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Der arme Mann / Aus dem Chinesischen

Ein Mann aus der Stadt Tu-Tschou hatte in schlechten Spekulationen sein ganzes Vermögen verloren und war ganz arm geworden. Einer seiner Freunde, der sehr reich war, lud ihn eines Tages auf sein Landhaus ein.

»Ach,« klagte der Arme seiner Frau, »wie fange ich es nur an, zu meinem Freund zu kommen! Da ist sicher eine sehr vornehme Gesellschaft, und ich schäme mich meiner Armut. Ich habe wohl noch ein Festkleid, aber wie soll ich mich da ohne Diener zeigen?«

»Beruhige dich,« sagte die Frau, »ich will mich als Diener anziehen und vier Schritte hinter dir hergehen. So brauchst du dich vor deinem Freunde nicht zu schämen. Ich bin dir dieses Zeichen ehelicher Liebe schuldig.«

An dem Tage der Einladung begab sich also der Gatte, von seiner als Diener verkleideten Frau begleitet, zu seinem Freunde und ward da herzlichst aufgenommen. Die Mahlzeit zog sich weit in die Nacht hinein, und der Gastgeber wollte seinen Gast nicht fortlassen.

»Ich habe keinen Palankin,« sagte er ihm, »den ich dir anbieten könnte. Du bleibst also hier und schläfst mit mir in einem Bett. Dein Diener muß sich bequemen, das Bett mit meinem Hausmeister zu teilen.«

Der Arme nahm an, um seinen Freund nicht zu kränken. Am nächsten Morgen zog er mit seinem angeblichen Diener heim. Nachdem er fort war, ließ der Gastgeber seinen Hausmeister kommen und sagte ihm:

»Es macht mich ganz traurig, meinen Freund so in Armut versunken zu sehen. Denn er muß wirklich sehr arm sein. Gestern, als er mit mir schlief, sah ich, daß er nicht einmal ein Unterbeinkleid hat, und das hat doch der Ärmste.«

»Ach,« sagte der Hausmeister, »sein Diener ist noch viel ärmer, denn der hat nicht einmal das, was doch der ärmste Mann hat.«


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