz Nerven, ganz Empfindung.

Vor seinem Geist sah er plötzlich Toms breite, groblinige Gestalt, sein Gesicht voll vergnügter Selbstzufriedenheit neben diesem überzarten Geschöpf.

Alle Gespräche, welche im Verfolg eines keineswegs fest umrissenen Sittlichkeitsideals erörtert hatten, wie Signe den Geist ihres Gatten zu sich emporziehen könne, erschienen ihm mit einemmal als unaussprechlich töricht.

Signe kam ihm vor wie ein Schmetterling, der entweder eines Tages davonflattern und in unbestimmte Fernen hintaumelnd, von Sturm oder Frost getötet werden müßte, oder von der festen Hand des Gatten an den Flügeln gehalten, mit der Zeit allen Glanz von ihren Schwingen verlieren würde. So oder so – sie mußte das Opfer sein. Tom aber blieb unerschüttert auf dem Platz, wohin er gestellt war von Natur, Umgebung und Erziehung. Mit welchem Rechte wollte man ihm zumuten, auch nur um eine Linie weiter emporzustreben?

Welcher Philosophie und welchem Bildungspriester kann das Recht zugebilligt werden, jemanden aus der zufriedenen Enge fortzureißen in jene Zonen, wo der weite Hochblick mit heißen Kämpfen bezahlt wird? Mit der plötzlichen Ernüchterung, welche ein Fluch der Weltverbesserungsdilettanten ist, sagte sich Arvid, daß man Tom in seiner Haut, in welcher ihm wohl sei, belassen müsse. –

»Wollen wir nicht tanzen?« fragte Signe in sein Sinnen hinein. Ihre sonst so schüchterne und mädchenhafte Stimme hatte einen heißen und begehrlichen Klang.

»Ja,« rief Arvid und nahm sie in seine Arme.

Die schmachtenden, wiegenden Walzertöne wirkten stark auf seine Nerven.

»Sie tanzen gern?« fragte er noch.

»Manchmal mache ich mir nichts daraus. Heute möchte ich rasen, rasen bis zum Umsinken,« flüsterte sie.

Sie tanzten wundervoll zusammen. Und während Arvid das zarte Geschöpf so nahe an sich fühlte, wie ihre schlanken Arme, schmächtig wie die einer Psyche, an seinem Arm lagen, ihre leichte Hand auf seiner Schulter ruhte, ergriff ihn jäh ein ungeheures Mitleid. Er hätte mit ihr fortschweben mögen, hinaus aus dem Saal, durch die Wände, über Länder und Meer und sie hintragen in ihre Heimat, in ihr Vaterhaus. Dort die bleiche Blume hinbetten am Herzen treuer Eltern und rufen: »Schützt sie vor dem Leben!«

Er preßte sie innig an sich und flüsterte hingerissen:

»Meine Schwester!«

Im Taumel des Tanzes war eine heilige Empfindung in seine Seele, und wie es seine Art war, beobachtete er das gleich an sich mit einem Anflug geistigen Hochmutes. Jeder andere Mann, dachte er, würde dieser unbefriedigten Frauenseele mit unlauteren Wünschen und verbrecherischem Scheintrost gekommen sein.

Zehn Minuten später sah er zu, wie Signe mit einem anderen tanzte. Dieser andere war diesmal zufällig Konsul Talker mit dem flotten Gesicht. Und obschon gerade Talker gewiß ein anständiger und braver Durchschnittsmensch war, erschien er mit seinem verwegenen Ausdruck Arvid als ein bedenklicher und unangemessener Tänzer für Signe.

Eine quälende Erregung bemächtigte sich seiner.

Keine profane Hand sollte diesen schlanken Leib umfassen, kein roher Blick diese zarten Schultern streifen.

Und welche Leidenschaft Signe im Tanz zeigte! Diese Gestalt war ihm wie ein unirdisches Geschöpf ohne Blut und Sinne vorgekommen, nur wie das zufällige Gefäß einer ringenden Seele.

Bis dahin hatte er sich nur mit ihrer Seele beschäftigt.

Mit einemmal sah er das Weib.

Seine Pulse schlugen. Er drängte sich vor. Der Wunsch war in ihm, Signe festzuhalten, wenn sie mit Talker vorbeikäme. Seine Augen brannten in ihren Höhlen. Er sah ihr gleichsam zornig entgegen.

Da wurde sie eben im Saal von Tom angehalten, der sie wahrscheinlich vor dem übermäßigen Tanz warnte.

Arvid sah den Mann sie hinwegführen, den Mann, der ihr Herr, ihr Gatte, ihr Schicksal war. – – Er fühlte sich wie von einem Schwindel ergriffen. Leichenblässe überzog seine Wangen.

Ein wahnwitziger Haß gegen Tom quoll in ihm auf.

Und dann ging ein herbes Lächeln um seine Lippen.

Er hatte begriffen, daß er sich seit langem selbst betrogen.

»Ein Narr bin ich gewesen,« dachte er bitter, »soll ich auch noch ein Schurke werden?«

Und durch die Walzermelodien, die sich bis zum Überdruß wiederholten, klang ihm immer die Frage:

»Tue ich überhaupt ein Unrecht, wenn ich sie dem nehme, der sie doch nicht besitzt?«

Und Arvid mit seinen Theorien war gewiß der Mann, sich von Stund' an zu beweisen, daß die Lüge von Signes Ehe nun aufhören müsse und daß das Schicksal ihn zum Retter bestimmt habe.

Springt nicht auch der zu, welcher am nächsten steht, wenn jemand am Ertrinken ist? Ruft man da erst Vater und Mutter des Bedrohten?



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