Helene Böhlau
Die kleine Goethemutter
Helene Böhlau

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Zehntes Kapitel

Ein Zadik sieht Wunder und Zeichen. – Madam Schaket bäckt Kuchen. – Der rote Rockelor hängt stolz auf der Stuhllehne. – In Madam Schakets Stube beginnen sich Seligkeiten auszubreiten. – Beth sieht Rosen um Herrn Schakets Körperlichkeit. – Beth hält einen nicht fest, der aus dem Leben gehen will. – Ein Reifesturm geht mächtig durch ein junges Bäumchen

No,« sagte Kreischhuhn Jakob zu Beth, »hab ich's euch nit gesagt, ihr könnt vielleicht den Andres kennelerne? Das wär so was.«

Kreischhuhn Jakob hatte den beiden vor der Schule aufgelauert, traf aber nur Beth. Ja, und er wollte sie zum Andres führen, und zwar morgen schon. Sie sollten ihn am Tor der Judengasse erwarten.

»Sie habe den Vatter vom Andres freigebe müsse, und da werd's hoch hergehe, da könnt ihr den Andres spiele und pfeife höre.«

Ja, das war der Beth sehr recht.

»Aber auf de Stunne müßt ihr komme, ich kann ach net warte, und nach Sonnenuntergang werd 's Tor geschlosse.«

Nein, sie wollten pünktlich kommen.

*

154 Und das geschah auch mit Bangen. In der Judengasse, die nach Sonnenuntergang mit einem hohen Tor verschlossen wurde und Sonntags und Feiertags den ganzen Tag, hatten sie schon hin und wieder durch die Ritzen des schauerlichen Tores geblickt.

Wo sie gestanden, war es soweit hell und luftig gewesen, aber in der verschlossenen Gasse mit den hohen Häusern gingen traurige Gestalten in dumpfer Luft. Aus der Gosse, die durch die Enge floß, stiegen widerliche Dünste auf, aus den Fenstern sah man Köpfe schauen, die an der armseligen Luft ihres elenden Gefängnisses, das an die achttausend umschloß, sich erlaben wollten, und ein Gemurmel war hörbar wie in einem Bienenschwarm, denn in der engen, langen, dunkeln Schlucht bewegten sich eine große Anzahl Menschen.

Jeder der Zusammengepferchten hatte irgend etwas zu tun, zu holen, zu besorgen, zu bereden. So gab es auch immer Schaulustige an den traurigen Toren, die neugierig auf das Elend ihrer eingesperrten Mitbürger gern einmal im Vorübergehen einen Blick warfen.

Beth und die Schwester hatten auch schon dort gestanden und in das geheimnisvolle Treiben geschaut. Niemand dachte sich etwas dabei, es war so seit undenklichen Zeiten.

Wenn über der ganzen Stadt Sonntags- und Festtagsfreude lag, die Bürger hinauszogen aufs Land oder auf die Stadttürme stiegen, um ins Land zu schauen, oder zum 155 Kringelbrünnche gingen, vor das Schaumaintor, ins Kirschenwäldche, ans Stallburgsbrünnche, auf die Pfingstwiese, auf den Schneiderwall, hinter die Schlimme Mauer, zum Mainzer Törchen, hinaus auch auf der Äpfelbaumallee nach Oberrad und Offenbach oder auf den Sandhof per Schiffchen, kurz, es sich wohl sein ließen an allen erdenklichen Pläsierorten und auf Lustpartien zu Wasser und zu Lande, hielten sie die Juden in der trostlosen Gassenschlucht hinter mächtigen Toren in böser Dämmerung und Fäulnis eingesperrt.

Vollgepfropft mit Leid, Bitternis, Bedrücktheit, allen Übeln und mächtigen Verlangen schlug das Leben dieser Judengasse mitten in der alten Freien Reichsstadt, wie ein dunkles, düsteres Herz.

Niemand hörte das Klopfen dieses gramvollen Herzens.

 

Am Tore wartete Kreischhuhn Jakob auf die Mädchen.

Sie kamen langsam und zögernd. Daheim wußten sie nichts von ihrem Vorhaben. In die Judengasse selbst hatten sie sich nie gewagt, so vertraut ihnen das Leben sonst auf den Gassen der alten Stadt war.

Man sprach von der Judengasse in raunendem Ton. Kaum wurde der Name genannt, standen ungeheuerliche Bilder auf, die Gottesmörder, die geheimnisvoll Ewigen, die nicht vergingen wie andere Völker, die mehr wußten und kannten wie gewöhnliche Menschen, Zauber und Fluch – 156 Geheimnisse dunkler Art, die Gold zu machen verstanden und unerhörte Feste hinter den hohen Toren feierten. Musik und Gesang klang mitternächtig, von Geheimnis umwittert, aus der Schlucht, in die Tausende von Menschen eng gebannt waren.

Von köstlichen fremden Speisen wurde geflüstert und daß sie zuzeiten in Sterbekleidern in ihren Gassen gingen. Daß König David unter ihnen erschiene in jahrtausendalter Herrlichkeit, daß dann die Gasse weit und prächtig würde, Palast an Palast, und der Tempel Jehovas an Stelle der uralten Schule stand.

 

Für die Kinder war die alte Judengasse ein verschlossenes Märchen. Sie hielten sich an die fröhlichen Bilder der alten Häuser in der Freien Reichsstadt.

Das Leben in Gassen und Straßen jener Tage trat deutlicher und stärker hervor wie unser öffentliches Leben heute. Es gab unendlich mehr zu sehen und zu hören. Die armen Sünder erlitten ihre Strafen damals in voller Öffentlichkeit. Am Pranger standen die liederlichen Weiberleute und wurden verhöhnt, die Stadtsoldaten wurden vor der Hauptwache gestäubt, oder sie mußten auf dem scharfen Esel reiten, zum Gaudium des Pöbels und der Kinder. Die Waisen zogen wie zur Kirche zu Hinrichtungen und Prügelstrafen. Tauf- und Hochzeitszüge waren eine köstliche Schau, verprügelte, schreiende Juden gab's trotz aller Strafen dafür zu 157 jeder Zeit, wenn sich einer etwa in einer angesehenen Straße, wenn seine Stunde überschritten war, noch antreffen ließ. Besoffenen wurde mächtig mitgespielt. – Begräbnisse, Feuersbrünste, alles gab Festfreude des Volkes, das in großer Weltenge hinter mächtigen Mauern und Toren lebte und dem Leid und Freude in jeder Form hochwillkommen war, jede Marter des lieben Nächsten, jede Erniedrigungsnot und Qual. Alles wurde Schaustellung – Blick in den Weltlauf – Sprung aus der Enge. Alles bewegte, erregte, packte.

Wenig Gerüchte kamen aus der Weite in die Gasse – deshalb die Bildwerke an den Häusern. Man wollte schauen, schauen, erfahren, wollte fühlen, daß man auf Erden lebte in einer großen Menschenwelt, daß starke Dinge geschehen waren und noch geschahen.

In unserer Zeit ist alles verdeckt. Es ist die gewaltigste Philisterwelt in die Höhe gekommen, trotz aller Wirrnis. Nichts Dramatisches soll die Ruhe der Mitbürger stören. Alle Gerüchte, Nachrichten, Katastrophen – Weltereignisse, aller Klatsch, alle Menschenarmseligkeit und Grauenhaftigkeit wird durch sinnreichste, erstaunliche Maschinen aller Art durch die Hirne im fortwährenden Strome gejagt, bis die Hirne ermatten, die Herzen stumpf werden.

Das grenzenloseste Elend, Weltkriege, Seuchen, Unruhen, Ströme, die von gehäuften Leichen austreten – nur ein Achselzucken, wenn es hoch kommt, auslösen.

158 Jeder versinkt in sein stumpfes Gedreh. Die Weltereignisse rasen ungehemmt, mechanisiert durch Hirn und Herzen.

Totenstill wird's mitten im Getriebe erschütternder Ereignisse, die, kaum geschehen, von jedermann gekannt, gleichgültig registriert – und vergessen werden.

Es ist mit allen wunderbaren und fabelhaften Erfindungen und Ereignissen unserer Zeit nichts geschehen, als der Wunsch des Philisters erfüllt: Sachlichkeit, Gleichgültigkeit, Enge, Kühle, Tod aller Phantasie und Tod aller Sehnsucht nach Seelenbewegung ist erreicht.

Damals, als die beiden Kinder vor der düsteren Judengasse standen, war es die letzte und die höchste Zeit, daß die Menschheit aus der Glut ihrer Phantasie heraus, aus der Sehnsucht ihrer Enge, aus der Kraft ihrer Vorstellung, aus ihrer Eindrucksfähigkeit und ihrem Lebensfeuer – und ihrer Kindlichkeit ein großes menschliches Wesen hervorbringen konnte, einen Menschen mit göttlichen Urkräften und Erleuchtungen, nach Gottes Ebenbild geschaffen, wie er nach dem Maße von Jahrhunderten und Jahrtausenden erscheinen mußte, um der Menschheit wieder Berechtigung zum Dasein zu geben, ehe sie in Technik und Überklugheit verfallen würde für lange Zeitläufte.

»Ihr müßt wisse,« sagte Kreischhuhn Jakob und schlug sich auf die kurzen Schenkel, »daß ihr zu einem Zadik kommt. Nehmt euch als zusamme – ihr! Ich bin sein Goj!«

159 »Du? Was ist ein Goj – und was ist ein Zadik?«

»Ich steck dem Zadik die Lichter an und blas s' ihm auch widder aus – un ein Zadik, das ist ein Heiliger.«

»Gibt's ja nit mehr,« sagte Johanna.

»Gibt's! Sackerment noch einmal! Werd's ja sehe.«

Und da waren sie in der Judengasse, wie aus der Sonne in tiefen, übelriechenden dumpfen Schatten gekommen, mitten unter die ziehenden Gestalten, mitten in das Bienengesumm hinein. Eng wie bei der Messe ging's da zu.

»Vor den Festtagen, da ist's noch schlimmer wie heunt, da trägt jeder ein, da mache se sich das Paradies,« erzählte Kreischhuhn Jakob, »da gibt's Gänsebraten, ganz anders wie bei uns, un Griebe von de Gans, dazu Feigen, Äppel und Kastanien mit Spezereien und Wein, der läuft bis in die kleine Fußzeh. Da is gedeckt und aufgetrage für den Propheten Elias, und der Messias darf Ostern jede Moment zur Tür erei komme, die lasse se für ihn offe.

Ich aber bin der Goj! Damit is aber nix heunt, ich komm dann hinein wie König Salomo in seiner Herrlichkeit. Ohn mich säße sie im Dunkeln, die Narren, denn sie meine, keiner von ihne kann 's Licht anstecke.

Uns macht man solchen Stuß nit weis. Sie aber könne ans Licht nit eran. Ich sag als: weil se Gottes Sohn gemordet habe, und deshalb brauche se den Goj – mich!« Das war Kreischhuhn Jakobs Auslegung.

»Gut ist Zadik Raab. Mit seim Enkel hat er mich 160 unterricht im Rechne und Lese, auch im Schriftschreibe – drum sage ich: der Andres ist mei Schulkamerad.«

Den beiden Ängstlichen wurde es beklommen zumute, sie drängten sich durch die lebhafte Menge, Gerüche stiegen auf aus Kellerlöchern, aus den dumpfen Röcken und Lumpen der Menschen, und das Summen der Stimmen klang fremdartig, als wären die Kinder in ein anderes Land gekommen.

Daß es so viel Juden gab! Man sah sie sonst nur einzeln mit ihren gelben Pröbchen an den Kleidern – und nun war man in einem Ameisenhaufen drin – und daß der Prophet Elias mit ihnen speiste – und sie gar den Messias erwarteten, der doch schon längst auf Erden gewesen war und den sie doch selbst gekreuzigt hatten! Was sie sich nur dachten? Ob sie das Schreckliche alles wie im Traum gemacht hatten? Und nichts davon wußten?

Da es doch einmal geschehen sollte, daß Christus durch seinen Tod die Welt erlöste – hatte Gott sie vielleicht ganz wie blind gemacht, und sie hatten getan, was sie tun mußten – mit Gottes Willen –, und er hatte sie schlafend gemacht oder so – wie jetzt auch –, daß sie glauben, sie könnten kein Licht anzünde, und ein fremdes Volk dazu brauchten. Und Christus hatte auch gesagt: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Wunderliche Gedanken bewegten sich in Beths Köpfchen. Ihr klopfte das Herz, auch die Schwester ängstigte sich und hielt sich fest an Beth.

161 Und doch eine große Straf, wenn sie nicht wußten, was sie taten, und nun wie Gefangene in der schrecklichen Gasse leben mußten und eingesperrt waren, wenn die anderen sich freuten.

Angstvoll legten sich dunkle Fragen, die sie sich unsicher selbst stellte, ihr aufs Herz. In der schauervollen Gasse stieg mit den Gerüchen Schweres, Leidvolles auf. Die große Verworrenheit der Menschheit bedrängte sie unbewußt.

Nun waren sie da! – gestoßen, gedrängt von hin und wider laufenden Menschen, von deren unheimlichen Kleidern sie eng berührt wurden.

»Jetzund habe mer's!« sagte Kreischhuhn Jakob und schellte mächtig an einer festgefügten Haustür, zu der ein paar Stufen hinaufführten. Die Fenster des Erdgeschosses liegen hoch über der Gasse.

Eine alte Frau öffnete. Sie trug die goldene Haube und das Stirnband der Judenweiber.

Sie traten in einen großen, dämmerigen und rohgefügten Raum, in dem Ballen und Säcke aufgestapelt lagen und in dem ein atembeklemmender Geruch herrschte.

»Altes Zeug,« flüsterte Kreischhuhn Jakob, »bleibt stockstill stehen. Sie sagt, daß ich komme. So, wie wir jetzund sind, sind wir die Miserablen, und sie die Herren im eigenen Haus.«

Die Alte kam wieder eine rohe Treppe herab und rief ihnen zu, daß sie kommen sollten.

162 So stiegen sie langsam und ängstlich hinter Kreischhuhn Jakob her.

Aber wie wandelte sich die Treppe!

Statt der rohen Balken unten im Erdgeschoß eine geschnitzte stattliche Treppenbalustrade, die Stufen glatt und wohlgerieben, und Kerzen brannten und gaben ein goldenes Licht.

»Ob das noch von König David her dagebliebe is, als er zuletzt hier war und alles verwandelt hat – oder?« frug Johanna leise die Schwester. Beth aber war keines Wortes mächtig. Schauervoll empfand sie ihre Umgebung.

»Heunt bin i nit der Goj, heunt is das Fest der Freisprechung vom Vater vom Andres, sonst hättet auch ihr nit erein gedurft,« flüsterte Kreischhuhn Jakob.

Da standen sie oben auf einem Vorplatz mit dunklen großen Schränken, und eine schmale Bogentüre tat sich auf, und sie traten in einen großen Raum, der von Kerzen hell erleuchtet war, trotzdem draußen die Sonne schien. Dichte Vorhänge waren herabgelassen.

Mitten im Raum stand ein festlich gedeckter Tisch mit fröhlichen Leuten, die auf hohen geschnitzten Stühlen saßen. Da war ein großer dunkler Mann und neben ihm ein Bürschchen, das schlang soeben den Arm um den dunklen Mann – und war Andres, der Flötenjunge, der im Gefangenenhof sich so tapfer gesträubt hatte.

Da saßen noch Kinder, Mädchen und Buben, und eine 163 Frau in goldener Haube und Stirnband, und die Alte, die die Türe geöffnet hatte, trug eben etwas auf.

Die hübsche Judenfrau, die Mutter der Kinder, erhob sich und kam den beiden Mädchen und dem breitspurigen Jungen entgegen und sagte:

»Er hat gesagt von euch: daß ihr wollt hören den Andres singe und pfeife. Und da heunt ist große Freud im Hause des Zadik Raab, so seid ihr gelade, euch zu freuen mit uns.«

Es wurde ihnen Platz geboten, und die Alte gab jedem ein köstliches Stück Kuchen auf den Teller und setzte jedem von ihnen ein Glas goldenen Weines hin. Sie sahen in dunkle fremde Augenpaare, die alle auf sie blickten. Bei ihnen daheim sahen sie auch aus dunklen seltsamen Augen, aber diese vielen Augen der Kinder Israel, die alle auf sie gerichtet waren, bedrängten sie ganz wunderlich. Eine große fremde Kraft schaute aus ihnen. So hatten sie nicht gedacht, daß die Juden schauen könnten. Wenn ein Jude oder eine Judenfrau mit Waren zu ihnen ins Haus kam, erschien es Beth, als hätten sie sonderbar geblinzelt oder geblinkert und wie scheu geguckt und gefunkelt. Und hier schauten sie so ruhig und hatten warme, starke Augen.

Beth griff ganz bewegt, scheu und neugierig nach dem Stück Kuchen; der zerging ihr auf der Zunge und war süß wie Honig und gewürzig, als wäre er in einem fernen Lande und in fernen Zeiten gebacken, als hätte Maria, die Mutter Gottes, ihrem Sohne schon solch einen Kuchen gebacken, und 164 der hätte mit solch einem Stück vor der Türe gesessen, wenn er besonders heilig gewesen war, und hätte es zur Belohnung gegessen.

Mit Schauer aß sie und trank auch von dem Weine ein Schlückchen und dachte an Herrn Schaket und sein heiliges Abend- und Sternenmahl.

Die feine Judenfrau nickte ihnen allen zu.

»Esset, esset!« sagte der große dunkle Mann. Andres aber, der sie wohl erkannt hatte, nickte ihnen zu und lächelte.

Die Mutter gab ihm stolz die Flöte, die vor ihr lag, und er spielte die Hirtenlieder Davids.

»Die hat er selbst gemacht,« flüsterte Kreischhuhn Jakob seinen beiden zu.

Und so spielte Andres die Lieder, die er im Gefängnishof und auf dem schweren Weg gespielt hatte, und alle lauschten andächtig. Und wie er spielte, sah er einem Engel gleich, so hingesunken in Geheimnisse und Freuden war seine Seele.

Da tat sich die Tür auf, und Zadik Raab trat ein, der Herr des Hauses. Es war, als ginge in Sommerdämmerung der Mond auf. Geheimnisvoll, unerwartet trat er ein und überleuchtete alles. Sein grauer langer Bart, wie aus zarten Silberfäden gesponnen, sein hageres bleiches Gesicht mit stillen feierlichen Augen lächelte gütig, als er seine Gäste begrüßte und sich niederließ auf den für ihn schon bereitstehenden Lehnstuhl.

Die Hirtenlieder waren verklungen. Der Knabe stand 165 und blickte auf den Zadik. Es war wie eine Frage in dem Blick und ein Suchen, und der alte Zadik sah gedankenvoll auf den anmutigen, schönen Knaben, dem die Seligkeit seiner Lieder noch auf der Stirne ruhte.

Der Zadik aber blickte auf ihn mit einer innerlichen Trauer und großer Liebe und sagte: »Ihr, die ich euch aus der Ferne kommen ließ, um das Freudenfest der Freisprechung eures Vaters mit mir zu feiern in meinem Hause, in der großen Enge unserer Not, in Dämmerung und Abgesondertheit, keinen Raum für den Jubel, den wir Gott darbringen sollen haben wir, keinen für die Zerknirschung der Herzen, nicht die Luft, der heilige Weg der Gebete ist unser, fern weht sie, länderweit, wo nie wir hingelangen – schwer ist die Luft der Fremde, verpestet und unrein.

Der Mazos, der nährende, keimt und wächst in fremder Erde, die unserer Väter Fuß nie betrat, die ihrer Hände Kraft nie zu spüren bekam.

Wehe dem Volk, dem die Hände nicht in der Erde wühlen, das nicht erdige Hände hat, die nach Erde duften. Heimat ist uns die Glut Gottes, die uns in die Herzen gesenkt wurde, die Liebe zueinander – das Wissen vom anderen, das Kennen seiner Glückseligkeit, zu wissen seine Not.

So ist die Liebe des Knaben zu seinem Vater, die mir griff ans Herz mit mächtigem Griff, die dasteht über Recht und Gerechtigkeit, wie Gott über der Welt.

Die königlichen Hirtenlieder, die er singt, ohne Herden, 166 ohne die Gärten und Felder unserer Freuden im fremden Land, tun wohl und weh.

Und ich spüre die Liebe, die ihr untereinander habt, wie ein Feuer, das alle Seelen zu einer glüht.«

Und wahrlich, so war es.

Der ganze Raum wurde wie von großer Liebe erfüllt. Der dunkle Mann und die Frau und Mutter lagen einander in den Armen, die Kinder jubelten und küßten einander und küßten Vater und Mutter. An der Brust des Zadik aber lag der Knabe, und der Alte hielt ihn umfaßt. Und er segnete ihn mit fremden großen Worten: »Dann gehet in Frieden. Wurzelten wir in der Erde gesegneter Kraft, würden von den Lippen des Knaben einst die starken Rufe nach dem Messias erklingen und die gewaltigen Psalmen eines sonnengleichen neuen König Davids.

In Not und Druck aber werden die Kräfte nächtlich. Was Sonne sein wollte, wird Mond und fernes Sternenlicht. Doch alles ist von Gott, dem Erhabenen. So lebet demütig, gerecht in Liebe.«

Und wieder ging durch den Raum eine Seligkeit der Herzen und ging von dem alten Zadik aus, dessen Seele entbrannt war in allwissender Liebe; und er winkte Beth zu sich, die bebend aufstand, als würde sie von einem Engel geführt, und zu dem Alten trat, der ihr zart und wie in tiefer Scheu die Stirn berührte und sie wie den Knaben mit großen, feierlichen fremden Worten segnete:

167 »Du aber stehst,« sagte der dann langsam, schwer und ringend, »in der Sonne Kraft. Die Geheimnisse Gottes werden dich überströmen.«

Da wendete er sich zu dem Mond- und Sternenknaben und drückte ihn stark und fest an sich und sagte: »Nun singe uns ein Hirtenlied.«

Der Knabe trat zu seinem Vater, der die Flöte nahm und ihn begleitete, und sang so lieblich und voll Wehmut und mit der süßesten Stimme das Lied des jungen Königs David, der seine Schafe weidete auf tauiger, blumiger Heimatwiese.

Beth stand erschrocken während des Gesangs neben dem Zadik und hielt sich an seiner Hand. Und er umfaßte das Händchen zart und in Andacht und führte Beth, als das Lied beendet, zu der Schwester und sagte zu Kreischhuhn Jakob: »Ich vertraue die beiden dir, führe sie und laß ihnen nichts geschehen.«

So entließ der Zadik die Kinder, brachte sie bis an die Türe, die geschnitzte Treppe hinab und über die rohe, rauhe Treppe des Alltags, öffnete das Tor und ließ sie hinaus in das Schlurfen und Schleifen der unruhigen, dämmerigen Gasse, die ihnen nach dem goldenen, festlichen Kerzenlicht grau und unsagbar traurig erschien.

»Und was ist denn mit dir, du?« frug Kreischhuhn Jakob und stupfte Beth mit seinen Ellenbogen. »Gesegnet hat er dich?«

»Laß!« sagte Beth hart und scharf wie ein Messer.

168 Sie ging aber nicht mit den beiden, sondern lief, sobald die Judengasse hinter ihnen lag, davon – und lief wie geflogen durch altbekannte Gassen an den verlockendsten Bildwerken vorbei. In ihrer Seele klang endlos: Ich bin gesegnet! Ich bin gesegnet! Und sie hörte Worte wie aus einer anderen Welt, so fremd, groß und unbegreiflich.

Ihr schien es, als wäre die Bibel lebendig geworden, und sie hätte in den Gärten Salomos gestanden, und ein hoher Prophet habe sie an sein Herz gedrückt und zu ihr gesprochen so gewaltig, wie sie nur in der Heiligen Schrift sprechen. Und sie hörte die Hirtenlieder König Davids singen – und sah den schönen Knaben, den der heilige Zadik traurig an sich drückte und ihm gern den höchsten Segen gegeben hätte, daß er den Messias mit starkem Rufe rufen könnte.

»Ich bin gesegnet! Ich bin gesegnet!« klang es in ihr im Rhythmus ihres atemlosen Laufs.

Da war sie endlich angelangt. Kaum wurde die Türe geöffnet, lag sie der Base Schaket schon in den Armen, bebend vom Lauf – aber konnte nichts sagen. Da gab es kein Wort! Sie konnte nicht rufen: denk dir, ich bin gesegnet!

Sie schämte sich sehr und verbarg ihr Gesicht an der Brust der Base. Aber sie drückte sie mit ganzer Kraft, und nichts fand sich in Worten zusammen.

Endlich hob sie den Kopf hoch, die Augen leuchteten, riß den Mund auf, daß die jungen frischen Zähne mit den 169 Augen zugleich strahlten – und stieß hervor: »Ha!-ha!-ha!-ha! – da bin ich!«

»No! – das bringste gelaufe! Das ist der ganze Salutsturm, ei du ganz närrische Hans, so mitten in der langweiligen Welt so ein Gestürm! Komm als mit nauf und hilf mir den Menschenteig in Gärung bringen.«

»Du bäckst?«

»Ja backe! – wie mer's nimmt. Ich back auch.

Oben sitzt der große Jung, der Winterhalter Georg, tät mich gern in eim hin streichle, und mit dem Zeichne wird's nit recht. Er ist als wieder zugelaufe, der gute Bursch.«

»Weil ich ihn dir schickte,« sagte Beth nachdenklich, noch ganz im Traume ihres unaussprechlichen Erlebnisses.

»Du? No so was!«

»Und dem Schaket sagt ich, daß er dich so lieb hat, der Georg, und der Schaket gut zu ihm sein sollt.«

»Tausendelement, was du für Geschichte machst. Jetzt, ohne weiteres Federlese erzähl!«

Und Beth erzählte auch auf der Treppe ganz leise, was sie mit dem selig-armen Burschen und auch mit Herrn Schaket erlebt hatte.

»Fliege, das ist dem Geist sein Art und Weis,« sagte Madam Schaket halb lachend, »aber jetzt flieg eins. Drobe sitzen der Spitzbub und der Stadtsoldat und der arm gut Bursch und ich selbst! Du traumliche Nachtmütz rührst 170 alles umeinand, muß ich sage – und den Schaket hast auch noch mit eingerührt – und was noch etwa? Und wen noch etwa?«

Beth war erschrocken, und die Tränen stiegen ihr in die Augen.

»No, da heul auf emal. Da is wahrlich nit Ursach. Heb deine Tränen auf, die sind ein Schatz.«

Da ging durch Beths Seele, daß sie gesegnet sei.

»Aber mein Kuche!« rief Madam Schaket, »damit ich auf die Kerls in der Küch besser acht habe kann und mir was zu tun mach bei ihne, hab ich zu backe angefange. – Da darfst schlecke, wenn er in der Form is.«

Und so liefen sie miteinander die Treppe hinauf. Die Küche lag neben der Wohnstube. Die Amsel sang, und am Fenster saß Beths Gewitterfreund. Und ein Leuchten ging über sein Gesicht, als die schöne warme Frau eintrat. Die Zeitlosigkeit der Liebenden, der Kinder und Tiere hatte über ihm gelegen, während sie fortgegangen war. Tausend Jahre waren vor ihm wie ein Tag, wenige Minuten tausend Jahren gleich, gerade wie bei der Henn im Ställchen.

Und nun mit aller Macht zu ihrem Kuchen, den sie, als Beth geklopft hatte, eben einmengen wollte. Das Hefenstück war schon prächtig gegangen. Nun kam die Butter, die Milch, der Zucker, Rosinen und Mandeln daran. Das Mehl stand wohlgewärmt am Herd.

Sie öffnete die Küchentür.

171 »Ach nit! bleib Sie da, liebe Frau!«

Da sagte Madam Schaket: »Ich muß die Händ über den Kopf zusammenschlage über so ein armen verwunschenen Prinzen, wie Ihr seid, Georg. – Soll mir,« sie schloß die Tür wieder vorsichtig und flüsterte: »der Stadtsoldat und der Spitzbub die Rosinen fortschlecke, die leichtsinnige Hähn. Kommt mit alle beide!«

Inzwischen hatte Beth die Zeichnung gesehen, die Georg von der Base gemacht hatte.

»Guck!« rief sie laut und klatschte in die Hände. »Da bist du ja, Goldiges! Du ganz Goldiges!«

Der arme Georg stand wie in Seligkeit getaucht.

»Gut? sagst du!« rief er laut lachend und schüttelte Beth an den Schultern wie ein Bäumchen.

»Du grobe Kerl!« rief Beth.

»Ist's jetzt ein fein Adlergesicht – oder? – Und kein Eulegesicht?«

»Laß mich!« rief Beth, »sonst sag ich, nun ist's ein Eselsnasen!«

Da ließ er sie ganz erschrocken los, tief verschattet.

»Du bist als ein Wechselbalg – du! Und wenn ich sag, ein Gesicht wie der liebe Gott – da hupfst du wieder!«

»Da hupf ich wieder!«

»Da kannst du aber oft hupfe und weine, und weine und hupfe, wenn du auf alles hörst.«

»Kommt jetzt in Gottes Name und guckt zu.«

172 In der Küche saß der Spitzbub auf dem Tisch mit gekreuzten Beinen und nähte am roten Rockelor.

»Aber wenig Rosinen sind's geworde!« sagte Madam Schaket hochaufgerichtet mit strenger Königinmiene und einem Vierundzwanzigpfünderblick auf die beiden, die sie in der Küche sehr widerwillig hatte zurücklassen müssen.

»Habt ihr nit genug vorgesetzt bekomme!«

Madam Schaket machte wenig Unterschied zwischen dem Spitzbuben und dem Stadtsoldaten, seinem Wächter. Wäre sie ein altes Weib gewesen, hätte ihr diese Unachtsamkeit auch übel bekommen können. So aber trat der Mann der Ordnung stramm vor, setzte den hohen Pelztschako auf, legte die Hand feierlich an die gewaltige Kopfbedeckung, in der seine Würde aufbewahrt wurde, und sagte:

»Nu – ich kann mer doch net denke, daß so ne Madam is af e paar Rosincher so ganz versesse, wenn mei Herr Barohn da,« er zeigte auf den Schneider, »sollte in unachtsamer Stunne, wo's meiner Wenigkeit durmlich vom Aufpasse werd, ach e paar geschornt und gefresse habe.«

Madam Schaket blickte den Stadtsoldaten mit einem Adler- und Feuerblick durchdringend an.

»Hochgeschätzter Augenblick!« sagte der und schlug sich an die Brust, »was soll mer des? Kann mer doch net anners helfe? Hab doch ich net die Rosincher geschornt – wenn ich sag: – mei Herr Barohn!«

»'s is gut!« Madam Schaket sah auf den Herrn 173 Barohn, der hinter dem Rücken des Stadtsoldaten dem die Zunge herausstreckte. »'s is gut!«

Darauf ging sie hin zum kupfernen Wassertrog und goß einen gehörigen Guß auf die Rosinen, wusch sie zornig, als wollte sie die Sünden und den Schmutz der Erde von ihnen abwaschen.

»Geizkrage! Geizkrage! Was das all kost! Jeden Bissen verpetschiere tät not,« brnmmte sie.

Und nun ging's ans Mengen und Kneten, gerade so wie Herr Schaket Madam Schaket gesehen hatte, als er bei seinem Geizideal, der Witwe Heideblut, das überzarte Hostiengebäck zum dünnen Tee stippte und Katharinchens Art zu backen als sündig, weltlich und gottabgewandt vor seiner Asketenseele stand.

Wie sie die schönen Arme regte – wie die Backfreude sie lächeln ließ, wie sie die Butter in den Teig klitschte, die laue Milch so sorgsam goß, den Zucker einstreute, als schüttete sie über die Erde alle Freuden der Menschheit aus, dann kollerten die Rosinen wie Scherz und gute Laune in das Gemenge – und das laue Mehl, wie behutsam ließ sie es rinnen, wie die liebe Alltäglichkeit, die Bindung aller Dinge und Lebensmächte.

Da schaute der Spitzbub und ließ den roten Rockelor völlig in Ruh, und der Stadtsoldat riß das Maul auf. Solch ein Weib im vollen Betrieb war ihnen wahrlich noch nicht untergelaufen.

174 Da stand sie, die Weltschöpferin, die glückselige, die keinen Kuchen, sondern mit allen Kräften des Herzens und der Seele eine fröhliche Welt buk, nach ihres Herzens Willen und Überschwang und Überfluß. Da drehte sie das frohe schöne Haupt dem Spitzbuben zu.

»Näh Er! Guck Er nit!« – Und zum Stadtsoldaten: »Verfall Er mir nit in Durmel, schau Er auf seinen Barohn!«

Aber sie sah nicht auf ihren glückselig-armen Burschen, das versäumte sie, der, versunken in ihrem Anblick, sie anstarrte, manchmal lächelte wie Kinder lächeln, als gingen in ihren Seelen geheimnisvolle Dinge aus einer anderen Welt vor, deren Süßigkeiten wir nicht kennen.

Die kleine Beth aber sah dies Lächeln und fühlte es, und es konnte in ihr unschuldiges Herz eindringen. Der Gewitterfreund war ihr nahe, weil sie ihn in seinem Leid an der Hand geführt hatte – Worte sind bei einem feinen Kinde gar nicht notwendig.

Ja, dachte sie, die Bas kann man schon lieb habe – und wenn sie eim über das Gesicht streichelt und ein Küßche gibt beim Traurigsein, oder wenn eins weint, ist, als schiene die Sonn eim an – und alles wird hell.

 

Es kam ein so schöner und freundlicher Spätnachmittag. Der Spitzbub mit seinem Stadtsoldaten zog endlich ab. Der fertig ausgeflickte rote Rockelor hing, wie ein Staatskleid 175 so behutsam, über der hohen Lehne eines Stuhls und nahm sich in der Dämmerung der Küche außerordentlich stattlich aus. Beth machte ihm eine Reverenz.

Der Kuchen duftete im Ofen, und sie saßen miteinander am Fenster im Wohnzimmer vor Madam Schakets Nähtisch. Beth hatte sich neben die Base auf deren Lehnsessel mit eingezwängt. Georg saß neben dem Sessel und hatte den Arm um dessen Lehne gelegt. Über ihnen sang die Amsel. Vor dem Fenster nickten die Blumen und leuchtete die abendlich sonnige Weite vor der Stadt.

Die drei betrachteten miteinander die Zeichnung, die heute fertig geworden war, und waren sehr vergnügt.

»Goldiges,« sagte Beth, »da hast du gemeint, es wäre nit so recht; aber du kennst dich nit!«

»Nein,« sagte Georg: »sie kennt sich nit – sonst müßt sie den ganzen Tag singe und pfeife, daß sie sich selbst so wie in eim Schächtelche hat! Ach, wie muß das sei, wenn Gott eim zu so ner liebe Frau gemacht hat! Was nur so strahlt und Freude schafft. Und daß mei Bildche gut is! Wenn mir nur das Herz nit berste wird!«

»Ei du!« lachte die Base, »was redest du immer, guck mich nit so feierlich an, das mag ich nit.«

Da zog ein schwerer Schatten über des Burschen Gesicht.

»Sei nit so grob mit dem Georg,« flüsterte Beth ihr ins Ohr. »Siehst du nit, wie arm er ist. Geh, gib ihm e Küßche und streichel ihn, da wird er sehr froh sei.«

176 Da ward es der schönen und beglückenden Frau gar wunderlich zumute. Von dem Kinde, das sich eng an sie angeschmiegt hatte, strömte dessen Reinheit und Güte in sie ein und durchdrang sie ganz und gar. Sie hob den Kopf und küßte den armen Burschen warm und herzlich und blickte ihn so voll Liebe an, wie sie auf das Kindchen geblickt hatte, das sie in ihrer Schürze den beiden Wöchnern, ergriffen von dem Wunder, hingehalten.

Da wurde es wie mit einemmal Tag in dem armen Gesichte.

Die Base erschrak über die Seligkeit, die sie da anstrahlte. »Georg,« sagte sie zärtlich, »kleiner Georg – gar so köstlich ist eines Weibes Kuß gar nit – bleibt alles in der langweilige Welt.«

Er aber hörte nicht, was sie sagte, sah ihr in die Augen mit einem langen, langen Blick und faßte dann ihre Hände, die er ganz außer sich mit Küssen bedeckte.

»Ich dank dir, du liebe Frau,« stammelte er, »ich dank dir, ich dank dir! – du liebe Frau.«

In der freundlichen Wohnstube drang die Abenddämmerung ein, da wurde das Stübchen wie ein Nest im Walde – ganz verborgen, ganz weltfern und umschloß glückliche Herzen, die von aller Welt nichts wußten. Die Base entzündete die Kerze am Herdfeuer, und Georg hielt sich dabei an den Falten ihres Kleides und schaute, als täte die liebe Frau Wunder und Zeichen, als sie das Spänchen in die 177 Glut tauchte und mit der jungen Flamme die Kerze entzündete.

Beth stand auch neben der Base und schaute und hielt sich auch an ihrem Kleide, und der Segen des wundersamen Juden lag wie eine stille Freude in ihr.

Der Kuchen war herrlich geraten, die Base zog ihn aus dem Backofen. Goldbraun stand er jetzt da, in aller seiner Herrlichkeit duftend. Wie eine kleine Festung der Freude nahm er sich aus, schön, rund und wohlgeformt mit gleichmäßigen Rinnen, in der Mitte einen tiefen gerundeten Krater, aus dem die Düfte besonders verlockend aufstiegen. Die Rosinen spitzten überall hervor, und nun bekam er noch eine Zuckerbestäubung. Aus einer schönen Zinnbüchse ließ die Base den süßen Schneefall auf das gelungene Werk niederschneien.

Ein glücklich Träumender wendete kein Auge von ihr und ihrem Tun, hielt ihr Kleid so fest – so fest, als müsse er tief fallen, sobald er's losließe.

Der Kuchen stand dann mitten auf dem Tisch im Wohnzimmer, von der Kerze bestrahlt, und sie saßen alle drei davor und betrachteten ihn – und betrachteten auch immer wieder Madam Schakets Bild, das dem Selig-Armen so wohl gelungen war, der Fest auf Fest in seiner Seele feierte, dem die Augen leuchteten wie die Fenster eines kerzenhellen Hauses, aus dem Jubel und Wonne hinaus in die Dunkelheit dringt.

178 Die Tür tat sich auf, und Herr Schaket trat ein. Sie hatten ihn diesmal nicht die Treppe heraufspringen hören.

Wie er sie alle so festlich sitzen sah um den Kuchen und die Kerze und die ganze Traulichkeit spürte, gedachte er seines Versprechens, das er in heiliger Stunde Beth gegeben, die sein Abend- und Sternenmahl mit angesehen und erlebt hatte.

Ja, er wollte mit dem armen Kerl gut sein. – Und nun sah er, wie ganz hingegeben der Bursche die Frau anblickte, – wach, wie er nie geglaubt hätte, als vielerprobter Medikus, daß ein Halbidiot blicken könne, – und er sah die Anmut und Schönheit der Frau einmal wieder ganz, spürte die frohlaunige Güte, die von ihr ausging.

Wer ist nun der Idiot? dachte Herr Schaket. – Ja – wer?

 

Das düstere Haus, vor dem in der engen Gasse der Tod tanzte und König David auf Bathseba im blauen Wasser in der Badewanne blickte und in der Stube die spärliche Witwe und die übersinnlich angenehme, geizige Liebesplauderstunde ließen ihn lächeln. – Nun, jedem das Seine. Gut und bekömmlich ist alles auf der Welt zu seiner Zeit.

Aber warm, hell und duftend war es hier wie in einem Garten, und in solcher Sonnenwärme schmelzen selbst Halbidioten und Idioten.

Herr Schaket frug nach seinem Rockelor.

179 »Fertig!« sagte die Base lachend.

So wurde das rote, neu in Szene gesetzte Prachthabit aus der Küche geholt, wo es köstlich in seiner erlogenen Neuheit auf der Stuhllehne saß.

Beth hielt es Herrn Schaket hin.

»Ei!« sagte der, kroch aus dem grauen Rock mit dem wüsten Kragen und fuhr mit einem mächtigen Ruck in den roten, wie der Fuchs in seinen Bau.

Da er sich aber reckte und streckte, um in das Armloch zu gelangen, rutschte ihm die Weste in die Höhe, und Beth, die vor ihm stand, sah, daß er unter der Weste einen breiten Gurt mit gestickten purpurfarbenen leuchtenden Rosen trug.

»Rosen?« rief Beth laut, »Rosen?«

»Ja, Rosen!« lachte Madam Schaket, »mit Respekt sage ich: Rosen hat ihm sei Schwester auf den Bund von den Unterpantalons sticke lasse, weil er, als er heiratete, schön sein wollt wie jeder Vogel – und da hat sie nichts anderes gewußt, als Rosen auf dem Hosenbund, weil auch sie so ein wunderlicher Hans war, kurz – die hatte die schönste Gedanke und führte sie als auch aus: Rosen um de Bauch von so eim Geizkrage! – Da muß eins lache! – Und nun muß er sie trage jahrein, jahraus und so bekränzt im Lebe stehe.«

»O du Schlangemaul, du!« sagte Herr Schaket einigermaßen verlegen, aber lächelnd und schaute die Frau wohlgemut an.

180 Und bei Kerzenlicht sah er stattlich und kostbar aus, der schöne Herr Schaket im vielgeflickten roten Rockelor, und fühlte sich mächtig wohl in seinem alten Bau.

Und die Rosen auf dem Hosenbund trugen das Ihre noch bei, um es in der lieblichen Stube immer heiterer und fröhlicher zu machen. Herr Schaket lobte auch das Bild seiner Frau und war freundlich und gut zum armen Burschen, gönnte ihm die Liebesseligkeit, die so offen und unschuldig von ihm ausstrahlte.

Ausklinge wird's ja dir zum Leid, arme Haut, dachte er, – flieg Sommervogel!

Und ganz wunderlich: Herr Schaket ging in die Küche – kam mit einem Messer wieder, machte sich über die duftende Festung auf dem Tische, die noch auskühlen sollte – und schnitt vier mächtige Stücke Kuchen: das erste bekam der Liebende, das zweite und dritte Beth und die Frau, das vierte legte er vor seinen Platz, sagte Beth, daß sie Gläser holen solle.

Madam Schaket schaute verwundert. Herr Schaket ging in das Schlafzimmer und kam mit der herrlichen Kristallflasche, in der der rote Abendmahlwein glühte, – seinem Heiligtum, – zurück.

Madam Schaket wußte nun vor Verwunderung nicht, was sie sagen und denken sollte. Beth aber fühlte, daß er, Herr Schaket, gut sein wollte, daß er sein Versprechen hielt, das er ihr in jener heiligen Stunde gegeben – und wie 181 ein süßer Schauer ging der Segen des alten Juden einem Sommerwindchen gleich über sie hin.

Nun saßen sie miteinander glücklich und froh und einig, und der heilige Wein glühte in den Gläsern und in den Herzen.

*

Die Base brachte Beth und Georg diesen Abend die Treppe hinab. Das Lämpchen leuchtete. Georg führte sich an der Hand der schönen lieben Frau. Kein Wort wurde geredet – und als die Türe geöffnet war und die Abenddunkelheit und Feuchtigkeit eindrang, barg der selige Mensch, der wie aus dem Himmel kam, sein Gesicht in den Falten des Kleides der geliebten Frau ganz entrückt, und sie streichelte bewegt sein Haar.

Die schwere Haustüre schloß sich – und Beth stand mit dem Gewitterfreund in tiefer Dunkelheit. Die Laterne, die an einer Kette, die über die Gasse gespannt war, hing, brannte trüb.

Beth war es bänglich zumute, und sie faßte nach Georgs Hand, wollte ihn führen wie damals; aber da faßte sie jetzt eine ganz lebendige Hand, keine schwere und traurige wie einst.

»Glückselig! – Glückselig, glückselig!« – jubelte er. – Und da war die Hand der ihren entschlüpft. Sie sah im Laternenlicht, wie er die Arme ausbreitete als wären es Flügel.

182 »Nun flieg ich davo! – Nun ist als alles gut!« rief er laut. »Weißt du, dahin geh ich, wo's so lind war – weißt du noch? So lind – das Rauschen – und so lind die Nebel über dem Fluß – und wie ihr sangt – und wir guckten – und ihre Stimme is noch dort! – Sie selbst is noch dort. Ich werd sie wiedersehen – ich werd sie fühle.«

Beth hörte ihm still zu.

»Weißt du,« fuhr er ganz heimlich fort, »ich hab in ihren Augen was gesehen, was mir erlaubt, in die annere Welt zu gehe.

Hier wird nix aus mer. Wie sie dem Kindche, das sie in der Schürze hielt, befohle hat, in diese Welt zu gehe – so haben ihre Augen mir befohle – nit mehr hier zu bleibe. Gott sprach zu mir aus ihren Augen.«

»Ja, das ist viel,« sagte Beth ganz leise, »wenn du Gott hast spreche gesehen.«

»Ich kann's auch nur dir sage – du hast dieselben Augen wie sie. Sie war wie du, und du wirst sein wie sie.«

Sie schwiegen beide. Die Dunkelheit lag dicht um sie.

Langsam gingen sie vorwärts.

Wieder leuchtete matt eine schwankende Laterne über der Gasse.

»Was wir jetzt gesproche habe,« sagte er ruhig ermahnend, »darfst du nur sage, wenn's nötig is.«

»Ja,« erwiderte Beth gehorsam und sehr fest.

»Sag ihr, daß ich glückselig bin – und daß ich vor lauter 183 Glück aus der Welt geh.« Da faßte er Beths beide Hände und preßte sie.

Dann gingen sie wieder weiter. Es war in ihnen ein Reifen der Seelen, in beiden, mitten in Dunkelheit und Stille.

Die Lichter aus den Häusern leuchteten freundlich und heimisch in den dunklen Herbstabend hinaus.

Spät war's nicht, die Leute schwätzten noch in ihren hellen Stuben.

Es ist das Ende der Welt, dachte der Selig-Arme wie im Traum.

Er ging mit dem Kinde bis an ihr Elternhaus, dann schwand er für Beth dahin einem Schatten gleich. – Aber sie hörte ihn aus der Dunkelheit und in der Ferne jubeln: Glückselig! – Glückselig!

 

Im sicheren Heim, im Arm ihres Vaters, die Mutter und die Schwester am Spinnrad, beim freundlichen Licht, die Geschwister um das große Holzbecken versammelt, aus dem die Magd mit Wasser und Seife und einem gehörigen Waschlappen die Gesichtlein, Füße und Hände rumpelte, da war es der Beth, als käme sie aus Wind und Sonne und von schweren Wegen müde in ein warmes, stilles Bettchen. Sie schloß die Augen an des Vaters Brust. Tage gibt es, auch im jüngsten Leben, an dem ein Reifesturm mächtig durch die zarten Bäumchen geht.

184 Die Schwester mochte vom Segen des alten Juden geschwätzt haben. Der Vater hielt sein Kind so ganz besonders fest und innig im Arm, zärtlich und bewegt. Als Beth der Mutter den Gutenachtkuß, halb schlafend schon vor Müdigkeit, gab, fühlte sie die Hand der Mutter auf ihrem Häuptchen ruhen, wie die andere segnende Hand. 185

 


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