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Das Ohr Josua Flints

Es war einmal ein sehr armer Mann.

Er hieß Evans und lief mit ganz zerfetzten Schuhen in den Straßen New Yorks umher. Seine Hose war ausgefranst, sein Mantel zerlumpt und sein Hut in kläglichem Zustand. Er machte einen ziemlich verstörten Eindruck, denn er hatte seit dem frühen Morgen nichts gegessen.

Er setzte sich in eine Mauerecke. Er fing an, einzusehen, daß für ihn kein Platz im Leben sei, trotz seiner verschiedenen Talente, seiner Energie und des kräftigen Optimismus, der ihn bis dahin noch niemals im Stiche gelassen hatte, jetzt aber doch ins Wanken geriet, da er sich niemals in Einklang bringen ließ mit dem wirklichen Gang der Dinge.

Den Kopf in die Hände gestützt, saß Evans also hungernd in seiner Straßenecke. Er fühlte sich wirklich tief herabgestimmt. »Ich weiß, daß ich eine Kraft bin«, sagte er sich, »und trotzdem werde ich Hungers sterben.« Seine Schwäche war so groß, daß sein Mut ihn verließ. Er fühlte, wie etwas Feuchtes in seine Augen stieg, und er vergoß eine Träne über sich selbst.

»Wollen Sie zehntausend Dollar verdienen?« fragte ihn plötzlich eine Stimme.

»Ja«, antwortete Evans, ohne zu zögern.

Er stand auf und musterte den Fragesteller. Es war ein Mann von etwa vierzig Jahren, gut gekleidet und von entschiedenem, intelligentem Aussehen. Er hatte sich unbemerkt von Evans, der ganz in sein Unglück versunken war, diesem genähert und mit Aufmerksamkeit die Seite seines Kopfes betrachtet. »Es würde zu gebrauchen sein«, murmelte er, und dann hatte er dem anderen das Anerbieten von zehntausend Dollar gemacht.

»Wollen Sie wirklich dieses Geld verdienen?« wiederholte er.

»Ja«, sagte Evans mit großer Bestimmtheit, »was muß ich dafür tun?«

»Verkaufen Sie mir Ihr rechtes Ohr«, antwortete der andere prompt.

»Mein Ohr?«

»Ja. Ihr Ohr. Ich kaufe es Ihnen ab. Ja oder nein?«

»Was wollen Sie denn damit machen?«

»Es Ihnen keinesfalls zur Verfügung stellen, verstehen Sie das wohl. Ich bin Risley, der Chirurg. Ich werde es Ihnen selbst abschneiden, Sie haben dabei nichts zu befürchten. Ja? Nein?«

»Ja, natürlich«, sagte Evans.

»Sehr gut. Kommen Sie mit mir.«

Die Klinik des berühmten Risley, des bedeutendsten und kühnsten Operateurs, des Königs der experimentellen Physiologie, dessen Ruhm ganz Amerika erfüllte und sich von dort aus über Europa verbreitet hatte, war glänzend eingerichtet und mit den weitestgehenden antiseptischen Vorsichtsmitteln ausgestattet.

Evans folgte dem Chirurgen, der weiter nicht mehr mit ihm sprach, und durchschritt an seiner Seite eine Diele, einen Gang und mehrere große Säle, die von so leuchtender Sauberkeit waren, daß der Gedanke an hier hausende Mikroben und Bazillen ganz ausgeschlossen war.

In einem dieser Säle befanden sich an den Wänden ganze Reihen kleiner Nischen, in denen allerlei anormale und verwirrend aussehende Geschöpfe herumkrabbelten, deren Aussehen durchaus nicht mehr dem entsprach, das die Natur diesen Tieren verliehen und unter dem sie uns vertraut sind. Es waren Produkte des schrecklichen Messers Risleys, seine Opfer und sein Triumph, die arrangierte Natur! Der Physiologe machte einen Augenblick halt vor einer dieser Nischen, in der sich ein wunderliches Etwas bewegte, das die größte Ähnlichkeit mit zwei in den Flanken miteinander verwachsenen Ratten hatte. Evans blieb ebenfalls stehen und fühlte dann plötzlich, wie eine heiße Zunge seine Hand leckte. Er sah einen Hund vor sich, dessen eine Körperhälfte ein weißes, kurzes Fell hatte, während die andere Hälfte schwarz und langhaarig war. Der Kopf dieses Tieres war weiß und mit einem gespitzten Ohr auf der schwarzen Seite, während auf der weißen Seite sich ein rötliches, herabfallendes Ohr befand. Der Schwanz, der freundlich hin und her wedelte, glich dem eines Schweines und ringelte sich schraubenförmig empor. Die Stimme Risleys weckte Evans aus seinen Betrachtungen. »Wird's bald? Kommen Sie?« frug er ungeduldig.

Evans erhob den Kopf. Er sah sehr blaß aus.

»Was wollen Sie mir an Stelle meines Ohres an den Kopf setzen?« frug er rauh und mit heiserer Stimme.

»Gar nichts, Dummkopf«, rief Risley. »Ich schneide Ihnen einfach das Ohr ab, weil ich es brauche, das ist alles.«

»Ist das auch ganz gewiß? Werden Sie mir nicht etwa ein lebendiges Tier oder etwas anderes annähen?«

»Nein. Außerdem werden Sie den Kontrakt sehen.«

Sie hatten ein großes Arbeitszimmer erreicht. Man gab Evans einen Stuhl. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

»Sie werden nicht lange zu warten haben, der Patient wird sogleich erscheinen«, sagte ein Assistent Risleys zu Evans, der es kaum zu verhindern vermochte, daß seine Zähne aufeinander schlugen. Dann bemächtigten sich Dr. Risley und ein anderer Arzt seiner Person, und sie auskultierten und untersuchten ihn nach allen Regeln der Kunst und auf das sorgfältigste. »Er ist gesund«, murmelte Risley halblaut, und wie sein Echo wiederholte der Assistenzarzt: »Er ist gesund.«

Zwanzig Minuten später trat ein großer und starker Herr ein. Sein Kopf war auf der einen Seite verbunden. Ohne Evans nur anzublicken, ergriff er ihn am Arm, führte ihn an das Fenster und betrachtete sein Ohr. Dann riß er sich den Verband vom Kopf. An der rechten Seite befand sich eine schreckliche, noch nicht geschlossene Wunde. Das Ohr war ganz weg, es war nur noch ein scheußlicher Stummel zu sehen. Mit dem Spiegel in der Hand musterte der starke Herr sein ihm verbliebenes Ohr und verglich es dann mit dem Evans'.

»Das seine ist größer und nicht so graziös, aber ich denke doch, daß es genügen wird«, sagte er endlich. Jetzt endlich hatte Evans verstanden. Er wurde leichenblaß.

»Wollen Sie den Kontrakt unterzeichnen?« fragte Risley mit harter Stimme.

Evans las. Es war ein Kaufvertrag in bester Form. Er verkaufte sein Ohr und erhielt dafür zehntausend Dollar.

Ohne ein Wort zu erwidern, unterzeichnete er.

Einige Minuten später lag Evans, nachdem er gewaschen, rasiert und chloroformiert worden, auf dem Operationstisch und verlor sein Ohr, ohne sich dessen bewußt zu sein. Diese Zierde seines Kopfes wurde mit einer eleganten Naht an dem Schädel des starken Herrn befestigt, der, ebenfalls chloroformiert, auf einem anderen Tisch lag.

Als Evans, nachdem man ihn sorgfältig verbunden hatte, aus der Narkose erwachte, war die Nachwirkung des Chloroforms so stark, daß er ganz verwirrt war und sich absolut nicht erinnern konnte, was denn mit ihm vorgegangen sei.

»Wer ist das?« fragte er halblaut mit einer Bewegung des Kinns auf den deutend, den man soeben mit einem Teil seiner eigenen Person geschmückt hatte.

»Der Multimillionär Josua Flint, der König des konservierten Fleisches«, antwortete ebenfalls mit halblauter Stimme der Assistenzarzt, der sich mit ihm beschäftigt hatte.

»Hat er einen Unfall erlitten?«

»Nein, hat Händel bekommen. Er war schwer betrunken. Hat einen Schlag mit 'nem Mauerstein aufs Gesicht bekommen! Soll in einem Monat heiraten, ein sehr hübsches Mädchen. Natürlich hat er sich vorher reparieren lassen. Sie verstehen ...«

»Ich verstehe«, sagte Evans.

Er blieb in der Klinik Risleys, bis er vollständig geheilt war. Er bezeugte ein so lebhaftes Interesse für die gepfropften Tiere und die aneinander genähten Ratten, daß der berühmte Meister ihm das Anerbieten machte, ganz bei ihm zu bleiben und sein Gehilfe zu werden. Aber Evans wollte das nicht. Seine Haare wuchsen schnell und verbargen seine Wunde. Sein erster Ausgang fand an demselben Tag statt, an dem Josua Flint heiratete, und er ging in die Kirche, um die feierliche Zeremonie der Trauung anzusehen. Er überzeugte sich bei dieser Gelegenheit, daß sein eigenes dem Schädel des Milliardärs angepfropftes Ohr diesem sehr gut stand. Diese Tatsache mußte wohl Evans ein besonderes Vergnügen machen, denn er lachte leise in sich hinein.

Mit seinen zehntausend Dollars im Beutel und seinen eigenen kühnen Projekten im Kopf trat dann Evans wieder in das Leben ein.

*

Zehn Jahre nach den Ereignissen, die ich soeben erzählt habe, befand sich Josua Flint an einem trockenen und kalten Wintermorgen in einem der Wartesalons der großen Bank von New York, deren Direktor er in Angelegenheiten von höchster Wichtigkeit zu sprechen wünschte.

Für den Augenblick wartete er – er, der einst so viele andere auf sich warten ließ.

Der »König des konservierten Fleisches« hat sich in der Tat ein wenig verändert. Er ist vor der Zeit gealtert. Seine Stirn ist kahl, seine Wangen sehen violett, seine Augen gerötet aus, aber die Narbe, die Doktor Risley gezeichnet hat, umzieht immer noch mit einer rosa Linie sein rechtes Ohr, für das er zehntausend Dollar gezahlt hat. Risley selbst, dieser ausgezeichnete Chirurg, lebt nicht mehr; er starb, weil er, der andere so gut zu operieren wußte, doch sich selbst nicht hatte operieren können, wenngleich es sich um sein Leben handelte.

Josua Flint schreitet in niedergedrückter, erregter Stimmung auf und nieder. Er ängstigt sich; er ist sich dessen bewußt und fürchtet zusammenzubrechen. Endlich wird er vorgelassen.

Hinter einem ganz im Hintergrund eines ungeheuer großen Arbeitszimmers stehenden Schreibtisch sitzt der Direktor der großen Bank.

Es folgt ein langes eindrucksvolles Schweigen.

Josua Flint blickt den Direktor an. Der Direktor jedoch würdigt Josua Flint keines Blickes, und der letztere fühlt sich plötzlich von einem Gefühl beherrscht, das er bisher niemals gekannt: von der Schüchternheit. Endlich rafft er sich auf und bricht los:

»Was wollen Sie eigentlich? Was haben Sie gegen mich? Warum versteifen Sie sich darauf, mich ohne Waffenstillstand unausgesetzt zu bekämpfen? Sie haben all meine Feinde zu einem schrecklichen Bunde gegen mich zu verbinden gewußt, und Sie sind es, der den Kampf gegen mich angefangen hat. Von Ihnen allein kommt all mein Unglück; ich weiß das mit Bestimmtheit, und Sie wissen, daß es so ist. Sie sind es, der mich überall verdächtigt hat, und Sie haben es sich viel Geld kosten lassen, um eine Untersuchung meiner Fabrikate zu bewerkstelligen. Sie haben den Weltruhm meiner Konservenbüchsen erschüttert, indem Sie die Behauptung aufrecht erhielten, daß sie das Fleisch an Krankheit gestorbener Tiere enthielten. Sie sind es, der das abscheuliche Gerücht zu verbreiten wußte, daß man täglich menschliche Finger und antiseptische Verbandlappen in meinem konservierten Fleisch finden könne. Sie sind Erfinder des lächerlichen Märchens, daß meine Würstchen aus Tonerde und gehackten Flechsen fabriziert würden. Sie haben in dem Depeschensaal des ›Hände hoch‹ jene ekelhafte Analyse des von mir fabrizierten Fleischextraktes ausstellen lassen, zugleich mit dem Rattenschwanz, den man in einer meiner Wildpasteten entdeckt haben will. Sie haben dem Publikum einzureden gewußt, daß Ihnen mehrere Hunde gestorben seien, weil man sie gezwungen habe, eins meiner ›Frühstücke für Schüler‹ zu verzehren. Sie haben den Beistand der Politiker zu erkaufen gewußt, um gegen mich in das Feld zu ziehen und eine Untersuchung gegen meine Fabrikate anzustrengen. Man hat mich verfolgt, man hat mich entehrt, und der Skandal hat sich über zwei Welten ausgebreitet. Und während ich immer tiefer sank, stiegen Sie. Sie erbauten Ihre Macht mit den Trümmern der meinen, das ist wahr, aber Ihr Ziel, Ihr Endziel war es doch nur, mich ins Verderben zu stürzen, denn Sie haben viel Geld verloren, um mich zu ruinieren.«

Josua Flint war so hingerissen von der Heftigkeit seiner Gefühle, daß er gezwungen war, sich zu unterbrechen, um Luft zu schöpfen. Der Direktor der großen Bank saß stumm und mit niedergeschlagenen Augen da und verriet durch kein äußeres Zeichen, daß er auch nur das geringste Interesse empfand für das, was Flint ihm sagte.

Der arme Ex-König des konservierten Ochsenfleisches holte einige Male tief Atem und ergriff dann wieder das Wort:

»Ich bin jetzt hierhin gekommen, um mich offen mit Ihnen auszusprechen, mein Herr. Ich weiß Ihren Wert vollkommen zu schätzen, doch ist das kein Grund, den meinen so gering zu achten. Ich gehe direkt auf das Ziel los. Wollen Sie, anstatt mich zu bekämpfen, nicht lieber gemeinsame Arbeit mit mir machen? Sie wissen es bereits, daß ich ein geradezu großartiges Unternehmen plane: ich habe den Trust sämtlicher Jagden Zentralafrikas in Händen, und ich beabsichtige gleich an Ort und Stelle Wildkonserven aller Arten zu fabrizieren und damit alle Märkte zu konkurrenzlosen Preisen zu überschwemmen. Es sind bei diesem Unternehmen enorme Summen zu verdienen, aber schon ehe es ins Leben getreten, wird es von Ihnen bekämpft, und Sie lassen es sich angelegen sein, überall zu verbreiten, daß meine Wildpasteten hier zubereitet würden, und daß sie aus den unglaublichsten, widerlichsten Fleischabfällen hergestellt würden, daß man sie ganz fertig nach Afrika schicke, um sie von dort aus in Europa und Amerika einzuführen. Ich komme also zu Ihnen, um Sie zu bitten, doch endlich Ihre unnötigen Angriffe ruhen zu lassen ... Ich komme, um Ihnen zu sagen: Einigen Sie sich mit mir, wenn wir Hand in Hand gehen, können wir Großes erreichen und den Handel von ganz Amerika an uns reißen.«

Der Direktor der großen Bank schlug noch immer die Augen nicht auf, er sprach kein Wort und schüttelte nur den Kopf als Zeichen, daß er nicht gesonnen sei, auf den ihm gemachten Vorschlag einzugehen.

»Nein?« schrie Josua Flint, der ganz violett geworden war. »Nein? Und warum nein? Das ist töricht, ist kindisch, es widerspricht Ihren eigenen Interessen! Das ist reine Böswilligkeit, grundlose, unerklärliche Böswilligkeit! Was habe ich Ihnen getan? Was wollen Sie denn eigentlich? So reden Sie doch – sagen Sie, was Sie von mir wollen?«

Da erhob sich der Direktor der großen Bank von seinem Sitz. Die rechte Hand strich die schwer und lang herabfallenden Haare zurück und enthüllte eine schreckliche Narbe an der Seite seines Kopfes. Er neigte sich Josua Flint, der ihn jetzt erkannte, entgegen und mit dumpfer, von namenlosem Haß erfüllter Stimme sagte er:

»Geben Sie mir mein Ohr zurück.«


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