Ida Boy-Ed
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Ida Boy-Ed

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Fribo Steinbrück fühlte, daß er bleich aussehen mußte und daß er unfähig war, seinem Gesicht einen höflich-ruhigen Ausdruck zu geben. Ihm war so elend zumute, wie noch niemals in seinem Leben. Er nahm sein Taschentuch und tupfte sich damit gegen die Stirn und die brennenden Augen.

Er fühlte, daß ihm seine Aufgabe qualvoll war. Und dennoch wußte er, daß er noch mehr gelitten hätte, wenn er untätig nebenan verweilt haben würde, während sie den schrecklichen Fragen seiner Mutter schutzlos preisgegeben war.

Er hatte die Regierung über sich selbst verloren, und dies Bewußtsein haltloser Aufregung war für einen Mann, der gewohnt war, in klarer Ruhe seinen Lebensweg zu gehen, doppelt schrecklich.

Nach diesem Gespräch wird sie gehen, dachte er, und das wird gut sein – sehr gut.

Ihm war es, als könne er dem Blick dieser leuchtenden Augen nie wieder begegnen.

Da trat sie ein und stand erschreckt, als sie den Mann sah, dessen Anblick sie für immer hätte entgehen mögen.

»Ich glaubte Ihre Mutter zu finden,« sprach sie leise mit gesenktem Blick.

»Ich stehe anstatt ihrer und in ihrem Auftrage hier,« sprach er.

Kaum hatte er Gewalt über seine Stimme, und er sprach wie jemand, der von Hast atemlos ist, in kurzen Absätzen, mit zitterndem Ton, mühevoll.

Diese Antwort erregte in Irenen das Vorgefühl von etwas Ungewöhnlichem. Ihr weibliches, ahnungsvolles Empfinden sagte ihr augenblicklich, daß etwas vorgegangen sei und daß man einen Schlag gegen sie führen wolle. Duldsamkeit war nicht ihre Tugend. In ihr war etwas Königliches, das immer triumphieren, aber niemals stillhalten wollte. Sie witterte einen Angriff, und sofort richtete sie sich hochgemutet auf, um den Angreifer zu vernichten.

Groß und kalt sah sie den Mann an. Ihr war, als hasse sie ihn.

»Das klingt, als habe man Sie mit einer unangenehmen Mission betraut,« sagte sie mit kühler Überlegenheit, »ich will sie Ihnen erleichtern. Ihre Frau Mutter findet keinen Gefallen an mir und bittet mich, wieder zu gehen? Das wundert mich weder, nach beleidigt es mich. Wenigstens kann Frau Steinbrück meiner Nachfolgerin nicht das warnende Beispiel aufstellen, welches sie mir in meiner Vorgängerin errichtet hat.«

Der schneidende Spott und der zügellose Hochmut dieser Rede marterten Fribo unsäglich. Der heiß aufwallende Zorn ward ihm indessen wie zu Eis erstarrt durch ihre letzten Worte. Er verstand sie wohl und das Entsetzen lähmte ihn fast.

Zweifellos, ganz zweifellos hatte seine Mutter diesem stolzen Mädchen von dem schamlosen Betragen der vorigen Gesellschafterin gegen ihn, den jene um jeden Preis zum Mann hatte einfangen wollen, erzählt und sie vor ähnlichen – Unvorsichtigkeiten gewarnt.

Die Scham raubte ihm fast den Verstand. O, wie er ihre hochmutsvolle Feindseligkeit begriff, wie er sie anbetete und bewunderungswürdig fand.

»Sie irren sich, gnädiges Fräulein,« sprach er fast unhörbar, »meine Mutter ist, gleich meiner Ihnen zu so vielem Dank schon verpflichteten Schwägerin Signe, im höchsten Grade von Ihnen eingenommen. Sogar Anny Bewer, die alles und alle kritisiert, widmet Ihnen eine Art von Verehrung.«

»Nun, also was sonst?« fragte Irene kurz.

»Mama hat Sie für die Tochter des Majors von Melzow gehalten und Sie als solche zu sich genommen. Nun hört sie von mehreren Seiten, daß Sie verneinten, dies zu sein,« begann Fribo.

Er sprach sehr langsam. Jedes Wort war ihm ein Schmerz, und er trachtete nur, so zu sprechen, daß nicht auch ihr Schmerz bereitet werde.

Irene lächelte ein wenig und die Feindseligkeit in ihrer Brust begann vor dem Gefühl des Bedauerns zu weichen, welches sie mit Fribo hatte. Sie kannte ihn schon genug, um zu wissen, daß unritterliches Fragen ihm peinlich war.

»Ihre Frau Mama teilte mir gleich mit, daß sie sich nach meiner Familie erkundigt habe, und da ist es mir denn allerdings rätselhaft, wie ein solches Mißverständnis nur aufkommen konnte. Meinen Vater, den Regierungspräsidenten von Meltzow, kennt ja nicht allein die Stadt, sondern auch die ganze Provinz.«

»Der Gewährsmann meiner Mutter – Sie verzeihen und begreifen doch, daß man sich nach einer jungen Dame erkundigt, die man ....«

»Gewiß, völlig,« unterbrach Irene ihn ungeduldig.

»Der Gewährsmann meiner Mutter nannte Sie die Tochter eines Majors a. D. von Melzow und fügte lobend hinzu, daß diese Tochter einem armen Vater das Leben erleichtere. Ihr Auftreten freilich und Ihre Ausstattung sahen nicht nach Dürftigkeit aus,« sagte Fribo, dem auch allmählich ruhiger und leichter ums Herz wurde, gar, als er Irene jetzt heiter auflachen hörte.

»Wie ist das möglich,« rief sie naiv, »der Major von Melzow schreibt sich mit einem z, wir mit tz; er ist geadelt, persönlich, und seine Kinder sind einfache Melzows. Wir sind der alte brandenburgische Zweig der schlesischen Meltzow-Trappen.«

Sie nahm mit dem angeborenen Standesbewußtsein an, daß diese Dinge für jedermann so wichtig seien, daß jedermann sie geläufig wisse.

»Ihr Gewährsmann kann nicht zur Gesellschaft gehören,« setzte sie eifrig hinzu, »sonst wäre ihm das nicht passiert.«

Fribo errötete.

Der Gewährsmann war ein Freund Toms und nahm eine ebensolche Stellung in der Handelswelt ein, wie Tom.

Irene hatte unbewußt mit ihren Worten eine Schranke zwischen sich und ihnen aufgerichtet.

Aber das kluge und feinfühlende Mädchen begriff das sofort, als sie Fribos Erröten sah.

»In den Provinzstädten der Monarchie,« sagte sie lebhaft, »nimmt ein Kaufmann nur in seltenen Fällen jene Stellung ein, wie es hier, wo er der herrschende Stand ist, üblich scheint. Das Wort vom ›Königlichen Kaufmann‹ ist ja auch gerade für euch Hanseaten gesprochen worden.«

Ja, sie war hochmütig, wenn man sie reizte, dachte Fribo; aber es widerstrebte ihrem adligen Sinn, jemals kränken zu wollen.

»Übrigens finde ich es sehr begreiflich, daß Ihre Frau Mama sich vergewissern wollte, ›woher ich kam der Fahrt und wie mein Nam' und Art‹,« fügte sie noch mit einem reizenden Lächeln hinzu. »Gehen Sie schnell, ihr Bescheid zu bringen.«

»Leider,« begann Fribo stockend, »ist dies der nebensächlichste Teil unserer Unterredung. Daß hier eine Verwechslung vorlag, konnte Mama sich selbst leicht sagen und Sie einfach darum befragen. Aber...«

»Aber?« fragte Irene scharf und gleichsam wieder wachsam.

Er trat auf sie zu und nahm ihre Hand. Woher ihm dazu der Mut kam, er wußte es nicht. Sie, ganz Erwartung, ganz Ohr, ließ ihm achtlos die Hand.

»Mamas Freund, jener Konsul Kugler, hat Sie in einem Kupee getroffen, welches eine alleinreisende Dame sonst nicht wählt. Er hat behauptet, daß Sie Gräditz' und seinen Annäherungsversuchen, die in eingeleiteten Gesprächen bestanden, mutvoll zugelächelt hätten. Er hat gesagt, daß Sie in Berlin erwartet worden sind, trotzdem Sie vorher das Gegenteil behaupteten und daß er Sie mit dem jungen Offizier bei Dressel traf. Diese Dinge haben den Wunsch in meiner Mutter erregt, genau den Zusammenhang zu erfahren und den Grund zu kennen, weshalb Sie Ihr Vaterhaus verließen.«

Irene starrte ihn an. Ihre Farben waren völlig erloschen. Und als er das letzte Wort gesprochen hatte, schleuderte sie seine Hand von sich mit einer Gebärde des Abscheus.

Einige Sekunden stand sie wortlos, hochatmend, die Linke hart auf den Tisch gestützt und sah ihn an. Die tödliche Feindschaft dieses Blickes ließ seine Seele erbeben.

»Mein Herr,« begann sie mit fester und harter Stimme, »ehe ich dieses Haus verlasse, was noch heute geschehen wird, sollen Sie und Ihre Frau Mutter gewiß erfahren, wie alles zusammenhängt. Denn, da ich in einem dienstlichen Verhältnis zu diesem Hause stehe und ich eine plötzliche Entlassung obenein wohl nur von der Güte Ihrer Mutter erbitten, nicht aber erzwingen kann, vermag nur völlige Offenheit Sie von der Unmöglichkeit ferneren Zusammenlebens zu überzeugen.«

Fribo Steindruck war bereit zu hören. Er stand still und blaß da. Eine Kirchhofsruhe war in seinem Herzen. Er hatte gewußt, daß sie gehen werde hiernach – es war zu Ende, und es war gut so.

Und Irene sprach; erst ruhig und mit erkünstelter Kälte und dann immer flammender.

Wie ihr Vater ihr seine besten Lebensjahre geopfert und wie sie ihm nun sein spätes Glück gönne und wie es sie getrieben habe, nicht als störender Zeuge den Weg der jungen Ehe zu begleiten.

»Denn,« sagte sie, »Sie haben es vorhin gehört, wie ich über das Ineinanderleben zweier Seelen denke. Und wie klein erschien mir das Opfer, welches ich dem herrlichsten Vater, seiner edeln Gattin bringen wollte. Ich kannte das Leben nicht, ich hatte es nur gesehen vom Hafen des vornehmsten Hauses aus, wo nur reine Gesinnungen zu meiner Kenntnis kamen. Ich wußte nicht, daß Männer, welche die Allüren der guten Gesellschaft haben und sich zu ihr zählen durch Geburt und Erziehung, verkappte Wegelagerer sein können, welche ohne Grund und Zweck, blaß so aus Lust zum Klatsch, die Ehre einer Dame in den Kot zerren. Ich wußte nicht, daß die Begegnung mit dem Freiherrn Leutnant Fritz von Leer, welcher der Bruder von meines Vaters junger Gattin ist und von meinem Vater beordert war, mir die drei Stunden in Berlin beizustehen, daß mir die Begegnung schändlich gedeutet werden könnte, sonst hätte ich mich ihrer nicht gefreut.«

Fribo Steinbrück war jeder Fassung beraubt. Eine jauchzende Freude dehnte seine Brust.

Also nicht ein Verlobter – nur ein harmloser, auf Befehl zu Diensten stehender Verwandter.

Er vergaß auf Minuten ganz, daß sie, die da so hoheitsvoll stand, von nun an seine und seines Hauses Feindin war und daß sie gehen wolle.

Irene aber hob von neuem an:

»Um vor mir selbst das Bewußtsein der völligen Wahrhaftigkeit zu haben,« sprach sie, das Auge auf das Fenster gerichtet, durch welches vom Garten her freundlicher Wintersonnenschein flirrte, »will ich nach ein Letztes sagen. Wenn ich in meinem Vaterhaus der jungen Frau Platz machen wollte, hätte sich dafür schließlich auch noch eine andere Form finden lassen als die, in Dienstbarkeit zu gehen. Allein ich hatte den Wunsch, Menschen kennen zu lernen, Studien zu machen, meinen eigenen Charakter, den ich hochmütig und heftig weiß, zügeln zu lernen, mich mit meinen Fehlern, wie mit meinem Können an anderen zu messen. Denn in mir ist ein heißes Streben nach Güte, nach Vollendung, nach Wahrheit. Ich möchte lernen ein guter, ein nützlicher und ein wohltätiger Mensch zu werden.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie sprach sanft, und eine unnennbare Wehmut drückte ihr Herz.

»Warum ich Ihnen, gerade Ihnen das sage – ich weiß es nicht. Sie verstehen mich nicht. Sie mißdeuten mich. Aber wahrscheinlich sind Sie und Ihre Mutter und dieser Kugler in Ihrem Recht, denn Sie alle handeln und denken vom Standpunkt der Erfahrung aus. Nun – so will ich meinen Vater bitten, mich wieder an sein Herz zu nehmen, damit ich mir Erfahrungen spare, die offenbar ihren Besitzern die edle Gesinnung rauben.«

Sie ging langsam zur Tür.

Der Mann war vernichtet auf einen Stuhl gesunken und verbarg sein Gesicht an der Lehne.

»Leben Sie wohl,« sprach Irene leise.

Und dies leise Wort schlug an Fribos Ohr und drang in seine Seele wie ein verwundender Pfeil.

»Nein!« schrie er auf und war schon neben ihr, »nein, Sie gehen nicht – so nicht.«

Sie aber stieß seine Hand zurück. Alle Weichheit schwand aus ihren Zügen, und sie sagte herbe:

»Zwischen Ihnen und mir ist kein Verstehen und kein Versöhnen möglich.«

Sie war verschwunden.

Und er stand und sah auf die Tür, und sein blasses Angesicht, welches von leidenschaftlichster Erregung verzerrt gewesen, nahm allmählich den Ausdruck eines finstern Ernstes an.–

Im Nebenzimmer hatte Frau Steinbrück hinter den herabgelassenen Türvorhängen Wache gehalten, damit etwa nicht der im Eßzimmer abräumende Martin sich einfallen lasse, zu horchen. Bei dieser Gelegenheit hatte es sich denn gemacht, daß ihr selbst kein Wort entgangen war.

Nun kam sie herein und lief mit gerungenen Händen hin und her.

Sie schalt auf Kugler mit nicht sehr wählerischen Worten, beklagte und bejammerte ihr Vorgehen und sagte, daß Irene von Meltzow sie so auf keinen Fall verlassen dürfe.

Fribo hörte alles an mit einer stumpfen Gleichgültigkeit, die seine Mutter immer mehr erregte.

Erst als seine Mutter die schrecklichen Unannehmlichkeiten ausmalte, die noch für sie entstehen könnten, wenn Irenens Vater von der Sache höre und wenn Kugler, wie doch bestimmt zu erwarten sei, nicht schweige, erst da merkte Fribo auf.

Er hatte keine Angst für seine Mutter, aber er übersah plötzlich, daß Irene dann in der Tat unter peinlichen Mißverständnissen zu leiden haben könne, wenn sie gehe. Er mochte die Gerüchte gar nicht ausdenken. Und wenn Kugler seine feigen Verdächtigungen auch so lange zurückgehalten hatte – nach Irenens jäher Abreise würde er seine Lust am Klatsch nicht zügeln.

»Sprich du noch einmal mit ihr.«

»Nie!« rief Fribo. Es schien, als zittere er. Er wandte sich ab.

»Oder soll ich Tom dazu veranlassen oder Signe?« fragte die ratlose Frau, der selbst jeder Mut abhanden gekommen war.

Fribo hatte bei dem Namen Signe einen Rettungsgedanken.

»Mutter,« sagte er ernst, »ich glaube, ich werde imstande sein, ihr das rechte Wort zu schreiben, das sie veranlassen wird, doch noch zu bleiben. Freilich, nicht bei dir, aber bei Signe, also doch unter unserm Dach, und da wir fast einen Haushalt bilden, wird niemand eine Veränderung bemerken. Nur eins muß ich für sie, in ihrem Namen zur Bedingung stellen: Kugler betritt unser Haus nicht mehr.«

Das wollte nun Frau Steinbrück auch nicht. Kugler zu opfern fand sie denn doch nicht nötig. Du meine Güte, es kommt doch vor, daß jemand mal ein bißchen was über den Nächsten klatscht; deshalb zieht man sich doch nicht von ihm zurück. Zwar, sie machte sich nicht sehr viel aus Kugler, niemand machte sich viel aus ihm, und wegen seiner Anmaßung, sich immer als Nummer eins aufzuspielen, war er sogar vielfach verhaßt, aber ihn sich zum Feind machen – nein.

Fribo schloß die Augen sekundenlang, er biß sich auf die Unterlippe. Wieder, wie täglich, bedurfte er seiner ganzen Energie, um nicht in Heftigkeit gegen die aufzulodern, welche ihn geboren und welche er innig liebte.

Aber es war ja nicht sie allein – sie waren es alle, alle. Warum sollte denn gerade dieser Frau die Kraft kommen, sich zu einer Höhe und Feinheit der moralischen Anschauungsweise zu erheben, die in ihrer Umgebung höchstens als unnötige, wirkungslose Wichtigtuerei angesehen worden wäre.

»Schicke Signe nach einer Stunde zu Fräulein von Meltzow,« sagte er kurz, »dann wirst du hören, ob ich Erfolg hatte. Und dann entschuldige mich jetzt für den ganzen Tag, liebe Mutter – ich muß meiner Praxis nachgehen.«

Frau Steinbrück war nun sogleich guter Dinge. Wenn Fribo die Geschichte in die Hand nahm, würde sie sich schon zurechtziehen. Es war ja eigentlich dennoch sehr interessant, sie hatte also eine Gesellschafterin, welche das »Dienen« als Sport trieb.

Der Wunsch, noch mehr von Irene und ihrer Familie zu wissen, stieg sehr quälend in ihr auf.

Sie war eine Kaufmannsfrau und eine Kaufmannstochter. Das Einziehen von Erkundigungen über Firmen und Personen erschien ihr vom Geschäftsgebrauch her als etwas ganz Gehöriges.

Und nach kurzem Kampfe schrieb sie an den vielgenannten Geschäftsfreund Toms, sie bäte noch einmal um Auskunft, und zwar über den Regierungspräsidenten von Meltzow und dessen Tochter. Aber unter Diskretion, selbst gegen Tom.

Es sei gleich vorweg gesagt, daß der Mann nach drei Tagen antwortete. Er bitte um Verzeihung, schrieb er, aber er habe doch nicht annehmen können, daß sich die erste Anfrage auf Irene von Meltzow beziehe, da diese als wohlhabende, junge Dame und Tochter eines so hohen und verehrten Beamten doch gewiß nicht nötig habe, ihre fast herrschende Stellung in ihren Kreisen mit derjenigen einer Gesellschafterin zu vertauschen. Als praktischer Mann fügte er gleich hinzu, daß der Präsident und Irene je hunderttausend Mark von der ersten Frau geerbt hätten und daß die zweite Frau, eine Freiin von Leer, ihrem Gatten das Dreifache zugebracht habe.

Frau Steinbrück konnte nicht umhin, einen Mann sehr hochzuachten, der zweimal reich zu heiraten verstanden und solche Karriere gemacht hatte.

Irene war langsam in ihr Zimmer gegangen und hatte sich dort in einen Lehnstuhl am Fenster gesetzt. Gedankenvoll sah sie hinaus.

Ein nebelgrauer Himmel stand als Grund hinter dem verworrenen und altertümlichen Bilde, welches die hochgiebligen Dächer und die rotgrauen Mauern baten, die den kleinen verschneiten Garten umschrankten und umtürmten. Auf den hellroten, gereifelten Dachziegeln lagen da und dort noch Schneespuren, willkürlich vom Winde zusammengefegt oder in die Rillen getrieben. Zwischen den schräg abfallenden und spitz in der Höhe zusammenschießenden, zwischen den haubenartig breit ausladenden und den flach niedergedrückten Dächern, zwischen hohen Speichergiebeln und bescheiden sich duckenden Wohnhäusern ragten die gotischen Doppeltürme einer Kirche in die Luft. Die Schieferdächer der Turmspitzen tönten blaugrau mit den Tinten des Himmels in melancholischer Farbeneinheit zusammen. Auch über dem unentwirrbaren Durcheinander der Häuser lag ein leiser Nebelschleier. Ein fernes und ungewisses Durcheinanderschlagen und Klingen von Glockentönen schwebte durch die Luft herab. Es hatte zwei Uhr geschlagen und zu der vollen Stunde sang das Glockenspiel der Kirche eine träumerische und undeutliche Choralmelodie.

So märchenhaft altertümlich waren Bild und Töne, daß der Träumerin am Fenster sich wieder unmerklich Wehmut ins Herz stahl.

Sie fragte sich nicht, was soll ich tun, sie faßte keine Pläne, dachte nicht daran, daß es eine Eisenbahn und Koffer gäbe. Sie träumte von versunkenen Welten und von den Menschen, die so, die Seele voll unbestimmter Trauer, schon diesem merkwürdigen Gesang der Glocken gelauscht.

Die Zeit verrann ihr und sie schrak zusammen, als nach kurzem Klopfen jemand eintrat.

Es war Martin, welcher ihr einen Brief brachte und sie dabei mit unverhohlener Neugierde ansah.

Irene nahm das Kuvert gleichgültig hin.

Dann sah sie, daß es keinen Poststempel trug. Eine unangenehme Empfindung regte sich in ihr. Frau Steinbrück würde wohl mit Entschuldigungen kommen. Wozu noch an einer Sache rühren, die so völlig abgetan war. Es schien Irenen, als sei eine Ewigkeit vergangen seit dem Gespräch mit Fribo, als habe seitdem ein ganz neuer Lebensabschnitt für sie begonnen.

Aber das war nicht Frau Steinbrücks Schrift.

Also von ihm? Ganz gewiß von ihm! Mit Zornesröte auf der Stirn riß Irene das Kuvert auseinander. Dann aber las sie folgende Zeilen:

»Meine Mutter bittet Sie, zu bleiben, auf Wochen, auf Monde, wie es Ihnen gefallen sollte zu entscheiden. Ihretwegen erbittet sie es, denn ein so plötzliches Aufgeben einer ohne Nötigung gewählten Stellung kann der mißfälligen Besprechung in der ganzen Stadt nicht entgehen. Ich weiß, daß Sie das stolze Recht in sich haben und fühlen, über dergleichen Rücksichten auf das, was man sagt, zu stehen. Dennoch bitte ich auch in diesem Fall, Ihr Widerstreben gegen die Welt, in welche Sie traten, gegen dieses Haus und seine Bewohner, auf kurze Zeit wenigstens zu besiegen. Mir ist, als wäre mir ein Teil meiner Mannesehre genommen, wenn Sie gehen, gehen zumeist infolge unserer Unterredung. Und ein Leben mit diesem Bewußtsein wäre mir eine Qual. Aber nicht an mich, den Sie hassen müssen, weil Sie ihn in den größten Fragen des Lebens Anschauungen entwickeln und betätigen sahen, die Ihnen kleinlich und ohne Adel vorkommen mußten, nicht an mich sollen Sie bei Ihrer Entschließung denken. Dieselbe würde dann gewiß verneinend ausfallen.

Sie sollen daran denken, daß Sie sagten, Sie seien bestrebt, ein guter und nützlicher Mensch zu werden, und um sich dazu immer mehr zu vervollkommnen, seien Sie in das Leben kämpfend getreten. Hier im Hause lebt eine arme Frau, welche in Gefahr steht, an eigener Schwäche und an den Verhältnissen zugrunde zu gehen – Sie haben Einfluß auf Signe gewonnen, wollen Sie das kaum begonnene Werk verlassen? Ist der Zorn gegen mich stärker, als Ihr Wunsch, Gutes zu tun?

Eines mag Ihnen die Entscheidung erleichtern. Sie können, wenn es Ihnen so angenehm ist, künftig fast gänzlich bei Tom und Signe leben. So bleibt Ihnen mein Anblick wenigstens bei den Mahlzeiten des Tages erspart.

Fribo Steinbrück.«

Welche Sprache! Ein Bitten, ohne Ergebenheit und Wärme. Eine Überredung, die mehr einem Befehle glich.

Und Irene las noch alles, was nur zwischen den Zeilen stand oder nur mit leisem Wort gestreift war. Ja, sie hatte diese Stellung ohne »Nötigung« angenommen, und es war unrecht, launenhaft und feige, sie sofort zu verlassen, weil peinliche Mißverständnisse von unberufener Seite her aufgekommen waren. Das hatte Fribo wohl sagen wollen.

Und weiter hatte er sagen wollen, daß ihre Taten auch mit ihren schönen Reden im Einklang stehen müßten und daß ihr Streben nicht zu hohler Phantasie zusammenschrumpfen dürfe.

Gerade aber vor diesem Manne wollte sie nicht klein, nicht unbeständig und feig erscheinen.

»Ich bleibe!« sagte sie vor sich hin und in ihren Augen blitzte es auf wie Kampfesfreudigkeit.

Und fast im gleichen Augenblick entschloß sie sich, großmütig und zart, Frau Steinbrück die Situation zu erleichtern, hinunterzugehen und mit ihr zu plaudern, als ob nichts geschehen sei. Sie fühlte tief, daß es ihre Pflicht sei, durch ihr Benehmen jener Frau eine Lehre zu geben, eine von jenen Lehren, die nur vornehme Seelen zu erteilen vermögen.

Aber ehe sie noch ihren Entschluß abführen konnte, stürmte Signe herein, daß blonde Haar wie immer etwas zerzaust, die schmächtige Gestalt noch in einen Morgenrock gehüllt, dem ein abgerissenes Stück Spitze nachschleppte.

»Sie wollen nach mir kommen von jetzt an,« rief sie, Irene umarmend, »o, ich bin selig. So sollen wir immer zusammen sein.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Irene staunend.

»Als Fribo eben ging, Patienten zu behandeln, guckte er in Zimmer bei mir und sagte: Sie werden von nun immer bei Tom und mir speisen und ich soll immer begreifen, daß sie uns Ehre geben, wenn Sie bleiben. Ich könnte nicht alles verstehen, aber Sie werden sagen, was das ist.«

»Es ist mein Wunsch, Ihnen eine Schwester zu sein,« rief Irene und umarmte die junge Frau.

Er hat also nicht an mir gezweifelt, dachte sie befriedigt, er hat mir Kraft und Großmut zugetraut.

Und plötzlich fühlte Irene sich von einem großen Glücksgefühl ergriffen, darüber, daß sie hier bleiben sollte, und ihr kam es vor, als habe sie die arme Signe ganz unaussprechlich lieb.



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