Helene Böhlau
Eine zärtliche Seele
Helene Böhlau

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Neuntes Kapitel

Das Fledermäuschen liegt matt und abgespannt zu Bett. Dunkel und schwül ist es. Dorettchen hat mit dem Doktor das Nachtmahl im Speisezimmer eingenommen. Die Lampe brennt schon. Urschi hat abgeräumt.

Der Doktor geht im Zimmer auf und nieder. Dorettchen schreibt beim Schein der Lampe. Doktor Hönigsmann diktiert ihr ein kurzes Gutachten in irgendeiner ärztlichen Angelegenheit; aber seit geraumer Zeit schon ist eine Pause eingetreten.

Er geht schweigend auf und nieder. Die Blicke Dorettchens folgen ihm, als wartet sie auf die Fortsetzung des Diktats. Sie dringen in ihn ein; sie ist wie gebannt. Es geht da etwas auf und nieder, was sie beängstigt. Sie fühlt Dunkles, sie Bedrohendes, – sieht den Doktor kaum, fühlt nur Kräfte, die sich um sie bewegen.

Im Traum fühlt man so: Etwas ist uns nahe, was gestaltlos uns umgibt; was wir als unheimliche Macht mit Schauer empfinden.

Diese Kräftezusammenfassung, die von Doktor Hönigsmanns Körperlichkeit gehalten wird, doch über sie 186 hinauswogt, daß er gewissermaßen nur als Kern in etwas Ausgebreitetem steckt, ist sehr erregt.

Das wie im Licht verschwimmende Wesen im Lampenschein irritiert ihn auf das Heftigste. Die pfirsichfarbene, goldene Weichheit lockt ihn, als wäre er verschmachtet, wie eine durststillende, lebendige Flut. Hilfe, Erquickung, nur in dieser rosig-goldenen Weichheit. – Aber Teufel auch!

So rennt er auf und ab, der Doktor Hönigsmann, der sein starres, trockenes Wesen hochschätzt, als die beste Lebensversicherung – und der doch aus Erfahrung weiß, wie alles trockene Zunderwerk hin und wieder aufbrennen kann.

Eine Bewegung, ein Wort des Weiß-Rosig-Goldenen kann wie ein Windstoß die Flamme, die ausbrechen will, wecken.

Dorettchen sitzt wie gebannt. Der wilde, harte Handkuß, das Festgehaltensein ihrer beiden Hände und damit ihres ganzen Wesens hatte sie vor Tagen erschreckt. – Aber jetzt: die Stille im Zimmer, der rastlose Mann – jetzt erst wirkt der Schreck nach. Jetzt erst kommt Klarheit. Sie hätte gehen müssen – sie hätte gleich gehen müssen . . . – – Und sie erhebt sich, wie von Gedanken aufgeschreckt. – Und fühlt sich an des Mannes Brust gerissen und mit harten, heißen Küssen bedeckt. Von Leidenschaft überflutet, so unentrinnbar gepackt, als hätte ein Unglückseliger sich über sie 187 gestürzt, ein grenzenlos Einsamer, Verlassener, der sie trinken und essen will als einziges Heil seiner verstoßenen Seele –. Da grauste es sie vor dieser schweren, trüben Glut.

Sie findet Kraft, sich loszureißen und stürzt durch dunkle Räume in die Stube der Mutter. – Allein kann sie nicht sein.

Sie stürzt an das Bett, verbirgt ihr Gesicht zitternd in die Kissen. – Und das Fledermäuschen, das zarte, wissende Muttertier, erfühlt alles – weiß alles.

Die kleine, harte Hand mit der durchsichtigen, von starken blauen Adern durchsetzten Haut, legt sich auf des Kindes goldenes Häuptlein wie auf ein Eigentum.

Was er wünscht, soll ihm sein.

So hat sie dem Sohn jedes, was ihm als Glück erschien, jeden Kauf, jeden äußeren Lebensfortschritt, jede Übervorteilung des anderen, jeden günstigen oder törichten Erwerb, jede Leidenschaft seiner Sinne, die Erfüllung jeder Habsucht für ihn vom Himmel herabgezerrt. Und dafür von ihm, für den sie ihre magischen Kräfte strömen ließ, das dunkle, böse Heiligenbild erhalten.

Wir sollen aber für die, die wir lieben, nur um Reinheit und Frieden der Seele bitten – um nichts mehr. Und zum Frieden der Seele gehört auch: Unser täglich Brot gib uns heute.

Das alles aber wußte die arme, liebende, unersättliche 188 Seele nicht. Selbst für sich keinen Wunsch – alles dem Sohne, dem Leibeigenen.

Unbewußt ihrer selbst und ihres gottfernen Treibens, lebte sie dahin, wie in Entrücktheit, opferfroh, hingegeben. Die große, schwere Anklage des dunkeln Bildes wußte sie nicht.

Und das geängstigte Kind, das seine junge, heilige Liebe und den unerbittlichen Schmerz im Herzen trug, verfing sich wie im Traum in den liebenden, heischenden, magischen Fäden, die die Mutter um sie webte und spann, in tiefen nächtlichen Stunden. Sie hört von heiligen Pflichten, von Erlösungen, die ihr auferlegt seien, von Opfern, die sie bringen sollte. Der lichtlose, mürrische Mann ist ein Bettler des Lebens, unfroh, wie ausgestoßen. Unermüdlich ist das liebende, ekstatische alte Stimmchen.

Ja, und jetzt denkt das Kind an den armseligen Bettler, den sie geküßt, der mit ihrem Kuß und ihrem Stückchen Zucker beglückt fortzog. Onkel Kantioler sagte: »durch Rosenlauben«. Jahre hatte sie nicht mehr daran gedacht.

Eine große Last fällt ihr aufs Herz: Was wollen die Bettler, die Elenden, die Armseligen von ihr?

Und das Fledermäuschen sagt bebend:

»Du wirst einen Sohn haben – und du wirst die Frau meines Sohnes sein! – Kind, einen Sohn haben!«

Da lag der ganze wunderliche, leidvolle Jubel der armen Magierin offen dar, die ihre Welt sich mühselig selbst 189 geschaffen, an die sie glaubte, wie wir alle an unsere eigene Welt glauben.

»Ein Mann,« flüsterte das alte, zarte Weib, wie tiefstes Geheimnis, »ein Mann kommt durch die Tür – Aber ein Sohn – Ist da! Ist da! Wie ein Wunder! War immer da – du wirst einen Sohn haben – denk dir das –!«

Todmüde wankte Dorettchen in ihre Stube. Vordem hat sie mitleidig die durchsichtige Hand der kleinen, alten Mutter geküßt.

Als sie ihr Zimmer angstvoll hinter sich geschlossen, tritt der Sohn bei der Mutter ein.

»Misch dich doch um Gottes willen nicht in meine Angelegenheiten, liebe Mutter! Was denkst du dir denn? – Heiraten – das fehlte –! Die kleine leichtsinnige Person? –«

»Wenn du sie willst – wirst du sie heiraten müssen.«

Das sagte die Mutter leise wie ein Hauch, denn ihm zu widerstehen, fehlten ihr alle körperlichen und geistigen Kräfte.

 

So ein Haus hat einen mächtigen Sog, das ist Onkel Kantiolers Meinung – und das Haus hat wirklich das gute Kind eingesogen mit Haut und Haar. Ohne den eigentlichen Willen aller, die im Hause leben, ist sie Frau Doktor Hönigsmann geworden; Fledermäuschen, das keinen Willen 190 für sich besaß – der Doktor selbst war in den Sog geraten. Er hatte es anders gewollt – das Haus hatte gesogen und das gute Kind gefaßt und eingeschluckt.

Niemand hätte sagen können, wie eigentlich alles geschah. Aber es war geschehen, wie alle Dinge auf Erden sich zutragen im Trüben, Unbewußten, im Tasten und Fürwahrhalten im Schlaf des Lebens, aus dem selten einer auf Augenblicke wach wird.

 

Hätte Doktor Hönigsmann ahnen können, daß das Rosig-Weiße, das nun neben ihm im uralten Ehebett lag, welches von Goldschnitzerei und geheimnisvoll düsterer Pracht vergangener Generationen starrte, daß das Zarte, Rosig-Weiße geradeswegs aus dem Paradies der Liebe kam, aus Göttlichkeiten der Liebe und des Schmerzes – er hätte schamrot werden müssen, seiner abgebrauchten, in schwelende Flammen gesetzten Gefühle halber, die dem Gast aus einer anderen Welt, den er gnädig in seinem prunkvollen Ehebett aufgenommen hatte als sein angetrautes Weib, Schrecken bereiteten und Hilflosigkeiten.

Dorettchen hielt sich angstvoll an Fledermäuschens ekstatische Bitten: »Er braucht dich! Er ist einsam – ein Bettler – verlassen. Ich gehe bald von ihm – wen hat er dann? Dich schickte Gott!«

Während die Menschen im alten Haus einander 191 quälten, einander erschreckten, sich als Unheimlichkeiten spürten, keiner dem anderen geheuer war, keiner den anderen verstand, nichts voneinander wußten, sich nicht liebten – und, was Liebe schien, als dunkler Trieb sich zeigte, der Widerstreben und Traurigkeit brachte –, brausten die grauenvollen Züge von der Grenze her, am alten Haus vorüber Tag und Nacht – und noch grauenvollere, mit den jüngsten der Männeropfer und den fürchterlichsten, noch gebundenen Zerstörungs- und Vertilgungskräften, der Grenze zu, Tag und Nacht erschütterten die Grundmauern des Hauses, das Bett der alten Frau und das prunkvolle Ehebett, in dem auch Zwiespalt herrschte wie überall auf Erden.

Über dem ganzen Land, das sonst das gesegnete war, liegt jahrelang schon große Not. Die Menschen hungern, es fehlt mehr und mehr an Brot, am täglichen, heiligen Brot. Die Herzen schlagen bedrückt und geängstigt. Man wird krank, nervös, abgespannt.

Doktor Hönigsmann hatte in seinem Krankenhaus schwer zu tun. Das Städtchen bekam seinen Teil an Gefangenen, Verwundeten. Überall gab es Arbeit und Durcheinander.

Dorettchen wollte ihm helfen.

»Geh,« sagte er, »schau auf Ordnung im Haus! Da fehlt's weit, Arbeit an dir ist viel nötiger als deine Mückenhilfe im Krankenhaus. Glaub mir, du bist ein 192 sonderbarer Vogel – als Hausfrau doch etwas fragwürdig. Siehst aus wie der schönste Betthas – und man sollte es auch meinen, liebes Kind. Sieh, daß im Haus alles zu seinem Rechte kommt – und auch der Herr Gemahl, mei Liabe, sagen sie hier.«

Das alles war eilig, während er den Hut aufsetzte und die Treppe herabgehen wollte, gebrummt. Noch im Heruntergehen strich er mit der Hand über das Treppengeländer und hob die bestaubte Hand in die Höhe: »Da, sieh! Paßt doch etwas besser auf! Besonders hübsch und sehr empfehlend in einem Doktorhaus!« Nun warf er noch die Türe ins Schloß. Er hatte überzahlt, das besiegelte der ehemännliche Donnerschlag.

Macht gar nichts, daß es heraus ist! denkt er. Ihr sehr gesund. Diese Götzenbilder, die schönen jungen Weiber! –

Er ging befreiter als seit langer Zeit seines Wegs.

Die Gescholtene stand betroffen, unbeweglich, als er schon weit entfernt war. Sie wollte gut sein. – Ja, das wollte sie. So holte sie ein Wischtuch und säuberte das Geländer. Ja, das sah schlimm aus – und die Säulen und dunklen Knäufe voller Staub. Sie sah doch auch gar nichts!

Ob man erst sehen lernen muß? Sie ging durch die Zimmer mit ihrem Tuch, wischte da und dort, sah unter die Schränke und fuhr mit der Hand darunter und bekam allerhand zu fassen: Spinnwebartiges, Wolkiges.

193 Dann ging sie hinunter zu den Mädchen, sie schalt aber nicht und sagte: »Wir müssen stöbern.«

Urschi und Leni sahen sie kühl an, kauten an einem guten zweiten Frühstück; denn im Hause des Doktors war der Mangel nicht so groß wie in anderen Häusern.

»So aus heiterem Himmel?« fragte Urschi mißgelaunt. »Na – und wo nehmen wir die Lauge her? Stöbern können wir erst, wenn gewaschen ist.«

»Aber wir können doch etwas besser unter den Schränken vorwischen. Ich will mithelfen.« Da lächelten sie beide, und schauten feindselig. »Heut kann nicht gestöbert werden! Frau Doktor haben vergessen, daß wir Wäsche einweichten.«

Dorettchen drang nicht durch – bat um einen Eimer und Putzlumpen, den Urschi sehr belustigt hinauf ins Wohnzimmer trug.

»Des ischt oane – statt mir an Tuifel zu machen! Gell ja? 's ischt koa Weib fürn Doktor. Daß es de goar nöt druckt! I hab mer's denkt. – Gell, ja?« Leni meinte genau dasselbe.

»Gar so viel unfein ischt's für den Mo mit de zwoa Weiberleut. Die guaten Zeiten san bal vorüber, gar so viel jung ischt er nimma, – pfiat di Gott!«

Dorettchen stöberte im Wohnzimmer auf ihre Weise, so wie sie einst ihr Stübchen rein gehalten hatte. Nicht gerade kunstgerecht – aber es wurde sauber, wenn auch nicht 194 mit der ganzen Kraft des Gespanns, wenn dieses die Kräfte zu großen Tagen und Taten einmal losließ.

Ja, sie wollte gut sein – sie wollte ihm helfen. Er sollte mit ihr zufrieden sein – ach, in was hatte sie sich begeben! – Wie angst ihr war – sein Schelten hatte sie geweckt aus dem tiefen Lebensschlaf, in dem wir unsere Traumhandlungen tun. Gehen hätte sie müssen – gehen! Was hatte sie denn gedacht? – Und er, den sie liebte, lag tief im Eis der Marmalatagletscher verschüttet und begraben und würde ewig jung und schön bleiben – und immer würde sie ihn lieben – und ewig würde er schlafend hier auf Erden gegenwärtig sein.

Der Doktor war kein Bettler, der sie brauchte, der ohne sie verkam – o gar nicht! Was hatte denn die Mutter gewollt, daß sie sich opfern, daß sie ihn retten sollte? – Dunkel war er wie die meisten Menschen, dunkel wie seine eigene Mutter und Dorettchens Vater, wie sie selbst – dunkel auf dieser verlorenen Erde. Das mußten alle tragen.

Seine Liebe war nur ein heißer, föhniger Windstoß gewesen, der Kälte brachte. Er war kein Bettler, der durch Rosenlauben zog wie jener.

Aber in dieser Nacht schmiegte sie sich an ihn; sie wollte nicht wieder gescholten sein.

»Weehste Dorettchen,« – es war ihm geblieben aus seiner norddeutschen Jugend, »da kommst de nun – und 195 ich hab den Kopf voll zum Bersten. Will ich dich, haben wir ne Leiche, kühl und frostig. Nun, heut zum erstenmal! – Keine Spur von Einfühlung! Ein Barometer bist du sicher nicht.«

Er wendete ihr den Rücken und ward ins Reich der Träume versetzt.

Beschämt lag sie, verrannt und in die Irre gelaufen.

 

Drückend und schwer lastet die Zeit und ihre Ereignisse auf den Menschen. Jahr um Jahr ist vergangen in Erregung, Kargheit, Angst und Sorgen.

Gerüchte von einem kommenden schlimmen Ende werden hier und da laut. Das enge Städtchen faßt die Leute nicht – so viel Gefangene, Verkrüppelte, Verwundete. Die Baracken sind vollgepfropft, Russen und Serben drängen sich in der engen, schattigen Hauptgasse. Streitsüchtig und einander bös gesinnt. Fremde Laute, fremde Gestalten aller Art. Und alle fressen, was an Lebensmitteln in der Gegend sich auftreiben läßt; leiden selbst Not und bringen Not und Elend, Hunger und Entkräftung ins Land.

Es ist, als schlösse sich immer enger, immer enger ein Kreis um jedes Haus, um jeden einzelnen; als müßte schließlich der Hunger alles niederzwingen.

Doktor Hönigsmann hatte über die Kräfte in seinem Krankenhaus, in den Baracken zu tun und tat, was er tun mußte trocken, kühl, selbstverständlich.

196 Dorettchen wischte und arbeitet im Haus; die Mädchen lachten.

Sie pflegte die Mutter, die seit Wochen kränkelte, lag nachts ängstlich im uralten, prunkhaften Ehebett neben dem Doktor und wußte nicht was tun – ob reden, ob schweigen; ruhte zusammengefaßt in ihrer Schlankheit wie ein zartes Kunstwerk, fast vergessen von dem fremden Mann, neben dem sie lag. – –

 

Ein schmales junges Kastanienwäldchen trennte das Bahngeleise vom alten Haus Doktor Hönigsmanns, dort hielten die Züge der Verwundeten seit einiger Zeit.

Da ließ es Dorettchen nicht ruhen, was sie auch zu tun hatte. Sie lief hinunter, sah, verborgen von den schwebenden Kastanienzweigen, durch die großen offenen Schiebtüren der Waggons die Verwundeten liegen, die todblassen, verheerten Gesichter, in denen etwas stand, was sie nie vergessen würde, was aussah wie ein Ausgelöschtsein aller Begeisterungen und alles Lebens. Es sprach zu ihr, wie wenn es sagen wollte: Was wir jetzt wissen und gesehen und erlebt haben, das werdet ihr daheim nie wissen – und das scheidet uns von euch lebenslang. –

Und in jedem, den sie sah, sah sie den Verlorenen und trug seine Not und sein Ausgelöschtsein.

So tat sie es Tag um Tag, Woche um Woche. Und die stille, stumme Schau in das ungeheure Leid der Erde 197 erweckte in ihrem einsamen Herzen eine Flamme des Mitleids – eine Flamme der Liebe, die über ihr Herz hinausschlug, an der sie zu verbrennen glaubte in einer wundersamen Auflösung. Ja sie träumte nachts, daß sie ganz zu Liebe wurde, keinen Körper hätte und brannte, als wenn sie selbst Liebesfeuer geworden wäre. Es war ihr, als säße sie vor einer Mauer aus Schmerzen.

Und sie dachte dunkel: Die Menschen finden Gott nie – sie sind ganz gottlos, trotz aller Kirchen und Pfarrer; aber sie können zu Liebe werden.

Nach einer solchen Traumnacht neben dem fremden Mann, der sich ganz in sich selbst eingeriegelt und das junge Geschöpf neben sich fast vergessen hatte, ging sie auf dem Wege, der am Hause vorüberführte. Es war ein schöner Morgen.

Da begegnete ihr ein seltsam stiller Zug. Von weitem schon hörte sie ein endloses Trappeln, ein Schnaufen, wie Seufzer – und sie mußte beiseite treten, denn es kam ein langer Zug von Pferden – nicht endenwollend Pferde, schwere Ackerpferde, zug- und pfluggewohnte, leichtere, tänzelnde, ganz junge – und daneben, schweigend, finster ein Bauer. Der brachte das schwere, letzte Opfer der Berghöfe, er brachte die Pferde, die stillen Helfer bei der Arbeit, wie die letzten Söhne daher.

So zogen sie vorüber, ohne Laut, ohne Sang und Klang ins ungewisse, zur Opferung. Sie, die armen, hörigen 198 Tiere, die den Menschen anhangen, und ihm unterworfen, schlechten Lohn empfangen.

Ein alter Bauer, der auch des Wegs daherkam, entblößte ehrfürchtig sein Haupt, als der trappelnde Zug der zu Opfernden an ihm vorüberkam – und helle Tränen liefen ihm über das dunkle, gefurchte Gesicht.

Auf Dorettchen stürzten die Rätsel der Welt in so gewaltigen Bildern ein, daß das schwache Geschöpf mit dem suchenden, brennenden Herzen, das als Erbteil ihres Vaters in ihr bang und fragend schlug, wie von Stürmen gefaßt war.

Die Zeit hatte alle Verhänge und Hüllen fortgerissen, und was an ihr täglich vorüberzog, starrte sie an, wie aus der Urwelt und dem Chaos heraus, über das noch kein Licht aufgegangen war.

 

An diesem Abend saß Dorettchen in einer Weinlaube des terrassenförmigen Parks, nahe am Haus. Ein herrlicher Spätherbstabend. Sie sah, wie Urschi am Spalier späte Goldbirnen pflückte, in einen Korb tat und mit Wohlgefallen in eine große, goldene Frucht biß, daß ihr der Saft von den vollen Lippen troff.

Wie sie so urwüchsig, stark und gesund, von der Sonne gebräunt im Abendlicht stand, war Urschi schön, ganz Wohlbehagen und Genuß.

Dorettchen blickte sie erstaunt an: So schien sie kein 199 dienstbarer, tückischer Geist – aber ein Weib, dem es wohl war.

Doktor Hönigsmann kam des Wegs daher, blieb bei Urschi stehen, nahm eine Goldbirne aus dem Korbe, reichte Urschi eine, die bei seinem Nahen den Rest ihrer Frucht ins Gras geworfen hatte, und sie bissen beide in warme, süße Herrlichkeit hinein, beide ganz Genuß und Behagen.

Er legte ihr den Arm um die Schulter, hob ihr das Kinn und küßte sie auf den von Fruchtsaft übersprudelnden Mund. Sie lachte. Er wurde sehr übermütig, ganz umgewandelt.

Sie sträubte sich ein wenig, schlug ihn scherzend auf die Hand. »Sie sein an Schlimmer, Herr Doktor!« Wie Urschi lachte – wie ihr wohl war – so fischwohl – wie sie schnalzte!

»Nach der Arbeit will einer so was!« lachte der Doktor trocken und volksmäßig auf. Auch ihm schien wohl zu sein. Und er sah aus wie ein Herrenreiter – So etwas lieben die Mädchen.

Sie gingen dann miteinander und trugen den Korb, und beide langten sich wieder eine Frucht und bissen tüchtig hinein.

Beim Abendessen servierte Urschi mit viel Würde. Um ihren Mund spielte ein sonderbares Lächeln, wenn sie auf die junge Frau blickte.

200 Als der Doktor sich erhob, um in sein Arbeitszimmer zu gehen, sagte Dorettchen: »Ich will heut nacht bei der Mutter schlafen, die ist so angegriffen.«

»Tu das, Dorette.«

Das Fledermäuschen war matt, lag still in den Kissen. Es schien eine große Müdigkeit über sie gekommen zu sein, als sie ihren Sohn versorgt und verheiratet wußte.

»Du willst bei mir schlafen, Kind? – Das ist nicht nötig. Weshalb ihn verlassen? Mir ist ganz wohl.«

»Doch. Laß mich bei dir!«

Dorettchen richtete ihr Bett im Kämmerchen neben den zwei Zimmern der Mutter. Jetzt lebte und schlief diese ganz im Wohnzimmer. Sie wünschte von den Dingen, die sie liebte, Tag und Nacht umgeben zu sein, als wollte sie Abschied nehmen.

»Nun?« fragte sie, »wünschst du dir keinen Sohn?«

»Nein, Mutter.«

»Das ist nicht gut. Eine Frau muß den Mann, der durch die Türe kam, lieben, dann ist das Wunder, der Sohn, auch da – der immer da war.« Sie sprach wie im Traum, und bald darauf schlief sie ein.

Dorettchen aber streckte sich in der stillen Kammer in ihrem Bett wohlig aus. Wie schön das war – allein! Sie tastete mit den Händen um sich – es war so kühl, die reinen frischen Tücher, und eine Stille in ihr – eine Stille um sie her. – »Ruhig – ruhig –« sagte sie, dachte 201 an den trappelnden Zug, an den alten Bauer, der ehrfürchtig den Hut abnahm vor den Pferden, als wären es die jungen Söhne der Bauern.

Und wieder spürte sie die Liebesflamme in ihrem Herzen, ja – wie sie ganz zu Liebe wurde.

Es war Wunderbares.

Sie sah, wie Urschi die Goldbirne naschte, wie sie sich küssen ließ, wie der Mann sie umschlang und wie beide voll Genuß in die Früchte bissen und der Saft ihnen über die Lippen rann.

Sie sah auch, wie Urschi sie bei Tische anlächelte. – War das nicht unendlich lang schon her?

Und wie sie so lag und die Einsamkeit mild über sie hin strich, fuhr schwüler Föhnsturm auf und kam wie aus der Ewigkeit daher.

Die Bäume rauschten im Park wie ein nächtliches Meer, die Dunkelheit ungeheuer, und der Donner hob seine Löwenstimme. Königlich kamen die Herrlichkeiten des Hochgewitters, wie aus einem urgewaltigen Herzen unfaßbarer Glut.

An Dorettchen in ihren weißen frischen Tüchern ging die große Herrlichkeit am weit geöffneten Fenster vorüber, die rauschend-donnernde Schönheit.

Ihr Herz war ganz aufgetan.

Ahndungsvoll, wie eine Offenbarung, überflutete und überdröhnte es draußen alles Sein, und in ihrer kleinen Kammer fühlte sie sich sehr geborgen.

202 Da fielen ihre Blicke auf ein zartes Wesen, weiß und hauchhaft, das aus der donnernden Dunkelheit, angezogen vom Kerzenschein, hereingeflattert war und auf dem weißen Leinentuch von seinem Fluge ruhte. Sie schaute auf den winzigen Gast. Zarte, weiße Flüglein – aber welches Wunder! So klein und zart – doch königlich war es angetan, das Geschöpf aus der dunkeln Nacht.

Sie schaute und schaute. Einen Überschwang an Schönheit trug es auf den lichten Flügeln, Linien von unsagbarer Geistigkeit. Ein dunkles Pünktchen saß, als hätte es nicht köstlicher sein können, an der rechten Stelle, um alle Erstaunlichkeit der kunstvoll verschlungenen Linien zu betonen. Auf dem schmalen Körper funkelte es wie Diamanten. Alles so einzig hergestellt, wie keines Menschen Werk je sein kann – so ungehemmt vollendet.

Und das kam aus tiefer, tiefer Nacht hereingeflattert! War für Nacht und Dunkelheit geschaffen, für keines Menschen Auge!

Schauer überrannen sie.

Die tobende, ungeheuer rauschende Pracht draußen, die wie aus einem urgewaltigen Herzen strömte, der überirdisch geschmückte Bote aus der donnernden Nacht, für Nacht und Dunkel mit solcher Schönheitsglut geschaffen, dies ließ in ihr ein seltsam fremdes Gefühl von Geborgensein aufkommen. Sie schmiegte sich in ihre Kissen wie ein Kind.

203 Es war ihr so wohlig, so lebenssicher. Eine stille Freude quoll in ihrem Herzen auf, wie eine neue Quelle.

Sie löschte das Licht, damit der schöne Bote sich nicht verbrannte. Im Einschlummern dachte sie daran, wie ihr Vater von den Geheimnissen der kleinen Blüten erzählt hatte, von den Geheimnissen, die kein bloßes menschliches Auge sehen kann und über die die Füße der Menschen gleichgültig gehen. Alle Tempelpracht der Welt ist mit ihrer Kostbarkeit und Herrlichkeit nicht zu vergleichen; alle Kleinodien der Welt sind grobes Gestein gegen die funkelnde Pracht ihrer Kelche. Tempel, die kein Auge sieht, Paläste und strahlende Wunder, die über alles Menschliche hinausgehen, verbergen die kleinen Blüten in sich seit Ewigkeiten.

So schlummerte sie unter Donner, Sturm und Rauschen des Hochgewitters ein, im Eindruck der unergründlich ewigen Kunstwerke und gewaltigen Mächte der Erde. –

 

Dorettchen hat am anderen strahlenden Spätherbstmorgen die Mutter wohlversorgt und ihr beim Aufstehen geholfen. Die Mutter sollte aufstehen. Es war nicht gut wenn sie tagelang zu Bette lag. Dann hatte sie ihre Anordnungen in der Küche gegeben und sich von Urschi und Leni neugierig betrachten lassen. Urschi hatte geplaudert.

Dann ging Dorettchen wie beflügelt. Sie wollte helfen, ließ sich nicht mehr zurückhalten, hatte einen Korb mit den 204 reifsten, schönsten Birnen gefüllt, an dem sie schwer tragen mußte, und ging ihrem Ziele zu.

Unaufhörliches Glockengeläut – Sturmgeläut. Die Züge brachten in diesen Tagen die letzten Männer des Landes, das letzte Aufgebot. Alle Frauen und Kinder belagerten den Bahnhof, waren bis an die Schienen gedrungen. Furchtbar war der Eindruck der traurigen, armen Menschen. Jeder wollte den hier Rastenden etwas zuliebe tun. Sie brachten ihre letzten guten Bissen, karge Krüglein Wein, ihr heiliges Brot. Es war, als zitterte die Luft von all den schlagenden ergriffenen Herzen.

Die Männer, die aus dem Zuge gestiegen waren, um ihre Glieder zu recken, um aufzuatmen, ehe die rasende Schnelligkeit sie weiter zu Verderben und Tod trug, wurden bedrängt von all den erschütterten Leuten.

Ein paar alte Männer schufen Platz, damit sich die Erschöpften rühren konnten. Da kam ein junges Geschöpf, durchbrach die Menschenreihen und bot Früchte, reichte sie hin mit Tränen in den Augen. Alle ergriffen von dem furchtbaren Glockengeläut und dem dröhnenden Ernst der Stunde. Ergriffen waren auch die jungen und alten Männer, die dem Tod so würdevoll entgegengingen, von dem Anblick des schönen weißen Mädchens, das ihnen die Früchte bot – wie das Leben selbst, wie die Liebe, wie alle Schönheiten der Erde, die sie lassen mußten.

Und da kam es, daß einige der Männer sich dem 205 Mädchen näherten, wie ehrfürchtig die Hände ausstreckten nach den rosigen Früchten. Aber es sagten einige von ihnen: »Segne uns!«

»Gib uns,« sagte einer – »den Abschiedskuß!« Und sie küßte sie, hingegeben unter heißen Tränen, und jeden, als küßte sie den Verlorenen, im furchtbaren Menschenkrieg Verschwundenen.

Den Alten wie den Jungen war es zumute, als wären sie zum erstenmal von der Geliebten geküßt.

Erschauernd und ehrfürchtig gingen sie und wußten nicht, waren sie vom Tode oder vom Leben geküßt – und bestiegen ihren Zug, als hätten sie eine Weihe empfangen.

Die Leute hatten stumm, fast erschrocken geschaut. Arme und Tücher winkten aus dem Zug. Hilflos flossen Tränen.

Eine Stimme aus der Menschenmenge rief lachend: »Hascht du unsre Frau gesehen!?«

Wer aber kam auf das ganz erschütterte Geschöpf zugeschwenkt? Onkel Kantioler, der sich seit Dorettchens Verheiratung ferngehalten. Dem war es jetzt, als sei sie wieder sein Kind geworden. Wie er sie so ganz frei unter den Blicken der Leute einsam stehen sah, wußte er das – da war nichts Fremdes mehr an ihr.

Er brachte sie nach Hause, und sie schwiegen beide miteinander. Aber daß sie schwiegen, war beredter als alles, was sie hätten sagen können. 206

 


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