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Die Könige der Republik.

 

»Dafür ist er nun unser König,
s'lohnte sich wenig, lohnte sich wenig,
daß den König man vertrieb,
wenn alles doch beim alten blieb!«

Chor der Töchter der Halle in »Mamsell Angot.«

 

Derselbe Treitschke, der uns 1870 in seiner a. a. O. erwähnten Schrift den Willen gestählt hatte mit der Forderung »Heraus mit dem alten Raube, heraus mit Elsaß-Lothringen!« hat nach dem Kriege das Wort gesprochen: »Europa kann den Genius Frankreichs nicht entbehren. Es wäre ein namenloses Unglück für die Gesittung der Welt, wenn das Volk Molières und Mirabeaus seine schöpferische Kraft für immer vergeudet hätte!« Kein Zweifel, daß alle Pflicht zur Selbsterhaltung den ehrenhaften Deutschen nicht daran hindert, sich dieser letzten Verbundenheit mit Frankreichs führenden Geistern bewußt zu bleiben. Victor Hugo hatte recht mit dem Worte, daß die Deutschen und die Franzosen zwischen dem Inselvolke der Briten und den Steppenhorden der Russen die eigentlichen erstgeborenen Söhne der europäischen Heimat sind. Das alte aus germanisch-gallischem und fränkischem Blute gemischte Franzosentum, das heitere Volk der Rabelais, Montaigne und Pascal, hat auch heute noch Vieles und Schönes zu bieten. Unter seinen Lebenden kämpft mehr als einer mutig den Kampf zur Rettung der Hochgedanken, die es vor der Franzosendämmerung bewahren sollen. Viel zu wenig beachtet waren bei uns in den Siebenziger Jahren A. de Pontmartins » Nouveaux Samedis,« insbesondere sein heute wieder zu hohem Gegenwartswerte gelangter Aufsatz über »die soziale Zersetzung durch die Literatur«, in dem er darlegt, wie das entartete französische Schrifttum die Niederlagen von 1870 und die Kommune vorbereitet hat. Und wer kennt in Deutschland Emile Montéguts prachtvoll klare Arbeit über den »Roman des Naturalismus und den poetischen Verfall«, wer E. Caros » Idolatrie de la Révolution«?

Es wäre verbrecherisch und albern obendrein, der Gesamtheit des französischen Volkes jeden letzten Rest von Gemüt, Zartgefühl und Herzenshöflichkeit absprechen zu wollen. Ein Bruchteil des Volkes ist noch wert, geliebt zu werden, hat sich noch die Vorzüge bewahrt, die der französischen Gesittung einst die Herzen der Welt gewonnen haben: die liebenswürdige Milde des Ausdruckes bei offenem Freimute im Sachlichen, den inneren Adel, dem die Liebkosungen der Unterhaltung so ungezwungen entspringen. Hart beieinander liegen diese Vorzüge oft mit den grellsten Gegensätzen und noch öfter haben sie sich flüchten müssen vor dem lauten Lärm der Öffentlichkeit. Aber um dieser unterdrückten Reste willen können und dürfen wir als immer wieder in unserem Arbeitsfrieden bedrohtes und in unserem Daseinsrechte bestrittenes Volk nicht die Verrohung übersehn, die trotz aller Rettungsversuche das Volk ergriffen hat, und noch weniger die Unsumme von Haß und giftgeschwollener Niedertracht, mit der es seit der Wiederbelebung seiner Hoffnungen uns den Untergang geschworen hat: aus keinem anderen Grunde, als dem, daß wir seiner Herrschsucht und Ruhmbegier mit der Wiedereroberung der geraubten Gebiete einen Damm entgegengesetzt haben. Und wir müssen eingedenk bleiben, daß die Größe dieses leichtbeweglichen, ewig veränderungslustigen und zanksüchtigen Volkes allezeit nur möglich gewesen ist auf unserer eigenen Schmach und Schande!

Um so lehrreicher bleibt für uns die Kenntnis der geschichtlichen Ursachen des französischen Verfalles. Sie liegen hauptsächlich in der Alles beherrschenden Einseitigkeit des Einflusses von Paris. In demselben Maße, als dies mit seinem bestechenden Glanze auf allen geistigen Gebieten die Talente des ganzen Landes an sich gerissen hat, um sie schnellverbraucht verächtlich beiseite zu werfen, ist das französische Leben verflacht und seiner besten schöpferischen Kraft beraubt. Die provenzalische, katalonische und bretonische Bewegung zeigen deutlich, daß die Gefahren der Zusammenfassung des französischen Lebens in dem einen Brennpunkte Paris, die alle Sonderart ertötet, von den selbständigeren Geistern wohl noch erkannt werden; aber diese kommen nicht gegen den Strudel auf und versinken im Strome der Gleichmacherei.

Wohl die wertvollste der Strömungen, die dieser Verödung des geistigen Frankreichs entgegenzuwirken trachteten, war die vielverspottete Neuromantik. Gewiß: die Jungfrau von Orléans, deren Verherrlichung in neuer Belebung ihr Dienst galt, hatte sich bis dahin in Frankreich keineswegs der Wertschätzung erfreut als im Deutschland Schillers. Voltaire hatte sie gründlich lächerlich zu machen versucht, und als Fahnenträgerin in einem englisch-französischen Raubkriege nimmt sie sich seltsam genug aus, sintemalen England im Vereine mit französischen Bischöfen sie hat verbrennen lassen. Aber trotzdem ist es nicht erlaubt, die ganze Bewegung damit abzutun: die Jungfrau sei nur deshalb zur neuen Heiligen Frankreichs geworden, weil sie zu Domrémy in Lothringen geboren, also eine Landsmännin des Herrn Raymond Poincaré sei.

So seltsam befremdend diese ganze Bewegung mit ihren Widersprüchen uns erscheinen mochte, so tief hat sie doch das französische Volk ergriffen und so bezeichnend bleibt sie für den gallischen Geist. Man war der kleinlichen, philisterhaften Schuhriegeleien müde geworden, mit denen die Herren Combes und Clémenceau die Kirche und ihre Diener einschließlich der Grauen Schwestern verfolgten. Müde überhaupt des Weges fort von Gott und fort von der französischen Geschichte. Man strebte zurück nach dem alten Schimmer der französischen Kultur und wandte naturgemäß dem Heere als der Hoffnung des Vaterlandes das Hauptaugenmerk zu. Im ausgesprochenen Gegensatze zu Deutschland war Frankreich damals schon zum wirklichen Lande der allgemeinen Wehrpflicht geworden und der Stolz auf dies Heer verwob sich mit dem Bedauern über die Vernachlässigung der alten französischen Überlieferungen, mit dem Schmerze über den Verfall der Kathedralen, wie ihn Maurice Barrès in seinem Buche » La grande pitié des églises en France« geschildert hat, diesem flammenden Einspruche gegen die Verwahrlosung der altehrwürdigen Dome, der nach der Trennung von Kirche und Staat nicht nur die kirchenfeindliche Regierung des Landes, sondern das französische Volk selbst anklagte. Als Sinnbild dieser Bewegung hat die Jungfrau – mehr wohl, als den Franzosen bewußt war, überstrahlt vom Abglanze Schillerschen Geistes – zur Vaterlandsbefreiung vom Geiste der Unduldsamkeit ihr Volk vielleicht viel leidenschaftlicher geführt, als einst im Kampfe gegen die Engländer. Daß sie schließlich gar zur Ruferin im Streite gegen das Volk ihres Dichters werden konnte, ist und bleibt eine der bitterspöttischen Randbemerkungen, in denen der überlegene Hohn der Geschichte sich gefällt.

Und nicht minder bitter erscheint die geschichtliche Ironie, daß all dies Wünschen und Sehnen des jungmystischen Frankreichs in der schönen Straßburggestalt sich verkörperte. Dieses selben Straßburg, in dem die Bewegung der alten deutschen Mystik mit ihren Bruderschaften und Gottesfreundschaften den Kampf gegen alles Welsche unter Rulman Merswin und Meister Eckard so tapfer in seinem Kernpunkte geführt hatte und dessen städtische Blüte von den französischen Revolutionsbanausen so pöbelhaft zertreten war!

Aber natürlich lag gerade in der unbekümmert französischen Überheblichkeit die Kraft der Bewegung. Und ihr Glaube an sich selbst wurde wesentlich gestärkt durch den völligen Zusammenbruch der französischen Parteipolitik. Schon als im Jahre 1887 der von Jules Grévys Schwiegersohn Wilson betriebene Ordensschacher den Präsidenten veranlaßt hatte sein Amt aufzugeben, war das Treiben der Auserwählten des Volkes für dies Volk in üble Beleuchtung gesetzt, und der Ekel an den eingerissenen Zuständen war in demselben Maße gewachsen, als Schwindel auf Schwindel zur Erkenntnis beitrug. Sadi Carnots Ermordung durch den Anarchisten Caserio zu Lyon und die Dreyfuszeit unter Casimir-Périer und Felix Faure hatten die Zerklüftung des französischen Lebens deutlich hervortreten lassen. Unter Armand Fallières, der am 17. Januar 1906 zum Präsidenten gewählt war, erfolgte der Sturz Rouviers wegen der Unruhen, die bei der Aufnahme des Besitzes der Kirchen vielfach ausgebrochen waren. Und im Juli wurde Dreyfus, nachdem nicht weniger als sechs Kriegsminister ihm geopfert waren, rehabilitiert, zum Major ernannt, mit der Ehrenlegion ausgezeichnet und dem 12. Artillerie-Regiment überwiesen, dessen Offizierkorps unter Führung des Oberst Mayer Samuel ihm jauchzend zujubelte: zur nicht geringen Genugtuung und Rührung der sogenannten »großen« deutschen Presse. Selbst der Bericht, den ein Ausfrager vom »Petit Parisien« über seine für uns gänzlich gleichgültige Unterredung mit dem Oberst Mayer Samuel veröffentlichte, wurde in alle vier Winde gedrahtet nebst der von niemand bezweifelten Äußerung: »Ich versichere Sie, Major Dreyfus wird von allen sehr gut aufgenommen werden, und am besten von seinem Oberst!« Die Mobilmachung der öffentlichen Meinung Deutschlands war umsonst gewesen; denn als Major Dreyfus am 25. Juli zum ersten Male wieder im Cercle militaire erschien, wo das Offizierkorps des 13. Artillerie-Regiments seinem Freunde Targe zu Ehren ein Mahl gab, zu dem eine Gruppe auch ihn eingeladen hatte, trat ein Offizier auf ihn zu, um ihm sein Bedauern über diese Einladung und sein Befremden über deren Annahme auszudrücken, was gegenüber dem nun mal Eingeladenen jedenfalls unziemlich war. Und als Dreyfus, anstatt sich kühl zurückzuziehen und dem Gegner seine Zeugen zu schicken, laute Widerrede gab, wurde er geohrfeigt. In Deutschland ist er darauf wiederum als Opferlamm dem Mitleide aller fünf Weltteile empfohlen worden, aber der zutage getretene Gegensatz hatte schärfer als alle Anstrengungen Zolas und alle Leitartikel der gegnerischen Presse beleuchtet, wie sehr die Politik bereits in das französische Heer eingedrungen war: zum Schaden von Takt und Kameradschaftlichkeit.

Die Republik wurde nicht gefestigt durch diese Vorgänge und es war schließlich nur noch die Furcht, mit einer anderen Regierungsform noch schlimmere Zustände einzutauschen, »die Furcht vor dem Einen«, welche die Parteien halbwegs zusammenhielt. Dazu kam, daß die Stellenjägerei und die Sucht, sich durch Staatsaufträge zu bereichern, die Abgeordneten mehr und mehr zu Agenten für die Wünsche ihrer Wähler, zu députés d'arrondissement, gemacht hatten, die Minister aber und oft das ganze Ministerium zu den Geschäftsträgern der ausschlaggebenden Kreise, die gewöhnlich auch in Deutschland mit ihrem französischen Namen bezeichnet werden: der »Finanzoligarchie.« Sie bestand aus Juden, Freimaurern und Fremden, die mehr und mehr aus Genf und Amerika Paris zuströmten, dessen äußeres Bild unter der Herrschaft des unvergleichlichen Yankeegirl und des abscheulichen Yankee-Slang immer mehr Amerikanisches bot. Hatte bisher schon die Zusammendrängung alles geistigen Lebens in die Landeshauptstadt dazu beigetragen, daß es zwei ganz verschiedene Paris gab, le Paris français und le Paris parisien, so trug der amerikanische Einfluß nun dazu bei, dies pariserische Paris immer tiefer zu verpöbeln. Und den aufrichtigen Vaterlandsfreunden, die doch nicht ausschließlich nach den Ausschreitungen der Bewegung beurteilt werden dürfen, sondern hauptsächlich von einem treugläubigen Katholizismus ausgingen, wurde immer klarer, zu welcher Verödung des ganzen französischen Lebens die Verflachung von Paris führen mußte. Auch war ihre Denkart keineswegs durchweg ungeschichtlich. Konnten sie die Ereignisse von 1789 nicht ungeschehen machen, so wollten sie doch mindestens der Natur wieder zu ihrem Rechte verhelfen und stritten deshalb gegen den Wahn, als ob die Erklärung der Menschenrechte genügt habe, das französische Volk auf die Höhe seiner eigenen Art zu bringen. Vielmehr erkannten sie treffsicher, wie diese Erklärung zum allgemeinen Stimmrechte und damit zur Auflösung aller Ordnung und zur Zwinglandei einer kleinen Gruppe von Übermächtigen geführt habe, eben jenen »Königen der Republik«! Diese aber konnten unmöglich so sozial denken, wie der König als erblicher Herrscher tatsächlich gedacht hatte, denn er brauchte sich nicht vorzudrängen, sondern konnte von seinem anerkannten Platze aus und nach bestem Wissen und Wollen das Wohl des Volkes fördern. Insbesondere aber erkannten diese Neuromantiker den verhängnisvollsten von den vielen Irrtümern von 1789: daß mit Zerschlagung der alten Provinzen Champagne, Bretagne, Normandie, Touraine, Ile de France, Provence usw. das Gauleben und Stammesbewußtsein zerstört sei, aus dem soviel Eigenleben und geistige Schöpferkraft ersprossen war. Aus ihm hatte das alte Frankreich sein Bestes geschöpft. Jetzt zog Paris aus den zu Verwaltungskreisen herabgedrückten Departements zwar mehr als je alle Tüchtigen an, aber keineswegs um ihnen freie Bahn zu bieten, sondern um sie auszusaugen und alsdann wie verbrauchte Zitronen in den großen Müllverbrennungsofen zu werfen, den das Leben der Hauptstadt darstellt. Freilich hatte die Republik sehr wohl gewußt, warum sie gerade dies Gauleben zerstörte, und die Demokratie hatte alles getan, um die letzten Reste des alten Sonderbewußtseins mit dem ätzenden Höllensteine des Combismus auszubrennen. Bei der unter Poincarés Präsidentschaft geplanten Zusammenlegung der Departements zum Zwecke der in Beratung genommenen Verhältniswahlen wurde ja auch als nicht zu unterschätzender Nebenzweck die Verhinderung jeder Wiederbelebung des Stammesgefühles der alten Provinzen verfolgt.

Wäre es nun bei dem Durcheinanderwirbeln der französischen Volksbestandteile geblieben, so hätte Paris immerhin ein ausgeglichenes Franzosentum verkörpern und damit verwirklichen können, was es als Rechtfertigungsgrund der »Zentralisation« für sich in Anspruch nahm. Aber dem unbefangenen Urteile aufrichtiger Franzosen entging nicht, wie dies großstädtische Leben gerade der französischen Art zum Verhängnisse wurde; denn mit der Verfeinerung der Sitte hielt der Rückgang der Geburten Schritt und in dem heranwachsenden Geschlechte blieben jene üblen Beimischungen Sieger, die aus der unverbrauchten Rohkraft schnauzbärtiger Balkanslawen oder nordöstlicher Krausköpfe stammten. Aus dieser Tschandala hauptsächlich ging doch auch das Verbrechertum von Montmartre hervor mit seinen ausgemergelten Zuhältern und dem vor dem Kriege »letzten Schrei der Zivilisation«, den anarchistischen Automobilapachen, die mit ihrer Straßenräuberei den Abend der Präsidentschaft Fallières so merkwürdig verklärt haben.

Dem Tieferblickenden mochten diese urigen Rohlinge noch gar nicht einmal als das Schlimmste erscheinen; viel zerstörender wirkte die geistige Verelendung, die seit den Tagen der Commune in das französische Schrifttum ihren Einzug gehalten hatte und mit der Bewitzelung alles Heiligen, der Verspottung jeden Heldentumes, dem Schminken und »Parfümieren« des Naturlebens und der Verlogenheit erheuchelter Leidenschaft den ehrlichen und gesunden Schwung des altfranzösischen Wesens immer tiefer verdarben. Die ganze Masse der regierenden Schicht von politischen Advokaten, Ämterschleichern und Konzessionsschwindlern, schönrednerischen Philosophen, gespreizten Nichtigkeiten des Theaters und gefeierten Meistern der Kapellmeister-Musik war nicht unberührt geblieben von dieser Verwischung aller ehemals festen Begriffe: kein Mensch in ganz Paris ist vom Ekel geschüttelt worden, als eines Tages der Präsident der Republik, Herr Felix Faure, tot in den Armen der Frau Steinheil gefunden wurde.

»Von manchem Günstling frech belogen
ward mancher König dann und wann
und von Maitressen arg betrogen –
sagt, sind wir heut viel besser dran?«

Es war wirklich zuviel verlangt vom spottlustigen Paris, bei diesem Tode des Staatsoberhauptes ernst zu bleiben. Seine Begleiterscheinungen waren von Stimmungen umklungen, die an Lecoqs Operettenschmarren erinnerten. Ganz Europa mußte wochenlang erdulden, daß es mit dem üblen Prozesse gegen Frau Steinheil, diese neueste europäische Berühmtheit unterhalten wurde, deren Freispruch ja für jeden halbwegs kundigen Thebaner von vornherein feststand und an sich ebensowenig Aufmerksamkeit beanspruchen konnte, wie etwa die Angelegenheit des Herrn Dreyfus. Der eine wie die andere waren nur möglich auf dem Sumpfboden einer Demokratie, in dem nichts gedeihen konnte als die Schwülblüte einer alles beherrschenden, alles vergiftenden, alles verachtenden Geldwirtschaft.

Die kaum mehr als 55 Nutznießer dieses Zustandes hatten bis zur Präsidentschaft Loubets und selbst noch unter Armand Fallières das schiedlich-friedliche Verhältnis mit Deutschland begünstigt, bei dem ihre Geschäfte ja auch bestens gediehen. Sie sind es auch keineswegs gewesen, die Raymond Poincaré zur Präsidentschaft verholfen haben. Wohl aber mußten sie auf die neuromantische Strömung und ähnliche Erscheinungen, wie die » Action française« Rücksicht nehmen, zumal diese unter Charles Maurras mit seinen Camelots du Roi den Samstagabenden eine ganz andere politische Stoßkraft verliehen, als Pontmartins geistvolle Aufsätze in den siebenziger Jahren vermocht hatten. Als Millerand diesen Feierabenden durch den Zapfenstreich den Charakter nationaler Kundgebungen gab, gewann diese Neuromantik unter der Fahne der bonne Lorraine eine verblüffende Kraft. Die bereits geschilderten, vom » Central comittee for national patriote Organisations« ins Leben gerufenen » Amitiés françaises« mit ihren lockeren, über ganz Belgien und Lothringen hin verstreuten Verbindungen, sowie ihren Beziehungen zu den französisch-italienischen Bünden unter Führung von Guglielmo Ferrero und Luzzatti gaben dieser ursprünglich katholischen Bewegung eine erdbebenhaft rüttelnde Gewalt.

Unter diesen Einflüssen erhob sich der Kampf um die Präsidentschaft weit über einen Parteistreit hinaus zur Schicksalsfrage für Frankreich. In der Hauptwahl waren von 748 nur 646 Stimmen abgegeben, so daß die Mehrheit 324 betrug. Es erhielten Pams 322, Poincaré 310, Ribot 11, Delcassé 2, Deschanel 1 Stimme. Gleich nach dieser Hauptwahl trat der Ministerrat zu einer Sitzung zusammen, an der Delcassé und Pams nicht teilnahmen. Zahlreiche Senatoren und Abgeordnete, unter ihnen auch Clemenceau, versammelten sich unter Vorsitz von Combes. Dieser schlug vor, Poincaré zu bitten, seine Kandidatur aus republikanischer Disziplin nicht aufrechtzuerhalten. Ribot wurde aufgefordert, sich diesem Schritte anzuschließen, entzog sich dem aber mit dem Einwande, daß er gegebenenfalles wieder Kandidat werden könnte. Es wurde darauf eine Abordnung von Führern der Linken zu Poincaré geschickt, um ihn zum Verzichte zu veranlassen. Er aber erklärte, daß er anderer Meinung sei und daß die Nationalversammlung das letzte Wort sprechen müsse. Welcher Art die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen gewesen sind, die dann zur Wahl des Herrn Poincaré geführt haben, können wir nur aus den Folgen seiner Wahl schließen. Die Geldschrankwirtschaft, die bis dahin in Sachen der äußeren Politik unbedingt dem Frieden hatte ergeben sein wollen, hatte sich mit Poincarés Einflusse ausgesöhnt, offenbar nicht, ohne ganz bestimmte Bedingungen zu stellen, die nach der Wahl in allerhand Bittgängen zu bisherigen Gegnern Ausdruck gefunden haben. So kam es, daß bei Verkündung der Wahl Herr Clemenceau sich geschlagen fühlte, seinen Filzhut tief in die Augen drückte, den Kragen seines Überziehers hochkrempelte und bleichen Angesichts den Königspalast verließ. Hingegen war der eifrige Logenbruder Herr Pams der erste, der auf Poincaré zuging, ihm beide Hände drückte und ihn zu seinem Erfolge beglückwünschte, trotz des Vorsprunges, den er einige Stunden lang vor dem Gewählten gehabt hatte. Noch herzlicher war der Glückwunsch durch Herrn Ribot. Auch in der über Frankreich hinausreichenden Geldmacht war die Genugtuung allgemein.

Was die Wahl dieses Präsidenten für Deutschland bedeutete, konnte nicht einen Augenblick lang zweifelhaft sein, und wo etwa noch ein solcher Zweifel bestand, hätte die Herzlichkeit der russischen und italienischen Glückwünsche ihn beseitigen müssen. » Hocherfreut über die Nachricht«, sprach der Zar aus Zarskoje Sjelo dem neuen Präsidenten seine aufrichtigen Glückwünsche aus:

»Ich zweifle nicht daran, daß unter Ihren Auspizien die Bande, die Frankreich und Rußland verbinden, sich zum Besten der beiden befreundeten und verbündeten Völker noch enger gestalten werden.«

Unterwürfig schrieb die Frankfurter Zeitung:

»Herr Poincaré wird im Elysée ein Hüter des allgemeinen Friedens, ein zuverlässiger und tatkräftiger Freund jeglichen nationalen und internationalen Fortschrittes sein. Darum dürfen wir auch ihn zu seiner Erwählung herzlich beglückwünschen.«

Die Wiener »Neue Freie Presse« schloß ihren Begrüßungsaufsatz mit der Versicherung, daß auch Österreich-Ungarn nur zufrieden sein könne, daß ein Mann an die Spitze des französischen Staates trete, der sich so nachdrücklich als Freund und Förderer des Friedens bewiesen habe:

»Das ist das Bild eines klugen und besonnenen Mannes, dem alle Abenteurerpolitik fernliegt und dessen bisherige Tätigkeit eine Bürgschaft dafür ist, daß er für die gedeihliche Fortentwicklung seines Landes weiterarbeiten wird, nicht nur zum Wohle Frankreichs, sondern ganz Europas

Die »Vossische Zeitung« schloß ihre Begrüßung:

»In Deutschland kann man die Wahl dieses besonnenen und maßvollen Politikers, der wohl zur radikalen Partei gehört, aber nie radikal gehandelt hat, ohne Bedenken und Hintergedanken begrüßen

Der »Berliner Börsenkurier« meinte:

»aus dem bisherigen Verhalten Poincarés ... zu entnehmen, daß er eine durchaus korrekte Haltung Deutschland gegenüber einzunehmen gedenken wird. Es ist auch nicht zu verkennen, daß Poincarés Politik als Ministerpräsident während des Balkankrieges eine verständige Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich herbeigeführt hat.«

Einfach süß, wie der Berliner sagt, war der Glückwunsch des »Vorwärts« an den zum Präsidenten gewählten machtlüsternen Staatsstreichler:

»Herr Poincaré ist für die nächsten sieben Jahre das Staatsoberhaupt Frankreichs. Nicht nach dem Rechte der Geburt, nicht nach irgendeinem mystischen Gesetz des Gottesgnadentums, sondern als Erwählter der französischen Volksvertretung. Ist diese Wahl nicht eine würdigere und vernünftigere Art, ein wichtiges und verantwortungsvolles Amt zu besetzen, als dies dem blinden Zufall der Geburt zu überlassen?«

Ich habe das leitende Blatt der deutschen Sozialdemokratie damals auf Folgendes aufmerksam gemacht:

»Es beweist damit nur aufs neue, daß ihm in seinem verblendeten Hasse gegen die Monarchie alles Verständnis für die wirklichen Belänge der deutschen Arbeiterwelt und das unbefangene Urteil über staatliche Einrichtungen vollständig abhanden gekommen ist. Gerade der Fall Poincaré regt sehr lebhaft zur Erörterung der Vorzüge und Nachteile monarchischer und republikanischer Staatseinrichtungen an. Herr Poincaré ist unzweifelhaft ein ungewöhnlich kluger und kühl berechnender Kopf. Nicht mit Unrecht weisen französische Blätter darauf hin, daß aus seiner Familie der größte französische Mathematiker, Henry Poincaré, hervorgegangen sei und daß der jetzt 52jährige Präsident, der sich in der herablassenden Begrüßung des jubelnden Volkes mit großer Handbewegung als ein Napoleon IV. gebärdet, zur höchsten Staatswürde mit ungewöhnlich kühler und kluger Berechnung hinaufgeklettert sei. Aber gerade wenn man die Stufen seines Emporsteigens deutlich prüft, wird man auf den ersten Blick erkennen, daß doch vor allem der »blinde Zufall der Geburt« Herrn Poincaré vor allen seinen Wettbewerbern vom Freitage begünstigt hat. Das kleine Männchen mit dem viereckigen Dickkopf und ganz germanisch anmutenden blonden Zickelbart stammt nämlich aus Bar le Duc und ist sich des nicht geringen Vorteiles dieser Herkunft sein Lebelang bewußt geblieben. Seine ganze Laufbahn ist durchhallt von dem pathetischen Hinweise auf sein Lothringertum und auf die Hoffnung der unter deutschem Joche schmachtenden verlorenen Brüder. So ist sein Name schon zu Beginn der radikalen Ära so etwas wie ein Feldgeschrei gewesen, und wenn er damals und später sich zurückgehalten hat, so ist das, wie man längst klar übersehen konnte, eben in jener klugen Berechnung geschehen, die ihm das oberste Staatsamt erschließen sollte. Nun mag dahingestellt bleiben, ob die Befürchtungen seiner Gegner berechtigt sind, die ihm zutrauen, daß er als der Cousin der Könige und Kaiser stärker in Frankreichs auswärtige Politik eingreifen könnte als nach dem Geiste der Verfassung und nach ihren Wünschen dem Präsidenten der Republik zusteht. Auch durchaus innerhalb der ihm gezogenen Grenzen kann ein willensstarker französischer Präsident auf die äußere Politik Frankreichs dann einen unbestreitbar hohen Einfluß nehmen, wenn er diese im Strome des geringsten Widerstandes der Volksleidenschaften führt. Und Herr Raymond Poincaré hat auch noch als Ministerpräsident jedenfalls bewiesen, wie weit er davon entfernt ist, den wirklichen Belängen Frankreichs Rechnung zu tragen und volkstümlichen Strömungen sich entgegenzustemmen. Man braucht, um das sonnenklar zu durchschauen, nur auf den Wechsel seiner Stellungnahme im Verlaufe des Balkankrieges hinzublicken, bei dem er die ursprüngliche im Interesse des französischen Wirtschaftslebens eingehaltene Fühlungnahme mit Deutschland vollkommen preisgegeben hat, um sich »ganz Frankreichs heiligsten Interessen« in Syrien und der auch jetzt wieder betonten »Einheit der auswärtigen Politik« zu überlassen. Der »Vorwärts« freilich ist in seiner Voreingenommenheit blind gegen diese Tatsache und meint, daß »Frankreich als Rentnerstaat und trotz aller veralteten kleinbürgerlichen Revancheideologie für größere kriegerische Konflikte wenig disponiert« sei und daß deshalb Herrn Poincarés Wahl auch berufsmäßigen Kriegshetzern keine Gelegenheit für ihre Treibereien gebe. Gerade vom Standpunkte der sozialistischen Friedensfreunde aus hätte der »Vorwärts«, wenn er sich ein folgerichtiges Denken bewahrt hätte, alle Ursache, den »blinden Zufall der Geburt« zu beklagen, der einen mit seinem Lothringertume bei der Volksgunst hausierenden Advokaten zum Präsidenten der französischen Republik gemacht hat!

Blickt man aber auf die besonderen Zustände, welche die vom »Vorwärts« so sehr gepriesene Wahl auch diesmal enthüllt hat, so drängt sich jedem Unbefangenen doch der unstreitbare Vorzug der konstitutionellen Monarchie auf, in der die Einheit der Regentschaft gesichert ist. Wenn auch zugegeben werden soll, daß der Kampf zwischen Poincaré und Pams ein weniger unwürdiges Bild geboten hat wie die amerikanische Wahl, so war der Anblick des Wahlkampfes doch gewiß alles andere eher als erfreulich. Schon daß Poincaré während der Wahlgänge in seinem Streitfall mit Clémenceau seine Ministerkollegen Briand und Klotz als Sekundanten namhaft machte, und daß es auch zwischen dem Radikalen Abg. Monzie und dem unabhängigen Sozialisten Boncourt zu einer Duellforderung kam, trug gewiß nicht zur Erhöhung des Ernstes der Staatshandlung bei – am allerwenigsten gerade vom Standpunkte des »Vorwärts« aus, der sonst doch jede Herausforderung als mittelalterliche Barbarei, junkerliche Roheit, Mord und Totschlag usw. verdammt! Indessen mag zugegeben werden, daß diese französischen Theaterduelle zu wenig ernst zu nehmen sind, als daß man sich daran erfreuen könnte. Noch viel weniger erfreulich aber sind die Erwägungen, die sich für den Unbefangenen an die Persönlichkeit des Herrn Pams und an die bloße Tatsache knüpfen, daß dieser Mann dem politisch doch unzweifelhaft bedeutenderen Herrn Poincaré überhaupt entgegengestellt werden und es in der endgültigen Abstimmung immerhin auf 296 Stimmen bringen konnte. Wer ist denn eigentlich dieser Herr mit dem einschmeichelnd klingenden Namen Pams? Auch hier liegt das Geheimnis des Erfolges im »blinden Zufall der Geburt« und zwar im doppelten. Herr Pams ist nämlich nicht nur selbst steinreich, sondern auch Schwiegersohn des Zigarettenpapierfabrikanten Yob. Also ganz das »dunkle Roß«, wie die Radikalen es brauchten. Bei jeder Zigarette, die der Arbeiter oder Bourgeois von Frankreich pafft, würde er haben daran denken können, daß sein Präsident von Schwiegervaters Gnaden so viel verdient, um auf das Gehalt zugunsten armer notleidender Zigarettenarbeiter verzichten zu können: so erzählten es die Anhänger des Herrn Pams dem Manne in der Straße. Ob der also Empfohlene im Falle seiner Wahl tatsächlich auf die eine Million Zweimalhunderttausend Franken jährlichen Gehaltes verzichtet haben würde, steht ja auf einem anderen Blatte und würde für die von ihm gedeckte Politik auch gleichgültig gewesen sein, vielmehr handelte es sich bei dieser um jene Gruppe von Radikalen, der ihr Stempel am deutlichsten damit aufgedrückt ist, daß ihre Anhänger sich unter dem Vorsitze von Combes versammelten. Bekanntlich hat dieser in jener Versammlung vorgeschlagen, Poincaré den Rücktritt von der Kandidatur um der Republik willen nahe zu legen; Poincarés Sieg bedeutet also die Niederlage dieser Gruppe, die man mit einem ungewöhnlich höflichen Ausdrucke vielleicht als »Logenbrüder« bezeichnen darf. In Frankreich selbst hat man sie auch schon die Könige der Republik genannt. Nun könnte man ja mit besonderer Genugtuung auf die Tatsache blicken, daß Poincaré über diese übelsten der üblen Drahtzieher gesiegt hat. Vergegenwärtigt man sich aber noch, wie erwünscht dieser Gruppe der Fall Du Paty de Clam kam, so versteht man doch, daß die französische Politik nicht nur dem Zufalle der Gegenwart, sondern sehr viel weniger erfreulichen Zuständen anheimgegeben ist, denn darin kann ja nicht der geringste Zweifel bestehen, daß die um Pams gescharten Radikalen, wenn Herr Millerand mit Du Paty de Clams Rehabilitation ihnen nicht in die Hände gearbeitet hätte, irgendeinen anderen Zwischenfall gefunden und auszubeuten verstanden hätten, um gegen Poincaré zu arbeiten.

Wie immer dem sei: die französische Politik wird unter Poincaré als Präsidenten nicht anders geartet sein wie sie unter ihm als Ministerpräsidenten gewesen ist. Und da sich im Staatsleben vor allem doch die geistigen Eigenschaften eines erprobten Regentenhauses und die Überlieferung seiner leuchtendsten Vorbilder vererben, so haben wir Deutschen wahrlich keine Ursache, mit Neid auf das vom blinden Zufalle beherrschte Frankreich zu blicken. Im Gegenteil gilt in weit tieferem Sinne, als Ludwig Bonaparte den Satz geprägt hat, heute im Gegensatze zur französischen Republik auf Deutschland angewandt das Wort: »Das Kaiserreich der Friede!«


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