Helene Böhlau
Eine zärtliche Seele
Helene Böhlau

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Zehntes Kapitel

Unruhe hatte die Menschen gefaßt, wie Erdbebenangst. Seit jenen Tagen des letzten Aufgebots war es, als hätten die Leute im Städtchen den sicheren Boden unter den Füßen verloren.

In der engen, langen Gasse drängten sich Menschen und gingen zwecklos hinaus auf die Reichsstraße, auf der seit Jahrtausenden unendliches Menschenunheil sich von Süden nach Norden, von Norden nach Süden herab und herauf gewälzt hatte.

Gerüchte tauchten auf. Man schaute und stand und sprach. Die Einheimischen, Gefangene, die Leute von den Berghöfen. Der Bahnhof war Tag und Nacht belagert. Die Züge der Verwundeten wurden fast bestürmt. Man wollte erfahren und wissen. Was sie hörten, war dunkel. Selten, daß einer mehr von sich gab als ein Achselzucken, ein paar belanglose, düstere Worte.

In jedem Haus ging es beängstigend unruhvoll zu. Im Doktorhaus wußte keiner vom anderen. Doktor Hönigsmann kam nur eilig zu den Mahlzeiten nach Haus, war bei Tisch unwirsch oder stumm, außerordentlich gereizt, das 207 Fledermäuschen bebend und ängstlich, Dorettchen still und fremd. Urschi warf sonderbare Blicke auf sie.

Der Doktor wurde während einer solchen Mahlzeit von einem heftigen Unwohlsein befallen, einer Art nervös-epileptischem Anfall, an dem er öfters litt und der jeden aufs äußerste erschreckte, das Fledermäuschen fassungslos machte, Urschi laut schreien ließ. Nur die junge Frau neigte sich ruhig und behutsam über den Kranken, der in Konvulsionen hingestreckt lag mit bläulichem Gesicht und bläulichen Händen.

Das Fledermäuschen brachte Kissen und Decken. »Ja – ja! Ja – ja! Da hat er seinen Anfall – schrecklich – woher nur?«

Dorettchen war ganz Mitleid und Fürsorge, rieb ihm die Schläfen mit Kölnischem Wasser, bettete ihn sanft auf Kissen und fühlte Liebe und Mitleid in ihrem Herzen flammen, das sich an keine Person band, mit keiner Angst verbunden war, ganz frei schwebte es in ihr.

A narrete Haut! dachte Urschi und blickte geringschätzig auf die junge Frau.

Um die Welt aber hätte sie den Doktor jetzt nicht angerührt. Sein Anblick flößte ihr Schreck und Abscheu ein.

»Das, wenn i gewußt hätt, – das Bussen hätt i woll sein lassen – sell woll, soviel unfein ischt des – soviel unfein ischt er jetzt!« Sie schaute nachdenklich auf die junge Frau. Sie hatte sie doch auf dem Bahnhof gesehen. Herr, 208 ischt die windig! Die bußt, mein i nöt schlecht, mei Liaber, mi wundert, daß der Doktor umeinand schleckt!«

 

Es kam der Tag, an dem, wie Wassersturz bei einem Dammbruch, Unendliches hereinbrach auf der Reichsstraße von Süden her.

Gefährte rasselten, eins hinter dem anderen. Kanonen, Munitionskolonnen, Autos, Reiter, Fußvolk in ewiger Folge, Tag und Nacht – wie ein Strom. Eisenbahnzüge, immer vollgepfropft, und außen noch Soldaten wie in Trauben angeklammert, die der nächste Zug abstreifen würde. Oben auf den Wagendächern saßen viele, Kopf an Kopf aneinander gedrängt, um am nächsten Tunnel abrasiert zu werden, wie es schon der vorigen Besatzung ergangen war. Aber immer neue drängten zu, sprangen am fahrenden Zug auf, trotz Gebrüll und Drohen. Was so hing und hockte, wurde abgemäht. Und so ging es Tag und Nacht – auf Bahnzügen, todmatt, zu Fuß, auf Wagen, geritten, in Flugzeugen, die wie Vogelschwärme über die Köpfe hinweg rauschten.

Die Gegend durchrast von Flüchtenden; von Gesindel, das im Dunkel der Bestürzung rauben wollte; von verzweifelten Soldaten, die, von ihren Führern verlassen, ohne Verpflegung und ohne Geld sich umhertrieben.

Unsicherheit und Not auf Schritt und Tritt. Die Leute 209 wagten nächtelang kein Licht anzuzünden. Alle Fenster von innen dicht verhangen; auch wer ein Licht angstvoll brannte, verhängte es.

Rundum in der ganzen Gegend ein Rumoren. Auf Weg und Steg warfen die Rückzügler die letzten Granaten aus Übermut und Galgenhumor zu Boden, daß ein ewiges Geschnatter war.

Pferde liefen frei herum und benagten die Bäume auf Gütern, die nicht eingefriedigt waren. Von den Holzzäunen brachen die Flüchtlinge los, was abzureißen ging, und machten Feuer. Draußen, auf den großen Wiesen hinter dem Bahnhof, wo alle Baracken und Vorratshäuser standen, brandstifteten ziehende Soldaten, damit der Feind nichts vorfinden sollte; da flogen die brennenden Dachpappen glühend über Güter und Häuser.

Die Leute im Städtchen, ausgehungert, im Ungewissen, was werden sollte, lebten in einer Betäubung ohne eigentliches Bewußtsein, alles war wie geträumt und erfüllt von einer Art Gleichgültigkeit.

Sie gingen nachts schlafen, weil sie nicht mehr wachbleiben konnten, und ließen es draußen schnattern, dröhnen, brüllen, in den Lüften rasseln und rauschen, höllenlärmen. Und alles drängte durch die enge Häuserschlucht des Städtchens, staute sich durch Zusammenpressung, verwirrte sich. Schreie, Draufpeitschen auf arme Pferdeleiber, verzweifeltes Hufegestampf. Die glühenden Fetzen der Dachpappe 210 von den Vorratshäusern über die Gasse dahinwehend, Feuerschein vor den Fenstern. Das alles sah und hörte man in den dumpfen, verschlossenen Häusern.

So zog und zog es drei Tage und drei Nächte lang, eine Flut, die losgebrochen war: Erschöpfte auf allen Wegen, Hilflosigkeit, Ohnmacht, die nun durch endlose Folge und Wucht vorwärtsgetrieben wurde, ohne jeden inneren Halt – vorwärts, weil andere, ebenso Ohnmächtige wie ein Felssturz nachdrängten mit der Gewalt der Haltlosigkeit nach unerhörter Leistung.

Und welche Gesichter drängten und würgten sich da durch die Enge! Zerstampfte Gesichter von übermenschlichen Zumutungen; zusammengepreßte, von großen Ausgaben an geistigen Kräften und Willensanstrengung; rot aufgedunsene von allen Einflüssen der Witterung, des Schreckens und der Abstumpfung; übertriebene Gesichter, geprägt durch Überanstrengung; Bleichsüchtige durch schlechte Nahrung; durch Müdigkeit und Hunger Vertierte.

Nie war das Leben glühender und kochender. Sie kamen aus dem Krater des Lebens, sind ausgeworfen von seinen Ausbrüchen, und stürmten dahin – verbrannt, verunstaltet. Sie kamen aus ungeheuren Freiheiten und von ungeheurem Zwang, alles übermenschlich gesteigert. Das, was sie erlebten, kannten sie von früher her: Tod, Anstrengung, Kampf mit dem Nächsten, Schwerarbeit, Zwang, ein wenig Freiheit – – aber zwergenhaft, voll 211 Mäßigung; vielleicht giftiger, aber gezähmt, in Ordnung; undeutlich stumpf, aber keineswegs urweltlich – wie sie es nun erlebt hatten, jahrelang; keineswegs im Daseinsausbruch des Fressens und Gefressenwerdens, dem sie standhalten mußten.

So stürmen sie jetzt dahin, losgelassen, unbürgerlich gewordene Wilde, Fremde, Ausgeworfene aus einer ungezähmten Welt, in der die Gesetze der Urwelt herrschen, gesteigert ins Ungemessene durch Gift und Vernichtungserrungenschaften der Kulturmenschenwelt.

Was dahinrast auf der Reichsstraße in ewiger Folge, hat alles Grauen, was die Menschen schufen und unsere Erde, Jahr um Jahr erduldet – und will nun wieder in die Bürgerlichkeit hinein als Gespenst eines ganz anderen Daseins, an das Niemand, der nicht mit ihnen war, je glauben kann.

Und wie sie drängen und stürzen auf ihrer wilden Flucht!

Die Wege ausgefahren – die Rosse straucheln, verletzen sich, werden ausgespannt; Gnadenschuß am Wegrand – dann liegen sie noch lange, zum doppelten Umfang aufgetrieben von Gasen, sehen schauerlich aus. Die Menschen gehen an ihren toten, überfahrenen Kameraden vorüber, völlig stumpf; jedoch die Gäule geben, trotz größter Ermattung bei jeder Leiche, sei es Mensch oder Tier, deutliche Zeichen ihrer Erschütterung.

212 Todmüdes Fußvolk klammert sich nachts an die Munitionswagen und andere Fahrzeuge, wohl wissend: Wenn sie zu Fall kommen, werden sie von den dichtfolgenden Pferden zerstampft und von Kanonen zur Unkenntlichkeit zerfahren. Der Wegrand gibt hier die greulichsten Warnungen.

Sanitätskolonnen fahren.

Jeder hat Angst für sein bißchen, kaum nennenswerter Habe; viele Kameraden sind schlimmer als Räuber und zu Bestien geworden durch den mordenden Krieg.

Autokolonnen drängen alles zur Seite. Requirierte Equipagen. Ein Fuhrwerk sucht das andere zu überholen unter Fluchen und Schmähen. Brutaler Ausgleich der Kräfte. Betrunkene Reiter schießen zum Spaß auf die kläffenden Dorfköter. Hungrige packen die toten Köter, schmeißen sie als Proviant in einen Wagen.

Schon seit Tagen wird kein Kind aus den Häusern der Ortschaften gelassen. Zahlreiche, von der Massenangst der Fliehenden Ergriffene lassen alles im Stich, oder versuchen gar, alles mitzuschleppen – und fliehen mit.

Verwundete mühen sich neben dem Weg langsam vorwärts, oft gestützt oder gar streckenweis getragen von einem Freund, von einem Kameraden, den sie noch nie gesehen, der aber von sich glaubt, bei sich selbst noch ein wenig zuviel Kräfte und Lebensmut zu fühlen.

Kommandorufe, Schießen, Fluchen und Stöhnen, 213 Rossewiehern und Wagenrasseln erfüllt die Luft. Eine alles vereinigende Staubwolke liegt endlos über den Kolonnen.

Infanteristen, Österreicher, Deutsche, gefangene Russen und Serben beeilen sich fast sinnlos. Sinnlos laufen gefangene Italiener vor ihren eigenen Leuten davon. Niemand kennt sich mehr aus. Zerbrochene Fuhrwerke mit voller Bespannung stehen verlassen abseits.

 

Hier geht die Heerstraße ganz dicht am Bahndamm. Da plötzlich braust ein Zug vorbei. In schauriger Deutlichkeit sehen die Flüchtlinge den Zugführer erhängt an einem Strick, vorn an der Lokomotive. Ein furchtbares Warnungszeichen für etwa einen, dem es einfallen möchte, sich dieser großen Flucht in den Weg zu stellen.

Diese flutende Bewegung schöpft ihre Kraft mit daraus, daß alles Lebendige bis vor wenigen Tagen vier lange Jahre hindurch, in Eis, Fels und Erde verborgen, wie festgeschmiedet war.

Wie im Handumdrehen werden die Tage und Nächte des Durchzugs der apokalyptischen Reiter auf der Reichsstraße zur Legende – noch während sie vorüberziehen, auf Gleisen, in Fuhrwerken, reitend, todmatt wandernd, durch die Lüfte, über den Köpfen hinwegrasend. Und auch alles, was in diesen Tagen geschieht, wird zur Legende, herausgehoben aus dem gewöhnlichen Lauf der Begebenheiten.

214 Alle träumen, mehr noch als sonst, in unserem halbbewußten Traumleben auf Erden.

Da ist einer zurückgeblieben, ist vom großen Dahinstürmen abgefallen wie ein Vogel aus dem Zug der Vögel, die hoch über der Erde, dem Sturmwind gleich, hinziehen. Und wie so ein abgefallener Vogel hat er matt Umschau gehalten – wohin? Hat sich durchgewunden durch Fremdes, verschmachtet bis zum Tode; hat nach Nahrung ausgeschaut; hat ein paar Kräuter gepflückt – irgend etwas, was Nahrung glich; ist nach irgendeinem Unterschlupf gekrochen, um zu sterben; ist durch eine kleine Pforte geschlichen, in einen großen, breiten Hof strauchelnd gegangen; hat durstig ein paar Züge aus einem Porphyrbecken getan, in das aus einem uralten Steingesicht ein klarer Wasserstrahl sich ergoß, der der Schwäche des Hungrigen zu mächtig war, um aus der starken Fülle zu trinken. Dann ist er hingesunken in Schlaf oder Tod vor allzu großer Erschöpfung.

Zur Abendstunde – trotz Spätherbst, war es schwül und ein starker Föhnwind hatte sich wieder aufgemacht – kam Dorettchen an den Brunnen. Der Brunnen aber war das Lebendigste im ganzen Haus; deshalb zog er sie an.

Sie sah als erste den erschöpften Soldaten. Da lag er, schlank wie ein Knabe.

Sie sah auf ihn, konnte sich nicht regen – das Herz blieb ihr stehen.

215 Wie er ihm glich! Wie sein Kopf so hingesunken lag, daß die jungen, klaren Züge vor ihr schimmerten im Abendlicht! – Ach, er hätte es sein können! Ein wenig anders – fremder als der, dem sie gehörte – ein wenig anders. Eine fremde Welt.

Bebend stand sie da. Da neigte sie sich in heißen Tränen über ihn, voll Sehnsucht und Gram, und strich ihm mit der Hand über das Gesicht und weckte ihn – und half ihm, sich zu erheben. Niemand sollte ihm helfen, niemand sollte ihn jetzt sehen – nur sie allein.

Der Doktor war nicht daheim. Er hatte fortgemußt, mitten im Aufruhr der Begebenheiten, und trotz seiner nach dem Anfall noch angegriffenen Gesundheit.

Durch welches Wunder war der junge Soldat durch die jetzt immer streng geschlossene Pforte gekommen? Wer mochte sie offengelassen haben? So dachte Dorettchen und führte den Erschöpften, der ihr halb bewußtlos folgte, ins Haus und durch eine ebenerdige Tür in den Terrassenpark und von hier aus in ihr eigenes Schlafstübchen, das neben den beiden großen Stuben der noch immer kränkelnden Mutter lag und in das man auf ein paar Stufen vom Garten aus gelangen konnte; das Haus war auf der Rückseite in den Berg hineingebaut.

In diesem stillen Gelaß war Dorettchen geblieben, hatte einige Nächte bei ihrem Mann gewacht, als der so plötzlich erkrankte. Der Doktor aber mochte 216 kein Verlangen nach seinem jungen, stillen Weibe gehabt haben.

Sie führte den Gefundenen über die Stufen, schlug die Decke ihres eigenen Bettes zurück, und, mütterlich hingegeben, forderte sie ihn auf, zu ruhen. Dann könne er bald essen und trinken.

Der junge Soldat lächelte befangen.

»Ich komme wieder!« sagt sie, geht die Stufen hinab durch die schmale Pforte ins Haus und läuft eilig den langen Gang zur Küche.

Wie er ihm gleicht! Ach, – und lächelt wie er! Tränen fließen ihr über die Wangen. – Ein Wunder! Es scheint ihr, als wäre die Luft um sie her, alles, was sie fühlt und denkt, Liebe und Sehnsucht, als flöge sie eilend und laufend durch Liebe, durch schmerzvoll, lebendige Liebe . . .

In der Küche war niemand. Sie nahm, was sie an Brot und Fleisch findet und geht in den Keller und kommt mit Wein zurück und mit Früchten, tut alles geschäftig in einen Korb und eilt zurück wie ein eifriges Kind.

Das Haus so still.

Als sie in ihre Schlafstube tritt, sitzt der junge Soldat wach auf dem Bett. Das liebliche Abenteuer hat ihn nicht in Erschöpfung zurückfallen lassen, und er sieht das schöne, frohe Geschöpf bei sich eintreten.

»Sie sollten ruhen!« sagte sie.

Nun packt sie aus und stellt alles auf ein Tischchen vor 217 ihm hin, beugt sich herab, kniet vor ihm nieder, nimmt seinen Fuß, um ihn die staubigen, zerrissenen Stiefel auszuziehen.

»Um Gottes willen!« sagt er.

»Bist du, Armer nicht durch alle Not und durch den Tod gelaufen? – Und ich? – Was tat ich? Laß mich's dir, bitte, tun!«

Und sie tut es tränenüberströmt, und zieht und müht sich; und er hilft ihr befangen.

»Ach, sei ganz ruhig! Vor mir braucht dir nicht bange zu sein!«

Und nun sieht sie, wie er zulangt. Sie schneidet ihm Brotscheiben und gießt ihm Wein ins Glas und tut alles, wie für den Toten, in großer Schmerzensliebe. Er hebt das Glas an ihre Lippen, und sie trinkt, als tränke sie Leben – und gibt das Glas zurück, als gäbe sie es dem Toten, der tief unter dem Eis verschüttet schläft.

Dann geht sie wieder und bringt ihm frische Wäsche von ihrem Mann und legt alles vor ihm hin.

»Du bist so gut,« sagt der junge Soldat ganz befangen und bewegt und nennt sie du aus Befangenheit, weil sie es so tut – und als könnte es gar nicht anders sein. Er fühlt sich in einem reichen, vornehmen Hause. Das junge, schöne Mädchen, das so sanft, und als wäre es das Natürlichste, um ihn besorgt ist – geheimnisvoll mutet ihn an, was ihm geschieht.

218 Seine Müdigkeit aber ist so groß, daß alles undeutlich um ihn her wogt. Und kaum hat das hilfreiche Geschöpf ihn verlassen, fällt er in tiefen Schlaf.

 

Dorettchen ist durch das Haus ins Zimmer der Mutter gegangen, um nach ihr zu sehen, und als sie die friedlich und schlafbereit findet und nicht weiß, wohin mit sich selbst, setzt sie sich eingehüllt auf die Stufen nieder vor ihrem Schlafzimmer, als müßte es so sein, und hört auf das endlose, dumpfe Rasseln, Toben, Schreien, Schießen auf der Reichsstraße und auf das Rollen, wenn ein beladener und von Menschen behangener Zug vorüberdonnert und über ihr die Flugzeuge dröhnend rauschen.

Die vom Mond erhellten, zarten Federwolken jagt der Föhn über den Himmel. Warm ist die Nacht, als wäre es Frühling. Und Dorettchen fühlt, was für ungeheure Wesen die Menschen sind, und wie es nichts gibt, was sie nicht ertragen und tun können. Wie sie da drüben durch alles Elend stürmen – und ans großen Leiden kommen und in neues, anderes Leid hineinziehen werden – und daß sie doch grenzenlos verlassen sind, dem Tod ganz anheimgegeben, und keinen Gott haben, der ihr Freund ist – eigentlich als Freund: nur den Tod, der ihrer Einsamkeit und Verlassenheit ein Ziel setzt. Doch sie können einander lieben über den Tod hinaus. Es war ihr, als verginge sie in Liebe, als flösse sie dahin.

219 Wie sie so saß, tat sich die Türe hinter ihr auf. Der junge Soldat war wieder erwacht. Übermüdung läßt nicht ruhen. Unruhe hatte ihn erfaßt – er wollte schauen, was eigentlich Geheimnisvolles um ihn sein mochte. Da sieht er die eingehüllte Gestalt geduldig sitzen, und es durchfährt ihn: In ihr eigenes Bett hat sie mich gelegt – Was ist das? – So grenzenlos gut sind nur die, die nichts zu verlieren haben. Da aber sieht er das junge, unschuldsvolle Gesicht vor sich, wie es im hellen Mondschein nach ihm blickt.

»Sie sind wach?« sagt Dorettchen – »Und waren so müde!«

»Und Sie . . . und du?« Er ist hingerissen. – Welch ein Begebnis! – »Wie konnten Sie!« –

»Hast du nicht auch oft für mich draußen gewacht?« fragt sie wieder leise. »Ohne mich zu kennen? – Und wärst für mich auch gefallen, wenn's dich getroffen hätte? – Und darf ich dir's nicht danken?«

»Was ist mit dir? Du Süße, du Gute? – Wie hast du mich empfangen?«

»Wie einen Toten –!« schluchzt sie auf und hält seine Hand in der ihren.

Da empfindet er mit einem Blick die Reinheit ihres Wesens – ist erschüttert, mit ihr fühlend, und erschüttert von eigener Not und übermenschlichem Erleben.

Draußen zieht das Elend der jammervollen Flucht in tiefer Nacht unaufhaltsam wie ein tosender Strom.

220 Er fühlt im weltverborgenen Stübchen, in das er sie geleitet, sich versinken wie in fremde, geheimnisvolle Heimat, die sich um ihn schließt.

»Wie du ihm gleichst!« schluchzt sie von Neuem auf. »Deine Stimme, dein Wesen.«

Sie ist fassungslos, streicht ihm zart über die Hand, als wollte sie wissen, ob er nicht vor ihr verschwinden könnte wie eine Erscheinung. »Sag – wer bist du? – Sag's!!« – Das ist ein Schrei aus tiefstem Herzen. »Warst du auch oben in den Gletschern, im Eis? Hast du ihn vielleicht gesehen – den Peter Faltingoyer? – Sag's!«

Er antwortete nicht – ist verstummt. Aber er nimmt sie behutsam in die Arme, als müßte es so sein; fühlt das junge, ganz bewegte, weiche Leben sich so nahe – so überwältigend nahe, warm, urlebendig und gelöst, die ganze Herrlichkeit ihres jungen Körpers. Nach aller Härte, Entsagung, Verkrampfung vieler Jahre – überwältigend nahe. Ein Verdursteter nach des Lebens lebendigen Quellen.

Er frägt sie, zaghaft hingebend. Und sie spricht – – spricht – nach langer Stummheit. – Sie vertraut, wie dem Geliebten, dem Toten, ihres Herzens Not.

Bebend hält er sie in den Armen. – Wie hätte er sie lassen können! Nach langem Irrlaufen ist sie so müde. Sie fühlt erst jetzt, daß sie durch schwere, schwere Träume ging.

Alles, was sie sah, ist ihr selbst fremd und fern. Wie 221 Rätsel steigt, was sie erlebte, in ihrer Seele auf. Sie liegt an einem mitfühlenden Herzen – das empfindet sie an jeder Bewegung. Seine Arme halten sie schützend, heimatlich. Und daß er kein Wort spricht, nur auf sie hört, das ist so gut nach allem Unaussprechlichen. Wäre der Tote heimgekommen – wortloser verstehender würde er sie nicht halten können – inbrünstiger – andächtiger.

So hält er sie; so ruht sie an seiner Brust. Sie wird still, schweigt – Wortlosigkeit – Versinken in Voneinander-Wissen, Vertrauen, Mitfühlen der dann, ach, so beseelten Körper.

Und es ist, als sei der Verlorene in Wahrheit zurückgekommen, als wüßten sie tiefe Liebe zueinander und voneinander und alle Sehnsucht der Liebe, als wäre nichts Verborgenes in ihrem Herzen, als wäre es ein unaussprechliches, traumverhangenes Wiedersehen für beide und hüllte sie in Geheimnisse, Erlösungen und Seligkeiten und Aufatmen.

Er, der vom Strom der Todesflucht Ausgeworfene. Und sie, an der im bangen, dunkeln Haus jahrelang, Tag und Nacht die schauerlichen Züge vorübergebraust sind, die das Grauen der Welt in rasender Eile trugen, das Haus erzittern ließen und ihre Seele.

Der junge Soldat, durch alle Schrecken gehärtet, fühlt trunken, daß sie ganz zu Liebe, zu Erinnerung, Traum und Wiedersehensseligkeit wird.

222 Lebensgluten stürmen auf ihn und sie ein. Und so flammen sie einander zu. Er, der das Grauen der Erde bis zur Neige getrunken hat, allen Schrecken preisgegeben; der mit erwachten Augen eine deutliche Welt erlebte, die sich selbst frißt, Welten, die andere Welten verschlingen, selbst von anderen Welten verschlungen werden; der ganz im Banne ewig friedloser Tat jahrelang gestanden, hält das Zarteste dieser Erde in seinen Armen – ein Wesen, ganz Liebe träumend, aufgelöst.

Mit wunderlichem Schauer fühlt er, daß das erschütterte Geschöpf an der Brust eines Toten ruht, der er selber ist – aus tausend Toden entronnen – So hält er sie – Sie flüstern und reden bewegt, und er spürt die zarte Leidenswelt im tiefsten Herzen. Und ist's ihm doch, als wäre er mit Sturmesgewalt in die Seligkeiten weltvergessener Liebe gesunken.

Ihre Worte kommen aus Gott- und Weltverlassenheit, umflattern ihn wie ängstliche Vögel – Und er lächelt, als wollte er sie beruhigen und trösten – wie der Peter Faltingoyer lächelt er, heimatsicher und treu.

Und die Zeit vergeht – und die Nacht vergeht, und es waren Stunden des süßesten Einverständnisses.

Früh schon traten sie aus dem stillen Raum. Eng umschlungen setzen sie sich auf die Stufen der Treppe. Ihm ist's, als müßte er ihr Unvergängliches geben. Er macht sich von ihr los, ringt die Hände ineinander und will Worte 223 finden, die leidvolle junge Seele zu schützen, die unheimisch auf Erden wurde.

»Du,« sagt er nach tiefem, liebendem Schweigen, »glaubst du wirklich, daß du gottverlassen bist – und auch dein Vater es war und die ganze Welt?«

Er zieht sie dicht zu sich, fühlt ihr Erschauern in der Morgenfrühe und nimmt ihre beiden Hände in die seinen, wie um sie zu wärmen – und schaut sie groß und tief an.

»Du lebst ja in Gott wie der Fisch im Wasser und der Vogel in der Luft. Und wirst leben – wie das Königskind, das durch die Wände schauen konnte.

»Wie werd' ich leben?« fragte sie.

Er schweigt.

»Das Element der Liebe,« sagt er nun leise, und seine Stimme bebt, »ist Gott.« Versunken ist er in ihrem Anblick, und daß er das Ferne, Nahe so eng, wie von ihm untrennbar in seinen Armen hält, verhangen von Geheimnis, Tod und Unaussprechlichem, er, der durch alle Schrecken des Krieges geschleppt wurde.

»Ich fühle über dich hinweg!« sagt er – voll Liebe jedes Wort beladen. »Es ist gut zu lieben nach langer Höllenfahrt. Auch dein Vater war dem Gottgeheimnis nahe wie du selbst! Vor Gott gibt's keine Nähe und Ferne – keine Gegensätze – dasselbe Ringen, dieselbe Sehnsucht in jedem Verlangen. Was uns Leid scheint, ist liebende Schöpferkraft, die er über uns ausgießt.«

224 »Sag das noch einmal,« bittet sie und umfängt ihn leidenschaftlich.

»Leid, du Geliebte, ist Schöpferkraft. Gott ist im Krieg und in allen Höllen und Freuden der Erde ungeheuer gegenwärtig. In Krieg und Leid gegenwärtiger als in Frieden und Sicherheit. Furchtbar sind die hingemordeten, zerrissenen Leiber auf dem Schlachtfeld – aber grauenvoller ist die Walstatt der Seelen im Frieden, die vom breiten Behagen verstümmelt, verunstaltet, erdrosselt, erstickt sind. Und keiner ertrüge den Anblick.

»Spür, wie er dich wunderbar gestaltet hat! Die Menschen können sich im irdischen Raum nur zurechtfinden durch außerirdische Welten, und so haben sie's auch gemacht.«

»Ich fühl's,« sagt sie leise wie ein irrgelaufenes Kind, das einer gefunden und das sich ihm voll bebender Zärtlichkeit anschmiegt nach großen Ängsten »Ich will dir gehorsam sein, unsagbar gehorsam! Ich werde leben, wie der Fisch im Wasser und der Vogel in der Luft – und du sagtest noch: wie das Königskind, das durch die Wände schauen konnte.«

»Sagt' ich das?«

Ihr Kopf liegt noch am Herzen des Verlorenen, Wiederheimgekehrten, durch große Not herrlich Gestalteten. Zärtlich zieht er sie an sich.

»Wie soll ich nur wieder von dir gehen!«

Tränen stehen ihr in den Augen. Er ist erregt, besorgt 225 – schweigt – möchte ihr geben, geben – geben! Er sieht sie so weltfremd und bedroht.

Sie will etwas von ihm selbst wissen, etwas, was ihm als eigenstes Erlebnis gehört.

Er schweigt und sagt dann leise das in Worten, was auf all den totenblassen, verheerten Gesichtern der Verwundeten stand: »Was wir jetzt wissen und gesehen haben und erlebt haben – da kehren die Worte um und die Gedanken. Das scheidet uns von allen, die es nicht erlebten.«

»Laß mich erzählen,« sagt er nach einer Weile, »was ich eben heut oder gestern oder vorgestern erlebte. Ein schlechtes Gedächtnis – und trotzdem bin ich gar nicht arm an Erlebtem der Vergangenheit, weil ich die Gnade habe, soviel zu sehen und zu hören. Da hat mir vor Tagen in einem verlassenen Dorf ein wunderliches altes Weib, das ganz allein zurückgeblieben war, in seinem kleinen Haus, aus der Heimat erzählt und sprach so ganz im Glauben der Wahrhaftigkeit.«

Da schaut er seiner Gefährtin in die Augen: »Oder soll ich das doch nicht erzählen? Es ist voll Sehnsucht und Leid und Erlösung, und ist eine uralte Legende.

»Willst du sie hören? Was mir zutiefst aus dem Herzen auf die Lippen kommt, ist wie Schicksal, muß gesagt sein. Schon den ganzen Morgen will ich's dir erzählen.«

»Du meinst von dem Königskind?«

»Wieso?«

226 »Du sagtest es schon einmal.«

»Wie eine Flamme steigt es aus alten Legenden auf – weißt du, so wie auch aus deinem ganzen Wesen. Du fragst mich dann, was ich denn eigentlich bin – und was ich werden will – und ich schwör dir's, du findest mich immer getreu, als deinen Freund, wo ich auch sein werde – zu jeder Zeit dein Freund – dir gehörig. Nie sollst du dich schutzlos fühlen und hilflos. Ich bin dir immer nah.«

Wieder faßt er ihre beiden Hände und sieht sie fest und liebend an, ihr ganz hingegeben.

Und so sitzen sie beieinander, und er erzählt leise, in sie hinein, und sie lauscht.

»Also hör zu:

Das Königskind, das durch die Wände schauen konnte.

Vor langer Zeit, es mögen wohl tausend Jahre her sein, da lebte ein stolzer König, der hatte eine schöne und gute Königin. Aber weil sie keine Kinder bekamen, war er ihr oft gram und betrübte sie noch zu ihrem eigenen Kummer, denn sie selbst hätte gar gern welche gehabt, und betete Tag und Nacht darum, aber sie kriegten keine. Sie sollten wohl keine bekommen, denn der König war ein stolzer, harter Mann, dem alles und jedes gelang, was er angriff. Und so meinte er, er wäre nicht nur König auf seiner Burg und in seinem Lande, sondern Gott und alle Welt müßte ihm untertänig sein.

227 So hatte er ein blödes Herz bekommen, das nicht fühlte, wenn es ihm nicht selbst anging. Ritt er aus, und es begegneten ihm armselige Leute und Bettelvolk, da lachte er und wurde doppelt so stolz und hochmütig.

›Pumpelsiegelvolk, verdammtes!‹ brummte er, gab seinem Roß die Sporen und ritt davon – ja, die Leute sagten, daß er vor Armut, Krankheit und Niedrigkeit ausspie.

Sein Schloß, das auf einem hohen Berg lag und weit ins Land hinausblickte, war das herrlichste Schloß weit und breit. Prunkgemächer an Prunkgemächern, herrliche Gärten und weite Höfe und köstlich gekleidete Gäste, und abends klang Saitenspiel und Gesang, daß es eine Lust war.

Aber sie hatten keine Kinder – das war es –, denen er die ganze Herrlichkeit einst übergeben konnte. Das mußte eine harte Nuß sein für den wilden, stolzen Mann – und es schien ihm, als schauten die Leute ihn scheel darob an. Der ärmste Mann hatte das Haus voll – mehr als es ihm lieb war. Und er, der Reiche, Mächtige, hatte nicht das kleinste Kindchen zum Herzeigen. So kam es, daß er seiner Frau das Herz schwer und schwerer machte.

Da stahl sie sich einmal an einem dunklen Abend aus dem Schloß, aus den hellen Sälen. Die Bäume rauschten im dunklen Garten, als sprächen sie zu ihr, und ein Käuzchen klagte, daß Gott erbarm' – gerade – als säße ihr eigenes Herz in den dunklen Bäumen und wimmerte in 228 Einsamkeit und Nacht. Dazu schien der abnehmende Mond wie eine arme Seele, die an nichts Freude hat und so dahinstirbt. Und auch das war wiederum sie selbst – so kam es ihr vor. Ihres Eheliebsten Gleichgültigkeit und Ungebärdigkeit aber lag einer Last gleich auf ihr.

Da erschien es ihr mit einemmal, als blickten aus tiefer Nacht zwei traurige Augen sie an – so herzbrechend traurig, daß es ihr zum Sterben weh zumute war – und ein zartes Stimmchen hörte sie wie verlöschend klagen: ›Ei, so zerrt doch nit so! I will nit – i weiß schon –.‹

Weh traf sie das Stimmchen, als wäre es ihres eigenen Kindes Stimme gewesen. Ein Schauer fuhr ihr über den Leib, und sie bebte vor Schreck und Wonne. So traurig das Stimmchen auch klang, war es die Stimme aller Stimmen für sie.

Herbst kam und der weiße, kalte Winter. Dann trugen die Bäume wieder Knospen, und es ging von vorne an. Da gebar die Königin ein Mägdlein. Die Glocken läuteten, vom Turme blies der Wächter die frohe Botschaft in die Lande hinaus. Der König wetterte, daß es kein Königssohn sei; denn, bei Gott, dachte er in seinem dunklen Herzen: Ich, der Herr, dem alles untertan ist, dem alles glückt – der sollte einen Sohn haben, der ihm gleich sei.

Als man der Königin aber zum erstenmal ihr Kindchen reichte und sie es voll Glück und Wonne anblickte – sah sie in die traurigen Augen, die sie aus der Dunkelheit heraus 229 angesehen hatten in jener Nacht, in der ihr eigenes Herz wie ein Käuzchen in den dunkeln Bäumen gesessen und geklagt hatte, in der der abnehmende Mond am Himmel stand, einer armen Seele gleich.

Bang schlug ihr das Herz, als hätte sie eine große Schuld auf sich geladen.

Das Kind wuchs heran in des Schlosses Pracht. Edle Frauen dienten ihm. Die Königin liebte es, wie nur eine Mutter liebt. Der König war stolz, daß er endlich etwas zum Herzeigen hatte, und weil das Kind über die Maßen schön und lieblich war. Die traurigen Augen machten ihm das Herz nicht schwer. Wird sich schon geben! Er sah alle Kraft und Stärke seiner Größe, seiner Welt, seines Reichtums und Ruhmes. Da werden die Augen schon lachen, dachte er. Und frohgemut wartete er nun auf den Erben – den Königssohn.

Der aber blieb aus.

Das einzige Königskind wuchs heran. Die Augen aber behielten ihren geheimnisvollen Blick, und das Kindchen blieb still; kaum, daß einmal ein Schein von einem Lächeln über das Gesicht ging – und das nur, wenn die Königin etwa sagte: ›Geh, gib der schönen, guten Frau eine Hand!‹ Da schüttelte das Kind das Köpfchen, der traurige Schein eines Lächelns schwand dahin, und es sagte: ›Die ist nit gut – i seh's. Das weißt du nur nit!‹

Da wurde die Königin blutrot vor Schreck, denn des 230 Kindes Art war ernst und wahr, als wüßte es böse Dinge. Und auch die andere erschrak von ganzem Herzen.

Oder der König saß an seiner Tafel und speiste mit seinen Gästen köstliche Gerichte von goldenen Tellern, und sie tranken den edelsten Wein und jubelten dem König zu.

Ein Mächtiger erhob sich, rühmte die Taten des Königs mit gewaltigen Worten und mit Saitenspiel. Da ging der Schatten eines Lächelns über das Gesicht des Kindes – es schüttelte den Kopf und rief dem König zu: ›Glaub's ihm nit! – Wehe wird er dir tun!‹

Die zarte Stimme des Kindes ging wie ein heller, scharfer Strahl durch allen Jubel hindurch, traf jedes Ohr. Ein Verstummen lag über dem Saal, und der König beugte sich lachend zur Königin: ›Was für einen Wechselbalg brachtest du uns?‹

In den köstlichen Gärten suchte das Kind den stillsten Winkel, als wollte es sich verbergen. Die edlen Frauen, die ihm dienten, hatten ihre Not, es aufzuspüren. Am liebsten war es aber bei den Tieren, in den Ställen oder im Tiergarten, wo der König seine Hirsche und Rehe hielt.

Da sagte die Königin: ›Mein Kind, was hast du an den dummen Tieren?‹

›Sind nit dumm!‹ antwortete das Kind. ›Ich schau' durch sie durch; die lügen nit – die sind, wer sie sind – da bin ich daheim – – hab' nit Angst.‹

›Hast du denn immer Angst?‹

231 ›Wohl Angst,‹ sagte das Kind.

Da weinte die Königin. Sie wußte, es hatte nicht auf die Erde gewollt. Sie hatten es zu sich hergezwungen.

Es begab sich, daß ein altes Bettelweib aufs Schloß kam, zerlumpt, presthaft und verwest vom Leben. Solches Volk duldete der König nicht in der Nähe seines Schlosses. Die Dienerschaft hatte den Befehl, Bettler fortzuweisen. Die durften in ein nahes Kloster gehen und bekamen dort eine Wenigkeit.

Das alte Weib aber konnte nicht weiter und jammerte und schrie. Das hörte das Königskind, kam gelaufen und faßte die Hand des Weibes ganz traulich, wie es bisher noch keine Hand gefaßt hatte.

Wer das sah, verwunderte sich, denn alle raunten über das schöne Königskind.

Wie sie so miteinander durch den weiten Hof gingen, wagte keiner, die beiden anzuhalten. Da, mit einemmal, sank das alte Weib in die Knie und fiel dann um, lag wie tot. Und das Kind hockte bei ihm – ganz furchtlos.

›So nehmt sie doch auf und tragt sie hinein zum Pförtner! Was schaut ihr denn so?‹ rief das Königskind.

Und sie trugen das Weib in die Pförtnerstube und betteten es auf einen Schragen, auf dem der Pförtner nachts zu ruhen pflegte.

Das Königskind folgte dem alten Weib, als wäre es seine Mutter. Und da die Leute sahen, daß es zu Ende 232 ging, lief einer um den Schloßkaplan, daß er die Sterbende versehen möchte. Das Königskind mit den traurigen Augen hatte sich der Frau zu Häupten gesetzt, und das sterbende Haupt lag auf dem Schoß des schönen Mädchens. Die Leute drängten sich im engen Raum und wurden fortgewiesen.

Da tritt der Priester in die Türe im faltigen weißen Gewand. Der Ministrant schellt mit dem Glöckchen. In der Laterne brennt ein frisch aufgestecktes Licht. Der Priester beugt sich über die Bettlerin und nimmt ihr die Beichte ab. Die Sterbende brummelt: ›Das war a schware Kischte – mei Liaber! Tod ischt immer guat!‹

Das mochte wohl die ganze Beichte sein. Mehr verlautete nichts.

Der Priester spricht jetzt geheimnisvoll statt ihrer: ›Ich armer, sündiger Mensch, bekenne Gott dem Allmächtigen, der seligen, allzeit jungfräulichen Maria, allen Engeln und Heiligen und Ihnen, ehrwürdiger Vater an Gottes Statt, daß ich gesündigt habe durch Gedanken, Worte und Werke.‹

Und als sie das heilige Sakrament empfangen, stimmte der Priester der Seele Aussegnung an. Und die Sterbende schaute mit alten großen Augen wie in weite Ferne.

›Im Namen Gottes, der dich erschaffen hat, im Namen Jesu Christi, im Namen der Engel und Erzengel, im Namen der Throne und Herrschaften, im Namen der 233 Fürstentümer und Gewalten, der Cherubim und Seraphim, im Namen der Patriarchen und Propheten und aller Heiligen.‹

›Amen!‹ haucht die Sterbende – und über das vom Leben zermarterte Gesicht geht ein Glanz.

Und gleichermaßen derselbe Glanz über das Gesicht des Königskindes. Es leuchtet wie das Angesicht eines Engels.

Die Leute, die erst hinausgewiesen wurden, umdrängen das Lager der Sterbenden und schauen auf das Königskind in seiner Herrlichkeit.

Und wieder erhebt der Priester die Stimme:

›Nimm auf, o Herr, Deine Magd in den Ort des Heils, den sie von Deiner Barmherzigkeit zu erhoffen hat.‹

›Amen!‹ haucht die Sterbende, und ihre Augen werden weit und voller Licht. Und es ist, als stürbe das Königskind mit ihr und hätte die Gesichte einer hohen Heiligen, die ganz der Erde entrückt ist. Das Königskind lacht in großer Seligkeit. Und die Sterbende nickt, und schwer ringt es sich von ihr: ›Ei freilich, lach du, Königsgitsch! – Woll ischt sterben guat für unserein – woll, woll – sell woll!‹

Ein Weib ist gelaufen und hat die Königin geholt.

›Frau Königin,‹ hat es gerufen. ›Kommt schnell! Euer Kind lacht hell auf!‹

Da hat die Königin gerad noch das Wunder gesehen.

Ein Schauer fuhr ihr über den Leib, und sie bebte vor 234 Schreck und Wonne. Wie in jener Nacht, als sie die Stimme ihres Kindes gehört.

Von nun an aber hatten die edlen Frauen, die dem Mägdlein dienten, nichts zu lachen. Das Königskind entwischte ihnen nicht nur in die stillen Winkel der Gärten. Es war überall zu finden, wo ein Mensch sich aufmachte zur großen Reise. Da lächelte es dem Sterbenden zu, da lachte es, tröstete, machte Verzagten Mut und sprach ihnen von ihrer schönen Heimat – machte ihnen das Herz leicht. ›Tod ist immer gut!‹ sagte das Königskind, und sein Angesicht strahlte vom Himmelslicht.

Aber die Leute im Schloß, denen es allzu wohl erging, die das Leben liebten und mit dem Tode nichts zu schaffen haben wollten, murrten und sagten untereinander: ›Die Königsgitsch soll Ruh' halten – sonst bringt sie uns Not und Tod über den Hals!‹ Und sie hatten so unrecht nicht. Not und Tod kommt über Nacht und zu jeder Zeit – sicher ist keiner davor – auch der stolze König nicht auf seinem herrlichen Schloß.

Es begab sich, daß der hohe, mächtige Herr, der an jenem Gastmahl des Königs Taten mit gewaltigen Worten und Saitenspiel gepriesen hatte und dem der König nicht trauen sollte, das Land mit Krieg überzog und des Königs Burg belagerte und zerstörte.

Das Glück schwand dahin wie Schnee im März. Not und Tod zogen ein.

235 Auf der Walstatt lag der König und seine Mannen, Freund und Feind. Und wer da nicht lag, war in die weite Welt geflohen – die Königin unter den Trümmern des brennenden Schlosses begraben.

Das stille Königskind, die zarte Jungfrau, aber wandelte wie zwischen Bildern an Toten und Sterbenden hin – lächelte, als wäre alles vor tausend Jahren schon vergangen – beugte sich über die mit dem Tode Ringenden. Und wer ihr Lächeln sah, dem schwand die große, schwere Erde mit ihren schweren Leiden und ihren schweren Freuden dahin wie eine Seifenblase, der er wie ein Kind nachschaute. Und er sah die Gesichte, die das Königskind in seiner Seele trug.

So ward das Königskind in einem Kloster zu einer stillen Heiligen und trug die höchste Gabe der Erde, die alle tausend Jahre einem Menschen zuteil wird, der nur zu lächeln braucht – und Sterbenden, Mühseligen und Beladenen schwindet die schwere Erde dahin wie eine Seifenblase.«

Der die wunderliche Geschichte in tiefster Liebe und der Liebe Rat und Hilflosigkeit erzählt hat, lächelt: »So bist du gelaufen, du Süße, du Einzige – dein Lebtag suchend – in die tiefsten Geheimnisse des Lebens mitten hinein!«

Der Föhn rauscht im Laub der Kastanien; die Sonne scheint wärmend. Dorettchen hat, während er erzählt, des Geliebten, des Wiedergekehrten Hand festgehalten. Es ist 236 in ihm dasselbe Licht, wie es in der Seele des Toten brannte; aber sie steht nicht vor der Heimatshütte, in der sie das Licht nur durchs Fenster sieht – sie ist drin in der Hütte.

»Wir gehören zueinander trotz allem und allem für ewig!« sagt er. »Ich bleibe kein Soldat – hab' die ersten Weihen schon empfangen, wollte dem rauschenden Leben noch einmal tapfer die Hand geben. Vor vier Jahren hab' ich mich freiwillig dem Heere gemeldet. Und du – du!«

»Du hast mich,« sagt sie innig, bebend in wundervoller Erregung: »mit den Augen vom Königskind angeschaut, das die schwere Welt fortlächeln konnte.«

»Nun rate,« frägt er ganz weich, »wo ich jetzt hingehe? Ich gehe hinauf durch alle ziehenden Teufel – und schaue mir drüben deine sonderbare Heimat an – und grüße Dada und Onkel Kantioler. Denn, weißt du – von dir weggehen ist schwer – und von dir ganz plötzlich gehen, das hielt' ich gar nicht aus.« Mit den Worten kommen ihm die Tränen. Der junge Soldat wendet sich ab, schreitet den Weg hinauf – ach, nicht vermögend, sich noch einmal umzuschauen.

Dorettchens Augen stehen ebenso voll Tränen, als verlöre sie den Jugendgeliebten von neuem. Doch sinkt sie nicht im Schmerz zusammen, sondern fliegt und fliegt wie mit großen Flügeln im leuchtenden Reich der Liebe.

237 Ein naher Schritt, eine Stimme, wie ein fernes Ereignis in nächster Nähe. Jemand sagt:

»Der Herr Doktor kimmt heunt nöt! Hat zum operieren. Der Chirurg aus Gossensaß, der helfen muaß, is jetzt nit eintroffen, weil's sein Zug einfach aufg'halten ham – de Zochen! Mit großmächt'gem Lärchstamm haben's das gemacht. – Jetzt hätt er ja noch dableiben können – noch einen Tag – und – auch – noch eine Nacht –, der – Herr Soldat!«

Ein Auflachen! Urschis Gesicht rotflammend.

Und war es Dorettchen nicht, als wäre etwas ganz Fernes geschehen? – Als hätte sie einen Schlag empfangen, einen Stoß – als hätte sie in böse Augen geblickt? –

Fernes Ereignis in nächster Nähe . . .

 

An diesem Abend kommen Onkel Kantioler und Dada, wie Leute kommen, die dringend geschickt werden. Man sah es ihnen an, sie waren erregt, waren bereit, irgend etwas zu tun.

»Wir nehmen dich zu uns hinauf!« sagte er. »Es werden sich Mittel und Wege schon dazu finden. Wir sind übers Kloster durch die Straße geschlüpft – ein Wunder, daß wir die fünf Schritt durch die Gasse, in der es kocht und gärt und tobt, durchkamen!« – »Und ein Wunder, wie er den Weg zu uns herauf fand!« Das sagte Dada, noch erschüttert von allem, was sie gesehen.

238 Draußen, unentwegt und ohne Pause jenseits des Eisack, auf der Reichsstraße zieht in Not und Drangsal der Unheilstrom. Sein Lärmen und Toben dringt bis in das Wohnzimmer, und über das alte Haus brausen die Flieger. Züge rasen und donnern, und der schwüle Spätherbstföhn ringt mit den alten Bäumen im Park.

Onkel Kantioler sieht erregt auf sein gutes Kind, das ihnen freundlich Früchte bietet, die in einer Schale im Zimmer stehen.

»Irgendwer,« sagt er mit einemmal ganz unaufhaltsam, außer sich, »soll dich geschlagen haben! Du bist geschlagen worden! Man hat dich gesehen. Er sah dich von weitem – kam zu uns – schickt uns! Er konnte nicht helfen.«

»Niemand soll helfen, Onkel Kantioler! Ich will gehorsam sein.«

»Urschi oder die andere vom Gespann hat dich geschlagen!« fuhr Onkel Kantioler wild auf. »Und du willst gehorsam sein?«

»Der Urschi nicht!« Es stand ein zartes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Das kannst du dir denken.«

»Was hast du denn deinerseits dagegen getan?«

»Was kann man dagegen tun?«

»Und was wird geschehen?«

»Geschehen?«

»Läßt sich die Hausherrin von ihrer Magd schlagen?«

239 »Hausherrin?« Sie lächelt wieder.

»Bist du denn ganz . . .? – Hoheit, wach auf! Der Doktor muß ihr sofort kündigen!«

»Jetzt kann man niemand kündigen.«

»Was soll dann werden? Das sind ja unmögliche Zustände! Komm doch zu dir. Besprich's mit uns!«

»Was, Onkel Kantioler?«

»Alles – alles – alles, was du Schweres auf dem Herzen hast!«

Aber sein Kind wirft sich ihm an die Brust, umfängt ihn und sagt leise: »In einer Zeit, in der die Toten auferstehen und, schön und herrlich gestaltet, zu uns zurückkehren und die Geheimnisse Gottes bringen und alles Leid liebende Schöpferkraft ist, können die Herzen nicht mehr schwer sein.«

Nicht umsonst hatte er das seltsame Kind geliebt – von Anfang an, als er hinter ihm zum erstenmal den uralten Göttersaal seines fröhlichen Ahnherrn betrat. In dieser Stunde aber fühlt und erschaut er das Unergründliche, ewig geheimnisvolle Meer der Menschheit, das eine Welle ihm an die Brust gewogt hat, und sein gütiges, wissendes Herz ist bewegt. Er läßt sie nicht aus den Armen, und sie schweigen wieder in tiefem Voneinanderwissen.

Wir sehen die drei guten Freunde dann durch den quadratischen Hof gehen, an dem Brunnen mit dem alten Steingesicht vorüber.

240 Dorettchen schließt die Pforte auf, durch die der junge Soldat sich hereingeschlichen hatte, losgerissen vom Felssturz der Flucht, um todesmatt zu rasten.

Sie gehen den Weg am Bahngleise, ohne zu wissen wohin – wollten nur beieinander sein – an der Leidensstraße hin, die auf ihren harten Schienen jahraus, jahrein – vier lange Jahre – Ströme von bangen, mutigen Herzen nach Süden hinab, Ströme zerrissener gequälter Leiber landeinwärts geführt.

So gehen sie schweigend. Dada, von der Dorettchen glaubt, daß ihre liebende Seele unergründlich sei, wie jener Weiher oben bei den zwölf Aposteln, und daß man sich in Dadas Seele hineinstürzen könne, ohne ihrer Liebe je ein Ende zu finden, streichelt von Zeit zu Zeit Dorettchen weich mit Mutterhand.

Eine Brücke führt von der Reichsstraße über den Fluß. Der Weg aber geht einem Seitental zu. Man hört hier das Dröhnen, Schreien, die Kommandorufe, das Wiehern, Toben und Brüllen ganz nah; Staubwolken verhüllen die Gegend. Flieger knattern über den Köpfen hin. Die drei Fußgänger biegen in das Seitental ein, um Ruhe zu gewinnen.

Sie gehen eine kleine Strecke im Tal, durch das ein Bergbach strömt. Das Tal erweitert sich. Da sehen sie Fuhrwerk an Fuhrwerk mit Bespannung stehen. Tiefe Stille – kein Mensch zu sehen.

241 Fliehende haben die erschöpften Gäule, die sich nicht weiter schleppen konnten und die Flucht hindern, hierher geschafft. Da stehen sie, treulos verlassen, die allerwenigsten abgeschirrt; ohne Futter, ungetränkt. Abgetriebene Ackergäule mit zottigen Fesseln, in den Knien eingeknickt. Ihr Geschirr hindert sie, sich niederzulegen, da stehen sie mit hängendem Hinterteil, die schweren Köpfe tiefgebeugt, schnaufend vor Durst.

Die letzten Kräfte gaben sie den Menschen, bluteten, litten für sie. Junge Tiere schlagen in Ungeduld mit einem Vorderfuß den Boden. Ein großer, wohlgebauter Hengst liegt sterbend, in der Eile nur halb abgeschirrt, die Beine steif von sich gestreckt. Gewaltig liegt er wie ein Berg; die zurückgeschobenen Lefzen legen die gelben, langen Zähne bloß. Er röchelt schwer. Sein Kamerad steht und schaut erschreckt; die Beine zittern ihm. Sein Wiehern klingt rauh, verdurstet und geängstet; die Flanken fliegen.

Unabsehbar steht die verlassene Wagenkolonne in das Tal hinein.

Ein Ton, als wehte der Wind ihn her, wie ein nicht endenwollender Seufzer. Die Not der Erschöpften, Verlassenen, die sie alle schnaufen und schwer atmen läßt, liegt wie eine einzige Klage über der ganzen Traurigkeit.

»Weiß Gott,« ruft Onkel Kantioler; »Maschinen sollen sie haben – und nur Maschinen! Keine Kreatur soll ihnen dienen, dem verruchten Menschenvolk – kein edles Pferd! 242 Maschinen für jeden Dienst – Nur mit Maschinen sollen sie zu tun haben – sollen daran vertrocknen, verelenden – selbst zu Maschinen werden!«

Der Mann mit dem Stelzfuß ruft das außer sich, stürzt zu einem Wagen, findet einen Eimer aus wasserdichtem Segeltuch, den er packt – dann hinunter, die steile Böschung hinab, durch Strauchwerk und dicht emporgewachsene Bäume hindurch zum strömenden Wasser.

Da kommt er schon keuchend zurück – da hält er seinen Eimer an verschmachtete Lippen zum Tränken – sieht, wie das Tier prustet, daß die Wassertropfen sprühen, dabei an der Wasseroberfläche die nassen kräftigen Lippen kaum bewegt, von deren Haarborsten durchsichtige Tropfen zurückfallen. Dann prustet es wieder, wiehert hell auf. Aber es hat den Eimer ausgesogen, wie ohne zu schlucken. Das Wasser ist verschwunden, als wäre es durch ein Saugwerk in den Gaul hineingelaufen. Es hätten viele Eimer so lautlos in seinen verdursteten Leib gleiten können.

Dorettchen und Dada stehen versunken in den Anblick.

An jedem Wagen findet sich so ein Eimer. Die Soldaten hätten es bequem gehabt, ihre Kameraden zum Abschied noch einmal gehörig zu tränken. Auch findet sich in jedem Wagen etwas Heu, das sie in ihrer wüsten Eile vergessen haben, vorzuwerfen.

Unermüdlich steigen die drei mit ihren Eimern die Böschung hinab und kommen freudig und atemlos wieder 243 herauf, sehen starke schwarze oder gefleckte Lippen bewegungslos an der Wasseroberfläche zart eingetunkt saugen. Lautlos rinnt das Wasser in die Pferdeleiber.

»Hölltuifel eini!« ruft da einer und schirrt ein sinkendes Roß aus den Sielen, das mit den Vorderfüßen vor Schwäche eingeknickt ist und auf den Knien liegt.

Dorettchen erkennt den alten Bauer, der vor dem letzten Opfer der Berghöfe, vor dem trappelnden stummen Zug der stillen Helfer bei der Arbeit, den Hut abgenommen hatte, als zögen die letzten Söhne dahin. Auch er schien sie wiederzuerkennen. Er nickte ihr stumm zu.

Dorettchen kommt mit ihrem vollen Eimer und hält ihn dem Gaul, den der Alte abschirrt hin; der Gaul macht noch eine Anstrengung, aber er kann nicht mehr – er sinkt vollends zur Erde.

Sie versucht mit schwachen Kräften, doch ohne Furcht, den Kopf des Tieres besser zu legen. Der Alte lächelt, packt ihn fest. So kommt es, daß der schwere, sterbende Gaulkopf auf ihrem Schoß liegt und sie feuchtet die dunkeln weichen Lippen, aus denen hie und da ein heißer, trockener Atem ausbricht, mit Wasser an, das sie aus dem Eimer mit der Hand schöpft.

Da steht stillschauend der junge Soldat, der nachgekommen ist, durch Zufall oder weil er es so wollte.

Sie blickt auf. Er kommt in leichten Sprüngen auf sie zu. Kein Wort. Für sie ist er schon längst da.

244 »Ich hab' sie dir geschickt und bin nun selbst auch da, weil es nicht anders ging,« sagt er glückselig. »Es gibt Notwendigkeiten, denen man nicht davonlaufen kann.«

Nach einer Weile: »Wie du den Gaul hältst, so ist mancher Kamerad auf meinen Knien gestorben. Wenn die Erde von Mensch und Tier abfällt, ist's eine große Erleichterung. Auch wenn dein Gaul schnauft und sich hart tut, geht er doch wie ein gutes Kind, das sich verlaufen hat, endlich wieder nach Hause.«

Dorettchen feuchtet die schwarzen verdursteten Lippen unermüdlich mit den Händen an wie eine gute Mutter.

»Sag's ihm doch ganz nahe, daß er sich nicht fürchten soll – daß er froh sein soll.«

Und weil sie es so wünscht, geschieht es. Der junge Soldat neigt sich über das Tier und sagt ihm leise: »Nun geht's nach Hause und gibt Frieden.«

Aber es geschieht noch etwas: Ein junges, erregtes Pferd hat sich aufgebäumt vor Hunger und Durst, sich losgerissen, ist unaufhaltsam davon gestürzt, den Talweg hinab, ausschlagend, tobend und vorwärtsstürmend, hinter sich her Zügel, Geschirr, Holzteile des Wagens zerrend.

Wie ein Blitz kommt es die enge, mit Wagen verstellte Straße dahergewütet, eckt und stößt mit seinem zerrissenen Geschirr und dem Wagenteil an Bäume, am Weg liegende Pferde, ein harter, polternder Sturmwind, tosend wie ein Bergrutsch – stürzt, springt über den Leib des verendeten 245 Gauls, der in den Weg hineinragt, dessen Haupt dem guten Geschöpf auf den Knien liegt. Der junge Soldat fährt auf, will sich gegen das rasende Tier werfen, es aufzuhalten. Es ist vorübergestürmt. Dorettchen aber liegt getroffen, den Kopf des Gauls auf ihren Knien. Still liegt sie mit weißem Gesicht, kein Schrei ist gekommen – die Augen ohne Blick.

Stumm neigt der Soldat sich über sie, schaut in das weiße, junge Gesicht. Er, des Todes guter Freund, der vier lange Jahre in den Augen schwer Getroffener das Weltvergehen geschaut hat, kennt solche Augen – befreit die zarte Gestalt von dem schweren Kopf des verendeten Tieres – und neigt sich wieder leise über sie wie über ein schlafendes Kind.

Die Augen aber bekommen ein wundersames, strahlendes Leben. Er ist wie überströmt von diesem Blick.

Zwei kommen heran, mit Gebärden des Schreckens.

Er legt den Finger an den Mund. Schweigen. – Sie sehen ihr Kind hingestreckt. Sie sehen das beredte Zeichen des Schweigens – verstehen, nähern sich lautlos.

Das vergehende Geschöpf ist ganz von erschütterter Liebe umgeben. Keiner wagt, helfenwollend, zu stören.

Die beiden Geängsteten spüren, der junge Soldat ist Herr dieses ungeahnten Todes und sein Behüter. Aber sie sind von den strahlenden, schauenden Augen ihres Kindes, die sich schließen und wieder öffnen, als hätten sie neues, 246 noch schöneres Licht von Innen empfangen, ganz hingenommen.

Nur die Augen scheinen zu leben – kein Bewegen – kein Laut.

Wie ist sie seit Tagen ganz ohne Leid, wie in Liebe gegangen, ganz ohne Wollen – in einem Wunder des Schauens und Wissens – sie, die Junge – und alles Erdenleid hat sich ihr in das Element der Liebe ergossen, wie nur Gewaltige des Lebens es erfühlen.

Und jetzt sinkt ihr kleines, suchendes, junges Erdenleben in diesem Liebesmeer unter, dessen Wogen schon in ihrem Herzen ahndungsvoll ausbrachen.

Da öffnen sich die schon wie für ewig geschlossenen Lippen – und ein mächtiger Jubelruf bricht hervor.

Sie ruft: »Trari – trara! – Halli – Hallo!« wie ihre Mutter einst in der Hochzeitskutsche rief.

Und den drei Erschütterten verstummen vor diesem großen Liebes- und Ewigkeitsschrei alle Erdenlaute, das Dröhnen und Rollen, Toben und Brüllen des Elendstroms der Welt auf der Reichsstraße und das schauerliche Rauschen der apokalyptischen Reiter in der Luft.

Dada ist es bei diesem Liebes- und Lebensrufe, als flöge ihr Kind, wie einmal schon in höchster Liebeswonne, aus Gewittergüssen, Donner und Blitzen nackt über die Türschwelle, überselig mit ausgebreiteten Armen – ihr an die Brust.

247 Der junge Soldat aber neigt sich ganz dicht über das entschlafene Gesicht, schließt mit liebender, bebender Hand die Augen, in denen Himmelsglut geleuchtet hat, neigt sich tief über sie – »Tod ist immer gut!« murmelt er schluchzend aus der alten Legende, reicht den beiden Liebenden stumm die Hand, geht eilend das Tal hinab, um sich dem schweren, wälzenden Strom der Flucht, von dem er abgefallen war, wieder anzuschließen.

Der Mann, der einst mit dem fremden Kinde zusammen in den Göttersaal des frohgemuten Kantiolers getreten war, faßte nach der erkalteten Hand seiner lieblichsten Erdenliebe. »Hoheit – meine Hoheit!« Die Stimme bebt ihm, als bräche ihm das einsame Herz. »Ist ein Erdenleben noch so gering, wie kaum dagewesen, ist's zu schwer für Gottes größten Engel. –

Du Kind, sagtest heute: Alles Leid der Erde ist liebende Schöpferkraft, die herrlich gestaltet! – Und so steige auf in die Geheimnisse Gottes – geheimnisvolle Menschenseele!«

 

Ende

 


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