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Der wahre Sieg

»Und ich kämpfte verzweifelt mit dem schrecklichen Azraël – –«

Edgar Allan Poe: – Ligeia

 

Es war in der Nacht; auf dem einsamen Kai schritt ein tief von einem schwarzen Mantel umhüllter Wanderer den Fluß entlang.

Rechts am Fuße der das Ufer begleitenden Mauer entlang floß das Wasser tief und ruhig wie das eines Kanals dahin. Hier und dort stieg eine schräg herabführende Treppe zu dem Fluß hinunter. Von den verankerten Schiffen leuchteten Stocklaternen wie rote Sterne. Das gegenüberliegende Ufer war nur durch die entfernten Flecke gelblich brennender Laternen und einiger erleuchteter Fenster unsichtbarer Häuser erkennbar.

Links wurde der große Kai durch alte Herrenhäuser begrenzt. Ihre Fassade war grau, ihre Türen mit eisernen Riegeln versichert; die meisten der hohen, schmalen Fenster waren düster oder durch Läden geschlossen, nur selten drang ein Lichtschimmer durch die dichten Vorhänge oder die Spalten der Jalousien, hier und dort nur sah man in ein halberleuchtetes feierliches Zimmer mit ernsten Ahnenbildern und altmodisch geschweiften schweren Eichenmöbeln. Die Mehrzahl dieser alten Patrizierhäuser waren von sie untereinander trennenden Gärten umgeben, über deren zerfallende Mauern die Äste der Bäume neugierig auf den Vorübergehenden zu blicken schienen. Von eisernen Trägern herabhängende Laternen verbreiteten ein mattes Licht. Hier und da verriet das über der Tür angebrachte Wappenschild sowie die vornehm großen Verhältnisse eines Gebäudes, daß dies das Stammhaus einer der edelsten Familien der alten Stadt sei.

Die Nacht war herabgesunken; es war eine neblige, kalte Novembernacht, die bleifarbenen Wolken jagten wie eine vom Sturmwind getriebene phantastische Herde über den düsteren Himmel.

So lag dieser alte Stadtteil geheimnisvoll und in ungestörter tiefer Ruhe im Schatten der Nacht.

Dem schnell dahinschreitenden einsamen Wanderer schienen dies alles längst bekannte Dinge zu sein, er beschleunigte seinen Gang noch mehr. Jetzt überschritt er eine Brücke und blieb dann vor der Schwelle eines schmalen Hauses stehen, dessen mit Eisenzierat geschmückte Tür er mit einem Schlüssel öffnete. Er betrat einen geräumigen Flur, der durch eine von der Decke hängende rötlich schimmernde Lampe erhellt war. Im Hintergrund erhob sich eine breite Treppe mit bequemen Stufen. Er stieg hinauf und erreichte die dritte und letzte Etage des Hauses. Vor einer mit feinen Holzskulpturen geschmückten gewölbten Tür, über der eine Lampe brannte, angekommen, klopfte er dreimal. Ein Augenblick verstrich. Er klopfte noch einmal und nahm, als er aus dem Innern das Geräusch schlürfender Schritte vernahm, Hut und Mantel ab. Das matte Licht der Lampe fiel auf sein Gesicht, es war sehr bleich, während die Augen, die Augenbrauen, der Bart und das Haar tiefschwarz waren. Jetzt wurde in der Tür ein kleines Guckfensterchen geöffnet, und dann vernahm man das Geräusch zurückgezogener Riegel und Ketten.

Er trat ein; vor ihm stand eine alte Frau, die einen Beguinenmantel und ein Kleid aus grobem Wollstoff trug. Sie nahm dem Ankömmling Hut und Mantel ab; er war ganz schwarz gekleidet, und an seinen weißen Händen, von denen er die Handschuhe abzog, funkelten reich mit kostbaren Steinen gezierte Ringe.

Er strich das lange, über seine Stirn fallende schwarze Haar zurück und sah die Alte fragend an.

»Ja«, sagte die alte Frau, »ja, sie harrt Ihrer in ihrem Leichentuch. Aber warum soll ich Ihnen das jedesmal wiederholen? Ach, wissen Sie denn nicht, daß sie Ihrer immer in ihrem Leichentuch harrt? Daß sie immer bereit ist, und daß ich armes altes Weib sie immer dazu vorbereite, wofür ich ganz gewiß jahrhundertelang in der Hölle schmachten muß, in die Sie aber auch unbedingt kommen ... Aber wer vermöchte Ihnen zu widerstehen ... und warum sage ich Ihnen das? Sie hören ja kaum auf meine Worte ... Nehmen Sie sich aber in acht – es könnte sich doch ereignen, daß dieses Spiel eines Tages zur vollen Wahrheit würde.«

Ohne ihrer Rede auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, ging der Gast an der Alten vorbei. Er begab sich in ein kleines Toilettenzimmer, dessen Spiegelwände durch hohe Wachskerzen erhellt wurden. Er entkleidete sich, legte ein langes Gewand von weicher, schwarzer Seide an, parfümierte sich und verließ das Gemach.

Er schien in großer Aufregung zu sein, denn er war noch bleicher als vorher; er preßte die Lippen fest aufeinander, und seine Hände zitterten. Das Opium, das er, ehe er hierher gekommen, genommen hatte, übte seine Wirkung aus, verwirrte sein Gehirn und erfüllte ihn mit glühend-phantastischer Begierde.

Jetzt befand er sich in einem viereckigen Zimmer, das mit großen Diwans und Möbeln von Ebenholz ausgestattet war. Mattlila, mit silbernen Blumen bestickte Seide bekleidete Wände und Decke, und auch die Fenster und Tür verhängenden Vorhänge bestanden aus demselben Stoff. Rechts stand ein großer Spiegel, links eine Standuhr, die jedoch nicht ging; große Bronzevasen waren mit Rosen gefüllt. Der den Fußboden bedeckende Teppich entsprach der Farbe und dem Muster der Draperien. Auf einer Konsole stand eine mit mattlila und rosa Schleiern verhangene Lampe, die ein dämmriges Licht verbreitete.

Der Mann ging dem Hintergrund des Zimmers zu, schob die Vorhänge auseinander und enthüllte einen tiefen, mit weißem Sammet ausgeschlagenen Alkoven, der beinahe ganz von einem Bett von Elfenbein eingenommen wurde, dessen Spitzenkissen, Seidendecke und Batistlaken von makelloser Weiße und Reinheit waren.

Auf diesem Bett lag eine junge Frau von überraschender Schönheit.

Die schneeweiße Seidensteppdecke war bis unter die Brust heraufgezogen, deren zarte Wölbung unter einer sie fest umschließenden Tunika von silberweißer Seide deutlich erkennbar war. Der schlanke Hals war von einer dreireihigen Perlenkette umgeben, ihr Haar von einer weißen Seidenbinde umhüllt, die auch das Gesicht umrahmte und dessen durchsichtige Blässe noch erhöhte. So lag sie starr, bewegungslos und mit gekreuzten Händen da; es schien, als ob kein Atemzug ihre Brust schwelle. Das Bett war mit weißen Rosen bestreut, auf ihrer Brust lag ein elfenbeinernes Kruzifix. Der milde Schein einer silbernen Nachtlampe fiel auf das schöne Weib. Die Luft des Alkovens war sehr warm und mit starken Wohlgerüchen erfüllt.

Der nächtliche Gast betrachtete die junge Frau, und ein ungeheurer Schmerz, der mit heißem sinnlichen Verlangen gepaart war, erfüllte seine Brust, denn seine Geliebte war über alle Begriffe begehrenswert, und sie bot das vollkommene Bild des Todes! Es schien, als ob diese langgeschnittenen Augen nie wieder ihre durchsichtigen Lider aufschlagen, als ob diese nicht ganz geschlossenen Lippen, hinter denen perlweiße Zähne schimmerten, sich nie mehr zum Kuß öffnen, die nackten von Perlen umwundenen Arme nie die gekreuzten Hände lösen könnten, um den zu umarmen, den sie liebte – den sie geliebt hatte.

Hatte sie nicht unter dem matten Schimmer dieser Lampe den letzten Seufzer ausgehaucht? Waren die über ihre Lager gestreuten Blumen nicht Todesblumen? Sollte sie nicht das auf ihrer Brust liegende Kruzifix mit in das Grab nehmen, hatte man sie nicht zu ihrer Vereinigung mit dem Todesengel geschmückt? Er warf sich vor dem Bett auf die Knie und ließ seine leidenschaftlichen Blicke auf der Geliebten ruhen. Die Wirkung des Opiums, die in dem Alkoven herrschende Hitze und der starke Duft erregten einen schwindelnden Taumel in ihm. Er verlor allmählich das Bewußtsein der Wirklichkeit. Eine tiefe Verzweiflung erfüllte sein Herz, während gleichzeitig ein glühendes sinnliches Verlangen in ihm erwachte, das mit jeder Sekunde wuchs. Er weinte. Er hatte eine der Hände des jungen Weibes erfaßt, er küßte und liebkoste ihren nackten Arm. Die Gefühle der Verzweiflung, der Liebe, der Wollust drängten auf ihn ein.

Jetzt hatte er die ihre Stirn und das Gesicht umgebende weiße, ihre schwarzen Locken verhüllende Seidenbinde gelöst. Er betrachtete dieses schöne Gesicht und eine plötzliche Hoffnung erfüllte sein Herz, eine Hoffnung, die zugleich sein sinnliches Verlangen erhöhte und in ihm den frevelhaften Wunsch erweckte, die Geliebte sofort zu besitzen. Er warf sich neben sie auf das Lager, er küßte ihre leicht geöffneten Lippen, er umschlang leidenschaftlich den holden zarten Körper. Ihre gelösten Locken fielen über die Spitzen ihres Kissens und die aufgerissene Tunika enthüllte ihre geheime Schönheit. Er dachte »Was kümmert mich das Morgen? In dieser Nacht noch ist sie schön, sie gehört mir ganz, und ich liebe sie so sehr, daß ich den Tod besiegen werde.«

Und in einem wollüstigen, durch die Wirkung des Opiums erhöhten Delirium besaß er sie. Da geschah es, daß sich ihre Lippen leise öffneten, um seine Küsse zu erwidern, daß sie ihre Arme ausstreckte, um ihn liebevoll zu umfangen, daß wollüstige Tränen sich durch ihre Wimpern stahlen und daß ihre großen klaren Augen sich weit öffneten! Und ihr ganzer göttlich schöner Leib hauchte einen berückenden Liebesduft aus.

Der Mann aber, als er das Leben unter seinen glühenden Küssen erwachen fühlte, gab sich einer schrankenlosen Wollust hin. Ein unerhörter Stolz machte seine Brust schwellen, er dachte:

»Meine Liebe ist es, die sie aus dem Grab gerettet hat. Noch einmal habe ich sie zum Leben erweckt! Noch einmal! – Ich bin Herr des Todes. –«

 

Und wie in dieser Nacht, so hatte dieser Mann es schon viele Nächte lang getrieben. Trunken von Opium, war er in diesen weißen Alkoven gedrungen, wo das arme junge Weib im ganzen Glanz ihrer Jugend und Schönheit wie eine Tote aufgebahrt lag und seinem Kuß entgegenharrte. Er wiederholte dieses seltsame Spiel noch mehrere Male, denn es war erst am letzten Abend dieses Jahres, daß er zum letzten Male kam.

Es schneite, und die Nacht war sehr dunkel. Die weichen Schneeflocken hüllten alles in jungfräuliches Weiß. Sie stürzten sich lautlos in das schwarze Wasser des Flusses, der still wie ein Kanal dahinglitt. Tiefe Ruhe lagerte über dem alten Stadtteil.

Er schritt durch das Schneegestöber hin; das Opium, das er heute besonders reichlich genossen hatte, ließ seltsame Visionen vor ihm erstehen.

Er überschritt die Brücke, drang in das Haus, ging die Treppe hinauf. Er klopfte und wurde wie gewöhnlich von der alten Frau eingelassen. Sie schien angsterfüllt und aufgeregter als gewöhnlich zu sein. Aber der nächtliche Gast war so von seinen Gedanken eingenommen, daß er dies nicht bemerkte.

Sie sagte: »Was, Sie sind es? ... Ich hoffte, daß Sie heute nicht kommen würden ... Ich weiß nicht, warum ich dies hoffte, denn ich weiß sehr wohl, daß sie Sie in dieser Nacht erwarten sollte, und ich weiß auch, daß Sie dann immer kommen.

Aber heute dürfen Sie nicht zu ihr gehen ... Sie liegt wie sonst aufgebahrt und in ihr Leichentuch gehüllt, bereit, zum Grabe geführt zu werden nur – daß sie heute abend wirklich tot ist. Sie ist vor ganz kurzer Zeit gestorben, ach, mein Gott, vor ganz kurzer Zeit! Und ich armes altes Weib habe sie aufgebahrt wie sonst, aber ach, sie und ich werden der ewigen Verdammnis anheimfallen, wenn ich Ihnen heute den Eintritt zu ihr gewähre. Und doch, ich weiß es, meine Worte sind vergebens ... Sie hören mich gar nicht an und werden zu ihr gehen, denn wer könnte Ihnen widerstehen? Aber verstehen Sie wohl, was ich Ihnen sage, an diesem Abend ist es Wahrheit! –«

Er hörte wirklich nicht auf das, was die Alte sagte, und schritt an ihr vorüber. Sie blieb klagend zurück. Er betrat das lila Zimmer und schob die Vorhänge des Alkovens zurück. Alles war genauso geordnet, wie es sonst zu sein pflegte.

Das junge Weib ruhte, vom matten Schein der Silberlampe bestrahlt, regungslos wie eine auf einem Grab liegende marmorne Statue. Sie war bleich wie eine solche und ebenso unbeweglich. Sie war so, wie er sie immer gefunden hatte. Wenn ihre Lippen weniger rosig, ihre Augenlider noch weißer, ihre nackten Arme, trotz der drückend heißen, mit Wohlgerüchen geschwängerten Luft, kälter waren als sonst, so bemerkte ihr Geliebter dies nicht. Und er tat, wie er immer getan, er suchte und fand zuerst eine tiefe Verzweiflung und dann wurde er von glühendem Verlangen erfaßt.

Sie lag in seinen Armen, er bedeckte sie mit glühenden Küssen. – Aber er versuchte vergebens, seine Lippen mit diesem bleichen Mund zu vermählen, sie wollten sich nicht öffnen. Vergebens bedeckte er ihren schönen Körper mit wollüstigen Liebkosungen, sie zitterte nicht, und ihre Arme wollten sich nicht um ihn schlingen. Die durchsichtigen Augenlider hafteten fest auf den großen blauen Augen, ihre kleinen Füße waren kalt wie Eis. Ihre Glieder wurden immer steifer, kälter und schwerer, und ihrer Schönheit blieb unwiderruflich der Stempel des Todes aufgedrückt, des Todes, den sie den perversen Gelüsten dieses seltsamen Mannes zuliebe so oft simuliert hatte.

Vielleicht war es, weil er in dieser Nacht trotz seiner wollüstigen Liebkosungen sie nicht stark genug zu lieben wußte? Vielleicht, weil sie, die so oft den Tod gespielt, endlich neugierig darauf geworden war, ihn wirklich kennenzulernen oder auch, weil sie, des schrecklichen Spieles müde, wirklich starb, um demselben ein Ende zu machen – gewiß ist, daß der unglückliche Mann bald genug zu der Erkenntnis kam, daß die Worte der Alten, die er verachtet hatte, keineswegs trügerisch, sondern volle Wahrheit gewesen waren. Er erwachte aus seinem Taumel und erkannte nun erst, was wahre Verzweiflung und Schmerz über einen unersetzlichen Verlust bedeuten! Alles sinnliche Begehren war verlöscht und erstorben ...

So geschah es, daß die letzten Fäden, die diesen Mann noch an das Leben knüpften, zerschnitten wurden. Er schob den Stein eines seiner Ringe zurück und nahm das furchtbare, sofort tötende Gift heraus, das darin verborgen war. Noch einmal umarmte er sie, die jetzt nicht mehr den Tod log ... Er küßte die Lippen, die er so sehr geliebt hatte. Und sein müdes Haupt sank im letzten Taumel, der letzten Trunkenheit auf ihre nackte Brust ...

Der Todesengel aber war es, der den letzten, den wahren Sieg davontrug ...


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