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Reichsländische Wetterschauer.

 

»Es gibt eine elsaß-lothringische Frage.«

 

Die Franzosen wußten selbst am besten, daß der deutsche Begriff »Reichslande« erst im Frankfurter Frieden geprägt ist und daß das alemannische Elsaß mit dem fränkisch-keltischen Lothringen weder geschichtlich, noch stammlich, noch gewerblich das Allergeringste gemeinsam hatte. Mit umso größerer Genugtuung verzeichnten sie die Fortschritte ihrer Aufklärungsbestrebungen im Elsaß und die Tatsache, daß in allen Fragen des nach ihrer Meinung einzig rechten Schliffes und guten Tones, des unnachahmlichen »Chic«, der vom deutschen Schick sich so witzig freizuhalten wußte, auch für die vornehmen Elsässerinnen Paris bestimmend blieb, und zwar nicht nur in der Kleidermode, sondern auch in der Mode der so entzückend schnell wechselnden Ismen der bildenden Kunst. Immerhin war in diesem Wechsel nicht gänzlich der élan der nervenstärkenden Blutmalerei erloschen, wie sie Maignan und Rochegrosse Anfang der 80er Jahre ausgestellt hatten und wie sie immer noch in Neuvilles gemalten Revancherufen ihr Vorbild sah. Sehr bald hatte diese Richtung mit pariserischer Rührseligkeit auch das trauernde Elsaß entdeckt und, siehe da: die einst von den Konventmännern zu Straßburg verbotene mode allemande wurde nun in Paris zum dernier cri, zum Schrei des französischen Herzens, und die schöne Verkörperung des trauernden Elsaß spielte bei allen nationalen Kundgebungen an der Bildsäule von Straßburg eine immer stärker werbende Rolle. Auch im Februar 1908 bei der Einweihung des Denkmals für Scheurer-Kestner im Luxemburg-Garten zu Paris, zu der der Ministerpräsident Clémenceau jene Rede hielt, in der er mit dem Hinweise auf »das Elsaß der Geschichte« ein sicher nicht unbeabsichtigtes Gegenstück zu der Erklärung des Ministers des Auswärtigen, Herrn Stephen Pichon über Deutschlands Verhalten in Marokko herausstellte. Die Schwierigkeiten, die im Schoß der damals beregten Nordsee- und Ostseefrage, sowie in dem Gegensatze zwischen Österreich-Ungarn einerseits und Rußland, Frankreich, Serbien und Italien anderseits lagen, kündeten bereits deutlich das heraufziehende Gewitter an und ließen es Herrn Clémenceau wohl erlaubt erscheinen, das heilige Feuer des Rachegedankens in den französischen Herzen zu schüren ohne einen kalten Wasserstrahl von deutscher Seite befürchten zu müssen. Man konnte sich auch dem Eindrucke nicht entziehen, daß Herr Clémenceau zu seiner Rede von protestlerischer Seite aus dem Reichslande selbst ermutigt war, und daß er sich nach dieser Richtung hin eine gute Wirkung von der Betonung »des geschichtlichen Elsaß« versprach. Denn es war gewiß kein Zufall, daß im Elsaß-Lothringischen Landesausschuß damals darauf hingewiesen wurde, die internationale Lage des Deutschen Reiches sei nicht danach angetan, daß es an beiden Grenzen die Mißstimmung einer Bevölkerung, im Osten die der Polen, im Westen die der unversöhnten Reichsländer, vertragen könne. Wenn die Regierung taub bleibe gegen alle Bitten des Landes, so werde man eindrucksfähigere Mittel anwenden müssen, als die bisherigen. Ganz Europa werde den Notschrei Elsaß-Lothringens hören; denn was man auch sagen möge, es gebe eine elsaß-lothringische Frage.

An sich ließ sich ja freilich nicht bestreiten, daß es eine elsaß-lothringische Frage seit 1871 tatsächlich gab. Scheurer-Kestner, dessen Denkmalsenthüllung dem französischen Ministerpräsidenten Anlaß zu seiner Rede gab, war ein Elsässer gewesen. Und auch der Oberst Göpp, der im März 1907 der Hoffnung Ausdruck gab, daß der Krieg bald kommen und sein Dorf an dem Ufer der Saar wieder französisch machen werde, war ebensolch ein Elsässer wie der dienstälteste Offizier seines Regimentes, Oberstleutnant Wirbel, der vor der Front versicherte, daß eines kommenden Tages das tapfere Sechsundzwanzigste noch die Freude haben werde, Frankreich die Heimat seines scheidenden Obersten zurückzugeben. In der Blutsvergessenheit dieser Elsässer lag die elsässische Frage.

Nur aus ihr heraus erklärt sich auch der Aberglaube von dem unersetzlichen Bildungswerte des Französischen. Dieser setzte sich deshalb immer unzerstörbarer in den alemannischen Dickschädeln fest und es gab kaum noch eine Käsehandlung, die nicht ihre Ware zur besseren Empfehlung in das » Journal d'Alsace Lorraine« gewickelt hätte. Selbst Leute, die zur französischen Zeit bei ihrem Elsässisch geblieben waren, fühlten sich nun, um nicht gar zu ungebildet zu erscheinen, gedrängt, mindestens für ihre Kinder eine Pariser Erzieherin kommen zu lassen.

Die Zusammenhänge dieser französischen Hetze mit gleichzeitigen unterirdischen Arbeiten in London sind keinem aufmerksamen Beobachter damals entgangen. Man brauchte ja nur auf Belgien zu blicken und die dortige hetzerische Tätigkeit der » Associations pour la vulgarisation de la langue française«, die unter dem Einfluße der großen » Alliance française« standen, die zwar ihren Wohnsitz in Paris hat, sich aber in Belgien in einer ganz eigenartigen Weise der Pflege der französischen Sprache und Kultur befleißigt hat. Die von ihr herausgegebenen Flugschriften haben mehr als alles andere für die Verwelschung des Landes und die Verhetzung der Gemüter gearbeitet. Und jeder in ihrem Solde stehende, mit der Ehrenlegion gezierte oder nach ihr lungernde Französling hat pflichtgemäß jeden Vlamen verdächtigt, der deutscher Kultur Verständnis entgegenbrachte, hauptsächlich dank dieser Wühlarbeit konnte im Auslande der Anschein erregt werden, als ob man es in dem Zwitterstaate Belgien mit einem ganz und gar romanischen Staatswesen zu tun habe. Auch den Zusammenhang dieser Hetzarbeit mit gleichartigen Erscheinungen in aller Welt fühlte man in hundert kleinen Einzelheiten heraus. Heute wissen wir aus einem Berichte des Central Committee for national patriote Organisations, wie auch zu der Verhetzung, die im Elsaß so tolle Blüten trieb, die englische Hand die Drähte gezogen hat, an der die Marionetten der Lorraine sportive, des Souvenir français und der zahlreichen angeblich wissenschaftlichen Gesellschaften und Klubs tanzen mußten. Dieser ganze Verleumdungsfeldzug hat, wie der genannte Bericht erweist, in London sein Hauptquartier und seinen Generalstab gehabt. Er ist es gewesen, der in Großbritannien überall dort, wo für den Krieg keine Begeisterung herrschte, durch 250 kriegschürende Wanderredner in etwa 15 000 Versammlungen gearbeitet und bis in die kleinsten Dörfer eine Fülle von Literatur, Büchern, Zeitungen und Flugblättern an die Arbeiter und Schulkinder verteilt und damit der Bevölkerung Abscheu vor den deutschen Barbaren beigebracht hat. Im Auslande ist wohl so ziemlich jeder Engländer als Agent dieses Zentralkomitees herangeholt worden und die ganze Agitationsliteratur ist in französischer, spanischer, portugiesischer, italienischer, holländischer, schwedischer, dänischer, griechischer, rumänischer und – wohlverstanden! – auch in deutscher Sprache erschienen. Dies letztere doch wohl nicht nur zur bloßen Erbauung des »Vorwärts« und »Berliner Tageblattes«, sondern insbesondere für den Teil der elsässischen Bevölkerung, der es in seiner Begeisterung für die Unersetzlichkeit der französischen Unwiderstehlichkeit noch nicht soweit gebracht hatte, französische Schrift lesen zu können.

Das Komitee hat die zahlreichsten Vertreter der Wissenschaft, des Handels und Gewerbes, der Industrie usw. in seine Dienste gestellt, sich aber sorgfältig davor gehütet, auch ausgesprochene Politiker heranzuziehen, denn bei diesen könnte die Absicht zu leicht durchschaut werden. Sonst wurde alles mobil gemacht, was nur zu haben war, nicht zum wenigsten die vielen wissenschaftlichen und Sportvereine, die Klubs und Gesellschaften aller Art.

Gegenüber dieser geschickten Wühlarbeit und dem bestechenden Schimmer einer veräußerlichten französischen Hohlkultur bewies es einen geringen Eroberungswert, daß man auf altdeutscher Seite, ähnlich wie dies jetzt in Belgien geschieht, eigensinnig bei dem Worte »Germanisation« beharrte, obschon es doch ebenso offensichtlicher Unsinn ist, die Alemannen germanisieren zu wollen, wie die maasfränkischen Vlamen! wobei es dann auch nicht ausblieb, daß redlichen Beamten das Vorwärtskommen erschwert wurde, weil sie gewissen Vorgesetzten von »weiterem Blicke« zu deutsch erschienen. Das alles war um so betrüblicher, als zweifellos die Unverwelschten immer noch die überwiegende Mehrheit im Lande bilden; nur wagten sie nicht mehr den Kopf zu heben gegenüber dem lauten Treiben der von Paris verhetzten Querköpfe.

Selbstverständlich ließen die französischen Hetzer sich dies alles nicht entgehen und richteten ihre Werbung danach ein. In schlauer Rechnung auf edelmütige deutsche Nachsicht schlich sich diese Sippschaft unter dem Mantel der ehrfurchtsvollen Trauer um die gemeinsamen Toten ein als » Souvenir français«. In Weißenburg und Mülhausen verstanden die Vertreter dieses Schwindels in einer das deutsche Bewußtsein recht beschämenden Weise die Gutmütigkeit der Regierung zu mißbrauchen. Es kam dieserhalb im Deutschen Reichstage am 11. und 13. Dezember 1909 zu einer Erörterung, in der der Reichskanzler davon sprach, daß hüben und drüben Übertreibungen unterlaufen seien, aber leider versäumte, für die behauptete Schuld des »Hüben« Belege zu erbringen. Auch mußte er zugeben, daß politische Momente in die Feier hineingetragen seien, die unter allen Umständen hätten ferngehalten werden müssen und daß die Veranstalter den ihnen seitens der elsaß-lothringischen Regierung gewährten Spielraum keineswegs mit dem genügenden Takte innegehalten, vielmehr aus politischem Chauvinismus versucht hätten, die Ehrung der Toten ihren Zwecken dienstbar zu machen. Gleichwohl meinte Herr von Bethmann Hollweg, je mehr man sich auf beiden Seiten daran gewöhne, die Dinge unbefangen anzusehen, um so eher werde Elsaß-Lothringen aufhören der Schauplatz nationaler Streitigkeiten zu sein. Im Hinblicke auf die Wirkungen, die die Abschaffung des Diktatur-Paragraphen gebracht hatte, konnte diese philosophisch gelassene Beurteilung der elsässischen Vorgänge natürlich pur ermutigend wirken auf die Chauvinisten drüben und die leidenschaftlichen »Anti-Chauvinisten« hüben. Die Ausführungen des Herrn Reichskanzlers fanden Zug um Zug den Beifall des Herrn Abgeordneten Schräder von der Freisinnigen Vereinigung, der wohl schon damals etwas wie Regierungsfähigkeit witterte. Man vergegenwärtige sich, um vollends zu verstehen, die Tatsache, daß der Kaiser, der den Reichslanden soviel Gutes und Freundliches erwiesen hatte, in unerhörter Weise in öffentlichen predigten von der Kanzel herab durch den Pfarrer Mansuy beschimpft war!

Auf seiten der Elsässer konnte man die geschilderten Torheiten der vom Bildungsdünkel ergriffenen Kreise ja als Kinderei bezeichnen. Aber solche Kinderkrankheit war, wie Pfarrer Spieser in seinem mutigen Buche sehr richtig betont hat, nachgerade chronisch geworden. Sie steckte an und hatte sich soweit ausgebreitet, daß sogar viele Altdeutsche an dieser Kinderei Gefallen fanden, namentlich wenn sie elsässische Frauen hatten. Sie wetteiferten dann sogar mit den altelsässischen Verwandten der Frau, schon um nicht als »Schwobe« mißliebig aufzufallen. Der wahre Beweggrund für die Bevorzugung der französischen Sprache war auch nicht etwa tatsächlich der irrigen Meinung entsprungen, als ob in der Zweisprachigkeit ein höherer Bildungswert stecke, er ging vielmehr von den höheren Gesellschaftskreisen aus, die dagegen »Protest« erheben wollten, daß nicht sie, sondern die »hergelaufenen« Altdeutschen das Land regierten. Infolge dieses Einflusses hatte sich der Gebrauch des Französischen als Haus- und Umgangssprache der Familien ganz außerordentlich vermehrt. Es konnte deshalb nicht wundernehmen, daß der Landesausschuß aus »Bildungsgründen und wirtschaftlichen Gründen« die pflichtmäßige Einführung des Französischen in den Volksschulen beschloß. Natürlich konnte die deutsche Regierung diesem Beschlusse nicht beitreten, und gerade das war wieder Wasser auf die französischen Mühlen, und die schöne Gestalt des »trauernden Elsaß« war um einen Gegenstand ihres Schmerzes reicher.

Auf französisch-lothringischem Boden zögerte man nicht, sich dieses Hinweises bei den kecken Reden zu bedienen, die bei der Enthüllung von Kriegerdenkmälern dort gehalten und den breiten Massen der Reichsländer durch ihre Blätter wortgetreu vorgesetzt wurden. Da wurde offen gesagt, daß es keine Verjährung gäbe und daß die Wunde immer offen bliebe. Und als nun vollends auf deutschem Boden als Denkmal auch die Lothringerin unter der Trikolore gestattet wurde, fand die Dreistigkeit der französischen Wühler kaum noch Grenzen und die üble Folge blieb nicht aus. Die Pilgerzüge nach französischen Denkmälern zählten stark wachsende Beteiligung und Vereine mit französischem Geiste schossen dank der deutschen Langmut auf deutsch-lothringischem Boden üppig empor.

Kein Wunder, daß dann auch dem Elsaß-Lothringischen Landesausschuß ein von sämtlichen Mitgliedern unterschriebener Antrag betreffend die Gewährung der Selbständigkeit für Elsaß-Lothringen zuging. Er verlangte: eine Verfassung nach dem Vorbilde der des Deutschen Reiches, sowie ein Reichsgesetz betreffend die Verfassung und Verwaltung Elsaß-Lothringens, nach dem Elsaß-Lothringen zum selbständigen Bundesstaate erhoben und als solcher den deutschen Bundesstaaten verfassungsrechtlich völlig gleichgestellt werde. Nach einem zweiten Antrage sollte der Landesausschuß für Elsaß-Lothringen oder die für den neuen Bundesstaat zu schaffende Volksvertretung aus dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechte unter Anwendung des Proporz hervorgehen. Von offiziöser Seite wurde dann berichtet, dieser Antrag habe an maßgebender Stelle in Berlin eine freundliche Aufnahme gefunden, soweit er sich auf die Erhebung der Reichslande zum selbständigen Bundesstaat beziehe. Ausgeschlossen sei dagegen, daß damit auch die Gewährung des deutschen Reichstagswahlrechtes für die reichsländische Volksvertretung verbunden werden könne.

Dieser Antrag kam sehr zur Unzeit angesichts des damals in Berlin, Frankfurt und zahlreichen anderen Großstädten beliebten Gefechtsexerzierens für die Revolution, und der Straßburger Vorfall enthielt noch die besondere Warnung in der von dem Herrn Abgeordneten Blumenthal unter Zustimmung der Versammlung abgegebenen Erklärung, Elsaß-Lothringen wünsche eine republikanische Verfassung. Zur Erinnerung setze ich die Worte hierher, die ich am 25. Februar 1910 zu dieser Lage geschrieben habe.

»Das hatte gerade noch gefehlt! Elsaß-Lothringen ist das politische Glacis zwischen dem Reiche und Frankreich, und es wird dafür gesorgt werden müssen, daß die dortige Bevölkerung die aus dieser Sachlage sich ergebende Einsicht von den Grenzen ihrer republikanisch-französischen Wünsche gewinnt. Solange die Reichslande sich nicht aufrichtig in das deutsche Leben und Wesen einzufühlen verstehn, kann keine Rede davon sein, ihre unsinnigen Wünsche auch nur in Erörterung zu ziehen. Es liegt aber klar auf der Hand, wie sehr die rote Flut auch dies einst mit dem Blut unserer Väter und Brüder gewonnene teure Land überspült

Und doch konnte schon Mitte Dezember desselben Jahres an einem Unglücks-Freitage die Verfassungsvorlage für Elsaß-Lothringen vom Bundesrate angenommen werden. Am Montage und Dienstage hatte der Ausschuß für Verfassungsangelegenheiten den vom preußischen Staatsministerium eingebrachten Entwurf in erster Lesung beraten. Am Freitag erfolgte die zweite Lesung und gleich darauf am Nachmittage in einer Vollsitzung des Bundesrates die Zustimmung zu dem Entwurfe. Wenn man in Berlin geglaubt haben sollte, mir dieser Verfassung, die sehr viel demokratischer als die preußische ist, die Bevölkerung des Reichslandes für den Reichsgedanken zu gewinnen, so konnte dies sofort als ein Irrtum bezeichnet werden, denn die reichsländische Presse und Bevölkerung ließ keinen Zweifel daran, daß nur »eine mit Vertrauen übertragene Autonomie und eine wirklich freiheitliche Gesetzgebung sie zu befriedigen vermöge«. Wie sehr aber eine solche die Reichslande zum Tummelplatze französischer Umtriebe machen würde, konnte irgendwelchem Zweifel nicht unterliegen. Und der Herr Reichskanzler hätte doch vielleicht wohlgetan, sich im Dezember 1910 der Worte zu erinnern, mit denen er am 13. Dezember 1909 unter dem Beifalle des ruhig und sachlich denkenden Teiles der Reichsbevölkerung erklärt hatte:

»Die Gewährung dieser Selbständigkeit erfordert im Interesse des Reichsganzen Garantien, die in erster Hinsicht die Elsaß-Lothringer selbst gewähren müssen. Die einfache Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten, die sich von selbst verstehen, genügt dazu nicht.«

Leider hat Herr v. Bethmann sich zur Verwunderung und zum Bedauern aller unbefangenen deutschen Politiker schon vier Monate später eines anderen besonnen und trotz Wahrnehmung des Gegenteiles der gewünschten »Garantien« dem aufgeregten Völkchen zu der Verfassung verholfen. Die nächste Wirkung dieser Irrtümer trat im Januar 1911 hervor in den hoch-und landesverräterischen Ausschreitungen des französischen Schowinismus bei den Vorgängen in Metz. Dort hatte sich die » Lorraine sportive« aufgetan als ein Glied in der langen Reihe ähnlicher Bestrebungen, die durch den » Souvenir français« schon hinreichend gekennzeichnet waren. Der Bezirkspräsident sah sich genötigt, den Verein aufzulösen infolge der Vorgänge, die sich bei der als Landesfriedensbruch zu kennzeichnenden Erstürmung des »Hotels Terminus« abgespielt hatten. Nach der »Metzer Zeitung« hatte die » Lorraine sportive« allerdings Einlaßkarten zu ihrer dortigen Veranstaltung ausgegeben, doch in einer so großen Anzahl, daß von einer begrenzten familiären Vereinsfestlichkeit, wie sie der Erlaubnis entsprach, nicht die Rede sein konnte. Dies zeigte sich, als die » Soirée sportive et musicale« um 8 Uhr ihren Anfang nehmen sollte, indem der Terminussaal von zirka 2000 bis 2500 Besuchern derart dicht gefüllt war, daß in der Tat kein Apfel mehr zu Boden fallen konnte. Dabei mußten viele Frauen und Herren, die ebenfalls noch mit Einlaßkarten versehen waren, wegen Platzmangels umkehren. Das Programm, das eine gewisse »Stimmung« hervorrufen sollte, enthielt u. a.: Le retour des Clairons (Fanfare) – Tombés au Champ d'honneur (dramatische Rezitation) – La terre nationale (Text und Musik) – Qui vive!Sonnerie de Clairons. – Ma Normandie (Romanze). – Le vainqueur (Fanfare) – und La retraite de Crimée (Fanfare). – Eine comédie militaire, betitelt » Loriot«, in der natürlich nicht deutsche, sondern – wie alles berechnet war – französische Uniformen auf der Bühne erscheinen sollten, vervollständigten das Programm. Das war denn doch der Polizeidirektion zu stark. Und sie gab am Samstag dem Vorsitzenden der » Lorraine sportive« Samain die Mitteilung, daß die Polizei die Erlaubnis zur Abhaltung des Konzertes am Sonnabend abend im Terminussal nicht gestatte. Seitens des Vorstandes der » Lorraine sportive« war nichts unternommen worden, um auf Grund des polizeilichen Verbots das Konzert abzusagen. Die Mitglieder und das geladene Publikum strömten vielmehr zur angesetzten Zeit in hellen Haufen zum Terminussal, der jedoch verschlossen war. Die beiden Türen wurden nun gewaltsam geöffnet. Selbstverständlich konnte die Polizei die Abhaltung dieser Feier nicht dulden und löste sie unter ohrenbetäubendem Lärme auf. Auf der Straße kam es infolgedessen noch zu Kundgebungen, die namentlich vor dem Ney-Denkmal ihren Gipfel erreichten. Der ganze Platz hallte wider von wilden Rufen, wie: Vive la Lorraine, vive la Lorraine sportive, à bas la Prusse, vive la France. Die Polizei schritt ein. Der Haufe zog weiter durch die Priesterstraße. Voran die Musik, dann die einzelnen Mitglieder der » Lorraine sportive« zwischen der großen Menge der Krakehler. Des Weges daher kommenden Unteroffizieren wurden Schimpfnamen wie »Spinner«, »Stinkpreußen« nachgerufen. Der auf dem Fabertplatz diensthabende Schutzmann sah sich den Lärmmachern gegenüber machtlos. Er forderte auf, den Platz zu räumen. Man mißachtete diese Aufforderung. Der Beamte verhaftete nun zwei Hauptschreier und brachte diese auf die Wache. Die Volksmenge folgte ihm und drängte sich bis auf die Gewehrstützen heran. Der Offizier ließ die Wache, welche mit Gewehr bei Fuß bereit stand, das Seitengewehr aufpflanzen und das Militär räumte dann mit Hilfe der inzwischen eingetroffenen Schutzmannsverstärkungen den Platz.

Diese Vorgänge konnten keinen Kenner der tatsächlich in den Reichslanden herrschenden und durch deutsche Schwäche großgezogenen Stimmung überraschen, was freilich den Mülhauser Genossen Emmel nicht gehindert hat, den Radau der Lorraine sportive in Metz nach beliebter alter Übung als bestellte Arbeit zur Störung des Verfassungsentwurfes hinzustellen. Bestellt war sie, aber nicht in Berlin, sondern in London vom » Committee for national patriote Organisations«, worüber noch eingehend zu berichten und zu urteilen sein wird!

Vergebens wurde von allen Kennern der Reichslande darauf hingewiesen, daß die Verfassungsvorlage ganz und gar die vom Reichskanzler 1909 als Grundlage geforderten »Garantien« vermissen lasse, »die in erster Hinsicht die Elsaß-Lothringer selbst gewähren müssen«. Noch am 26. Januar 1911 hatte der Reichskanzler gegenüber dem Abg. Bassermann erklärt, daß durch dessen Ausführungen die ausführlichen Darlegungen des Staatssekretärs Delbrück nicht widerlegt seien: »ja ich halte sie überhaupt nicht für widerleglich«. Herr Delbrück hatte gesagt:

»Zunächst kann man nur einen solchen Staat als Bundesstaat aufnehmen, von dem wir wissen, daß er nicht wegen politischer Sonderinteressen die Aufnahme wünscht, sondern von dem wir die volle Überzeugung haben, daß er innerlich vollständig seine Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche fühlt und schrankenlos an den politischen und kulturellen Aufgaben des Reiches mitwirken will. Daß diese Voraussetzungen heutzutage schon im Reichslande vorhanden wären, wird niemand behaupten können und unter allen Umständen nicht beweisen können.«

Gleichwohl wurde dem unreifen Lande die Verfassung verliehen, ja die Reichsregierung billigte ihm die verlangten drei Bundesratsstimmen zu

»mit der Maßgabe, daß diese Stimmen bei Abstimmungen über Verfassungsänderungen gemäß Artikel 71 der Reichsverfassung ruhen und ferner nicht mitzuzählen sind, wenn bei Meinungsverschiedenheiten im Bundesrate die Präsidentenwahl nur durch den Hinzutritt der elsaß-lothringischen Stimmen den Ausschlag geben würde.«

»Einen Schandfleck auf Preußens Ehre« nannte es im Reichstage der Abg. v. Oldenburg-Januschau.

Auch auf den im ersten Entwurfe vorgesehenen Schutz des Mehrstimmenwahlrechtes gegen den Einfluß jugendlicher und unreifer Burschen, die bei den Krawallen eine Hauptrolle zu spielen pflegten, wurde bei der Annahme der Vorlage demokratischen Wünschen zuliebe verzichtet.

Am 29. Januar 1911 hatte der Abgeordnete Winckler im Reichstage erzählt:

»Der neugewählte Oberbürgermeister von Metz, Forêt, hat 1907 in einer Wahlrede gesagt: ›Nieder mit der preußischen Verwaltung, wir verlangen die Autonomie!‹ Und einen solchen Mann wählt man demonstrativ zum Oberhaupt der Stadt Metz.«

Der Reichskanzler hatte darauf geantwortet:

»... die Zwischenzeit hat uns gelehrt, daß eine Politik der Nachgiebigkeit und des Entgegenkommens gegen diejenigen Elemente, welche in Presse, Vereinen und Versammlungen gegen den Anschluß an Deutschland schüren und hetzen, uns um keinen Schritt vorwärts, sondern nur rückwärts bringt. Es ist einfachste Pflicht staatlicher Würde und staatlicher Selbsterhaltung, diese Elemente die Hand des Gesetzes mit allem Nachdruck fühlen zu lassen

Am 27. Februar bestätigte der Statthalter die Wahl des nationalistischen Rechtsanwaltes Dr. Forêt zum Bürgermeister von Metz!

Der Reichskanzler hatte mit alledem die Krönung dessen erreicht, was er als sein »Lebenswerk« bezeichnet hatte, und seine innerpolitischen Freunde jubelten über die überwältigende Mehrheit, mit der im Reichstage am 26. Mai 1911 die Verfassung angenommen ward. Nie ist in gewissen Blättern ein deutscher Sieg glänzender gefeiert worden als dieser Sieg des Herrn von Bethmann im Deutschen Reichstage über seine bessere Einsicht!

Die Wirkung in den Reichslanden blieb nicht aus: gleich die erste Landeswahl ergab eine erdrückende reichs- und deutschfeindliche Mehrheit.

Wahrlich, ein gutes Gewissen haben die Konservativen, die mit ihren vierzig Stimmen allein in Voraussicht dieser Dinge und in Übereinstimmung mit allen einsichtigen Kennern die Verfassungsvorlage abgelehnt haben! Und die Entwicklung hat von Jahr zu Jahr mehr bewiesen, wie richtig es war, daß sie damals den Mut gehabt haben, »allein auf weiter Flur« zu bleiben und den Tanz um das demokratische goldene Kalb zu scheuen.

Den Hintergrund dieser reichsländischen Wetterschauer bildete für uns, die wir die Augen in wachsender Sorge offen hielten, das immer schwerer sich zusammenballende Gewölk der europäischen Politik. Immer deutlicher trat Englands Absicht hervor, uns auf kaltem Wege durch Einschüchterung zum Verzichte auf den Ausbau unserer Flotte zu zwingen und, falls dies nicht gelingen sollte, durch einen Weltbrand unsre Seegeltung und gesamte Weltstellung zu vernichten. Alle Anbiederungen und Würdelosigkeiten deutscher Englandpilger, alle Überschwenglichkeiten der Diplomatie von britisch-deutscher Freundschaft und gemeinsamen Kulturaufgaben und selbst die Erniedrigung zu dem Bekenntnisse, daß die Nationen nur als Zwischenstufen für die Aufwärtsentwicklung zur Menschheit und ein Zeitalter allgemeiner Freundschaft der Völker seien, blieben selbstverständlich ohne Eindruck bei dem Volke, das sein Ich groß schreibt und stolz bekennt: » I am english!« Was sollte der Engländer auch anders sein? Etwa ein Botokude oder eine mitteleuropäische Promenadenmischung?

Als nach dem Scheitern unserer auf die Abwicklung des marokkanischen Gegensatzes gerichteten Agadir-Politik im Herbste 1911 die englisch-französisch-spanischen Geheimverträge vom »Temps« veröffentlicht wurden – offenbar zu dem Zwecke, Spanien bloßzustellen und bei Deutschland zu schaden, nachdem Frankreich in Marokko alles, was es wollte, erreicht hatte – erfuhr alle Welt, in welcher Bahn die britisch-französische Politik verlief. Immer noch spielte das mitteleuropäische Berufsorchester im damaligen Zwischenakte der spannungsvoll vor unseren Augen sich abspielenden Welttragödie die süß flötende Friedenssymphonie. Und das deutsche Parteileben wetteiferte mit dem gesellschaftlichen in dem Bestreben, der Welt das Bild eines im tiefen Verfalle stehenden Deutschlands zu bieten, das weder in sittlicher noch in militärischer Kraft dem Verhängnis gewachsen sei, das es nicht einmal zu ahnen schien.

Im Westen aber wetterleuchtete »Frankreichs Wiedergeburt« und am Wasgenkamme hub sich das düstere Wetter auf, das zur Entladung drängte. Und wie vor dem Gewitter die Eilung herjagt, stoben die französischen Staubwolken über die deutschen Westmarken dahin.


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