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Der Mann ohne Maske

»Nein, ist es möglich, bist du es wirklich, Milo?« Bei diesem Ausruf wandte der Chauffeur, der eben das prächtige Auto, das er führte, zum Stehen gebracht und vor der roten Laterne eines auf dem Boulevard de Courcelles gelegenen Tabakladens ausgestiegen war, lebhaft den Kopf.

Er sah einen hübschen, braunen und schöngebauten Burschen in ärmlichen Kleidern und mit einer Kappe auf dem Kopf, der, aus einer kleinen Schankwirtschaft heraustretend, im Begriff war, geräuschlos in der nebligen Nacht zu verschwinden, der aber bei seinem Anblick stehenblieb.

»Ach, der Algerier«, rief der Chauffeur ganz überrascht aus. »Wo kommst du denn her? Man hatte mir gesagt, du wärest in Fresnes?« fügte er leiser hinzu.

»Ganz recht, daher komme ich auch«, sagte der andere einfach. »Komm, wir wollen zusammen ein Glas trinken ...«

Sie hatten in demselben Regiment gedient und Freundschaft miteinander geschlossen, sich aber jetzt seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Sie waren ein paar faule, liederliche und renommistische Burschen, aber Milo hatte wenigstens im bürgerlichen Leben einen Beruf, er war Mechaniker und Chauffeur und verdiente sein Brot in ehrlicher Weise, während der Algerier (er war in Paris geboren und verdankte diesen Beinamen seinem pechschwarzen Haar und seiner bleichen Gesichtsfarbe), die kleinen Mädchen, die er mit seinem Schutz beehrte, für seinen Unterhalt sorgen ließ. Er fand nämlich, daß er ein viel zu hübscher Bursche sei, um etwas anderes auszuführen als einen Zimmerdiebstahl oder einen gelegentlichen nächtlichen Überfall auf harmlos verspätete Vorübergehende. Infolge einer etwas zu brutal geratenen Auseinandersetzung mit der großen Marzelline wurde er gezwungen, sechs Monate lang die Gastfreundschaft der Regierung in Anspruch zu nehmen.

Während sie ein Gläschen starken Branntweins nach dem andern tranken, kramten sie alle Erinnerungen aus ihrer Soldatenzeit aus und erzählten sich von ihrem jetzigen Leben. Der Algerier schien ganz zufrieden damit zu sein; aber Milo geriet ganz außer sich, und mit bleichem, haßentstelltem Antlitz tobte und fluchte er über seinen »Affen«, das heißt seinen Herrn, den Baron von Follerge, der Eigentümer des großen Autos war, das vor der Tür stand.

Milo erging sich in einer wahren Flut schmutzigster Schmähreden in unmöglich zu wiederholenden Ausdrücken, von denen der andere nur soviel verstand, daß der Baron ihn gestern gebeten habe, sich am Ende des Mondes eine andere Stellung zu suchen, und das nur aus dem einen elenden Grund, weil Milo eines Abends, als er heimlicherweise kleine Mädchen mit losen Sitten spazierengefahren hatte, einen Mietwagen zertrümmert und das Auto schwer beschädigt hatte und weil der Baron für den Schaden aufkommen mußte.

»Er verdiente es, auf die Galeeren zu kommen, weil er mich so vor die Tür gesetzt hat«, schloß er, einen wütenden Blick nach der Richtung des unschuldigen Autos sendend.

»Und wo ist er heute abend, dein Affe?« fragte der Algerier, um nur etwas zu sagen.

»Er sollte zu einem kostümierten Ball gehen, und ich habe bis um zehn Uhr auf ihn gewartet; dann hat er gesagt, er hätte die Grippe, er schwebt immer in Angst um seine Gesundheit, und er hat mir sagen lassen, ich solle das Auto in die Garage bringen.«

»Zu einem Ball? Er sollte zu einem Kostümball gehen ...«, sagte der Algerier, über dessen Gesicht ein spöttisches Lächeln huschte. »Sag mal, Milo, weißt du, wo dieser Ball stattfinden wird? ... Höre, da könnte man einen feinen Streich ausführen und sich prachtvoll amüsieren ...«

Und, sich dem Ohr seines Kameraden zuneigend, entwickelte er ihm seinen Plan, der hintereinander auf dem Gesicht des Chauffeurs den Ausdruck des Erstaunens, der Unentschlossenheit, des Vergnügens und endlich einer wahren Begeisterung hervorlockte.

»Himmelsapperment! Das ist wirklich eine großartige Idee«, brüllte Milo, indem er sich in einem wahren Freudendelirium auf die Hüften schlug ... »Aber man wird dich nicht hereinlassen«, meinte er dann etwas bedenklich, »du bist nicht maskiert ...«

»Doch, mein Alter! – Du kennst diese Bande nicht! Sie werden mich für einen Herzog halten, der einen Scherz gemacht und sich in einen Apachen verkleidet hat ... Außerdem aber, was riskiert man dabei? Es ist kein Diebstahl, kein Mord, überhaupt nichts Strafbares ... Auch für dich können keine üblen Folgen daraus entstehen, da dein Herr dir ja ohnehin schon den Laufpaß gegeben hat ... Und ich möchte mir wirklich gern mal einen Abend in der vornehmen Welt leisten ...«

Milo ließ sich überreden. Zehn Minuten später bog das elegante Auto des Barons de Follerge in die Allee des Bois de Boulogne ein und strebte dem schönen großen Hotel zu, das Herrn und Frau von Brenner gehörte, deren Adel zwar noch sehr jung war, die aber zu den Multimillionären zählten und die heute ein glänzendes Kostümfest veranstaltet hatten, das zu den Sensationen der Saison zählte. Milo reihte in korrekter Weise seinen Wagen dem langen Zug von Autos und Equipagen an, die dasselbe Ziel verfolgten, fuhr dann durch das weit geöffnete Gitter und machte Halt vor der großen Freitreppe des Hotels, das in hellem Lichterglanz prangte und aus dem rauschende Musik ertönte.

Diener in reichen Livreen stürzten herbei, um die Tür des Autos aufzureißen, dem der Algerier in seiner schäbigen Kleidung, dem in der Taille zu engen Wams, der Kappe und den beschmutzten, vertretenen Schuhen langsam entstieg. Sehr gemütlich, die Hände in den Hosentaschen, mit neckischem Lächeln das gewichste Schnurrbärtchen über dem kleinen Mund emporziehend, erstieg er mit elastischem Schritt die breiten weißen Marmorstufen. Ein langsam vor ihm die Treppe hinaufsteigendes, durch seine reichen und schweren Gewänder etwas behindertes Paar, einen Dogen und eine Dogaressa vorstellend, bemerkte ihn.

»Oh!« sagte die Dogaressa mit einer Gebärde des Abscheus.

»Ach was, er ist bewunderungswürdig«, murmelte der Doge, einen bewundernden und neiderfüllten Blick auf den Algerier werfend. »Ich hätte auch viel besser daran getan, ein derartiges Kostüm zu wählen, statt dieses dummen Gewandes, das so schwer auf mir liegt ... Hast du übrigens das prächtige Auto bemerkt, in dem er angekommen ist, liebe Freundin«, fügte er hinzu. »Wer es wohl sein mag?«

»Wer es wohl sein mag?« Ein Goldregen, eine Zauberin, ein Lohengrin frugen es – und alle Welt wiederholte diese Frage, denn niemand kannte den Namen dieses mit einer solchen Vollkommenheit verkleideten Gastes; aber derartiges passiert so oft in diesen großen Gesellschaften, wo einer den andern nicht kennt, daß sich niemand weiter darüber wunderte oder eine Bemerkung darüber machte. Außerdem glaubten einige gut Informierte, in diesem Apachentyp hintereinander fünf oder sechs junge Leute der besten Gesellschaft zu erkennen. Der Hausherr, der dicke Herr von Brenner, der das Kostüm eines chaldäischen Zauberers trug, in dem er höchst lächerlich aussah, glaubte in ihm einen der Freunde seiner Frau zu sehen, während Frau von Brenner als »sternbesäte Nacht« dachte, daß er wohl ein Freund ihres Mannes sein müsse.

Der Apache hatte indessen einen tollen Erfolg. Seine abgerissene Kleidung, sein wiegender Gang, seine mit saftigen Ausdrücken des Gaunerjargons gemischte Sprache, der düstere und herausfordernde Blick seiner kalten Augen erschienen aller Welt wie die Höhe der Kunst und wie ein Meisterstück der Verkleidung. Es gab nur ganz vereinzelte kritische Geister, die der Meinung waren, daß er fast zu wahr, zu realistisch sei; ihre Eifersucht erweckte kein Echo.

»Er ist bewunderungswürdig, bewunderungswürdig«, wiederholte immer wieder der Doge, der ganz stolz darauf war, gleichzeitig mit ihm gekommen zu sein, und sich etwas darauf zugute tat, und der sich das Ansehen gab, als kenne er den interessanten Apachen ganz genau.

»Wir haben ihn aus seinem Auto kommen sehen«, sagte er, »meine Frau ist weg von ihm.«

»Sind Sie tätowiert? Ist es wirklich wahr, mein Herr, daß Sie sich tätowieren ließen, wie die wirklichen Apachen es tun?«

Eine phantastische, ungestüme, kleine byzantinische Prinzessin stellte dem Helden diese Frage. Sie ließ nicht nach, er mußte ihr seine schwere rechte Hand zeigen, auf der in der Nähe des Daumens der bläuliche Stern derer von Barbés sichtbar war.

»Ist das aber eine Idee! Für einen einzigen Abend! Und geht das nun wirklich nicht wieder fort?«

»Ach was«, mischte ein alter, ernsthaft dreinschauender Türke sich in die Unterhaltung. »Das ist ja doch nur gemalt, man sieht das doch sogleich. Ich habe echte Tätowierungen gesehen, die sind viel klarer, viel deutlicher ...«

»Genug, sage ich dir! Laß das ...« Der Apache entzog seine Hand unsanft der des Türken und ging weiter, während alles um ihn über die Echtheit seiner Sprache und Gebärde in lautes Gelächter ausbrach. Diese Geschichten mit der Tätowierung paßten dem Algerier nicht. Er hatte sich schon genug darüber geärgert, daß er so dumm gewesen, vor fünf Jahren, als er noch ein Novize gewesen, der sich für so etwas begeisterte, sich diesen schmutzigen Stern auf die Hand ätzen zu lassen. Solche dummen Scherze dienen nur dazu, sich kenntlich zu machen.

Er entfernte sich langsam aus dem Tumult des Festes, sich hier und dort mit kräftigem Druck durch die aufeinandergedrängten Gruppen Bahn machend. Ein eifersüchtiger Zorn, eine feindliche Verachtung bemächtigte sich seiner gegen allen diesen Luxus, diesen Reichtum, gegen diese übereleganten Frauen, die ihr Fleisch und ihre Juwelen zur Schau trugen, gegen diese mit trügerischer Pracht behangenen Männer. Er empfand eine leidenschaftliche Lust, irgendeinen Gewaltakt zu begehen, sein Messer hervorzuziehen und auf diese Menschen loszustechen, sich dann davonzumachen – ihm schwindelte. Er blieb zögernd an dem Eingang einer Galerie stehen, in der getanzt wurde und wandte sich dann dem reichbesetzten Büfett zu. Die dort aufgestapelten Delikatessen, die feinen, mit Gänseleberpastete belegten Sandwichs, vor allem aber der herrliche Champagner, gaben ihm seine gute Laune schnell zurück. In diesem Augenblick trat plötzlich eine sehr hübsche, braunhaarige Frau zu ihm. Sie war in duftige schwarze Gazewolken gekleidet, die mit Diamanten übersät waren, und auf dem sehr tief dekolletierten Busen trug sie einen wunderbaren großen Stern von Brillanten. Sie warf einen inspizierenden Blick auf das Büfett und kam dann entschlossen auf ihn zu.

Es war Frau von Brenner als sternbesäte Nacht.

Aber davon verstand der Algerier nichts. Er fand nur, daß es schon der Mühe wert sei, sich mit ihr zu beschäftigen, da sie so außerordentlich hübsch aussah; er sagte ihr daher ein paar schmeichelhafte Redensarten – d. h. solche Redensarten, wie er sie zu gebrauchen pflegte, um die kleinen Mädchen von der Straße zu verführen.

War es nun, daß die junge Frau, überwältigt von der Müdigkeit des sich seinem Ende nahenden Festes, ganz benommen von der Hitze und der schweren, von Wohlgerüchen erfüllten Luft war, oder auch weil ihr diese ganze Situation neu und interessant erschien, jedenfalls zog sie sich vor seiner plumpen Galanterie nicht zurück. Sie glaubte vielleicht auch, daß ihr Kavalier auf keinen Fall aus der Rolle fallen wolle und nahm daher seine seltsame Art wie einen Scherz auf, der keine weiteren Folgen haben könne, und nervös lachend schritt sie an dem Arm des Mannes dahin, der sie völlig in Verwirrung setzte. Sie befanden sich jetzt am Eingang des ungeheuer großen Treibhauses, das der Stolz Herrn von Brenners war. Es lag jetzt völlig verödet da, weil die Gäste im Aufbruch begriffen waren und nach den vorderen Salons und der Garderobe zurückfluteten. Sie verloren sich in den von schwülem Duft erfüllten, dunkeln Laubgängen. Da, mit einem Male, umschlang der Algerier die junge Frau und zerrte sie einem verschwiegenen Boskett zu. Tief erschrocken wollte sie ihm Widerstand leisten, ihn zurückstoßen; aber er hielt sie mit eisernem Griff, und ein brutaler, glühender Mund preßte sich fest auf ihre Lippen ... Am ganzen Körper zitternd, gelang es der jungen Frau, sich endlich loszureißen und, so rasch sie konnte, dem Licht der Salons zuzufliehen, die sich schon beinahe völlig entleert hatten.

 

»Aber, meine liebe Freundin«, fragte Herr von Brenner seine Frau, als sich das Ehepaar, nachdem der letzte Gast gegangen war, allein miteinander befand, »mein liebes Kind, was hast du denn mit deinem Brillantstern gemacht?«

»Mit meinem Stern?« Frau von Brenner fragte sich staunend, wo der geblieben, der sie so glühend umarmt hatte und den sie nicht hatte fortgehen sehen, und gleichzeitig griff sie mit der Hand an ihre Brust, auf die sich vor wenigen Minuten eine so herrische Hand gelegt hatte. Ihr Brillantstern war verschwunden.

»Mein Gott, ich muß ihn verloren haben«, rief sie. Sie eilte in das Treibhaus; die ganz im Hintergrund befindliche kleine Tür, die zu dem nur durch eine nicht sehr hohe Mauer von der Straße getrennten Garten führte, war weit geöffnet. Sie suchte auf dem Boden in dem Boskett, sie fand ihren Brillantstern nicht – und plötzlich begriff sie.

»Das also war es«, sagte sie sich, beschämt, trostlos und, ohne es sich gestehen zu wollen, von einem kalten Schauder geschüttelt. Ganz verstört brach sie in lautes Weinen aus.

»Komm, komm, mein liebes Kind, weine doch nicht.«

Der prächtige Brenner, der niemals etwas von dieser Geschichte erfahren hat, streichelte zärtlich ihre Hände.

»Beruhige dich, so etwas kann passieren, in all der Unruhe und inmitten so vieler Menschen wird sich der Stern gelöst haben. Ich lasse dir einen anderen noch viel kostbareren machen ... Denke nicht mehr daran ...«

»Das ist leicht zu sagen«, murmelte sie unter Tränen.


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