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Napoleon I.

Napoleon ähnelt in seinen Handlungen fast ebensosehr wie Karl dem Helden eines Romans. Er sagte selbst: »Ich bin die Revolution«, und das Wesen der französischen Revolution war so literarisch, daß sie häufig nicht wie eine originelle Schöpfung, sondern wie ein geistiger Diebstahl wirkt. Alle ihre Träger hatten aus Büchern gelernt. Sie durchlebten ihre eigenen Biographien, und als es zur Hinrichtung kam, starben sie mit einer schön abgewogenen, im voraus verfaßten Phrase – einem griechischen Epitaph – auf den Lippen. Häufig waren ihre letzten Worte wirklich antiken Grabsprüchen nachgebildet. Ihre Gefühle entlehnten sie Jean-Jacques, ihre Beweggründe Voltaire, ihre Gebärden, mitunter, glaube ich, sogar ihr Gesicht oder doch zum mindesten den Ausdruck ihres Gesichts, den Kupferstichen der gangbarsten Ausgaben Plutarchs.

So sind viele Züge des Napoleon-Mythus, ja wohl alle seine volkstümlichen Eigenschaften dekorativ und nicht innerstes Wesen, so vor allem die unvergeßliche Treffsicherheit seiner Aussprüche und Posen, die allzu deutliche Nachahmung Plutarchischer Helden, welche alle älteren und jüngeren Historiker bis hinab zu Emil Ludwig geblendet hat. Wann immer Napoleon uns an Cäsar oder Alexander erinnert, wann immer er sich wie ein Römer benimmt, richtet er sich nach einem Buch. Es ist aber töricht, einen Charakter und eine dramatische Handlung hinter dieser konventionellen Verbrämung verschwinden zu lassen, die von Anfang an nur als Schmuck gedacht war.

Wir müssen daher an der Wirbelsäule der Geschichte eine kleine osteopathische Operation vornehmen, wollen wir ihn nicht nur bewundern, sondern ihn auch wirklich verstehen. Es gilt, das Rückgrat seiner Erscheinung, das heißt die treibende Kraft seines Wesens, gerade zu rücken und ihn aus dem Bereich der Legende für die Menschheit zu retten.

Dieses Hauptmotiv ist kein Geheimnis. Selbst die kürzeste und pietätvollste Napoleonbiographie legt Zeugnis dafür ab, obwohl es meist schlechtweg als eine mehr oder minder rührende, sympathische Schrulle geschildert wird. Gemeint sind seine Beziehungen zu seiner Familie, seine Haltung gegenüber der Religion und den Gesetzen. In Wahrheit unterschied sich seine Lebensauffassung nur wenig von den landläufigen Begriffen, wie sie seit zwei, drei Jahrhunderten unter den Korsen seiner Klasse und Erziehung herrschten. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb man sie so hartnäckig ignoriert hat.

Diese Klasse war nicht so niedrig, daß sie nicht berechtigt gewesen wäre, ehrgeizige Wünsche zu hegen. Die Bonapartes waren weder Leibeigene noch Ladenbesitzer. Sie gehörten vielmehr jener zweifelhaften Gesellschaft der fadenscheinig Vornehmen an, die wir in unseren Betrachtungen als guten Nährboden für Abenteurer bezeichnet haben. Vielleicht besaßen sie wirklich adelige Vettern in Italien; mitunter glaubten sie das, vor allem Napoleon selbst. Nun kennt aber der Italiener nur eine Form des Ehrgeizes, und die Korsen sind, abgesehen von allem romantischen Geschwätz, letzten Endes Provinzitaliener. Mit dem Ausdruck Italiener bezeichne ich alle diejenigen Menschen, die eine italienische Geschichte gehabt haben. Die Richtung ihres Ehrgeizes ist durch diese Geschichte festgelegt; er äußert sich in Gestalt eines ungemein handfesten, lebendig strahlenden Traums von Reichtum und Macht, unlöslich mit einem Adelspatent verbunden. Kein Engländer träumt davon, König zu werden; seine Geschichte leugnet jede derartige Möglichkeit, seine Dichtkunst schildert sie ihm als unerwünscht. Seiner Tradition zufolge ist das Hofleben stets langweilig, so langweilig, wie das gewisser amerikanischer Millionäre, die mit der Verpflichtung, einen privaten Golfplatz auf Long Island, einen Leibarzt und eine Loge in der Metropolitan Oper zu besitzen, so ziemlich das erbärmlichste Ideal aufgestellt haben, das je einer Jugend als Lockung dienen sollte. Der Engländer erblickt, wenn er Ehrgeiz hat (was mitunter der Fall ist), vor sich eine Landschaft mit weiten Rasenplätzen und niedrigen Hecken, einen roten Reitrock, einen gut gefüllten Stall, einen nebligen Herbstmorgen und John Peel, der ins Horn bläst, während Mr. Jorrocks zur Rampe hinaufreitet.

Dem Italiener jedoch, besonders dem Italiener in der Provinz, vor allem aber dem Korsen, der, wie unser Held, weder der einen noch der anderen Klasse angehört, winkt in allen seinen Träumen nur ein einziges Bild: ein Palast, eine Krone, ein Wappen oder eine Tiara und ein glanzvoller Hof bei einem Bankett oder einem Galaempfang. Die Italiener haben die Renaissance nie vergessen. Sie begehren die Güter der Zivilisation; ihr Ehrgeiz ist in erster Linie gesellschaftlich, luxusliebend, hungrig nach Besitz.

Aus einem starken Gefühl für die Gesellschaft ist diese Form des Ehrgeizes niemals rein egoistisch, stets schließt sie die Familie mit ein. Mark Rutherford, der die Psychologie der Sklaven aus den Hintergäßchen Londons studiert hat, legt einem seiner tiefsten Charaktere die Worte in den Mund: »Niemand außer einem Sklaven weiß, was die Ehe bedeutet.« Wer nicht einem, die Gesellschaft liebenden, besitzhungrigen Volk angehört, welches so zahlreiche Eroberungen und Umstürze erduldet hat, daß es sich ihrer kaum mehr zu erinnern weiß, einem Volk, dessen übersteigerte und verzweifelte Sehnsucht nach Dauerhaftigkeit, Eigentum und einer festen Regierungsform nur diesen einen letzten Ausweg gefunden hat, der ahnt nicht, wie stark das Familiengefühl in einem italienischen Geschlecht wie dem der Bonapartes entwickelt ist. Es ist stärker als jede Religion, jede Norm und jede Überlieferung. Ist die Familie arm, so nennt sie doch ihre Mitglieder ihr eigen. Diese sind in höherem Grade ihr Eigentum, als irgend etwas auf der Welt, ausgenommen das Stück Brot, das man verzehrt. Ist sie reich, so liegt die Würze des Reichtums in der Möglichkeit, ihn mit den anderen zu teilen. Kurz, dieser Teil der weißen Rasse kennt, wie der mythische Höhlenbewohner, als Einheit nicht das Individuum, sondern die Familie.

Geben wir von vornherein zu, daß dies äußerst edel ist; jeder mag, was er Schönes über derartige Beziehungen zu sagen hat, in seinem eigenen Leben verwirklichen. Aber er vergesse nicht, daß die Basis dieses Inbegriffs von Mutter-, Vater-, Schwestern-, Bruder- und Sohnesliebe ausschließlich die Blutsverwandtschaft ist. Die uns von Roederer überlieferten Bemerkungen über die Adoption, die Napoleon, ein Jünger dieses Kults, im Staatsrat fallen ließ, werfen ein reizvolles Seitenlicht auf unser Thema.

»Was ist die Adoption? Eine Nachahmung der Natur, eine Art Sakrament. Durch den Willen der Gesellschaft wird der leibliche Nachkomme eines Menschen zum Fleisch und Blut eines anderen. Kann es etwas Erhabeneres geben? Diese Handlung flößt zwei Wesen, die durch keinerlei Bande des Bluts miteinander verknüpft sind, eine natürliche, gegenseitige Zuneigung ein.« Von wo muß dieser Akt kommen? »Nicht von einem Notar«, sagt Napoleon, »sondern wie der Blitz vom Himmel.«

Man hört ordentlich die Betonung, mit der der Kaiser sein Staunen und seine Bewunderung ausdrückt. Er war der klügste Kopf Europas; ein weniger bedeutender Mensch seiner Klasse und Rasse hätte sich schlankweg geweigert, zu glauben, daß irgend jemand Familienliebe schenken könnte, wo Bande des Blutes fehlen. Für ihn ist es ein seltener, möglicher, erhabener Fall, der wie der des Heiligen an Wahnsinn grenzt. Das Bezeichnende an der italienischen Familie ist, daß alle Mitglieder sich eines Leibes und eines Blutes fühlen; »die Verwandtschaft ist sakramental«. Der eine liebt den anderen, wie sich selbst, weil er ihn als einen Teil seiner selbst betrachtet. Ein siamesisches Zwillingspaar, das sein Leben bisher mit vier Beinen, zwei Köpfen und einem einzigen Blutkreislauf gelebt hätte, würde im Augenblick der Trennung durch eine notwendige Operation Napoleons Auffassung von Familiensinn am besten verstehen und deutlich machen können. Sämtliche Angehörigen sind Glieder ein und desselben Wesens; Familienhaß kommt einer körperlichen Amputation gleich. Napoleon liebte seine Familie wie sich selbst, denn er empfand sie buchstäblich körperlich als einen Teil von sich. Dieser grundlegende Charakterzug ist nichts als ein solider, einheitlicher Egoismus.

Bis jetzt haben wir in jener jugendlich romantischen Figur, die in dem bekannten kleinen Haus in Ajaccio über die Zukunft brütet, nur bewunderungswürdige Eigenschaften entdeckt, jedoch nichts, was sie aus der Menge hervorhebt. Sie träumt den italienischen Traum von einem Palast, einem Hof, einem Thron und von der Familie, die an allem Anteil haben soll. Erst später tritt eine äußerst tragische, leicht exzentrische Entwicklung ein. Ob diese nun eine Folge des wilden, oft unnötigen Aufwands an Energie war, mit dem Napoleon seinem Ziele zustrebte, oder ob sie seinem eigentlichen Wesen entsprach: er verfiel in einen Zustand, unter dem viele Männer der Tat leiden. Er verlor die Kraft, das Leben unmittelbar für sich zu genießen. Jene Schwäche, eine Impotenz des Genusses, macht sich auf jeder Sprosse der moralischen Leiter, bei dem Heiligen wie bei dem Lebemann, fühlbar. Insgeheim bildet sie den Anlaß zu zahlreichen Formen der Wohltätigkeit und des Lasters. Napoleon teilte sie mit der müden Köchin, die über dem Herd den Appetit auf die von ihr zubereiteten guten Dinge verliert und die sich an ihnen nur dann freuen kann, wenn sie den anderen beim Essen zuschaut. Vielleicht gesellte sich dieser Schwäche noch eine andere hinzu, eine Folge der gleichen jahrelangen nervösen Überanstrengung durch wenig Schlaf, übermäßiges Lernen und geistige Konzentration. Wenn dem so war, so muß er als Italiener vor allem darunter gelitten haben. Seinen Zwistigkeiten mit Josephine vor der Kaiserzeit, den merkwürdigen Antworten seiner Mätresse in Ägypten auf seinen Vorwurf der Unfruchtbarkeit, seiner bekannten Vorliebe für »sanftmütige« Frauen liegt vielleicht ein sexuelles Geheimnis zugrunde, das wir schicklicherweise niemals erfahren werden.

Dieses Unvermögen bestand jedenfalls, wenn wir auch nicht wissen in welchem Maße, und die logische Folge war, daß sein Familiensinn sich noch über das von uns geschilderte Maß hinaus steigerte. Seine Geschwister waren nicht nur ein Teil von ihm selbst, sie waren der einzige Teil, mit dem er wahrhaft fühlen und genießen konnte. Sie waren sein Gaumen, seine Augen, seine Ohren, und seine Lebensgier ließ sich nur durch die Freuden, die sie fühlten, befriedigen. Vielleicht erinnert man sich an einen Vorfall, der sich mitten in dem Prunk seiner Krönung in Notre Dame ereignete. Hinter dem Kaiser stand der Papst, neben ihm Josephine, er selbst trug die Krone auf dem Haupt, da mußte er plötzlich Onkel Fesch, den er zum Kardinal gemacht hatte, seinen Zepter heimlich in den Rücken stoßen. Historiker zerbrechen sich darüber die Köpfe, denn Napoleon war zwar ungewandt, aber durchaus nicht taktlos. Sicherlich hatte er ganz einfach den Wunsch, Onkel Fesch ins Gesicht zu sehen, um durch ihn seinen Anteil an der Freude zu erlangen, die er selbst nicht zu fühlen vermochte.

Aber die vielfache Bedeutung von Napoleons Familienliebe hat sich damit noch nicht erschöpft; die Blutsverwandtschaft mußte ihm den geheimsten und tiefsten seiner Wünsche – die Sehnsucht nach Unsterblichkeit – verwirklichen helfen. Der glühende, unermüdliche, zwingende Wunsch nach einem Leibeserben ist allzu wichtig, um sich gefühlsmäßig erörtern oder mit einer zärtlichen Handbewegung als »Vaterinstinkt« abtun zu lassen. Er war eines der Hauptziele seiner Laufbahn, ein Teil des unsichtbaren Lohnes, um den er bis zum Weißbluten kämpfte. Napoleon liebte seine Familie wie ein Italiener. Er sehnte sich nach einem Sohn, nach einem Weiterwirken seines Körpers über Raum und Zeit, etwa wie jene anderen Primitiven, die Chinesen das tun, die eine mystische Religion des gesunden Menschenverstandes erfunden haben. Ein Sohn, eine Dynastie! Lediglich in dieser Form vermochte Napoleon, der Vernunftmensch, der nur an seine Instinkte glaubte, sich ein Leben vorzustellen, das lange genug dauern würde, um seinen unersättlichen Appetit zu befriedigen. Äußerlich läßt sich jenes Motiv verstandesmäßig begreifen. Innerlich jedoch ist es dem blinden Drang eines vielzelligen, präsexuellen, urgeschichtlichen Tiefseeorganismus verwandt. Ein wenig Gutmütigkeit, und Napoleon, der größte Zerstörer unter allen Abenteurern, erscheint in erster Linie als ein trefflicher Familienvater, vorausgesetzt man ist dialektisch genügend geschult, um eine Debatte über die menschlichen Tugenden und Laster zu führen. Mag man ihn getrost so nennen, mag man ihn als ungeheuren, moralisch unzurechnungsfähigen Egoisten, oder schlechtweg als einen durchaus primitiven Anachronismus bezeichnen; das eine ist so wahr wie das andere. Wichtig ist nur, daß man vermeidet, ihn so zu sehen, wie lügenhafte, weichliche Romantiker ihn darzustellen belieben: als »unberechenbares Genie«, »als Held im Sinne Plutarchs«, als »mißverstandenen Träumer«, und so fort. Er war weder toll, noch ein mystischer Held, noch romantisch. Sein Ziel war das aller Abenteurer: auf Kosten des Schicksals nach Möglichkeit seinen Lebenshunger zu stillen, und zwar auf die einzige ihm bekannte Weise, so wie ein Kind den Weg zum Munde findet. Gesundheit, Instinkt, Erziehung zwangen ihn, eine ganze Anzahl Körper zu haben. Er mußte daher seine Familie in seinen Einzelkampf mit dem Schicksal hineinziehen; dieser Kampf war aber kein körperliches Ringen, und seine ganze Anhängerschaft mußte ihm auf dem Gebiete der Wirklichkeit zum physischen Hindernis werden.

Seine Mutter war eine ungewöhnliche Frau, die in allen Geschichten um Napoleon die menschlich fesselnde Rolle spielt. Mir persönlich ist es unmöglich, ihr gegenüber irgendwelche Sentimentalität aufzubringen. Diese gierige, schöne, stattliche Frau mit der Habichtsnase wandert von einem Triumph ihres Sohnes zum anderen mit den rührenden Worten: »Pourvou que c'là doure.« Für einen Franzosen eine komische Mischung von: »Das ist alles recht schön und gut« und: »Sieh dich nur vor, Hänschen«, gesprochen mit der Betonung und dem Dialekt einer derben Landmannsfrau auf der Bühne. Ich möchte gleich zu Anfang bemerken: Lätitia Bonaparte hat meiner Ansicht nach ihres Sohnes Laufbahn auch nicht einen Augenblick für verfehlt gehalten. Hätten Leipzig und Waterloo der Familie nur einen knappen Reingewinn von tausend Dollars abgeworfen, sie hätte den Posten gebucht. Sie verstand es auf wunderbare Weise, sich den Verhältnissen anzupassen, in denen sie ihre heranwachsende Familie erzog; auch später stellte sie sich nicht um. Ein gut Teil des billigen Pathos, das man an sie verschwendet hat, beruht auf einer Verkennung dieser Tatsache. So wie Napoleon seine Familie brauchte, um sein Leben zu genießen, so hatte seine Mutter den gesunden, natürlichen Gedanken, ihre Kinder als Sparbüchse zu betrachten; als sichere Kapitalanlage für ihren Gefühlsüberschuß, der nicht verschwendet werden, sondern Zinsen tragen sollte. Ihre Söhne und Töchter sollten es zu Geld und Ansehen bringen; später – das war nicht mehr als recht und billig – sollten sie die Mutter für die Kosten ihrer Erziehung reichlich entschädigen. Den Rest ihrer Ersparnisse legte Lätitia im Himmel an, in der sicheren und gewissen Erwartung von siebenzig mal siebzig Prozent am Tage des Jüngsten Gerichts. War Napoleon ein Mann der Familie, ein Egoist, so war Lätitia eine ganz normale menschliche Mutter; beider Fehler lassen sich von der Anklage gegen die Institution der Familie, die man Plato zum Vorwurf macht, nicht trennen.

Der Vater, Carlo, scheint ebenfalls ein gesunder normaler Mensch gewesen zu sein; er teilte die Hoffnungen, die Lätitia in ihre Nachkommenschaft setzte. Seinen Kindern bürdete er die Last auf, seine ehrgeizigen Wünsche zu befriedigen. Diese nahmen bei sämtlichen Familienmitgliedern, mit Ausnahme Napoleons, während der Korsikazeit folgende Gestalt an: genügend Geld, um in Ajaccio eine angesehene Rolle zu spielen, und ein hypothekenfreies Haus. Vielleicht noch einen Titel als Ersatz für das unsichere Adelspatent, auf das sie Anspruch erhoben und an das sie selbst nicht immer fest glaubten. Mit einem Wort, die Kinder sollten gute Stellungen bekommen und sich der Achtung ihrer Mitmenschen erfreuen. An diesem bürgerlichen Ideal hielt Lätitia – und wahrscheinlich auch Joseph, der älteste Sohn, und ganz bestimmt der Onkel Fesch – ihr Leben lang fest. Sie wurden dadurch sehr glücklich. Für sie war Napoleons Glanz ein Überschuß. Wie ihr traditionelles Stichwort beweist, nahm Lätitia das alles nicht sehr ernst. Als sie Madame Mere wurde, legte sie drei Viertel ihrer Apanage auf die hohe Kante; zwar freute sie sich, den Papst kennenzulernen, aber der Bischof von Ajaccio hätte auch genügt. Selbst auf Sankt Helena war ihr Sohn, Napoleon, doch noch »jemand« – wer hätte je gedacht, daß ein Bonaparte eine ganze Insel als Wohnsitz und eine ganze Flotte zur Bewachung zugewiesen erhalten würde?

Wir wissen nicht, wann der wunderbare Junge zum erstenmal eine Spur seines titanischen Wollens verriet. Es wäre äußerst interessant, das zu erfahren, denn höchstwahrscheinlich ist dieser Moment für das Genie ausschlaggebend. Wenn man die Intensität und Qualität des durch mehr oder weniger Widersprüche getrübten Lebenswunsches kennt, kann man die menschliche Kraft, die man in ihrer höchsten Potenz als Genie bezeichnet, berechnen. Tausende von kleinen Italienerjungen träumen heute noch davon, König zu werden, und ihre Brüder wollen es mindestens bis zum Herzog bringen. Aber niemand hat ihnen das Bild nahe gerückt, niemand hat ein solches Geschick mit der gleichen zentripetalen Sehnsucht wie Napoleon aus dem Weltenraum an sich gezogen. Ja, wir wissen von diesem magnetischen Wollen nicht einmal, ob es in einer physischen oder geistigen Ursache wurzelt. Wir können nur einige der Faktoren ahnen und mit Namen nennen, die es anzufachen vermögen, wie der Wind das Feuer. Der erste von diesen ist die unklare Stellung der Familie, ihr unbewiesener Anspruch, von besserer Herkunft zu sein, als ihre Nachbarn. Der Schlag der früheren oder späteren Entdeckung, daß niemand ihnen Glauben schenkte, kann einen Knaben zu Zorn und Bitterkeit oder zum Lachen reizen. Bei ungewöhnlich eitlen, empfindlichen und eigensinnigen Charakteren (drei Ausdrücke für ein und dieselbe Sache), wird der Ehrgeiz dadurch nur noch verschärft. Wahrscheinlich wird die Militärakademie, auf die Napoleon geschickt wurde, einen solchen Einfluß auf ihn ausgeübt haben. Er war dort von kleinen echten Grafen und Baronen umgeben und lernte daher seine eigenen Familienansprüche verbergen, ja, er heuchelte eine demokratische Verachtung für dergleichen Dinge. Verletzte Eitelkeit greift zum Trost leicht zur Politik; die gleiche Ursache öffnete dem jungen Robespierre die Augen für die Rechte des Pöbels. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn das Treiben der reichen, hochmütigen französischen Offiziere in Korsika die ganze Bonapartesche Familie zu überzeugten Nationalisten und Rebellen gemacht hätte. Poesie und Eitelkeit schaffen die aufrichtigste Opposition, genau wie Eitelkeit und Eigennutz allem Konservativismus zugrunde liegen. Unerträglich sind sie nur, solange sie sich im Unterbewußtsein äußern.

Das war bei dem jungen Napoleon nicht der Fall. Obwohl er seinen Haß mit aller Kraft nährte, hatte er doch Distanz genug, ihn zu beobachten und zu prüfen und sich über ihn zu wundern. Er lernte die Macht des Nationalismus und des Schmarotzertums kennen: zwei wesentliche Mittel bei seiner späteren Kunst, die Menschen aus ihren eigenen Herzen heraus zu beherrschen.

Was Sauerstoff für das Feuer bedeutet, das war ihm seine Zeit. Die Revolution kam, als er zwanzig Jahre alt war. Schon viele Jahre vorher hatte eine Aufregung geherrscht, wie am letzten Tage eines Schulsemesters. Selbst die Aristokraten wußten, daß die Zeit der Privilegien vorüber war. Man war modern und überlegen, wenn man das zugab. Jeder erwartete von dem Umsturz die Erfüllung seiner Wünsche; Napoleon wollte nur das eine: vorwärtskommen. Im großen und ganzen gibt das die Erwartungen der Allgemeinheit recht gut wieder; man wollte keine bessere Welt, sondern eine Welt, in der sich jeder frei entwickeln könne. Nicht der Philosoph, sondern der Bourgeois war die treibende Kraft der Revolution, nicht der Geist Rousseaus, sondern der Napoleons.

Die natürliche Waffe der Bourgeois, der lesenden und schreibenden Klasse, ist das Buch. Wann immer der Bürger hofft oder fürchtet, fängt er eifrigst zu lernen an. So verbrachte denn auch Napoleon, der typische, vollendete Bourgeois, jene unruhigen Jahre mit wütendem Studieren. Neben seiner Beschäftigung mit militärischen Studien, die dadurch beeinträchtigt wurden, las er eine ungeordnete Masse von Werken über Plato, die Geschichte Englands, der Tartarei, Persiens, Ägyptens, Chinas, Perus, der Inkas und der Päpste, kurz, er las alles und versuchte auch noch, es auswendig zu lernen. »Es gibt eine große Anzahl Hefte mit Napoleons Anmerkungen, die alle in einer fast unleserlichen Handschrift geschrieben sind. Ihr Inhalt würde gedruckt fast vierhundert Seiten umfassen. Wir finden hier eine Karte der sächsischen Heptarchie mit einer Liste ihrer Könige während dreier Jahrhunderte; ferner eine Aufzählung der verschiedenen Arten des Schnellaufs im alten Kreta; Listen der hellenischen Festungen in Kleinasien; die Daten von siebenundzwanzig Kalifen mit einer Anmerkung über die Stärke ihrer Kavallerie und einen Bericht über die Fehltritte ihrer Frauen.« So kunterbunt sind diese Aufzeichnungen, daß sich in ihnen sogar eine Notiz über die Lage und das Klima Sankt Helenas findet.

In solch einem Sammelsurium kann jeder so ziemlich finden, was er will, um später daraus ein seltsames Zusammentreffen der Verhältnisse zu konstruieren. Bemerkenswert ist lediglich die starke Betonung der beiden herrschenden Geschmacksrichtungen seiner Zeit, die Anziehungskraft zweier Bücherwelten, Plutarchs Griechenland und Rom, wo jedermann in der heroischen Anekdote lebte, und der Orient aus Tausendundeine Nacht. Beide formten seine Phantasie. Das übrige war fast durchweg Zeitverschwendung.

Jene wilde, instinktive Vorbereitung auf ein Geschick, das er nicht kannte, nahm den größten Teil seiner Zeit in Anspruch. Wie die meisten Menschen seines Temperaments war er an sich nicht menschenfeindlich, aber er haßte es, in Gesellschaft als einer von vielen, ja, womöglich als minderwertig zu erscheinen. Er verstand es nicht, Menschen auf gleicher Ebene zu begegnen, eine Kunst, die er nie lernte, obwohl eine feindliche gesellschaftliche Atmosphäre ihn nicht störte, vorausgesetzt, daß er sich in einer besonderen Stellung fühlte.

All das ist zwischen den Zeilen seines Zeugnisses von der Pariser Kadettenschule zu lesen: »Zurückhaltend und fleißig, zieht er das Studium jedem Gespräch vor und sucht seine geistige Nahrung bei guten Schriftstellern. Er ist schweigsam und liebt die Einsamkeit, launisch, hochfahrend und ungemein selbstsüchtig. Obwohl er nur wenig spricht, sind seine Antworten knapp und treffend und er tut sich in jeder Diskussion hervor. Starke Selbstliebe und überragender Ehrgeiz.« Beruhen diese Beobachtungen auf Wahrheit, dann lassen sich große Abschnitte von Napoleons Leben klar und zusammenhängend überschauen. Wir brauchen die beruhigenden Gemeinplätze jener ungeheuren Literatur nicht, welche friedliebende Stubenhocker über diese tatenreichste und unruhigste und für sie darum reizvollste Laufbahn der Geschichte verfaßt haben. Außerdem fühlen wir uns nicht länger als Tölpel, wenn er sich in Positur setzt und eine Rede im plutarchischen Stile hält. So verzichte ich zum Beispiel auf die übliche Erklärung seiner Haltung zu Beginn der Revolution, nämlich daß er »jung und begeisterungsfähig« war. Er stand damals in schroffem Gegensatz zu den adeligen Kadetten und Royalisten, mit denen er erzogen worden war. Grund genug für den jungen, schäbigen, eifersüchtigen Napoleon Bonaparte in dem südfranzösischen Städtchen Valence, wo er als blutjunger Leutnant in Garnison stand, dem »Klub der Freunde der Konstitution anzugehören«, Grund genug den Verfassungseid zu schwören, »als die meisten sich noch weigerten« und im Interesse der neuen Partei einen Aufstand zu unterdrücken. Alle Handlungen seiner Jakobinerperiode sind durchaus wohl begründet. Unerklärlich wäre es nur, wenn der bettelarme, ehrgeizige junge Napoleon sich auf die unterliegende Seite, zu den Männern, die ihm im Wege standen, geschlagen hätte.

So wollen wir, ohne zu straucheln, das Gestrüpp durchbrechen, das sich um seine Abenteuer auf Korsika gebildet hat. Als die Militärakademie auf dem besten Wege war, zum Teufel zu gehen, nahm er sich Urlaub und fuhr nach Korsika, um sich dem Rebellen Paoli anzuschließen. Weshalb dann später sein Bruch mit Paoli, seine Rückkehr nach Frankreich und seine Beteiligung an der französischen Sache? Glaubt denn der junge, friedliebende und unschuldige Lehrling des Abenteuers allen Ernstes, daß in einem Aufstand, einem nationalistischen Aufstand, alle Verschwörer Brüder sind, nur weil sie um der nämlichen Sache willen ihr Leben aufs Spiel setzen? Glaubt er, es gäbe dort keine Clique, keine inneren Gruppen, keinen Klassenhaß? Besonders diejenigen, welche »die Bewegung beherrschen«, hassen den, der als Mitglied der Partei dennoch draußen steht und werden von ihm wieder gehaßt, ja – seltsamer Widerspruch – sie hassen ihn sogar noch stärker, als die schurkischen Unterdrücker. Wem es nach Bitternis gelüstet, der schließe sich einer ruhmvollen Empörung an, und er wird seine Erfahrungen machen. Das und nichts anders mußte der naive Napoleon bei Paoli erleben; man brauchte ihn nicht, begegnete ihm mit Kälte; erzürnt kehrte er nach Frankreich zurück und handelte verständigerweise nach seinen Erfahrungen.

Das war der Verlauf der korsischen Episode. Dann kam Toulon. Seine royalistischen Mitschüler und ihre adeligen Familien hatten die Tore der Stadt den englischen und spanischen Truppen geöffnet. Bonaparte erhielt hier die Gelegenheit, sich auszuzeichnen und nahm sie wahr. »Nie«, so lautet der Bericht des Generals du Teil nach errungenem Sieg, »kann ich genügend Worte finden, um die Verdienste dieses Bonaparte zu schildern; ein solches Maß von Wissen, Intelligenz und Tapferkeit! Belohnen Sie ihn.«

1793 hat er den Rang eines Brigadegenerals. Das kann viel und wenig bedeuten. Im letzten Kriege haben zahlreiche Brigadiers ihr Glück gemacht. Der eine von ihnen war froh, später sein Amt bei der Verkehrspolizei in Cardiff wieder zu übernehmen. Es kommt alles auf den Menschen an. Für Bonaparte gilt der Spruch Jakob Astors: »Die ersten hunderttausend Dollar sind die schwierigsten.« Für ihn war sein militärischer Rang der Anfang, die Grundlage zu einem Vermögen, nicht das Vermögen selbst. Bonaparte, der lebenshungrige kleine Soldat, konnte jetzt nach Paris gehen und sein Leben anfangen.

Er brauchte drei weitere Jahre, um Josephine zu gewinnen. Jenes vollblütige, ehrgeizige Weib heiratete ihn 1796, nachdem er sich im Polizeidienst außerordentlich nützlich gemacht hatte – jene berühmte »Ladung Schrot«, welche die Revolution der mittleren Klassen aus einer logischen Schwierigkeit mit dem Pöbel rettete. Für Josephine sind so viele Tränen geflossen – so zahlreiche Herzen haben für sie geschlagen, daß man das meinige darunter nicht vermissen wird. Napoleons und ihre Heirat erinnert mich – leider – an den Ferienroman eines jungen Ladengehilfen mit einer Putzmacherin; jeder sucht dem anderen einzureden, er habe eine gute Partie gemacht. Josephine ist das typische Beispiel einer Frau, die zwischen zwei Welten und zwei Lebensaltern steht. Sie leidet nicht an Überfluß von Herz und Gemüt. Der tatkräftige junge Streber aber war viel zu ehrgeizig, um ein bloßer Gigolo zu sein, der in seine persönliche Auffassung von einer wirklichen Dame verliebt ist. Durch seine Frau erhielt Bonaparte die Gelegenheit, sich in Italien auszuzeichnen.

Wußte er, daß Josephine auf die Großen der neuen Ordnung – zum Beispiel auf Barras, einen physischen Einfluß ausübte? Wenn ja, so darf man ihn deshalb nicht schelten. Sicherlich hat er es sich selbst gegenüber nie zugegeben; nie ist dieser Gedanke bis zu den geheimsten Tiefen seines Herzens vorgedrungen. Er liebte sie – überschwenglich, romantisch, leidenschaftlich, wie ein Parvenü die Frau liebt, von der er glaubt, daß sie gesellschaftlich über ihm steht. Napoleon war damals fest überzeugt, daß seine Frau eine große Dame, eine große Schönheit und eine Frau von Welt sei. Anderes poetisches Material vermochte er nicht zu verdauen.

Aber nach all diesem Spott laßt uns den großen Mann bewundern. Nie ließ er eine Möglichkeit unausgenützt vorübergehen. Wer sein Leben kalt und kritisch, von Anfang bis zu Ende und nicht umgekehrt liest, wie einen Roman, dessen Schluß man nicht kennt, der kommt aus dem Staunen nicht heraus. In Wahrheit boten sich ihm nur wenig Chancen, aber er nutzte jede einzelne in der überraschendsten Weise aus. Jener dunkle Croupier, der hinter den Schatten steht, spielte ihm nur schlechte Karten in die Hand; aber jede einzelne verwandelte er in einen Trumpf. Der italienische Auftrag – ein schlechtes Geschäft für die damaligen Zeiten und Verhältnisse. Mit welch einzigartiger Energie führte er ihn aus. Mit einem Willen, so stark, daß er ihm schöpferische Kraft gibt, was nur in den seltensten Fällen vorkommt, macht er mit einer zerlumpten Armee, die gegen einen überlegenen Feind zu kämpfen hat, aus diesem Kommando den italienischen Feldzug, der bis auf den heutigen Tag gründlicher studiert wird als – sagen wir – sämtliche halb göttlichen Taten Karls.

Die Kampagne in Italien wird als Kunstwerk gewürdigt, nicht als Leistung in der angeblichen Wissenschaft der Kriegskunst. Der Glaube, daß eine solche Wissenschaft existiert, hat mehr Armeen und Generale vernichtet als alle Untüchtigkeit und Feigheit der Welt.

Die Kriege Bonapartes sind Kunstwerke, als solche entrinnen sie der Gefahr, vergessen oder überholt zu werden, was bei rein wissenschaftlichen Leistungen der Fall ist. Genauer gesagt, sind sie Meisterwerke des Willens, funkensprühende Elektrizität, das Gegenteil von allem Statischen, und somit am anderen Pol der geistigen Freuden, gerade gegenüber der Architektur.

Jenes Meisterwerk brachte ihn um vieles weiter, wenn auch vorläufig nur bis zu einer Wegkreuzung zweier Möglichkeiten, nicht zum Ziel. Einerseits hieß das Schicksal ihn innehalten und den Gewinn einkassieren, wie das immer in solchen Fällen geschieht. Das heißt, das Direktorium in Paris empfing ihn als großen Mann und suchte aus ihm einen seiner größten Diener zu machen. Es bot ihm den Oberbefehl über eine geplante englische Expedition an, ja, es nötigte ihm diesen geradezu auf. Ein solches Angebot hätte Napoleon als glänzende Belohnung erscheinen müssen, wäre er auch nur im geringsten aus dem Gleichgewicht gebracht oder müde gewesen. Derartige Augenblicke sind die schwersten für jeden Abenteurer. Wird er als Sieger aus ihnen hervorgehen? Wir haben ihre übersinnliche Gefahr bereits kennengelernt.

Statt dessen ging Napoleon nach Ägypten. Weshalb gerade nach Ägypten? Als politischer Vorwand diente ihm der Angriff auf Englands Besitzungen im nahen Osten, äußerst einleuchtend und leicht durchführbar trotz des gegenteiligen Anscheins, denn die britische Flotte war nicht mehr im Mittelmeer stationiert, außerdem war sie von innen her vom Geist der Meuterei zerfressen. Aber zwei andere Gründe liegen uns näher. Der erste war ein rührender: Romantik und seine Lektüre, das exotische Alexandertum seiner Studienzeit. Der zweite war ein opportunistischer: er wollte vorübergehend verschwinden, ein Trick, der von allen ehrgeizigen politischen Köpfen angewandt wird.

Es ist zwecklos, den ägyptischen Feldzug als mißlungen hinzustellen, denn der Wert solcher aufbauenden Episoden liegt nicht in ihnen selbst, sondern in der Rolle, die sie in der gesamten Struktur eines solchen Lebens spielen. Von seinem ägyptischen Abenteuer aus, das halb eine Katastrophe, halb eine Apotheose war, erklimmt Napoleon die nächste Stufe zum Konsulat. Undeutlich erkenne ich sein Format, seine Atmosphäre, sie haften ihm noch bei der Landung in Fréjus 1799 an, um ihn aus einem Hintergrund zahlloser Möglichkeiten hervorzuheben. Denn größer und hochfliegender noch als das private Abenteuer Napoleon Bonapartes, dieses durchschneidend und kreuzend, war das Abenteuer des dritten Standes, der die Revolution geschaffen hatte. Um sich nicht völlig in einem faszinierenden Labyrinth zu verlieren, befand sich die Bourgeoisie um diese Zeit auf der Suche nach einem eigenen König, der ihr drei ihrer Wünsche verwirklichen sollte: einen Hof, einen halbwegs legalen Zustand und eine Polizei.

Die Marschroute von Napoleons Abenteuer kam diesen Wünschen entgegen, das gleiche war bei all jenen heroischen Landschaften der Fall, durch die sein dramatischer Aufstieg zum Kaiserthron führte. Napoleon drängte sich Frankreich auf, wie später die Napoleonslegende sich ganz Europa aufdrängte; er war der Messias des Mittelstands. Was nun die Legalität betraf, so löste er das Dilemma Robespierres, der den dritten Stand vor die Entscheidung gestellt hatte, zwischen dem König von Frankreich und dem souveränen Volk – einem Mob von Königen –, zu wählen. Napoleon kaufte den Bürgern durch ein Plebiszit ihre Rechte ab. Der Kaiser der Franzosen hielt die Vollmacht von vier Millionen Königen in Händen, die wiederum durch das göttliche Recht der Natur zu jener Würde gelangt waren. Was nun gar die Polizei anbelangte, so ist jeder Korse ein geborener Polizist, und der gewaltige Code Napoleon ist ja auch heute noch in Kraft.

Mit einem Wort, der Hof Napoleon Bonapartes verkörperte sämtliche geistigen Bedürfnisse desjenigen Standes, der die Revolution geschaffen hatte. Vermutlich hatte er von Poesie so viel an sich wie ein Öldruck der achtziger Jahre von echter Kunst, das heißt, ein gewisses, ganz geringes Maß. Es wird nur allzuoft außer acht gelassen, daß der Wunsch der französischen Bourgeoisie, am Leben der Aristokratie teilzunehmen, gefühlsmäßig die treibende Kraft der Revolution war. Der kleine Kreis echter Fanatiker bildet hiervon eine Ausnahme. Alles an diesem Leben besaß für sie einen Reiz, am wenigsten vielleicht das feine, flüchtige, eher ästhetische als ethische Ideal, das einer solchen Atmosphäre selbst in den Augen jener, die von Geburt an in ihr leben, ihren wahren Zauber und Gehalt verleiht. Der französische Bürger begehrte die einträglichen Regierungsämter und Offizierspatente für seine Söhne; seine Frau träumte von Einladungen ihrer Töchter zu den Hofbällen. Napoleon stützte sich vornehmlich auf die jüngere Generation; er hauchte ihr seinen Willen ein, schenkte ihr durch einen weitverzweigten Zivildienst und ein gewaltiges Heer eine mächtige Organisation, die ihr ehrenvolle und sichere Verdienstmöglichkeiten bot, und einen Hof, der zum mindesten in seinen Maßen alle bisherigen Höfe Europas übertraf. Vor allem schöpfte Napoleon aus der Tiefe seiner eigenen Seele ein neues paradoxes Ideal. Dem Abenteurer winkte am Ende seiner gefahrvollen Laufbahn eine feste Pension, er brauchte für den Glanz der Uniformen, Orden und Titel nicht mit dem Ruin zu bezahlen. Napoleons Offiziere waren Glücksritter, die ihren regelmäßigen Monatssold bezogen. Alle jungen Europäer, oder doch zum mindesten die Südeuropäer, träumen heute noch von einem Leben, wie der Kaiser es seinen Auserwählten ermöglichte. Zwar wollen sie nicht alle lauter Napoleons werden, aber sie möchten einem Napoleon dienen. Tausende von Romanen haben die Reize des damaligen Lebens in fremden Garnisonen geschildert, wo die Uniformen und das Ansehen der unbesieglichen Armee sich die Herzen schöner hochgeborener Frauen eroberten, wo der Parademarsch – man verzeihe mir den Anachronismus – gleichsam im Walzertakt geübt wurde.

Ohne aus vollem Herzen in die Kritik der verpönten »Wahrheitssucher« einzustimmen, glaube ich dennoch, daß der Hof Napoleons etwas kitschig, leicht grotesk und gewöhnlich, ähnlich seinen Möbeln, wirkte, als diese noch funkelnagelneu waren. Seine Pracht war sicherlich ein wenig barbarisch, etwa wie die der Piraten, wenn sie nach einem guten Beutezug mit den Mädchen von den Inseln in ihrer Schatzhöhle Feste feiern. Er war und mußte ein Hof für Emporkömmlinge sein; die Eigenschaften, die des Kaisers Gefährten, seine Generale und Höflinge hatten emporkommen lassen, waren nicht die Qualitäten der guten Gesellschaft. Aber das Leben und Treiben dieser frischgebackenen, unbelesenen Herzöge und zwanzig Jahre alten Generäle hätte niemals eine so starke Anziehungskraft auf alle Welt ausgeübt, hätten sie einen weniger farbenfrohen Geschmack in Kunst, Kleidung, Frauen und Manieren bewiesen.

Wunderbar belohnte Napoleon das Vertrauen, das die lebenshungrige Bourgeoisie in ihn setzte; verschwenderisch schenkte er ihr Gesetze, Abenteuer, Titel und eine Karriere, doch waren seine Kräfte damit noch nicht erschöpft. All das war gleichsam ein Nebenprodukt, eine Zufälligkeit seines ungeheuren Willens, denn sein Motiv war, wie das aller echten Abenteurer, ein rein persönliches. Tausende von großen und kleinen Asteroiden wurden in die Bahn dieses gewaltigen abenteuerlichen Kometen hineingerissen. Er hieß sie alle willkommen. Aber nicht in ihrem Dienste durchjagte er den Himmel seines Geschicks. Was diesem Manne seine hohe Stellung in der Geschichte verleiht, ist sein Wunsch, die Welt nicht nur zu beherrschen, sondern sie gleichzeitig zu genießen. Das war ihm, wie gesagt, nur durch seine Familie möglich, die bei ihm die Funktion eines hochentwickelten Geschmacksorgans erfüllte. Damit das Leben eines Kaisers der Franzosen sich für ihn lohnte, mußte jeder seiner Angehörigen einen Thron haben. Es gab deren recht zahlreiche und doch nicht genug, obwohl alle seine Verwandten sich mit Begeisterung jenem sonderbaren, wenn auch reizvollen Dienste widmeten. Napoleon gleicht einem magenkranken Kalifen aus Tausendundeiner Nacht; er ladet einen Haufen Gäste ein und fordert alle auf, sich die Mahlzeit gut schmecken zu lassen. Trotzdem vermuten wir, daß die Sache einen Haken hatte. Napoleon ist – um ein hausbackenes, aber beliebtes Gleichnis zu gebrauchen – wie ein Vater, der seinem Söhnchen ein mechanisches Spielzeug schenkt, ihm aber verbietet, es selbst aufzuziehen. Darin finden wir vielleicht eine Erklärung für die ständig sich wiederholenden Versuche verschiedener Familienmitglieder, auf Thron und Reich zu verzichten und ihr eigenes Leben zu leben. Da ist zum Beispiel Lucien. Er ist der Begabteste von allen, hat den besten Kopf und das beste Herz; vermutlich versteht er daher auch am besten zu genießen und ist somit der Brauchbarste von allen für des Kaisers Lieblingszweck. Lucien war es, der bei einer haarscharfen Wegbiegung seines Bruders Karriere rettete, der mehr noch als Napoleon den Staatsstreich von Saint Cloud zu einem glücklichen Ende führte. Doch Lucien heiratete zwar nicht unter dem Stand der Bonapartes, wohl aber unter dem der Napoleons (falls man mir den Ausdruck verzeiht), und Lucien blieb sein Leben lang ein guter, das heißt anti-napoleonischer Demokrat. Aus diesem Grunde (jede andere Erklärung ist unwahrscheinlich) sagte sich Napoleon unter Nichtachtung aller Brudergefühle von ihm los, soweit er das »einem Blutsverwandten« gegenüber zu tun vermochte.

Ich muß daher den ehrbaren Mythus, als das Schicksal Napoleon ereilte, weil sein Abenteuer keinen anderen Ausgang nehmen konnte, in der Hauptsache zurückweisen. Es heißt, er hätte ganz Europa erobern müssen, um seine Macht in Frankreich aufrechtzuerhalten. Das wäre dramatisch zwar außerordentlich wirksam, entspräche aber nicht der Wahrheit. Ebenso unwahr ist die Behauptung, Talleyrand habe den Kaiser in die meisten seiner unglücklichen Abenteuer hineingehetzt. Gemeint sind der Spanische Krieg und viele andere Kriege, die der Gründung des französischen Kaiserreichs folgten. Alle hatten ein komplizierteres Motiv. Im Grunde sollten sie Königreiche, Fürstentümer und Ländereien erobern oder verteidigen, durch die der siegreiche Menschenfresser auf dem Umweg über seine Familie seine Macht genießen wollte.

In das gleiche Kapitel gehört zweifellos auch sein Zug nach Moskau, der auf unvergleichliche Weise das seltsame Abenteuer Karls XII. wiederholte. Er bildet eine Parallele zu Napoleons ägyptischer Expedition, aber er birgt trotz der oberflächlichen, ruhmlosen Ähnlichkeit des Ausgangs, der in beiden Fällen durch eine Flucht des Kaisers herbeigeführt wurde, einen tiefgründigen Unterschied. Im russischen Feldzug fehlt jede Romantik, jede Bücherweisheit. Der Kaiser verzichtet auf die römische Rednerpose; wir sehen in ihm vielmehr einen Mann, der aufgehört hat, ein Abenteurer zu sein, und der nur noch verzweifelt um seine Eroberungen kämpft. Die Sockel, die den Halbgott stützten, sind zusammengebrochen. Er steht jetzt mit beiden Füßen auf der Erde, wo er, meiner Ansicht nach, trotz Victor Hugo von nun an stehenbleibt.

Diese Phase, die seltsamerweise unsere bereits ausgesprochene Lieblingsidee eines »ballistischen Gesetzes« des Abenteuers wiederum bestätigen würde, hatte, wie ich glaube, rein psychologische Ursachen. Sie datiert aus der Zeit seiner Scheidung und Wiederverheiratung, insbesondere von der Geburt seines Sohnes an. Josephinens Schicksal ist für die Sentimentalität ein so klassischer Vorwurf wie Leda für den Bildhauer. In dem ganzen nun folgenden Jahrhundert, bis tief in unsere Zeit hinein, bildet die Gattin einen Gegenstand heiliger Verehrung, die früher der Mutter und nur selten, auf den höchsten Stufen der Kunst, der Geliebten dargebracht wurde. Man empfindet diese Dinge oder man empfindet sie nicht, weder Verstand noch Herz können den Menschen dazu zwingen. Mir zum Beispiel sind die einseitigen Rechte, welche die Ehe der Frau einräumt, niemals besonders schön, heilig oder unantastbar erschienen. Obwohl Josephinens Scheidung und der Verlust ihrer Stellung als Kaiserin eine ganze Menge Menschen zum Weinen gebracht hat, so kann ich doch für sie keine Träne vergießen. Denn sie bezog von Napoleon reichliche Alimente und hatte dem Gatten, dem allein sie die Kaiserinnenwürde verdankte, keinen Sohn, ja nicht einmal die eheliche Treue geschenkt. Napoleon setzte an ihre Stelle die Erzherzogin, die zum mindesten Jugend, Manieren, eine gute Erziehung und eine anspruchslose Dummheit in die Ehe brachte, und die ihm binnen kurzem sein Ziel verwirklichen half: sie gebar ihm den Sohn, dem er sogleich den Titel eines Königs von Rom verlieh.

Von Napoleons Liebe zur Nachkommenschaft möchte ich nur noch einmal wiederholen, daß leibliche Kinder für ihn die Möglichkeit, unsterblich zu werden, bedeuteten. Vermochte er eine Dynastie zu gründen, so schuf er eine unsterbliche Königslinie, durch die er in Zukunft weiterherrschte. Er hatte sich von Josephine nur nach heftigen, ja unvernünftig starken Gefühlskonflikten getrennt; seine neue Gattin entzückte ihn. Sie entzückte ihn so sehr, daß er während ihrer Niederkunft sogar den Befehl gegeben haben soll, im Falle einer Wahl die Mutter und nicht das Kind zu retten. Zweifellos stützte er sich dabei auf den Gedanken, daß er von ihr noch mehr Kinder bekommen könnte, wahrscheinlich ein ganzes Geschlecht von Königen, die die Welt beherrschen sollten; trotzdem war es eine große, außergewöhnliche Tat für einen Mann seines Schlages.

Insgeheim jedoch bedeutete diese Vaterschaft das Ende seines Abenteuers. Der frevelhafte Moment war gekommen, da er seine Gewinne überzählen und sie sich erhalten mußte; die Götter waren beleidigt. Von nun an geht alles auf geheimnisvolle Weise schief, so wie früher alles auf geheimnisvolle Art gut gegangen war. Das Glücksrad hatte sich gedreht wie der Wind auf einer Seereise.

Über kurz oder lang kommt Rußland, Leipzig, Elba. Frankreich erhielt seine alten Grenzen und die Bourbonen zurück. Marie Louise wird mit dem Knaben von ihm getrennt; sie nimmt diese Tatsache mit demselben Gehorsam oder Gleichmut hin, den sie bei ihrer Vermählung bewies. Zwar hatten die Geschicke der Familie durch seinen Sturz stark gelitten, aber noch war nicht alles verloren. Die Bonapartes waren und sind auch heute noch eine der größten und reichsten Familien Europas. Wir müssen uns daher fragen, weshalb Napoleon sich nicht mit dieser Beute begnügte? Weshalb er sich nicht mit der merkwürdigen Lage abfand, in die ihn anscheinend der banale Idealismus des russischen Zaren versetzt hatte?

Wir haben es hier meiner Ansicht nach mit der Erscheinung zu tun, welche im Leben erfolgreicher Tatmenschen so häufig auftritt, daß wir sie fast als ein Gesetz ansprechen können. Sie alle, mögen sie nun Stahl-Könige oder Bonapartes sein, vermögen in einem gewissen Lebensalter die Einsamkeit nicht zu ertragen. Eben diese Einsamkeit, die allerdings in den meisten Fällen streng relativ ist, tötet sie oder treibt sie auf den Weg nach Waterloo. Das Orchester, die Zuhörerschaft, die hervorragende Stellung, die ursprünglich ihren Willen stärkten, sind zu einer Droge geworden, ohne die das Leben unerträglich ist. Die Herrschaft über ein winziges Reich, wie die Insel Elba, verlangt, oder könnte jedenfalls ebensoviel Tatkraft verlangen, wie die über Frankreich. Es gehört ebensoviel Anspannung des Geistes, Körpers und der Nerven dazu, eine Musterfarm zu schaffen, wie das große Spiel an der Börse zu spielen. Es fehlt lediglich der Rausch, in den uns das Interesse der Gesellschaft an unseren Taten versetzt. Welcher Schauspieler spielt gern vor einem leeren Zuschauerraum? Nicht also ob eine derartige tatsächliche Abhängigkeit von der Gegenwart der Menge, die theoretisch mit einer Verachtung der großen Masse durchaus vereinbar ist, an sich schon eine Schmach darstellte! Aber gerade der Abenteurer, dessen innerstes Wesen Individualismus und Unabhängigkeitsbedürfnis ist, das sich bis zur Auflehnung steigern kann, gerade er sollte sich sein ganzes Leben hindurch vor diesem einschläfernden Gift hüten. Napoleon verließ Elba, einfach weil er es nicht ertrug, ohne den Widerhall der öffentlichen Meinung zu leben.

Ich finde daher die Episode seiner Rückkehr bedauernswert, ja peinlich. Ich weiß, man hat sie poetisch als eine Art Rückkehr von König Artus verklärt. Aber Artus und Barbarossa verblieben in ihrem Dämmerschlaf. Napoleon bewies außer in der Führung einer Schlacht kein künstlerisches Gefühl, keinen Geschmack.

Nebenbei bemerkt, liegt hierin vielleicht eine Erklärung für die Vergötterung, die seinem Andenken von den verschiedensten Bewunderern entgegengebracht wurde. Zwischen ihnen und Napoleon besteht eine Art Wahlverwandtschaft. Auch der Napoleonkult ist zutiefst irgendwo plebejisch, genau wie Napoleons System der Ordensverleihung. Diese Tatsache ist auch denen nicht entgangen, die näher damit zu tun hatten, selbst wenn sie, wie zum Beispiel Talleyrand, Männer von Geschmack waren.

Da das napoleonische Ideal auch heute noch mittelbar und unmittelbar den Ehrgeiz und die Ideale unserer Welt in hohem Maße beeinflußt, erscheint es angebracht, ein paar kurze Worte darüber zu verlieren. Ich habe bereits den grundlegenden Unterschied zwischen der älteren »Imitatio Alexandri« und der späteren Nachahmung Napoleons erwähnt. Seit dem Erscheinen des Korsen wollen die jungen Leute keine Führer mehr sein, sie träumen nur noch davon, Offiziere zu werden. Ihnen schwebte, Hand in Hand mit ihrem Sold, den Militärvorschriften und der Entbindung von jeder Verantwortlichkeit die Verleihung von Orden und Belohnungen vor, ein wunderbar ausgebautes System, das die verschiedensten Formen des Ehrgeizes von Grund auf beeinflußte. Napoleon lehrte die Welt den Wunsch, auf deutlich sichtbare, bestimmte, ja man kann fast sagen anorganische Art für ihre Taten belohnt zu werden. Damit befriedigte er vielleicht eine verborgene Sehnsucht, ihr zugleich Gestalt und Hoffnung verleihend. Sein Ideal deckt sich mit dem Gedankengang der Schulkinder, die bei Semesterschluß an eine Prüfung, an ein Zeugnis, ja an bestimmte Plätze im Klassenzimmer, entsprechend ihren Leistungen, gewöhnt sind. Seltsamerweise findet sich dieses Streben häufiger bei Frauen, als bei Männern; jene sehnen sich nach einem unfehlbaren Richter, der die getane Arbeit prüfen, begutachten und in eine bestimmte Rangordnung von Belohnungen einreihen wird. Der Wunsch »nach Anerkennung«! Indes kann man an Stelle von Napoleon mit seinem Sack voll Ordensbändern, Streifen und Beförderungspatenten, je nach persönlicher Überzeugung, genau so gut eine richtende Gottheit wie einen Zeitungskritiker setzen.

Auf diesem Gebiet war wohl die Ehrenlegion Napoleons hübscheste Erfindung. Sie überdauerte sämtliche Wechselfälle und Umstürze in der Regierung und war eine handfeste Entschädigung des Kaisers für den Mittelstand, der ein wenig abseits und verlassen mit seinen Erfolgen nichts Rechtes anzufangen wußte. Als Institution wurzelt sie in dem größtenteils literarischen Nachahmungstrieb der Bürger, jener Sehnsucht nach »Geblüt«, mit der sie dem Adel, den sie vernichtet hatten, nachblickten. Der gleiche Wunsch läßt sich in den meisten – ja sagen wir getrost, in jeder Bourgeoisie feststellen und des näheren erhellen. Der Durchschnittsbürger, mag er nun Engländer, Franzose oder Amerikaner sein, sehnt sich nicht nur nach Rang – dem metaphysischen Synonym für Adel –, sondern nach weit mehr: er möchte von einer guten Familie abstammen. Ja, bei meinem Bemühen, ein Wort für ein schwer greifbares Gefühl zu finden, möchte ich fast behaupten: der echte napoleonische Bourgeois hätte das Bewußtsein, der Nachkomme einer in der Hauptlinie ausgestorbenen adeligen Familie zu sein – sagen wir, der Urenkel eines jüngeren Sohnes, der vor dreihundert Jahren nach Baltimore durchbrannte –, einem sicheren Anspruch, in den Adelstand erhoben zu werden, vorgezogen. Eine wunderliche Verbindung der niedrigeren Form des poetischen Snobbismus und der natürlichen Liebe zum Hauptbuch, gleichsam eine sentimentale Nachsicht für verjährte, faule Schulden.

Hand in Hand damit geht der Begriff des Nationalismus, den Napoleon zwar nicht erfand, aber in das moderne Leben einführte. Byron, jener vorzügliche Jünger Napoleons, hat ihm ohne Zweifel Leben und Bewegung eingehaucht, trotzdem wollen wir jedem seinen gerechten Anteil an dieser seltsamen Strömung beimessen, die letzten Endes die Welt umschuf. Auch hier konzentriert sich die Begeisterung, die Romantik, ja das poetische Gefühl auf die jüngeren Seitenzweige. Nur wenige Menschen sind stolz darauf, Juden zu sein, aber ungezählte Millionen gerieten förmlich aus dem Häuschen, als die Ethnologen ihnen sagten, sie wären Slowaken. Und wie viele weitere Millionen wird es geben, deren geheimer Trost und Hoffnung es ist, daß ihre Urgroßmütter Zigeunerinnen waren? Im tiefsten Grunde ist dies nichts weiter als Poesie, Poesie des Mittelstandes, der faszinierende Zauber alter Hauptbücher, der Mystizismus, alte Posten und Forderungen durch Jahrhunderte hindurch bis in alle Ewigkeit vorzutragen. Diese Art des Nationalismus wie auch das mächtige System der Buchführung auf dem Felde der Ehre, das erste gesellschaftliche Register, das goldene Buch der Ehrenlegion, gehören zu Napoleons geschicktesten Erfindungen, die Gesellschaft zu regieren, und bilden sein Vermächtnis an uns alle.

In ihnen liegt vielleicht auch zutiefst die Wahrheit des napoleonischen Worts begründet: »Ich bin die Revolution.« Der dritte Stand war die Revolution, und Napoleon war sein Prophet und Messias, lange Zeit auch sein erster Angestellter. Als er sein Spesenkonto überschritt, war man gezwungen, ihm zu kündigen. Wenn man Chateaubriand liest, glaubt man, daß dies der Hintergrund seines Sturzes war. Napoleon gleicht bei seiner Rückkehr aus Elba einem Börsenmakler, der es müde geworden ist, Golf zu spielen. Wohl hält er den französischen Soldaten eine Rede, aber er spricht nicht wie ein Held Plutarchs, sondern in dem einschmeichelnden Ton eines zurückgekehrten Geschäftsführers. »Wollt ihr Euren alten General erschießen? Tut es. Ich bin bereit.« Das waren seine Worte in Grenoble, aber die Soldaten hatten nicht das Herz dazu.

Ist das nicht durchaus honett und rührend? Meiner Ansicht nach ja. Das Ende Napoleons war so tragisch wie ein Bankrott, wie der Zusammenbruch einer alten Firma, von dem wir dank Balzac wissen, daß er an dramatischer Wirkung dem Tod eines Königs die Waage halten kann. Verschlimmert wurde er noch durch die Tatsache, daß ein Wellington ihn besiegte und ein Hudson Lowe sein Gefangenwärter war. Aber er hatte längst aufgehört, ein Abenteurer zu sein; er war aus unserer Gesellschaft und damit auch aus unserem Thema ausgeschieden. Und so müssen wir ihn verlassen, als einen beleibten Herrn, der, ein Opfer harter Zeiten, in die Hände unbarmherziger Gläubiger gefallen ist.


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