Helene Böhlau
Eine zärtliche Seele
Helene Böhlau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel

»Dunkel is, Herr Paster – dunkel,« brummelte eine Alte und brachte im weltfernen Haus die brennende Lampe in die Stube.

»Das hättn Se nich mache solln – das nich, Herr Paster – nun müssen Se fort. – Ä Dach übern Kopf is allemal gut und gar fir en Verwitweten mit em Kinde. Ich sag's,« da trocknete sie sich mit der Schürze die alten Augen.

Der, zu dem sie sprach, war vom Lampenlicht jetzt überronnen und das Kind, von dem sie sprach, lag ihm schlafend im Arm, das Köpfchen an seine Brust geschmiegt.

So hatten sie miteinander im Dunkeln gesessen.

Jung war der Mann, hager, straffes Haar stieg von der Stirne auf. Das Gesicht unregelmäßig. Das Sehnige seiner Erscheinung, das Heftige, trat hervor, und etwas Hilfloses in der Art, wie er das blühende Kind hielt.

Er mochte wie im Halbschlaf gesessen haben, als die Lampe kam und einem Hinbrüten, das ihm noch auf der unruhig geformten, festgefügten Stirn lag, ein Ende machte.

6 »Herr Paster hätten nich so von uns gemußt – da schaut unser Herrgott nich drauf, ob ä Paster alles am Schnürchen hat, wie es geschrieben steht, wenn er's nur mit unsereim gut meint – und hibsch tröste kann, iberhaupt hibsch zu eim rede kann. Für Sterbende un Lebende is das gut. Un was würde das Frauchen selig sagen, daß der Herr Paster dem Herrn Konsistorialrat un unsern Herrgott alles vor die Füße geschmissen hat – un nun in die Fremde muß mit dem Kinde, ihrem ein und alles!«

»Das verstehst du nicht.«

»Das meinen alle so, Herr Paster, nich ich alleene. Gott wees, wer nu daher kommt, so recht ä Harter, der keinen Spaß nich versteht un nich, daß wir alle zumal Sünder sein. Un so ne Frau Pastern, so'n altes Reiweisen! – Unser seliges Frauchen, Herr Paster!« Da brachen der Geschwätzigen Tränen unaufhaltsam hervor.

»Wird sich die neue Frau Pastern so'n Schaukelchen im Vorplatze mache lasse, wie unser Frauchen? Wenn sie da hin und her flog, wie ä Vogel und pfiff un sang, da meinte ich werklich, ä lustiger Vogel wohnt bei uns un lobte un preiste Gott den Herrn. Fromm war se, frömmer wie die Frommen.«

Da war das Kind erwacht und haspelte sich aus den Armen des Mannes, saß aufrecht und machte große, unbewußte Augen.

7 »Mutti – Mutti« – sagte es langsam, wie im Traum.

»Nun hast du's aufgeweckt.« Ein zärtlicher Ton – eine schwere Stimme. Er erhob sich mit dem Kinde, gab es der Alten.

»Bring's zu Bette.«

Am Türpfosten hing sein Hut, den nahm er und stürzte fast zur Tür hinaus.

»Ja – ja – so is,« die alte Frau nahm das müde, stille Kind sanft an sich. Das warme Köpfchen schmiegte sich auch an sie. Noch war ihm alles auf Erden zum Anschmiegen da.

Der Mann aber lief, mit dem Hut in der Hand, in die tiefe Dämmerung hinaus, in die die große, schwere Nacht schon sank. Am dunkeln Himmelsgewölbe begannen die Sterne nächtlich zu funkeln. Die geheimnisvolle, königliche Herrlichkeit der Nacht drang ungeheuer hervor, je hinsterbender das Leben auf Erden wurde. Diese Herrlichkeit war nicht für die Menschen. Sie konnten auch nicht lange in sie hineinschauen, weil sie sehr bald schwindlig und müde davon wurden. Der nächtliche funkelnde Tempel war nicht für sie bestimmt – wie auch nicht am Tage die unaussprechliche Tempelhaftigkeit der kleinen unscheinbaren Blumen, in denen Kostbarkeiten, Heiligtümer blühen, farbensprühende Räume und Ausblicke sich dehnen, die dem Menschenauge unerfindlich sind. So ein Auge 8 meint, ein blau oder rotes Tüpfchen sei das, was der Fuß zertritt.

Der Mann lief durch die Nacht. Sein Herz schlug stark. Erste Herbstluft ließ ihn krankhaft frösteln. Er ging einen Wiesenweg, der zum Dörfchen führte, das zwischen bewaldeten Hügeln, die wie Dunkelheiten in der Dunkelheit sich hoben, eingebettet lag. Lichter aus niederen Fenstern dämmerten fast lichtlos rot.

Und er hob die Augen nicht zu den Sternen, blickte auf die trüben Lichtchen, die seinen Pfarrkindern leuchteten, und Tränen drangen in seine Augen. Er gehörte nicht mehr zu ihnen, war ihr Hirt nicht mehr – überhaupt kein Pastor. Gott weiß, was er jetzt war.

Die alte, treue Person hatte recht: es hätte das gar nicht gebraucht. Den meisten Amtsbrüdern ging es so, wie es ihm gegangen war und sie fanden sich damit ab, verrichteten ihr Amt wie andere Beamte, so gut wie es ging, und die Zeiten der Zweifel milderten sich. Man fand sich ab, wurde wohl auch von eigener Rede Kraft überzeugt. Man hörte sich gern reden, wurde von sich selbst fortgerissen und gerührt.

Aber er hatte das nicht abwarten können. Als ihm sein Liebstes auf Erden starb, gab es für ihn keinen Halt mehr. Wie sollte ein Verzweifelter trösten und helfen, der sich selbst nicht trösten und helfen kann. Er konnte keinen Segen bringen.

9 Dunkle Worte hatte er im Herzen gehört, als er am Sarge seiner Liebe stand:

Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben,
Hast du Begriff von Öd und Einsamkeit?
Nichts wirst du sehen in ewig leerer Ferne.

Wer das fühlt und davon erschüttert aus seiner Lebensbahn getrieben wird und ein ehrlicher Kerl ist, kann mit Glauben und übersinnlichen Erkenntnissen nicht das Brot verdienen.

Der Pfarrerssohn war wie in die ererbten, abgelegten Schuhe seines Vaters geschlüpft und hatte darin weitergehen wollen, und sie hatten ihm doch nicht gepaßt. Als er eine Strecke darin gegangen, begannen sie zu drücken, wund zu reiben. Jetzt hatte er sie ausgezogen und von sich geworfen und ging nun bloßfuß durch die dunkle Dorfstraße. –

Er stieg die kleine Erhöhung, auf der seine uralte Kirche stand, wundfüßig hinan. Um die massiven Mauern und den schweren Turm, der wie ein stumpfer Fels in den Himmel ragte, funkelten wie ausgegossen die ewigen Sterne, als wären sie eine Gloriole der getürmten Kirche – als wäre der ganze leuchtende Himmelsmantel nur da, um dies geheimnisreiche, nächtliche Mauerschattenwerk königlich zu umgeben.

Nichts konnte man sehen als den dunkeln, ragenden Schatten mitten in den Gestirnen.

10 Auch er sah das Wundersame. Noch nie vordem hatte er seine Kirche so geschaut, wie den Thron Gottes, mitten in dem um ihn kreisenden, leuchtenden Weltenmeer.

Der nächtliche Anblick erschauerte ihn. Er neigte den Kopf und ging langsam im dämmernden Sternenschein weiter. Vor einem kleinen Hügel machte er halt – ein Häufchen Erde, das ihm größer schien als der große Anblick seiner Sternenkirche – und auf dem armen kleinen Hügel brach er zusammen.

Und er umschlang die Erde, auf der ein feuchter Kranz lag, kühle Blätter, und legte seinen Kopf wie an der Liebsten Brust.

Und nun begann ein hilfloses Plaudern, wie von einem, der nach langem, langem Weg und schweren Kämpfen und Entsagungen endlich heimkommt, und die Liebste hält ihn tröstend umfangen und hört auf jeden Hauch, auf jedes Wort – und sie stießen zusammen in einem Weh und einer Liebe und einem Wissen und einem Trost.

»Und da ist's nun geschehen,« sagte er, »da bin ich nun vogelfrei – und wieder da – und da gehe ich nun mit unserem Kinde hinaus in die Welt – wir machen's schon, ängstige dich nicht, du Liebe.«

Nach einer Weile, leise, kaum flüsternd: »Und fühlst du die kleine Grube, die kleine Abflachung mitten auf meinem Haupt – die dich einst so erschreckte, in die du deine Fingerchen legtest, und wolltest mir nicht sagen, weshalb du 11 erschrakst – und schwiegst mitten im Lachen und küßtest die Stelle im Haar – und endlich und endlich sagtest du's: ›Weil bei dir Gott kein Häuschen hat. Da müßte eine Kuppel sein, ein Küppelchen für Gott,‹ sagtest du, ›fühl mich an, da ist's, drum bin ich ein Spatz mit rundem Köpfchen und lärm Gott schon in der Frühe an!‹

»O du einziger Spatz,« schluchzte er auf, »du Wonne, du, wo bist du hin! Du Allerweiseste, du Allerkindlichste.

»Und weißt du, was du noch sagtest: Ja, du lachst – weißt du es noch? ›Mach dir keinen Kummer ums Häuschen, bei dir ist Gott in jedem Äderchen, er braucht bei dir die kleine Kuppel nicht, nur schwer hast du es, ihn zu finden, du Armer.‹

»Ach ja! Wenn du wüßtest, wie schwer! Und nun hab' ich's getan – und bin verworfen worden, wärst du geblieben – wär's nicht geschehen!« Er schwieg; aber preßte seinen Kopf in die grünen Blätter, die feuchte Erde machte ihm Grauen.

So blieb er lange unter den Sternen, schaute nicht auf, sondern sah tief in die Erde hinein, verjagte mit wilder Kraft Tod und Verwesung und sah die Geliebte ruhen, jung und zart, als läge sie auf ihrem Lager neben ihm, ganz in Liebe gebettet, und müßte jeden Augenblick erwachen.

Und jetzt – was sah er jetzt – er sah wie ihr und sein Kindchen geboren wurde. Tief in der Erde war das 12 Stübchen, in dem er sie und sich erblickte, tief in der Erde, denn er war mit allen seinen Kräften jetzt in die Erde gebannt.

So ein trauliches Erdenstübchen seins und ihrs.

Angst spannte sein Herz. Wie sie rang! – Wie schwer das war – wie unglaublich. Welch ein Ereignis, dem Tode vergleichbar – herzerstarrend. Er sah auch eine gute, helfende Frau, die gleichmütig auf ihr und sein Leiden blickte, gleichmütig tätig und wissend.

Da hörte er seine eigene Stimme mitten aus der Angst seines Herzens heraus.

»Dorettchen, was machst du für Lärm. – Denk, es ist Herbst, die Bäume stehen mit Früchten beladen, eine Herrlichkeit – denk, Dorettchen, wenn sie so stöhnten wie du – wie furchtbar. Denke, wie schön, wie herrlich es ist, wenn alles Früchte trägt und Früchte gibt, Erde und Bäume – und auch du!«

Da lächelte die tätige Frau mitten in ihrer Hilfe und Bereitschaft. Und Dorettchen lächelte. »Schön, ja schön,« sagte sie bebend, »aber frage die Bäume!«

»Sie macht gar keinen Lärm,« antwortete die Frau, »das bißchen Stöhnen, eine Maus gegen den Berg der Qual.«

Wie das ihm ins Herz schnitt.

»Denke,« hörte er seine angstvolle Stimme wieder, »wenn du eine Elefantenmama wärst, Dorettchen, und du 13 dein Kind zwei Jahre tragen müßtest und dann gebären, und du nur die paar Monate und die Geburt ein paar Stündchen –«

»Bin auch ein winziger Spatz,« klang es im Erdenstübchen fast erlöschend.

Erdenbang fiel's in sein Herz.

Und im Erdenstübchen sah er – als sich sein Kind wie eine Wunderknospe entfaltend aus dem geheimnisvoll-leidvollen Mutterwesen rang – ein Wunder aller Wunder!

Die wissende Frau sagte: »Heilig und abermals heilig!«

Wie klang das tief, tief in der Erde, mitten unter den Toten, von denen keiner wiederkehrte und die in Geheimnissen begraben liegen. Damals war sie ihm nicht genommen, die Liebste, er durfte sich ihrer noch freuen, ihrer und des Kindchens.

Nun schwand das bange Bild mit all seinen Geheimnissen, und er lag wieder tief in der Erde am geliebten Herzen.

Und noch etwas flüsterte er leise: »Dorettchen, ich bin krank, ich weiß es nun – ich muß dir's sagen – krank – und nun ohne Heim – und unser Kindchen hat auch keins; aber ich schwör dir bei allem, was dir heilig ist, es soll eines haben.«

Nun lag er noch still wie außer Atem. Das Plaudern und Kosen und Vertrauen in die schwere Erden hinein war so lastvoll und kraftzehrend. Über ihm wogte der 14 nächtliche Sternenmantel und hüllte den Hügel, die Schattenmauern der Kirche auf ihrer Anhöhe und ihn selbst in Unergründlichkeiten ein.

Er erhob sich matt und ging die Stufen, die zur Dorfstraße führten, hinab.

Im ersten Haus, an dem der Kirchweg vorüberführte, war das Licht noch nicht gelöscht. Da liegt der Rotbauer noch immer mit seinem Übel. Nicht leben und nicht sterben können!

»Herr Paster!« Unter der Haustür stand wer. »Herr Paster, ich meen schon, 's geht dem Ende jetzt zu, treten Se ein, Herr Paster, ich bitte, un reden Se hibsch mit'n. 's is en bang, meim Alten.«

»Bin euer Paster nimmer.«

»Herr je! Ja, ja – ich wees ja schon, Gott sei's geklagt! – Ja – das hättn Se nich zu tun gebraucht. – Wir warn mit Se ganz zufrieden.

Goffee hat er getrunken. Mach mer'n Goffee, hat er ganz hin gesagt. Ich meen, 's kömmt ne Himmelfahrt.

Das hat der Vatter Selig schon so gemacht, mit eemal mit'n Goffee und auch mit der Himmelfahrt. – Das fiehlt eens so, Herr Paster.«

Und er ging mit und fand in dumpfer Stube einen hageren Bauern, dessen schwielige Hand er in der seinen gehalten, wenn sie einander begegnet waren. Er hatte von jeher für den Alten etwas übrig gehabt, weil der so ganz 15 und gar ein echter, harter Pflichtgetreuer war, mit Leib und Seele dem Hofe zugehörte, in schwerer Arbeit gebeugt ging und eine urweltliche Vornehmheit mit sich herumtrug.

Jetzt lag er und rang sich vom Hofe los, von seinen Äckern und dem Dunst der Ställe. Da mußte er freilich einen Goffee haben. Eine Himmelfahrt machen und vor Gottes Thron treten – das ist eine Reise, und ein alter Bauer reist nicht gern.

Dem jungen Pfarrer wurde es warm ums Herz, als er den tapferen Bauern so mutig und still sich losringen sah von Haus und Hof – und er nahm die schwielige, feuchte Hand, wie ein guter Sohn die Hand seines sterbenden Vaters nimmt, und streichelte sie und hielt sie herzlich sehr fest.

Nach einer ganzen Weile: »Schweigen, Herr Paster, is och geredt, jo – jo.«

Die Stimme war schon gebrochen und mühselig, und die Augen sahen nicht mehr. Es kam auch zu keinem weiteren Worte; aber es strömte in das Losringen und den harten Kampf des alten Bauern Hilfe ein, Ruhe, Liebe, die Liebe Gottes, das höchste Element, das durch alle Kreaturen fließt, ergoß sich durch den eigensinnigen, davongelaufenen jungen Emeritus in den scheidenden Menschen hinein.

Und auch der Pfarrer fühlte eine wunderliche Freiheit – fast wie die des Sterbenden. Das Amt fiel von ihm in 16 dieser wortlosen, segensvollen Stunde ganz ab, wie dem Bauern der Hof. Es war das Rechte und gut so, es gab zu überwinden, zu suchen, zu finden. So ging der Suchende mutiger seinem Heim wieder zu, das er aus freiem Willen aufgegeben hatte, gefestigter als er es vor wenigen Stunden leidenschaftlich verlassen hatte. 17

 


 << zurück weiter >>