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Der Mord des Amerikaners

Am 12. November befand sich unter den Vermischten Nachrichten folgende Sensation erregende Mitteilung:

»Ein geheimnisvolles Drama, das sich auf dem Platze des Théâtre français zugetragen hat.

Gestern, Samstag, beim Morgengrauen, wurden die wenigen Vorübergehenden, die durch den kalten Nebel eilten, von einem lauten, grauenvollen Schrei erschreckt. Zu gleicher Zeit stürzte aus dem an der Ecke der Avenue de l'Opéra gelegenen kosmopolitischen Hotel ein menschlicher Körper auf das Trottoir.

Man eilte herbei, um das Opfer aufzuheben, das mit gespaltenem Kopfe und zerbrochenen Gliedern dalag und kein Lebenszeichen mehr gab. Der Tod mußte sofort eingetreten sein. Die Angestellten des Hotels erkannten die Leiche als die eines Amerikaners, Josua Wilson, der in der fünften Etage wohnte, und zwar mit einem seiner Vettern, Thomas Wilson.

Die Polizeibeamten begaben sich sofort in die Wohnung dieses Herrn und fanden ihn halb angekleidet, sehr erregt und mit mehreren frischen Verletzungen am Kopfe, die er im Begriffe war zu verbinden, als man in seine Gemächer eindrang. Er verweigerte auf das entschiedenste, irgendwelche Aufklärung über das Drama zu geben, das sich hier abgespielt, erklärte jedoch, unschuldig an irgendeinem Morde zu sein. Er wurde trotzdem sofort verhaftet.

Die Untersuchung ergab, daß die beiden Amerikaner seit ungefähr zwei Monaten im kosmopolitischen Hotel wohnten. Herr Thomas Wilson, der die französische Sprache vollkommen beherrschte, war ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, der reich und ein großer Freund des Vergnügens zu sein schien. Sein Vetter, das unglückliche Opfer, war sieben oder acht Jahre jünger; er schien völlig abhängig von ihm und in der Stellung eines ›armen Verwandten‹ bei ihm zu sein. Er sprach nur Englisch, war sehr schwerhörig und schweigsam und schien einen ziemlich menschenscheuen Charakter zu haben.

Er verbrachte die meiste Zeit allein auf seinem Zimmer, wo er sich einzuschließen pflegte, rauchte, las oder melancholisch auf die Straße blickte.

Es gab nur eine Person, der es anscheinend gelungen war, ihm etwas näher zu treten. Es war dies ein junges englisches Mädchen namens Ethel Campbell, das im Hotel das Amt der Leinenbewahrerin vertrat. Diesem jungen Mädchen gegenüber war es Josua gelungen, seine große Schüchternheit zu überwinden, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich zwischen den beiden ein kleiner Liebesroman entsponnen hatte, denn als die junge Engländerin den schrecklichen Tod des Amerikaners erfuhr, verfiel sie in eine heftige Nervenkrisis. Man mußte sie zu Bett bringen und einen Arzt holen.

Herr Eglantine, der hervorragend tüchtige Polizeikommissar des Viertels, hat dann die Wohnung der beiden Amerikaner auf das genaueste untersucht. Sie haben sich, wie es scheint, ausschließlich mit wissenschaftlichen Dingen beschäftigt, denn der Beamte entdeckte in einem sorgfältig verschlossenen Schranke viele physikalische Instrumente und elektrische Akkumulatoren sowie einen eigentümlichen Apparat, der eine gewisse Ähnlichkeit mit den Instrumenten hatte, deren man sich bei der drahtlosen Telegraphie bedient.

Herr des Angles, der bekannte Richter, ist damit beauftragt, Licht in diese ziemlich rätselhafte Sache zu bringen.

Thomas Wilson ist in das Untersuchungsgefängnis gebracht worden, nachdem man seine Wunden verbunden hat, die übrigens leicht und in keiner Weise besorgniserregend sind. Er hat, wie man sagt, den berühmten Advokaten Herrn Cabrolle gebeten, seine Verteidigung zu übernehmen.

Die Leiche des Opfers ist in die Morgue überführt worden, wo die Autopsie stattfinden wird.

Nach einer Mitteilung, die wir jedoch hier nur mit allem Vorbehalt wiedergeben, soll sich hinter dem des Mordes angeklagten Amerikaner, dem Pseudonym Thomas Wilson, die Person eines sehr berühmten Gelehrten verbergen, der sich sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa durch seine sensationellen wissenschaftlichen Entdeckungen eines bedeutenden Rufes erfreut. Wir stehen einstweilen davon ab, den Namen dieser hervorragenden Persönlichkeit zu veröffentlichen; sollte diese überraschende Mitteilung auf Wahrheit beruhen, so würde dieses Ereignis ein ungeheures Aufsehen machen.«

 

Der so dargestellte Mord des Amerikaners erregte selbstredend das höchste Interesse des Publikums, um so mehr, da es sich erwies, daß die unter allem Vorbehalt gemachte Mitteilung sich als wahr erwies. Schon die Abendzeitungen brachten den wahren Namen des sogenannten Thomas Wilson. Es war der berühmte Doktor Jeffries aus New York. Man veröffentlichte sein Porträt, seine Biographie und die Reihenfolge seiner Entdeckungen. Was das Opfer betrifft, so wußte niemand auch nur die geringste Auskunft über seine Person zu geben, so wenig wie über die Ursachen des Dramas.

Da der auf das Ereignis folgende Tag ein Sonntag war, so schritt die Untersuchung nicht voran. Der jungen Ethel Campbell ging es besser; sie war wieder aufgestanden und konnte ihren Dienst versehen, aber sie schien tief erschüttert zu sein und setzte allen in bezug auf den Mord an sie gerichteten Fragen ein hartnäckiges düsteres Schweigen entgegen.

 

Am Montagmorgen begab sich Doktor Gaspord, der Gerichtsarzt, in die Morgue, um die Leichenschau zu vollziehen, und zu gleicher Stunde wurde der des Mordes verdächtige Amerikaner zum ersten Male von dem Richter verhört, und zwar in Gegenwart seines Advokaten, des berühmten Maître Cabrolle.

Herr des Angles warf einen durchdringenden Blick auf den Amerikaner, dessen bartloses Gesicht noch ganz von dem weißen Verbandszeug umgeben war. In dem Augenblicke aber, als der Richter den Mund öffnete, um das Verhör zu beginnen, schnitt ihm der Angeklagte das Wort ab und sagte:

»Herr Richter, ich kann es nicht verantworten, die französische Justiz noch länger auf einem Irrwege wandeln zu sehen. In Gegenwart Herrn Cabrolles, der mir seinen unschätzbaren Beistand zugesagt, erkläre ich Ihnen hiermit der Wahrheit gemäß, daß ich unschuldig bin.«

»Ich bin durchaus geneigt, Ihnen das zu glauben«, antwortete der Richter mit vollkommener Höflichkeit, »aber der Schein ist gegen Sie, und alle Umstände weisen darauf hin, daß Sie es sind, der diesen Mord begangen hat.«

»Es liegt hier aber doch überhaupt gar kein Mord vor«, versicherte der Fremde.

»Ja, ja, ich weiß schon, nur ein Selbstmord! Wenigstens behaupten Sie dies! Aber die Verletzungen, die Sie davongetragen haben, die Tatsache, daß Sie sich ganz allein mit dem Verstorbenen im Zimmer befanden ...«

»Aber es ist doch gar kein Mensch gestorben«, unterbrach der seltsame Amerikaner den Richter noch einmal in überzeugendem Ton. »Der Körper, den man auf der Place du Théâtre français, unter einem der Fenster des kosmopolitischen Hotels – durch das ich ihn selbst herabgeschleudert habe, wie ich gern zugebe – aufgehoben hat, ist ja nicht der Körper eines Menschen ... Nein, nein, ich spiele mich hier nicht etwa geisteskrank auf, ich behaupte nur die einfache lautere Wahrheit, die zu beweisen mir sehr leicht sein wird: das, was ich durch das Fenster geschleudert habe, war ein Automat, eine Maschine, die das Aussehen eines Menschen hatte, ein Androïde, den ich selbst im letzten Jahre konstruiert habe.«

Es entstand eine kurze Pause.

»Nun, Spaß beiseite«, murmelte endlich der Richter, »das ist ja Unsinn ... das ist unmöglich ... man würde das doch sofort gemerkt haben ...«

»Herr Richter«, ergriff der Amerikaner mit offenem Lächeln das Wort, »dringen Sie nicht weiter in mich. Niemand hat auch nur das allergeringste gemerkt, zu meinem eigenen Erstaunen, denn ich dachte nicht, daß mein Werk so vollkommen sei ... Haben Sie Villiers ›Eva der Zukunft‹ gelesen?«

In diesem Augenblick erhob sich vor der Tür ein kleiner Tumult, und Doktor Gaspord, von dem schon die Rede gewesen, drang ungestüm in das Zimmer.

»Das ist ja einfach unerhört«, rief er. »Wissen Sie, was man mir zur Autopsie untergeschoben hat? Eine fabrizierte Sache! Eine Art Puppe, die durch Elektrizität in Bewegung gesetzt werden konnte. Die Gehilfen des Laboratoriums waren entsetzt darüber! Sie haben es erst gemerkt, nachdem der Körper kalt geworden war, haben aber nicht gewagt, etwas davon zu sagen. Denn es scheint, als ob dieser Automat, solange die treibende Kraft funktionierte, die Temperatur eines menschlichen Körpers hatte. Ist das ein Kunstwerk! Ich sage euch, es ist einfach wunderbar! Dieser künstliche Mensch hat ein Herz, Gehirn, Lungen und Blut in den Arterien! Zweifellos ist er auch mit elektrischen Empfangsapparaten versehen! Es ist geradezu verblüffend.«

»Mein lieber Kollege, Ihre Bewunderung rührt mich aufs tiefste«, sagte der Amerikaner.

»Doktor Jeffries! Sie sind Doktor Jeffries! Mein teurer Meister! Mein berühmter Kollege!«

Doktor Gaspord geriet vollständig in Begeisterung.

»Ich hoffe, Sie werden es entschuldigen, daß Ihnen Unbequemlichkeiten durch mich entstanden sind«, sagte der Amerikaner artig zu Herrn des Angles, »aber ich habe vergebens versichert, daß ich unschuldig sei, man hat es mir nicht glauben wollen. Und im Grunde war mir dies auch ganz recht. Ich bedurfte eines aufsehenerregenden Ereignisses, um meine Erfindung in die Welt einzuführen ... In Amerika kennt man mich zu sehr, man würde sofort etwas vermutet haben, während hier die Sachlage eine ganz andere ist. Ein sensationelles Verbrechen, eine Verhaftung, die Zeitungsartikel, und dann plötzlich die in all diese Verwirrung wie eine Bombe hereinplatzende Wahrheit ... das ist, wie Sie zugeben müssen, eine so großartige Reklame, wie sie feiner kaum erdacht werden kann. Bedenken Sie, daß ich seit mehr als zwanzig Jahren mich mit der Aufgabe beschäftige, einen völlig menschenähnlichen Automaten zu schaffen, daß ich fünf Maschinen konstruiert und wieder zerstört habe, ehe es mir gelungen ist, diesen von mir Josua genannten Androïden herzustellen! Die Akkumulatoren haben mir unendlich viele Schwierigkeiten gemacht, wir wissen so wenig über die Elektrizität ... Aber ich werde Gelegenheit nehmen, Ihnen all dies bis ins kleinste Detail zu erklären. Ich habe eine Denkschrift darüber verfaßt, die ich der wissenschaftlichen Welt mitteilen werde ... Ich werde gleichzeitig den Körper vorzeigen ...«

»Aber, Verzeihung«, unterbrach ihn hier Herr des Angles, »wie ist es mit den Verletzungen, die Sie im Gesicht haben, woher stammen diese?«

»Meine Verletzungen?« Der Amerikaner zögerte ein wenig. »Nun«, erklärte er dann, »die hat er mir beigebracht. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich entschlossen war, den Glauben an einen Mord zu erwecken, ein sensationelles Ereignis herbeizuführen, um meine Erfindung zu lancieren. Aber ich wartete immer noch damit, ich scheute mich davor. Es widerstrebte mir, dieses Ding zu zerstören, das das Produkt unendlichen Studiums und jahrelanger Arbeit war, das meinen ersten vollständigen Erfolg bedeutete – das außerdem so wunderbar menschlich aussah ... wenn es mich mit seinen großen klaren Augen anblickte ... Endlich, in der Nacht des Mordes (er lächelte und verbesserte sich), der Nacht jenes Abenteuers, hatte ich ein Glas Whisky zuviel getrunken, um mir Mut zu machen. Ich kam sehr spät in der Nacht nach Hause, war hochgradig erregt, aber fest entschlossen, mein Vorhaben auszuführen. So ganz genau weiß ich nicht, was sich zugetragen hat, – der Whisky, nicht wahr? – Ich muß es wohl vergessen haben, die treibende Kraft der Maschine abzustellen, ehe ich sie hinabstürzte – sicher ist, daß sie sich verteidigt hat – da ich die Spuren davon trage ...«

»Sie hat sich verteidigt?« frug der Richter ganz verdutzt.

»Nein! Ich will damit nur sagen, daß ich mich ungeschickt benommen habe.« Es glitt wie ein Schatten über das harte Gesicht des Amerikaners. »Ich hatte wirklich zuviel Whisky getrunken. Kommen Sie, meine Herren, lassen Sie uns zur Morgue gehen. Sie werden sich davon überzeugen, daß es eine einfache Maschine ist.«

»Und die kleine englische Dienerin?«

»Die kleine Magd? Ja, so! Nun, das war ein von mir angestelltes Experiment. Ich wünschte mir klar darüber zu werden, ob mein Automat wohl einen etwas tieferen Eindruck machen könne. Ich konnte ihn natürlich durch die elektrischen Ströme in Bewegung setzen und ihm dann meine Befehle erteilen, die er gehorsam ausführte. Ich habe ihn dann drei- oder viermal mit dem jungen Mädchen allein gelassen, während ich mich, scheinbar um zu arbeiten, im Nebenzimmer eingeschlossen hatte ... Nachher konnte ich mich wirklich des Lachens nicht enthalten, als ich sah, wie die Kleine dieser Maschine, mit der sie sich verlobt hatte, wie ich glaube, die zärtlichsten Blicke zuwarf ... Er war wirklich eine gute Maschine«, fügte er hinzu.

»Ich beantrage, daß mein Klient sofort aus der Haft entlassen werde«, sagte Herr Cabrolle.

Dieser kurze Satz war alles, was der berühmte Advokat in dieser merkwürdigen Angelegenheit gesagt hat, aber er genügte, um seinen bedeutenden Ruf noch mehr zu festigen.

 

Der Ruhm des Doktor Jeffries verbreitete sich überraschend schnell. Von einem Tage zum andern waren er und sein Androïde zum Gespräch in der ganzen kultivierten Welt geworden. Die Zeitungen überboten einander in der Ausführung interessanter Details über die menschliche Maschine. Man erinnerte sich der historischen Automaten, sprach von den Androïden Alberts des Großen, Vaucausons, Maetzels, Hoffmanns und Villiers de l'Isle Adam. Die Ansicht der Gelehrten war geteilt. Die Finanzleute stellten ungeheure Summen zur Verfügung, und Spekulanten schlugen vor, Gesellschaften zur Herstellung künstlicher Diener und belebter Statuen zu gründen. Doktor Jeffries wurde Ehrenmitglied einer ganzen Menge wissenschaftlicher Gesellschaften; er erhielt viele Orden, und man verbreitete Tausende von Postkarten mit seinem Porträt, auf vielen war auch das Bild des unglücklichen Josua Wilson mit angebracht.

Dieser war durch den Fall schon sehr schwer beschädigt worden; dazu kam, daß Doktor Gaspord ihn in den ersten Augenblicken des Staunens und der Erregung noch viel mehr verstümmelt hatte. Nachdem der arme falsche Leichnam durch verschiedene Hörsäle geschleppt worden, wurde er schließlich öffentlich ausgestellt, und die Menge defilierte an der wunderbaren Maschine vorüber und betrachtete staunend diesen jammervollen, so menschenähnlichen, mit schrecklichen Wunden bedeckten Körper, der ein Triumph des schöpferischen Genies des Menschen war.

Unter den vielen Neugierigen befand sich ein junges, blondes, sehr bleiches Mädchen. Sie schien, wie die Wächter dies später einstimmig erklärten, sich in einem Zustand höchster Erregung und Überreizung der Nerven zu befinden. Sie blieb minutenlang vor dem armen zerstörten Automaten stehen, ohne den Blick davon abzuwenden. Dann wandte sie sich mit leisem hysterischen Lachen ab und ging fort.

Doktor Jeffries hatte indessen seine bescheidenen Räume mit einer sehr üppigen Wohnung in der ersten Etage des kosmopolitischen Hotels vertauscht. Er beabsichtigte, in den nächsten Tagen von Paris abzureisen, um in den verschiedenen Hauptstädten Europas Vorlesungen zu halten, wobei er den Körper Josua Wilsons demonstrieren wollte. Er hatte gleichzeitig die Konstruktion eines neuen Josua begonnen. Am Abend desselben Tages, von dem wir eben sprachen, war Doktor Jeffries gegen Mitternacht nach Hause zurückgekehrt, als er plötzlich hörte, wie sich die Türe des Vorzimmers öffnete.

Er stand auf, um zu sehen, wer da komme, als er plötzlich in dem halbdunkeln Salon die Umrisse eines zarten Schattens mit einer weißen Schürze vor sich sah. Er erinnerte sich dann gleich der kleinen englischen Magd. Er wollte reden, handeln – aber es blieb ihm keine Zeit dazu.

»Lügner, Lügner, Mörder!« zischte sie ihm halblaut hinter aufeinandergepreßten Zähnen entgegen ...

Sie erhob die Hand. Drei Revolverschüsse ertönten. Doktor Jeffries fiel vornüber und schlug mit dem Kopfe auf den Boden auf. Ein Blutstrom entquoll seinem Munde, dann starb er.


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