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Wie wir vorbereitet waren.

 

»Es ist leicht für einen Staatsmann, von der Tribüne donnernde Reden zu halten und es dem Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlassen, ob sein System Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht! Nichts leichter als das! Aber wehe dem Staatsmanne, der sich nicht in dieser Zeit nach einem Grunde zum Kriege umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist!«

Otto v. Bismarck in der zweiten Kammer 3. 12. 1850.

 

Hermann Stegemann schreibt am Schlusse zu seiner Vorgeschichte des Krieges:

»Als Deutschland in diesen Krieg hineinging, belud es sich mit der Schuld des Bruches der belgischen Neutralität, zu der es die Umstände und die Überlegenheit britischer Diplomatie geführt hatten. Da es durch seine militärgeographische Lage gezwungen war, sein Schwert in Feindesland zu tragen, erschien es, äußerlich betrachtet, in der Rolle des Angreifers. In Wirklichkeit ist dieser Krieg für Deutschland der bitterste Verteidigungskrieg im Kampf um staatliche Existenz, um Selbstbestimmungsrecht und Freiheit geworden, den je ein großes Volk geführt hat.«

Heute, nachdem die Brüsseler Archive die Wahrheit enthüllt haben, würde auch Stegemann wohl nicht mehr die Auffassung aufrecht erhalten, daß Deutschland sich mit einer Schuld gegenüber Belgien beladen habe. Im übrigen hätte es dieser Enthüllungen nicht bedurft; denn jedem auch nur flüchtig über die Geschichte der belgischen Unabhängigkeitsverträge Unterrichteten mußte bekannt sein, daß der Vertrag vom 10. April 1831, der Belgien die Unverletzlichkeit seines Gebietes zusicherte, gegen Frankreich gerichtet war und nach den Erfahrungen, die man mit der französischen Hilfeleistung unter Gérard in dem holländischen sogenannten Zehn-Tage-Feldzuge gemacht hatte, am 15. November desselben Jahres in den Abschnitten 7, 9 und 1O dahin abgeändert ist, daß die fünf Bürgschaftsmächte dem »unabhängigen und perpetuellen neutralen Staate diese Neutralität, sowie die Integrität und Unverletzlichkeit seines Territoriums« verbürgen. Dieser Vertrag ist aber praktisch aufgehoben durch die von Leopold I. unterzeichnete Geheimklausel vom 14. Dezember, die dem Könige der Belgier die Pflicht auferlegte, im Falle der Bedrohung der belgischen Festungen sich mit den vier Mächten über die zu treffenden Maßregeln zu beraten. Diese Sachlage hat nicht ewig geheimbleiben können, ist vielmehr 1803 durch General Goblet, sowie durch J. B. Nothomb, den Verfasser des » Essay sur la révolution belge« dargelegt. Den jetzigen belgischen Ministern war also genau bekannt, daß zwar Belgien seine Neutralität zugesichert war, aber ohne irgendwelche »realen Garantien« für seine Verteidigung im Ernstfalle. Ganz abgesehen davon, daß in dem Vertrage von 1839 Preußen das Einmarschrecht in die ihm zustehenden Festungen Lüttich und Namen verbürgt war, und ferner ganz abgesehen davon, daß die belgische Regierung ihrerseits seit Jahren durch Verträge mit Frankreich und England die Neutralität gebrochen hatte Siehe »Der schlimmste Feind« S. 92 ff., konnte von einem Unrechte um so weniger gesprochen werden, als der deutsche Reichskanzler sein Versprechen ja an eine Bedingung geknüpft hat, die belgischerseits niemals erfüllt ist. Womit natürlich der ungeheure diplomatische Fehler nicht gesühnt wird, den Herr von Bethmann Hollweg aus Unkenntnis der rechtlichen und tatsächlichen Sachlage begangen hat. Am allerwenigsten hat Herr von Bethmann sein Unrecht gegen das deutsche Volk damit gesühnt, daß er die Entschiedenheit, die er gegenüber dem Feinde am 4. August im Deutschen Reichstage hätte aufbringen sollen, zu ersetzen trachtete durch rücksichtslose Zensurerdrosselung jeder Darlegung der Sachlage.

Wo die Hauptschuldigen zu suchen sind, haben inzwischen die russischen Enthüllungen und die in Siegerhand gefallenen Archivbestände des serbischen Ministeriums des Äußeren aus den Jahren 1908-13 restlos erwiesen. In ersteren finden wir den erneuten Beweis dafür, wie das Geldbedürfnis des General Suchomlinow und seiner verschwenderischen Frau in England und Frankreich ebenso verständnisvolles Entgegenkommen gefunden hat, wie sein Ehrgeiz bei der französischen und englischen Kriegspartei. Je mehr die Geldmacht in England und Frankreich zum Kriege hindrängte, desto höher ließ sie die russischen Rüstungen sich steigern. Und je höher diese russischen Rüstungen stiegen, desto häufiger und größer wurden die Gelegenheiten für den Mann, der alle Aufträge zu vergeben hatte. Die der französischen Geschütz- und Munitions-Industrie gezahlten Preise stiegen durch ihn auf das Doppelte und dementsprechend auch auf das Doppelte seine Einnahmen und die Aussichten der Kriegshetzer in London und Paris. Suchomlinow hat bei dieser Sachlage natürlich seinerseits Frankreich zu immer neuen Rüstungen gedrängt. So in der Prahlerei, die er im Frühjahre in der »Birschewija Wjedomosti« veröffentlichte: »wir sind erzbereit und erwarten auch, daß unsre Verbündeten es sind!« Den Stand der bewaffneten russischen Macht bezifferte er auf 2 300 000 Mann, auch betonte er die Notwendigkeit einer möglichst schnellen Mobilisation. »Nowoje Wremja« nahm jubelnd diesen Kriegsruf auf: »Die Stunde naht. Es ist notwendig, am Heere zu arbeiten Tag und Nacht«!

Die Verurteilung Suchomlinows ist nicht etwa erfolgt wegen der Diebstähle und Kriegstreibereien, sondern weil er den Krieg nicht genügend vorbereitet und damit Rußlands Zusammenbruch verschuldet habe. »Wenn nicht Suchomlinow gewesen wäre, so wären wir – einerlei unter welcher Regierung – als Sieger aus dem Kriege hervorgegangen und würden jetzt ein Aufblühen des Landes erleben!« rief der Ankläger Dantschitsch aus. Und auch der Verteidiger Kasarinow erklärte: »Dieser Prozeß ist ein Protest des Volkes gegen die ungenügende Vorbereitung zum Kriege!«

Die serbischen Akten bieten neue Bestätigungen über den Ursprung der Handbomben für die Narodna Odbrana, sowie Berichte über Verhandlungen vom 19. Oktober 1911, die beweisen, daß schon damals »England entschlossen war, sich im Falle eines Konfliktes sofort und vollständig mit Frankreich solidarisch zu erklären«. Es gab auch streng geheimgehaltene Vorkehrungen, darunter die, daß alles für die Mobilisierung Erforderliche vorgesehen war. Am 13./26. Oktober 1913 fragte der serbische Kriegsminister bei seinem Gesandten in Paris an, ob französische Staatsfabriken serbische Mausergewehre, Kaliber 7 Millimeter, liefern könnten und wie hoch der Preis sich für 400 000 Stück bei kürzester Lieferfrist stelle. Die gleiche Anfrage ward am gleichen Tage nach Petersburg gerichtet. Insbesondere findet sich auch in diesen serbischen Aktenstücken ein neuer und starker Beweis für die belgische Schuld: der Pariser Gesandte Serbiens, Vesnic, berichtet vertraulich unter dem 8./21. November 1912 an Pasitsch, daß die belgische Regierung beschlossen habe, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen und das Heer in kürzester Zeit zu vermehren. Diese der bisherigen belgischen Politik und dem Geiste des belgischen Volkes widersprechende Maßregel sei nicht so sehr aus eigenem Antriebe, als auf das Verlangen der englischen Regierung erfolgt. Auch das bestätigt nur, was jeder aufmerksame Zeitungsleser damals wohl herausgefühlt hat. Leider war die Logik unsrer amtlichen Politik anderer Art. Noch am 2. Dezember 1914 sprach Herr von Bethmann Hollweg:

»Als ich vor fünf Jahren auf diesen Platz berufen wurde, stand die Triple-Entente festgefügt dem Dreibunde (?) gegenüber. Ein Werk Englands, bestimmt, dem seit Jahrhunderten befolgten Grundsatz englischer Politik, sich gegen die jeweils stärkste Macht auf dem Kontinent zu wenden, zur Durchführung zu verhelfen. Darin lag von vorneherein der aggressive Charakter der Triple-Entente im Gegensatz zu der rein defensiven Bedeutung des Dreibundes.«

Ein Staatsmann, der sich in der damaligen Lage nach einem »auch nach dem Kriege noch stichhaltigen Grunde zum Kriege umgesehen« hätte, würde aus dieser noch durch Italiens Haltung erschwerten Lage die nötigen Schlußfolgerungen gezogen, insbesondere die Pflicht zur Aufstellung eines klaren Zieles erkannt und dafür gesorgt haben, daß wir mindestens an einer Front mit Übermacht kämpfen konnten. Anders Herr von Bethmann Hollweg. Mit erhobener Stimme schloß er den Satz:

»Denn ein Volk von der Grüße und Tüchtigkeit des deutschen läßt sich in der freien Entfaltung seiner Kräfte nicht einschnüren. Angesichts dieser politischen Konstellation war der deutschen Politik der Weg klar gewiesen.«

Wie wenig klar in Wirklichkeit der Weg des Herrn von Bethmann und wie unbeirrbar er in seinen Irrtümern war, bewies der Stolz, mit dem er bekannte:

»Wir mußten versuchen, durch Verständigung mit einzelnen Mächten der Entente die Kriegsgefahr zu bannen.«

Und nicht minder kindlich deckte er die staatsgefährliche Harmlosigkeit seines politischen Denkens auf in dem Satze:

»In Frankreich stießen wir immer auf den alten Revanchegedanken.«

Um die vernichtende Tiefe dieser Erkenntnis zu würdigen und das Bild unsrer Lage zu runden, bedarf es nur flüchtigen Blickes auf die damals bekannten, sowie die inzwischen enthüllten Urteile maßgebender Staatsmänner über die Entwicklung der französischen Politik.

Im Februar 1913 als die Botschafter unsrer Feinde unter Vorsitz von Sir Edward Grey in London über die Balkanlage berieten, schrieb Graf Benckendorff, der inzwischen verstorbene russische Botschafter zu London, an Herrn Ssasonow, er sei nach der Haltung des Herrn Poincaré davon überzeugt, »daß von allen Mächten Frankreich die einzige sei, die den Krieg, wenn sie ihn auch nicht gerade wünsche, doch ohne großes Bedauern sehen würde«. Herr Paul Cambon hege sicheres Vertrauen auf die bewaffnete Mitwirkung Großbritanniens. Außerdem habe Churchill versichert, die großbritannische Flotte sei mit großen Kosten, aber in aller Stille »vollkommen bereit und vollkommen mobil«. Diese Mitteilung des Grafen Benckendorff deckt sich mit dem Berichte des belgischen Gesandten zu Paris, Baron Guillaume, vom 14. Februar 1913, daß der neue Präsident, Herr Poincaré, sich einer beispiellosen Beliebtheit erfreue und daß man in dieser in erster Hinsicht eine Kundgebung jenes alten französischen Schowinismus erblicken müsse, der lange Jahre hindurch ganz zurück getreten war, aber seit den Zwischenfällen von Agadir wieder an Kraft gewonnen habe: »Herr Poincaré ist Lothringer und läßt keine Gelegenheit vorübergehen, daran zu erinnern; er war Mitarbeiter und der Anstifter der militaristischen Politik des Herrn Millerand.« Auch Baron Guillaume, der mit bekannter Schärfe das französische Leben beobachtet hat, stellte in seinen Berichten mit Entschiedenheit seitdem das Anwachsen der französischen Kriegsentschlossenheit fest. Am 8. Mai 1914 berichtete er:

»Unstreitig ist die französische Nation in diesen letzten Monaten chauvinistischer und selbstbewußter geworden. Dieselben berufenen und sachverständigen Persönlichkeiten, die vor zwei Jahren sehr lebhafte Befürchtungen bei der bloßen Erwähnung von möglichen Schwierigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland äußerten, stimmen jetzt einen anderen Ton an; sie behaupten, des Sieges gewiß zu sein, machen viel Aufhebens von den übrigens tatsächlich wirklich vorhandenen Fortschritten, welche das französische Heer gemacht hat und behaupten sicher zu sein, das deutsche Heer zum mindesten lange genug in Schach halten zu können, um Rußland Zeit zu lassen, mobil zu machen, Truppen zusammenzuziehen und sich auf seinen westlichen Nachbar zu stürzen.«

Als Grund dieser Verschärfung ist hier bereits die Schwenkung der Pariser Geldmacht dargelegt worden, die Baron Guillaume merkwürdigerweise entgangen zu sein scheint. Andererseits muß im Auge behalten werden, wie alle französischen Regierungen den Vergeltungsgedanken gepflegt haben und wie dies in den Vorschriften für die Lehrpläne des höheren Schulunterrichtes und in allen Erlässen aus den Jahren 1887, 90, 94, 97 usw. zum Ausdrucke gekommen ist. Selbstverständlich waren auch sämtliche Lehrbücher von diesem Geiste erfüllt und durch alle zog sich der Gedanke hindurch, daß die Vaterlandsliebe der innerste Naturtrieb jedes ehrliebenden Franzosen sei und daß das alte Vaterland, das ruhmreiche Frankreich in den Gebieten vom Rhein bis zu den Pyrenäen und dem Ozean reichen müsse. Denn Frankreich sei die Wiege der Freiheit, des Fortschrittes, der Menschenrechte, das Urbild der Güte, der Menschenliebe, der Gerechtigkeit, des Edelmutes, die Wohltäterin der Menschheit, der Mittelpunkt der Welt. Selten fehlte der Hinweis auf Victor Hugos Trost:

»Frankreich gibt die Tagesordnung für das Denken der Welt an. Es wirft eine Frage auf und sie wird sofort von der ganzen Menschheit erörtert. Es löst sie und diese Lösung wird Gesetz. Die edlen Regungen aller Völker stammen von ihm, ebenso alle unmerklichen Übergänge vom Schlechten zum Guten.«

Immer kehrte der Gedanke wieder, daß der Rhein die natürliche Grenze Frankreichs sei und daß dies Ziel die besten Könige Frankreichs und seine größten Minister geleitet habe, von Richelieu, Mazarin, Colbert bis auf die Gegenwart. Selbst hochangesehene Gelehrte wie Lavisse haben sich an dieser Geschichtsschreibung für sieben- bis achtjährige Kinder beteiligt, wie andererseits die Schülerbataillone die Aufmerksamkeit aller Unterrichtsminister der letzten Jahrzehnte vor dem Kriege gefunden haben.

Leider ist nicht nur unsre Diplomatie, sondern sind auch breite Kreise des deutschen Volkes stets geneigt gewesen, diese stille Arbeit zu übersehen, und die sogenannte große Presse häkelte lieber an Kleinigkeiten an, anstatt den Blick auf die volle Breite der Bewegung zu richten. Wer es damals in Deutschland wagte, auf den Vorsprung hinzuweisen, den Frankreich in seiner Heeresausbildung vor uns voraus hatte, wurde als Kriegshetzer oder schwerindustrieller Profitierer verdächtigt, obgleich mit Händen zu greifen war, wie die starke Betonung des russisch-französischen Bündnisverhältnisses nach Poincarés Petersburger Reise eine deutliche Begleiterscheinung der geradezu fieberhaften, Rüstungen war, die Frankreich betrieb. Im Hinblicke auf diese geradezu unbegreifliche Sorglosigkeit schrieb ich am 27. Februar 1913:

»Ausdrücklich mag dabei darauf hingewiesen werden, daß die jetzige Vorlage im Schoße des französischen Kabinettes längst vorbereitet gewesen ist, und daß man nur aus Rücksichten kluger Taktik sie als eine Antwort auf die deutsche Ankündigung einer Heeresvorlage darstellt. Das ändert aber doch nicht das geringste an der Wucht dieser Rüstungen, läßt diese vielmehr gerade wegen ihres geräuschlosen Ganges ebenso bedrohlich für Deutschland erscheinen, wie die Stille, mit der der englische Apparat die Flotte vermehrt: augenblicklich nur um fünf Großkampfschiffe, weil England auf das sechste verzichtet, sintemal in den fremden Flottenbauplänen kein verstärktes Tempo eingeschlagen sei. Großmütig wird dabei der Welt die Kleinigkeit verschwiegen, daß Kanada und Indien dem Mutterlande weitere Großkampfschiffe zur Verfügung stellen ... Die einzige Sorge, die unter diesen Umständen den deutschen Vaterlandsfreund befällt, ist die, ob auch der deutsche Reichstag der hier gekennzeichneten Lage das erforderliche Verständnis entgegenbringen wird. Schlimm genug, daß seine in ermüdender Breite und unerträglicher Langeweile dahinplätschernden Etatsberatungen die kostbare Zeit vergeuden, in der hätte gehandelt, d. h. die Militärvorlage hätte verabschiedet werden sollen! Schlimm genug auch, daß die Regierung erst diese Vorlage zu einer Zeit einbringen wird, in der sie militärisch vielleicht für einen im Frühjahr gegen uns eröffneten Krieg nicht mehr hinreichend brauchbar gemacht werden kann! Denn nicht so sehr um den Umfang der Militärvorlage handelt es sich, als um die Schnelligkeit und Promptheit ihrer Bewilligung!«

Wie wenig die Behandlung der Wehrvorlage dieser Erwartung entsprochen hat, gehört zu den betrüblichsten Erinnerungen des Jahres, das die Mahnungen der großen Väterzeit durch seine Taten hätte erfüllen sollen. Aber umsonst waren alle Hinweise auf die russischen Festungsbauten, Italiens Flottenvermehrung und die Unzuverlässigkeit seiner Stellung im Dreibunde, auf die Vermehrung der holländischen Flotte und die fieberhafte Tätigkeit der englischen Werften. In dem Suchomlinow-Prozesse hat Miljukow beklagt, daß die russischen Kriegsrüstungen und die Kreditforderungen des Kriegsministers von ihm und anderen Vertretern des Volkes in der Duma als ungenügend sogar noch überboten seien. Der Krieg sei zwei Jahre zu früh ausgebrochen. »Im Jahre 1916 wären wir mit dem großen Kriegsprogramm fertig geworden!« Genau dieselbe Auffassung ist in den beiden Jahren vor dem Kriege wiederholt in der Presse vertreten. Aber erst als am 8. Januar 1913 das russische Kriegsministerium seine berühmte Verfügung erließ, die zu »Probe«-Mobilmachungen eingezogenen Reservisten bis zum April im Dienste zu behalten und immer mehr allen Deutschen der Verkehr in Rußland verwehrt wurde – nicht nur Fliegern, sondern z. B. auch einem höheren Forstmanne, der die Ursachen der Kienzopfkrankheit an der podolischen Ursprungsstelle studieren wollte – drang das Kriegsministerium mit seiner Forderung der unvermeidlichen Notwendigkeiten durch und die Wehrvorlage wurde eingebracht und am 7. April vom Reichskanzler begründet. Freilich nicht im Stile des Bismarckischen »Wir Deutsche fürchten Gott«, sondern mit der Versicherung, daß wir gegenwärtig »mit der Regierung Rußlands, unsres großen slawischen Nachbarreiches, in friedlichen Beziehungen stehen«, daß auch »die gegenwärtige französische Regierung in nachbarlichem Frieden mit uns zu leben wünsche« und daß er, der Herr Reichskanzler, die Feststellungen der Minister Asquith und Sir Edward Grey über die guten derzeitigen englisch-deutschen Beziehungen »nur bestätigen und freudig begrüßen« könne.

Kein Wunder, wenn als Widerhall dieser Versicherungen aus dem »Berliner Tageblatte« die Frage des Herrn Potthoff herausschallte: »Wo steckt der Feind Europas, der den Frieden so nahe bedroht, daß Deutschland mobil machen muß?« Und die Wehklage erscholl:

»Vor reichlich zwei Jahren hat der Reichstag einen Beschluß gefaßt, der den Kanzler aufforderte, Bestrebungen zu internationalen Abmachungen über Rüstungsbeschränkungen entgegenzukommen. Inzwischen ist unser Verhältnis zu Italien fester, zu England zweifellos besser geworden. Von England sind ganz bestimmte Angebote über ein Maßhalten im Flottenbau öffentlich ergangen. Die Antwort der Reichsregierung ist die Heeresvorlage von 1913, die alles bisher Erlebte weitaus in den Schatten stellt. Wenn der Reichstag sich das gefallen läßt, ohne sich wirklich triftige Gründe dafür geben zu lassen, dann gibt er sich selbst preis. Und als Gründe können nicht allgemeine Befürchtungen oder gar patriotische Redensarten verfangen, wenn es sich um 200 000 Mann und um Milliarden handelt.«

In diesem Sinne hat das genannte Blatt die für das Schicksal unseres Vaterlandes entscheidende Frage durchweg behandelt, u. a. drückte es am 8. April 1913 zur Zurückweisung »alldeutscher Maulhelden« die Überzeugung aus:

Die große Mehrheit des französischen Volkes will von Krieg gegen Deutschland nichts wissen, auch von Revanche nicht

Der Herr Abgeordnete Gothein hängte im Mai 1913 seine Harfe an die Weiden des »Berliner Tageblattes« und klagte, daß Deutschland so wenig Freunde im Auslande habe. Die Schuld daran maß er nicht etwa schmuddeliger Aufdringlichkeit, sondern den »herausfordernd hochfahrenden Generalen und politischen Fansnarren bei, die es als ihre Aufgabe ansähen, möglichst viele Fensterscheiben anderer Staaten einzuwerfen«. Man könne es den Franzosen kaum verargen, wenn sie diese Tölpeleien dazu benutzen, in andern Ländern Stimmung gegen uns zu machen. Die »Frankfurter Zeitung« blieb diesem Vorbilde nichts schuldig. Am 1. Juli 19l3 z. B. schrieb sie:

»Die Geschichte dieser Militärvorlage ist die Geschichte einer geradezu fabelhaften Massensuggestion. Es gelang, den Glauben an ungeahnte Gefahren von unbegrenzter Tragweite zu verbreiten.«

Leider war der Widerstand im Reichstag selbst kaum besser begründet. Herr Mathias Erzberger z. B. ließ durch die ihm nahestehende »Sächsische Volkszeitung« erklären, daß hinter der Behauptung, die angekündigte Vorlage erheische an fortdauernden jährlichen Mehrausgaben 100 Millionen Mark, noch mehrere große Fragezeichen zu machen seien und fügte hinzu:

»Käme jetzt wieder eine neue große Vorlage mit allen Organisationsänderungen bis zur Änderung des Aufmarsches und der gesamten Mobilmachung, so würde hierdurch eine Unruhe, Nervosität und Unsicherheit in den Heereskörper hineingetragen werden, die gerade in international unsicheren Zeiten unter allen Umständen zu vermeiden ist.«

Es ist in keiner Weise gerechtfertigt, diese Neinsagerei gegenüber der deutschen Wehrkraft in so schicksalsschwerer Zeit lediglich aus »kurzsichtiger Sparsamkeit oder doktrinärer Halsstarrigkeit« zu erklären. Vielmehr trat darin wiederum die demokratische Verneinung des monarchischen Staatsgedankens hervor, die 1863 »Preußen den Großmachtkitzel austreiben« wollte, kurz vor Ausbruch des französischen Krieges in Virchows Abrüstungsantrage die Maske gelüftet und in der Verbissenheit der Richter und Grillenberger die Wehrvorlage von 1886 bekämpft hat.

Auch der bayrische Ministerpräsident Graf Hertling hat im Januar des Jahres 1914 dem Hauptschriftleiter des »Daily Chronicle« Mitteilungen wenig angebrachter Natur gemacht. Er äußerte gegenüber diesem deutschfeindlichen Engländer heftige Angriffe gegen die »Alldeutschen, die Militärpartei und die Rüstungsfirmen« und prägte den Satz:

»Jeder wirkliche Staatsmann müsse erkennen, daß die sich steigernden Rüstungen der europäischen Nationen den Völkern solche Lasten auferlegen, daß in naher Zukunft eine finanzielle Krise drohe.«

Graf Hertling stellte also in einem Zeitpunkte, in dem Deutschland vor die Daseinsfrage gestellt war und die höchsten Anstrengungen machen mußte, um sich gegen die wachsenden Rüstungen seiner Feinde zu stärken, den bevorstehenden finanziellen Zusammenbruch des Deutschen Reiches geradezu in Aussicht.

Wir wissen bereits aus der amtlichen Begründung der Fünfjahrsvorlage vom November 1910, daß der Kriegsminister v. Heeringen die Verantwortung von sich gewiesen hat für die ihm schon damals aufgezwungene Beschränkung in den pflichtmäßigen Anforderungen. Er wies darauf hin, daß nur »den fühlbarsten und dringlichsten Bedürfnissen des Heeres Rechnung getragen« sei aus Rücksicht auf die Lage der Reichsfinanzen. Dagegen seien unter Hintansetzung an sich wohlberechtigter militärischer Wünsche die Neuformationen auf die letzten Jahre mit ihren voraussichtlich reichlicher zur Verfügung stehenden Einnahmen hinausgeschoben« worden. Er wies ferner bedauernd darauf hin, »es sei auf einige bestehende Formationen zugunsten der Neuforderungen verzichtet, bei anderen eine Herabsetzung der Etatsstärken vorgeschlagen, und zwar in allen Kontingenten«.

Den Reichstagsfraktionen, einschließlich der konservativen ist der schwere Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie für diesen Fingerweis des Kriegsministers damals nicht die nötige Feinfühligkeit bewiesen und trotz des Drängens der Weiterblickenden in der eigenen Partei die Aufmerksamkeit nicht genügend auf die Rüstungen des Auslandes gerichtet gehalten haben. Aber selbstverständlich entlastete dies den leitenden Staatsmann nicht von der Pflicht zu besserer Wachsamkeit. Seine Kurzsichtigkeit war um so unentschuldbarer, als nicht nur die Stimmen des Auslandes, sondern auch wuchtige Kundgebungen im Inlande und Äußerungen konservativer Schriftsteller auf die Gewissensnot unserer Heeresstellen hingewiesen haben. In demselben Maße, als dies sofort infolge der Schwenkung der Pariser Politik auch in Deutschland erkannt wurde, erhob sich auch der Unwille der öffentlichen Meinung. So gab u. a. die 20. Hauptversammlung des Bundes der Landwirte im Februar 1913

»in Besorgnis um das Vaterland und in Treue zu Kaiser und Reich ihrer Überzeugung dahin Ausdruck, daß Deutschland unbedingt einer Verstärkung seiner Rüstung bedarf. Unsere Sicherheit verlangt, unser Heer durch volle Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht derart zu verstärken, daß wir auch dem Kriege gegen zwei Fronten gewachsen sind.«

Insbesondere war von allen um das Vaterland besorgten Kreisen auf den unerhörten Zustand hingewiesen worden, daß wir angesichts der drängenden Not unsere Ersatzreserve unausgebildet gelassen hatten. Wer wollte heute im Hinblicke auf die schweren Marnetage verkennen, wie anders sich Deutschlands Geschick gestaltet haben würde, wenn in den Jahren von 1908-1914 dem Drängen des vielgescholtenen General Keim nachgegeben wäre, der damals den Kosenamen »Vater Keim« sich redlich um Kaiser und Reich verdient hat. wer hätte nicht noch heute helle Freude an den senkrecht derben Hieben, die er in der Hauptversammlung des Wehrvereins im Schatten des Völkerschlachtdenkmals von Leipzig Ende Mai 1913 niedersausen ließ:

»Wenn man Militärpolitik erst dann treiben will, wenn es in der Welt nach Pulver riecht, dann ist es zu spät! (Stürmischer Beifall.) Unsere Nasen waren feinfühliger als die Nasen der amtlichen Stellen, und wir haben das, was die Regierung in ihrer Wehrvorlage verlangt, schon vor Jahresfrist für notwendig erklärt. Das wurde damals nicht angenehm empfunden, und so kam man in Berlin erst Mitte November zur Einsicht. Um so schneller muß nun die Wehrvorlage verabschiedet werden. Es ist nun jetzt wieder ein Vierteljahr ins Land gegangen, ohne daß die Sache sehr weit gefördert worden wäre. Jedenfalls kann alles Geschwätz und alles Geschreibsel und alle Versicherungen, mögen sie noch so sehr im Brustton der Überlegenheit vorgetragen werden, daran nichts ändern, daß der Deutsche Wehrverein früher aufgestanden ist, als die Leute, die von Rechts wegen vor uns hätten aufstehen müssen. (Stürmischer Beifall.) Wenn unsere heutigen Beschlüsse ins Land gehen, wird die Schimpferei wieder losgehen, auch im Reichstag. (Heiterkeit.) Das läßt uns ganz kalt. Sie mögen schimpfen, soviel sie wollen, wenn sie nur schließlich das bewilligen, was wir verlangen. (Stürmische Heiterkeit und wiederholter Beifall.)

Das Bild wäre nicht vollständig ohne Feststellung der Tatsache, daß im Deutschen Reichstage dann die Elsaß-Lothringer bei der ersten Lesung gegen die Heeresvorlage gestimmt haben, nachdem ihre Parteigenossen in den Reichslanden in einer großen Vertreterversammlung zu Straßburg einen dementsprechenden Beschluß mit allen gegen nur vier Stimmen gefaßt hatten. Und während die vaterländisch gerichtete Presse diesen Entschluß als eine Beschimpfung des Reiches schmerzlichst beklagen mußte, hat die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« kein Sterbenswörtchen zur Wahrung des staatlichen Ansehens gefunden.

Jetzt zieht der Leiter des Stellvertretenden Generalstabes Generalleutnant Freiherr von Freytag-Loringhoven in seinem 1917 erschienen Buche »Folgerungen aus dem Weltkriege«, in denen offen und unumwunden eingeräumt wird, daß zu Beginn des Krieges schon Frankreichs Wehrmacht allein der gesamten mobilisierten deutschen um ein geringes überlegen gewesen sei. Nach Abzug der im Osten und zum Küstenschutze benötigten deutschen Kräfte besaßen die Franzosen, Engländer und Belgier eine Überlegenheit von rund dreiviertel Millionen Mann.

»Hierzu kam, daß dem deutschen Westheere, als es sich an der Marne schlug, von seinen anfänglichen Truppen erster Linie außer zwei Armeekorps, die nach dem Osten abbefördert waren, noch zwei weitere fehlten, die vor Antwerpen und Maubeuge zurückgelassen werden mußten.«

So rächten sich die Sünden aus den Jahren der Abstriche am Heereshaushalte.

Zweifellos würden auch unsere Kämpfe in Südwestafrika einen anderen Verlauf genommen haben, wenn nicht die dortige Truppe so stark vermindert wäre. Die Haltung der Buren würde dann sicherlich eine andere geblieben sein, Botha würde nicht über den unter Führung von Herz, de Wet und Maritz stehenden deutschfreundlichen Teil so leicht gesiegt haben und Südwestafrika hätte dann in unserm Spiele gegen England ein Trumpf bleiben können.

Es rächten sich nun die schweren Fehler, die der Reichstag 1906 begangen hatte unter dem Einflusse des Herrn Erzberger, der die Zentrumspartei dazu brachte, daß sie in Gemeinschaft mit der Sozialdemokratie den Nachtragsetat ablehnte, der die Mittel für den dringend notwendigen Bau einer Eisenbahn von Keetmannshoop nach Windhuk und für den Unterhalt einer angemessen starken Schutztruppe in Südwestafrika verlangte. Und mit besonderem Danke erinnern wir uns bei diesem Rückblicke des Herzogs Johann Albrecht zu Mecklenburg, der damals in einem Aufrufe an die Mitglieder der Deutschen Kolonialgesellschaft sagte:

»Die Mehrheit der bisherigen Volksvertreter hat versagt da, wo nationale Ehre und einfache Pflicht gegenüber unseren in harten Kämpfen ihr Blut und Leben für des Reiches Wohlfahrt opfernden siidwestafrikanischen Truppen einstimmige Annahme der Regierungsvorlagen erheischten ... Dieser Beschluß bedeutet ein Waffenstrecken Deutschlands vor aufrührerischen Räuberbanden, ein unrühmliches Zurückweichen vor geringen Feinden, ein Ansporn unseren anderen Neidern und Gegnern, uns als leichte Beute zu betrachten.«

Mit Recht bezeichnet Stegemann in seinem Werke die Marneschlacht für die Zentralmächte als eine Schicksalswende nach berauschendem Aufstiege, die zur Einkehr, zum heiligen Ernste und zur Nachprüfung mahnte. Und Freiherr von Freitag-Loringhoven entspricht nur dieser Mahnung, wenn er die Folgerung zieht,

»daß wir in Zukunft unter Hintansetzung entgegenstehender Bedenken das Mißverhältnis zwischen dem zu Fordernden und dem im Kriegsfalle zu Leistenden keinesfalls wieder so groß werden lassen dürfen, wie es im Weltkriege war

In das gleiche Hauptstück schmerzlicher Klage über die Unzulänglichkeit der Politik des Herrn von Bethmann Hollweg gehört insbesondere auch der Hinweis auf die folgenschwere Tatsache, daß der Reichskanzler trotz aller Enttäuschungen und Mißerfolge nicht von der Hoffnung ließ, das Herz der Feinde zu rühren. Selbst den bereits erlassenen Mobilmachungsbefehl wollte er, wie der sicherlich gut unterrichtete Herr Scheidemann nach einem Berichte der »Dresdener Nachrichten« im Hochsommer 1916 zu Dresden erklärt hat, noch einmal zurückziehen lassen in der Hoffnung, den Frieden zu erhalten. Was ganz Deutschland sah und insbesondere der Generalstabschef von Moltke in seiner Denkschrift vom 28. Juli 1914 über die Unvermeidlichkeit des Krieges klar dargelegt hatte, weigerte er sich blindwütig anzuerkennen, ja mit erhobener Stimme verantwortete er das »vor Gott und der Geschichte«!

Aber um gerecht zu sein, muß man verstehen, daß das, was so Vielen als halsstarrige Unbelehrbarkeit erschienen ist, doch in Wahrheit wohl seiner allzu weichen Natur entsprang. Niemand kann aus seiner Haut heraus, und der geborene Unterhändler wird durch noch so viele und noch so teuer bezahlte Erfahrungen nicht zum Beherrscher immer wilder auflohender Weltkriegsgefahr.

Mit Recht betont Clausewitz, daß »ein großartiger, ausgezeichneter Kopf, ein starker Charakter die Haupteigenschaften« seien, die der Staatsleiter zur Kriegszeit besitzen müsse. Unsere Politik vor dem Kriege und, Gott sei es geklagt, leider auch in drei ebenso kriegerisch ruhmvollen als politisch verhängnisschweren Kriegsjahren hat in der händlerischen Auffassung gegipfelt, daß man mit dem Hute in der Hand immer noch am leichtesten den Feind versöhnlich stimmen und doch vielleicht den einen oder anderen Neutralen noch zum Abschlusse eines Geschäftes geneigt machen könne.

Das Ergebnis liegt vor der Welt. Aber ebenso klar auch die unmittelbaren Ursachen. Die Berater des fünften Reichskanzlers haben im letzten Jahrzehnt an der Auffassung festgehalten, daß, wie ein bekanntes, aus dem Gedankenkreise der Londoner Botschaft stammendes Buch darlegte, »Weltpolitik und kein Krieg« die eigentliche Aufgabe des Deutschen Reiches sein müsse. Leider sind die offenen Türen, das heiß begehrte Ziel dieser Politik, uns schon seit Algeciras eine nach der andern vor der Nase zugeschlagen und die » Grundzüge der Weltpolitik«, denen der philosophirende Herr Dr. Riezler seinen überraschend schnellen Aufstieg im Auswärtigen Amte verdankte, haben sich ebensowenig bewährt. Sein Schluß der Schlüsse gipfelte darin, daß

»in unsrer Zeit der dauernde Erfolg nicht mehr der einzelnen kühnen Tat, auch nicht mehr dem Genius des einzelnen Staatsmannes, sondern der stillen Kleines auf Kleines häufenden Arbeit der Millionen gehört. Letzten Endes entscheidet der Durchschnitt

Leider gehört es zu den nicht gerade nach der männlichen Seite hinschlagenden Eigenschaften solcher Politiker, daß sie ihre Träume für Wirklichkeit nehmen und vor dem Ernste der Gefahr um so fester die Augen verschließen, je mehr diese sich verdichtet. Die überwiegende Mehrzahl der Männer, denen Deutschlands politische Geschicke in den letzten Jahrzehnten anvertraut waren, hatte sich gleich Herrn von Bethmann von dem Bannblicke der britischen Schlange völlig gefangennehmen lassen. Sie glaubten nicht an die Möglichkeit eines Krieges, weil sie nicht daran glauben wollten und sie wollten es nicht, weil sie nicht die Entschlußkraft aufbrachten, es zu können. Im Verlage von Duncker & Humblot in Leipzig ist eine Reihe von Vorträgen erschienen, die während des Winters 1900-01 in Hamburg im Auftrage der dortigen Oberschulbehörde gehalten sind, darunter auch ein Vortrag von Dr. Karl Helfferich, in dem dieser sich zu den kommenden politischen Ereignissen, wie folgt, äußert:

»... Deutschland bezieht gegenwärtig etwa ein Drittel bis ein Viertel seines Weizenbedarfes und knapp ein Zehntel seines Bedarfes an Roggen aus dem Auslande. Im Falle eines Krieges soll nun die Gefahr bestehen, daß uns diese notwendigen Zufuhren abgeschnitten werden, und daß Deutschland infolgedessen, selbst wenn seine Armeen unbesiegt an den Grenzen standhielten, wie eine belagerte Festung durch den Hunger bezwungen werden könnte. Ich weiß nicht, ob es militärische Autoritäten gibt, die eine solche Ansicht vertreten, aber ich glaube, daß die Hochachtung vor dem deutschen Militär eine solche Annahme von vornherein ausschließt. Gerade bei der Gestaltung der deutschen Grenzen ist die Möglichkeit einer nachhaltigen Unterbindung der Getreidezufuhr so gut wie ausgeschlossen. Wir haben so viele Nachbarn, einmal das große Meer, dann Holland, Belgien, Frankreich, die Schweiz, Österreich, Rußland, so daß es gänzlich undenkbar erscheint, daß uns alle die vielen Getreidezufuhrwege zu Wasser und zu Lande auf einmal versperrt werden könnten. Die ganze Welt müßte gegen uns im Bunde sein, und eine solche Möglichkeit überhaupt nur einen Augenblick fest ins Auge zu fassen, das heißt doch unserer auswärtigen Politik ein grenzenloses Mißtrauen entgegenbringen ...«

Der damalige Professor Herr Dr. Helfferich würde wohl getan haben, sich etwas sorgfältiger danach zu erkundigen, ob es wirklich nicht militärische Autoritäten gab, die von der Schwierigkeit unseres Durchhaltens gegen eine Übermacht von Feinden überzeugt waren. Tatsächlich war dies die große Sorge des Generalstabes, der zur Zeit vor dem Kriege nichts so fest ins Auge gefaßt hat als die Möglichkeit einer Reichsbelagerung. Und nichts erfüllte die Besorgten mit größerem Danke, als die Zuversicht, mit der der Kaiser auf Grund voller Kenntnis den Auffassungen des Generalstabes in der letzten Vollversammlung des Deutschen Landwirtschaftsrates an der er teilgenommen hat, am Schlusse einer längeren Rede aussprechen konnte:

»M. H., es steht außer jedem Zweifel, daß die deutsch« Landwirtschaft technisch imstande ist, nicht nur die jetzige Bevölkerung des Reichs, sondern auch die künftige vermehrte Volksmenge mit den wichtigsten Nahrungsmitteln, insbesondere mit Brot, Fleisch und Kartoffeln in genügender Weise zu versorgen. M. H., das können wir, und das müssen wir

Wenn gleichwohl alle Hinweise auf die Notwendigkeit der Aufspeicherung von Vorräten, wie sie insbesondere im wirtschaftlichen Ausschusse vor dem Krieg erhoben wurden, lächelnd abgewiesen blieben, so fand diese Ungeheuerlichkeit ihre ganz natürliche Erklärung darin, daß Herr von Bethmann und seine Leute noch immer hofften, mit »moralischen Einwirkungen« unsere Feinde versöhnen zu können und es als eine ruchlose Zumutung betrachteten, an etwas so Unfaßbares wie die Möglichkeit eines Weltbrandes zu glauben.

Sie haben darin nicht allein gestanden. Nur allzubreite Kreise unseres deutschen Volkes hielten es für überflüssig, sich mit der Politik zu beschäftigen, weil sie offenbar nicht erkannten, daß die arglistig lauernde Politik der ganzen Welt sich längst mit ihnen und ihrer unbegreiflichen Ahnungslosigkeit beschäftigte.

So blieb das Feld, derweilen das arbeitsame Volk seinen Berufspflichten nachging, den allezeit Vordringlichen und Aufdringlichen beiderlei Geschlechtes überlassen Siehe »Der schlimmste Feind«, S. 1 ff.. Die Frauenrechtlerinnen, denen stille Pflichterfüllung echter Weiblichkeit unmöglich ist, kämpften in lärmvollen Versammlungen um Frauenstimmrecht und Weiberherrschaft und schwatzten ihren unerfahrenen Geschlechtsgenossinnen auf, daß es nur eines Zusammenstehens der Frauen aller Länder bedürfe, um allem »Unwesen der Kriegsschreier« durch internationale Verständigung ein Ende zu machen. Nebstbei drängten sie in alle Männerberufe, und die Gründerinnen einer Frauenbank verstiegen sich zu dem Siegesrufe »Wir brauchen keine Männer mehr!« Nachdem die Bank verkracht war, mußten dann doch freilich Männer kommen, um den Schaden zu besehn!

Nicht anders lag es auf allen geistigen Gebieten, wohin man blickte. Das von so großen Hundertjahrserinnerungen durchstürmte Jahr hat viele gesunde Empörung gegen den unwürdigen Übermut hervorgerufen, der sich insbesondere auch kundgab anläßlich der abgeschmackten Puppenkasperei, in der Gerhart Hauptmann nach dem Geschmacke der ihm huldigenden Ruhmbeflissenheit und unter Verhöhnung aller ehrwürdigen Überlieferung das ihm in Auftrag gegebene Jahrhundertfestspiel gestaltet hat. Eine Bewitzelung der deutschen Turnerschaft, die dem Jünger des »Berliner Tageblattes« freilich übel genug bekommen ist, lag in der gleichen Richtung gegen alle schöpferischen Gemütskräfte, die sich für die deutsche Jugend aus dem Ernste der Erinnerung an das Befreiungsjahr und aus dem felsenfesten Vertrauen auf unser herrliches Heer und unsere kampfmutige Flotte ergab. Der Büchermarkt bewies, daß die Tüchtigen und Tapferen mutentschlossen die Zukunft ins Auge faßten, der Maklerring der Erfolgbörse aber sie von vornherein von jeder »Notierung« ausschloß und die ehrliche Aufwallung vaterländischer Begeisterung durch fades Gewitzel zu zersetzen trachtete. Immer selbstverständlich mit der gegenüber jeder Vaterlandsgemeinde üblichen Überheblichkeit und den Schlagwörtern von »Kulturschmach« und »Jahrhundertschande«! Die Schaubühne pflegte neben niederziehenden Dirnenstücken mit besonderer Freude die Verherrlichung der Revolution. Jeder Blick in die sozialdemokratischen Zeitungen von 1913 deckt in lehrreicher Weise auf, wie der Arbeiterschaft jedes religiöse Empfinden planmäßig verekelt wurde und nicht besser stand es um die Ehrfurcht vor den Männern, die zur Zeit, als Deutschland unter den Fußtritten des Korsen am Boden lag, das Feuer der Vaterlandsliebe in den Herzen geschürt und behütet hatten. Es mußte ja freilich die ewig Blinden peinlich berühren, daß Arndt in seinen »Erinnerungen aus dem äußeren Leben« so unzweideutig die Gefahr der drei uns umlagernden Staaten dargelegt hat, die noch jetzt uns bedrohte:

»Dies sind die drei mächtigen Reiche der Russen, Engländer und Franzosen, – den Fremden gegenüber so eines Sinnes und Mutes, als wir oft durch die heilloseste Zwietracht zerrissen gewesen sind. Komm ihnen nahe und wage an ihrer Einheit dich zu erproben, du wirst es fühlen, was lange uralte Gewohnheit tut, selbst wenn solche einmal von einem Tyrannen mit der Geißel getrieben würde. Sie haben das verletzlichste › noli me tangere‹ ...«

»Aber«, wird man sagen: »Haben wir nicht England?« Nein! England scheut jeden ernsten Zusammenstoß mit Rußland schon seiner Handelsvorteile wegen wie die Pest. Auch würde es uns jede Hilfe, wie es bis jetzt getan, teuer bezahlen lassen ... Auf unsere Kosten, um unser edelstes Blut, hat es Frankreich, den gemeinsamen Feind, nachdem es ihm sein Beliebiges abgenommen, gegen unsere gerechtesten Ansprüche und Rückforderungen geschützt, in unseren inneren deutschen Verhältnissen aber auf das emsigste für die Schwächung, Teilung und Spaltung gearbeitet. Welche unwürdige Eifersucht und Neid gegen Preußen, weil es etwas Großes werden zu können schien. Welche dreifache Eifersucht würde es sogleich offenbaren, wenn Deutschland je in die würdige Stellung kommen könnte, nur den Anfang einer Seemacht zu bilden

Und die Franzosen? Über sie urteilt er mit lehrreicher Klarheit:

»Man kann dies Volk noch immer mit vier, fünf Worten beschreiben, wie die römischen Geschichtsschreiber es schon geschildert haben: es ist neuerungssüchtig, herrschsüchtig, eitel und prahlerisch und des Wechsels und Aufruhrs lüstern. Sie werden, sobald sich eine günstige Gelegenheit zeigt, sich wieder auf ihren Rhein versuchen und auch von ihren Brückenköpfen heraus zu uns herüberspringen.«

Herrn Otto Ernst hatte dieser politische Klarblick des Sängers von der Sehnsucht nach des Deutschen Vaterlande schon längst nicht schlafen lassen und er hatte in seinem »Buch der Hoffnung« ihm, wie folgt, nachgeschimpft:

»Der Teutomane Ernst Moritz Arndt, dessen widerwärtige Franzosenfressereien im Lichte der damaligen Zeit allenfalls erklärlich waren, leider aber noch unsrer heutigen Jugend als Muster patriotischer Gesinnungslyrik aufgedrungen werden, ist neben Jahn, Sand, Maßmann, Fries, Follen u. a. eine für die Beschränktheit des Nationalismus recht bezeichnende Erscheinung. Er, der den Mund für die nationale Freiheit bis zur höchsten Unschönheit voll nahm, war im Grunde genommen ein vollkommener Reaktionär. Dieser E. M. Arndt ... ist für unser heutiges Gefühl ein Patriot, wie er nicht sein soll und für die nationale Erziehung kein Vorbild, wie wir es brauchen.«

Als Hermann von Fall auf die Ungeheuerlichkeit dieser Beschimpfung hinwies, glaubte Herr Otto Ernst Schmidt den Spieß umkehren und von »Hetzartikeln« konservativer Blätter sprechen zu dürfen. Er nannte darin Arndts politische Lyrik »für unser Empfinden roh und abgeschmackt und für die patriotische Erziehung unsrer Jugend höchst ungeeignet«.

Neben dieser Verhöhnung vaterländiger Überlieferung her lief eine schamlose Pflege des »Sensationellen« die in dem urteilslosen Teile, namentlich der großstädtischen Bevölkerung alle Begriffe von Ehre und Schande, Recht und Unrecht verwischen mußte. Mordtaten wie die von Sternickel und Henning wurden in ihrer Durchtriebenheit von den Straßenblättern geradezu bewundert, und der Schuster Voigt wetteiferte in den Augen dieser Presse an Volkstümlichkeit mit Zeppelin.

Der aufmerksame Beobachter konnte in alledem nur die Folge jener Entwickelung erblicken, die zum Verlassen jeder gesunden Grundlage unseres ungebrochenen Volkstumes geführt hatte. Immer mehr hatte sich das deutsche Volksvermögen zu Ungunsten des deutschen Wirtsvolkes verschoben: in den Jahren 1813 bis 1904 waren nach Gustav Ruhland bereits 32 Milliarden an Börsenwerten ausgegeben. Jetzt kamen die faulen amerikanischen Minenwerte und sonstigen Abschiebungen dazu, die London und Paris los sein wollten, bevor es zum Kriege kam. Immer mehr wurde das Kapital Herr auch über den Grundbesitz und damit natürlich auch über die landsässige Stammkraft des deutschen Volkes. War die Bevölkerung des Deutschen Reiches von 41 Millionen in 1871 binnen 40 Jahren auf 67 Millionen angewachsen, so fiel der Großteil dieses Zuwachses auf die Städte und unter diesen auf die Großstädte, die allein 40 v. H. dieses Wachstumes schluckten. In der Zeit von 1885 bis 1905 hatte sich die Zahl der Großstadtbewohner verdoppelt, die Einwohnerzahl der Mittelstädte war um die Hälfte angewachsen. Etwa die halbe Gesamtbevölkerung Deutschlands wohnte in Städten. Und von einer Verminderung des Zuzuges war keine Rede. Untrennbar verkoppelt mit dieser Binnenwanderung blieb der Bodenwucher und dementsprechend die wachsende Verschuldung des Reiches und als Auswirkung alles dessen Landflucht neben Großstadtluxus, grinsendes Elend und Geburtenrückgang, die Drohung mit dem Gebärstreik als politisches Kampfmittel, Entgeistigung und Entsittlichung zwischen den Geschlechtern, freie Liebe und »Recht auf Mutterschaft« auch ohne dazugehörigen Gatten, und als schönste aller Selbstverständlichkeiten die Nacktkultur: in Berlin Fräulein Olga Desmond, in München die sogenannte »Miß Gwendolin« ohne G'wändl.

Kein Vernünftiger bezweifelte bei alledem den tüchtigen Kern unseres Volkes! Auch in der Arbeiterbevölkerung hatte doch gar Mancher, der da mitten drinsteckte in dem wüsten Lärmen, Hasten und Jagen, sich längst die Frage vorgelegt, ob es richtig sei, daß die Städte einen so übermäßig großen Raum eingenommen haben und daß sie trotzdem immer noch weiter wachsen wollten und sollten: nicht nur in die Breite, sondern gar auch noch in die Höhe bis zum Zerrbilde der Wolkenkratzer.

Und durch unsre in Gottes freier Natur Frohsinn und Mut schöpfende Jugend ging es in der Vorkriegszeit wie ein ganz neues großes Erkennen von den Wurzeln des gewaltigen Schicksales, das über unser Volk hereinzubrechen drohte und vor dem alles Blendwerk der Zivilisation in seiner Nichtigkeit vergehen mußte. Dazu aus der Tiefe aller bedrängten Seelen das Erschauern vor dem geheimnisvoll Grausigen, das aus banger Ahnung riesengewaltig sich emporzuheben schien. Und ein inbrünstiges Verlangen nach Verwirklichung und Vertiefung auch in dem edleren Teile unsrer herrlichen Frauenwelt, die in Opferbereitschaft sich in die Reihen der kämpfenden Jugend einzuschließen bestrebt war!

Aber nach außen hin und für den oberflächlichen Blick gab sich das im Straßentreiben verkörperte deutsche Leben als Massenschmutz unter einer bestaunten und gefeierten Bogenlichtkultur, in deren Scheine sich nach der Versicherung eines Mittagsblattes »die anständigen Frauen unanständig und die unanständigen anständig« zu betragen bemühten.

Dieser angespülte Abschaum des städtischen Lebens schien jedes Verständnis dafür verloren zu haben, was es bedeutet, ein in Kraft und Ehren stehendes, freies Vaterland zu haben, mit bescheidenem und hingebungsvollem Stolze einem in seinen edelsten Zielen sich einig fühlenden Volke anzugehören. Wie für unsere Feinde schien auch für diese Auchdeutschen Bismarcks Lebensarbeit und das Glück der wilhelminischen Zeit ein belangloser geschichtlicher Zwischenfall zu sein, die Warnung vor einem Kriege überhaupt lächerlich und die Sorge um die Verteidigung des Vaterlandes ein überwundener Standpunkt.

In der Tat, dies Geschlecht und diese Welt erschienen reif für den Ritt und Schnitt der apokalyptischen Reiter.

Da zuckte es wie Wetterleuchten auf in dem Verbrechen von Sarajewo.

Da kam der Krieg!

 

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Den Druck besorgte in Altschwabacher Fraktur Oscar Brandstetter, Leipzig.

Einbandentwurf Theodor Schultze-Jasmer, Leipzig.

 


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