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Der falsche Eid / Aus dem Mongolischen

Vor Zeiten lebte ein König namens Tsektu Illagukssan, der eine Tochter hatte, die hieß Naran Gerel. Wer Naran ansah, dem wurden die Augen ausgestochen; dem Manne, der in ihr Wohngemach trat, dem wurden beide Beine abgeschlagen, so unerbittlich hart war der König mit seinem Machtgebot. Diese Tochter Naran sprach einst zu ihrem Vater: »Da ich weder Mensch noch Tier je sehe, so wird mir die Zeit lang; am fünfzehnten des Monats hätte ich Lust auszugehen und mich etwas umzuschauen.« Der König war damit einverstanden. Er ließ überallhin einen Befehl des Inhaltes verbreiten: Alle Männer und Frauen sollen in den Häusern bleiben und Fenster und Türen schließen; wenn einer heraustrete oder aus dem Fenster blicke, den werde er mit strenger Strafe züchtigen.

Am fünfzehnten des Monats nun fuhr Naran in einem neuen Wagen sitzend, von zahlreichen Mädchen und Frauen umgeben, in der Stadt umher und besah sich alles. Inzwischen hatte ein Minister namens Ssaran vom Söller aus, auf den er, in der Absicht, die Königstochter zu sehen, gestiegen war, diese mit Muße betrachtet. Und ihn erblickte Naran. Sofort streckte sie einen Finger in die Höhe und machte mit der andern Hand auswärts ringsum eine Kreisbewegung; darauf ballte sie die Hand zusammen und ließ sie wieder frei; dann legte sie zwei Finger zusammen und deutete damit nach ihrem Hause hin. Ssaran stieg eiligst herab und ging in seine Wohnung. »Nun,« fragte ihn seine Frau, »hast du die Königstochter gesehen?" – »Sie hat mir,« erwiderte er, »Böses gedroht; was soll ich anfangen?« – »Wie hat sie dir denn gedroht?« fragte die Frau. Da machte er sie mit allen Zeichen von Naran vertraut. Die Frau sprach: »Sie hat dir keineswegs gedroht; sie hat dich gelockt. Das Emporheben des einen Fingers bedeutet, daß sich in der Nähe ihrer Wohnung ein Baum befindet. Daß sie die Hand auswärts um den Finger einen Kreis machen ließ, damit dürfte eine Ringmauer gemeint sein. Daß sie die Hand ballte und dann wieder frei ließ, damit dürfte sie angedeutet haben: komm in den Blumengarten. Das Zusammenlegen der beiden Finger dürfte heißen: mit dir möchte ich eine Zusammenkunft haben. Geh nur hin.« Der Minister sagte darauf: »Ist denn nicht das Verbot des Königs so streng?« Worauf die Frau sagte: »Wenn die Fürstentochter einlädt, pflegt man da nicht hinzugehen? Geh, nimm diesen Edelstein und mach dich auf den Weg; für einen Mann ist ein Edelstein von Nutzen.«

Mit diesen Worten schickte sie ihn hin.

Ssaran machte sich auf in den Blumengarten und setzte sich da an den Fuß eines Baumes. Inzwischen war auch Naran herausgetreten, und die beiden überließen sich den Freuden der Liebe und ruhten schlummernd bis Sonnenaufgang.

Da erschien ein Beamter, der die Aufsicht über den Garten führte mit hundert Bewaffneten, erkannte die Königstochter Naran und den Minister Ssaran, ergriff sie beide, führte sie ab und setzte sie ins Gefängnis.

Bei diesem Anlaß sprach die Königstochter: »Ich wollte eigentlich zu meinem Vater, dem König, gehen.« Doch der Beamte, der sie verhaftet hatte, versetzte: »Wie viele Menschen, welche dieses Mädchen geschaut haben, sind nicht schon umgekommen! Jetzt ist Naran Gerel dem Tode nahe. Dem Verderben vieler Untertanen setze ich auf diese Weise ein Ziel. Den Leuten, welche dieses Mädchen geschaut, müßte man die Augen ausstechen; den Leuten, die ihr nahe gekommen, die Füße entzwei schlagen.«

Und mit diesen Worten behielt er sie in Gewahrsam.

Indessen fragte Naran Gerel den Ssaran, ob er irgendein Rettungsmittel wisse, aber der Minister erwiderte, daß es keinen Ausweg gebe. »Wie hast du denn,« fragte sie weiter, »meine Zeichen erkannt?« – »Ich,» versetzte er, »habe sie nicht erkannt; meine Frau hat sie erkannt.« – »Da muß wohl deine Frau sehr klug sein,« sprach sie, »hat sie dir sonst etwas mitgegeben?« – »Nichts,« sagte er, »nur diesen Edelstein hier hat sie mir gegeben.« Naran nahm den Stein, und indem sie durch das Fenster des Gefängnisses schaute, rief sie: »Ihr Leute, die ihr uns bewacht, nehme einer von euch diesen Edelstein; für Menschen, die sterben sollen, ist ein Edelstein unnütz; sollte er nicht euch Lebenden einmal dienlich sein? Wer ihn aber in Empfang nimmt, der gehe hin, klopfe dreimal an das Tor des Ministers Ssaran, umwandle dasselbe dreimal und komme dann zurück.«

Ein Mann nahm den Stein, und nachdem er getan, wie ihm geheißen, kam er wieder zurück. Da Ssarans Gemahlin die Verhaftung ihres Mannes hieraus erkannt hatte, zog sie ihre verschiedenen Prachtgewänder an, setzte einen großen schwarzen Hut auf, nahm ein kostbares Körbchen, in welches sie allerlei Früchte füllte, und schlenderte an den Toren des die Verbrecher in Gewahrsam haltenden Gefängnisses vorüber, bis sie zu der Türe gelangte, wo ihr Mann eingeschlossen war. Da sprach sie zu dem Wachthabenden: »Da mein Mann heftig krank ist, so lautet der Ärzte Ausspruch dahin, daß es ersprießlich wäre, wenn ich unter diese Unglücklichen hier Speise austeilte; ich möchte deshalb hier eintreten und ihnen diese meine Speise reichen.«

Auf diese Worte sagte der Aufseher: »Bei einem Weibe sind viele Reden unnötig. Tritt rasch ein, und wenn du ausgeteilt, so komm wieder heraus.«

Nachdem die Frau eingetreten, setzte sie der Naran Gerel ihren eigenen Hut auf und ließ sie auf diese Weise entkommen; sie selber aber blieb bei ihrem Manne zurück.

Inzwischen war der König erschienen, und als ihm auf seine Frage der Beamte die von ihm vorgenommene Verhaftung der Naran Gerel und des Ministers Ssaran meldete, da geriet der Großkönig in Zorn, und das Schwert ziehend, befahl er, die beiden auf der Stelle vor ihn zu führen.

Man führte sie vor, und als der König die beiden erblickte, rief er: »Wo ist Naran Gerel?« Die Frau sprach: »Wir beide wissen es nicht.« »Warum seid ihr denn verhaftet worden?« fragte der König. Der Minister antwortete: »Meine Frau hier hatte Lust, den königlichen Blumengarten zu besuchen; indem ich sie hinführte, um ihn ihr zu zeigen, haben wir die Nacht da zugebracht; einer anderen Schuld sind wir uns nicht bewußt.« Der König sprach: »Wo auch immer der Mann und die Frau die Nacht verbracht haben, dafür sind sie nicht strafwürdig. Wozu war es nötig, sie deshalb gefangen zu setzen?« Damit überließ er den kommandierenden Aufsehern und den hundert Mann Soldaten den Minister Ssaran auf Gnade und Ungnade. Da wagte der Aufsichtsbeamte dem Könige folgende Vorstellung zu machen: »Bei der unlängst erfolgten Verhaftung war es in der Tat deine Tochter Naran Gerel; den Mann aber kenne ich nicht im Geringsten. Es bleibt mir freilich nichts anderes übrig als der Tod; doch laß deine Tochter Naran zuvor einen Eid über Gerstenkörnern schwören, dann will ich sterben.« Der König willigte ein und befahl seiner Tochter den Eid zu schwören. Bei einer solchen Gelegenheit pflegt alles, was Gerstenkorn heißt, sobald ein Mensch schwört, der Böses getan vorher, auf eine falsche Aussage hin mächtig in die Höhe zu schießen, bei einer wahren Aussage dagegen wächst sicherlich nichts. Naran sprach zu ihrem Vater: »Warum soll ich, deine einzige Tochter, schwören?« »Schwöre!« sagte der König. »Mag ich nun aber rein oder unrein sein, vor einer zahlreichen Menge will ich den Eid schwören.« Der König ging darauf ein und ließ mittels einer Kundmachung eine allgemeine Versammlung ausschreiben.

Als die Frau des Ministers dies erfahren, bestrich sie ihren Mann am ganzen Leibe mit schwarzer Farbe und gab ihm folgende Anweisung: »Zur Stunde des Schwures bei den Gerstenkörnern suche, das eine Auge halb schließend, auf einem Fuße hinkend, blindlings, blöde lachend, eine Krücke unterm Arm, dich unter dummen, bösen Possen in der Menge herumzutreiben. Bei dieser Gelegenheit wird vielleicht die Naran Gerel für sich irgendeinen Ausweg finden: den königlichen Untertanen suche ihr Essen wegzunehmen.« Mit solcher Anweisung entließ sie ihn.

Als nun der Mann also auftrat, sprach der König: »Entfernt doch dieses gemeine abscheuliche Wesen, das man nicht ansehen kann.« Während ihn nun die Beamten des Hofes, den Abscheu gegen ihn noch mehr erregend, zurückstießen, erhob sich die Königstochter und sprach zu ihrem Vater dieses: »Während ich unschuldig bin, hat mich dieser Aufsichtsbeamte beleidigt. Doch wäre es für eine als Jungfrau sich ausgebende Dame, die über diesen Gerstenkörnern hier schwören soll, unschicklich, verstohlene Liebe abzuschwören. Unter diesen Umständen will ich den Eid leisten und dabei auf einen Mann hinzeigen. Wollte ich nun auf einen schönen Mann hinzeigen, und bei ihm schwören, so würde ich neuerdings wieder mit ihm Scherz treiben. Ich bezeichne Euch daher diesen bresthaften Menschen hier, bei ihm will ich schwören, – sprecht nun Eure Zustimmung dazu aus.« Da riefen alle Beamten: »Wie kann die Königstochter auf ein so häßliches niedres Geschöpf hinweisen und bei ihm schwören?« Doch Naran Gerel antwortete: »Bei dem hat es keine Gefahr. Sollte ich denn wirklich mit dem da in einer Liebe gestanden haben? Und was hat es auf sich, mit inhaltsleerem Munde ein Geständnis abzulegen?« Dabei erhob sie sich und begann also: »Von klein an bis auf heute habe ich meines königlichen Vaters Namen niemals befleckt; der einzige Mann, mit dem ich mich in Liebe verschlungen habe, ist dieser krüppelhafte Mensch hier. Mit einem andern Menschen außer ihm habe ich nimmer Umgang gepflogen.«

In solchen Worten tat sie den Eid. Und da sie ihrerseits die Wahrheit gesprochen, so erhoben sich die Körner auch im Geringsten nicht. Alle Anwesenden, mit dem König an der Spitze, glaubten jetzt an die Unschuld der Naran Gerel; den Aufsichtsbeamten ließ der König hinrichten; den Minister Ssaran ließ er straflos ausgehen.


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