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Die Unfehlbarkeit

Die nachfolgende Geschichte hat mir vor vielen Jahren mein Freund Apollinaire erzählt, eines Nachts, als wir nach langen theologischen Disputen beschlossen, gemeinsam ein katholisches Lesebuch zu verfallen. Apollinaire hatte die Geschichte von seinem natürlichen Vater, der Kardinal war – eben der Kardinal, der sich mit dem böhmischen Pfarrer unterhält. Nur Pedanten werden fragen, ob die Geschichte auch wirklich wahr sei. Daß sie wahrscheinlich ist, wird niemand bezweifeln, der einerseits die Kurie, anderseits die tschechischen Geistlichen kennt, aber ich will die Geschichte erzählen.

Es kam ein Tag, da Vaclav Hrubin, der Pfarrer einer kleinen tschechischen Gemeinde, das Grauenvolle seiner seelischen und geistigen Not nicht länger in der Verlassenheit seines Herzens ertragen zu können fürchtete. Es war an diesem Tage, daß er bei der Frühmesse alle Kraft brauchte, um dem zu widerstehn, das ihn wie mit Fäusten anpackte und zur Gemeinde hinwenden wollte zu schrecklichem Bekenntnis. Er hatte gezittert, als er den Kelch hob. Er hatte einen Moment, der ihm Ewigkeit schien, geschwankt, den Wein zu trinken. Nun riß er, den helfenden Ministranten abweisend, sich in der Sakristei die Meßkleider herunter, als ob sie brannten, und stürzte hinüber in den Pfarrhof. Er mußte nach Rom. Und auf der Stelle. Nach Rom.

Form und Farbe seines Schädels zeigten das Bauernblut, stärker noch jetzt, da er fünfzig war, als in den ersten Jahren nach dem Noviziat, das gleichmachend nicht nur über die Seelen, sondern auch über die Leiber fährt, beide ins Blasse dämpft. Nichts Ungewöhnliches war in Anlage und Art dieses etwas plumpen, braunroten, festauftretenden Vaclav Hrubin und nichts Besonderes kam in seine Lebensbahn, die sich von dem üblichen Ablauf bäurischer Klerisei in nichts entfernte. Als junger Kooperator war er der Pfarre eines Kohlendistriktes zugeteilt worden und sorgte da für das Seelenheil seiner Gemeinde nach seinen Vorschriften, zu denen er aus Eigenem nichts tat, denn das proletarische Volk war ihm, dem Bauern, fremd und er diesem Volke. Zudem sah ein Mehr über die vorgeschriebene Pflicht der Pfarrer nicht gern, dem ein Eifer seines Helfers nur größere Arbeit gegeben hätte, um die ihm nicht war, da er hoch in den Sechzig Ruhe haben wollte, seinen schon hinfällig werdenden Leib zu pflegen.

Danach kamen sechs Jahre, die er als Pfarrer in einer großen Strafanstalt des Landes verbrachte, wozu ihm auch noch das Seelsorgeamt in dem Irrenhaus oblag, das die Regierung in geringer Entfernung von dem Zuchthaus hatte erbauen lassen. Seine Gemeinde zählte, war alles besetzt, über tausend Seelen. Er hörte die Beichte, spendete das Sakrament des Altares und das der Ölung und tat, ob es Zuchthäusler oder Irre waren, sein Amt in äußerm Gleichmut genau wie bei den Weibern des Kohlendistriktes oder bei den wenigen Männern, die ihn dort gebraucht hatten. In den ersten Jahren suchte er öfter die Räume auf, in denen mehrere Gefangene hier oder dort mehrere harmlose Irre sich aufhielten, arbeitend oder müßig hockend. Er hörte ihren Gesprächen zu, aber sprach selber nur selten ein Wort, und geschah es, so war es nichts Geistliches. Vielleicht genügte seine Gegenwart, daß die Zuchthäusler Gespräche mieden, die dem Pfarrer nach ihrer Meinung hätten mißfallen können oder ihnen nur erbauliche Mahnung eingetragen. Daß er als ein Aufsichtsorgan da sitze, diesen ersten Verdacht ließen sie bald, denn sie merkten an Kleinigkeiten, daß er niemanden anzeige, und aus dem wenigen Gesprochenen, dem Ausdruck seines Gesichts und den Gesten, daß er da saß, so wie er war, und sich nicht zu etwas anderem verstellte. Sie nahmen vielleicht einige Rücksicht auf ihn, aber er war ihnen keine sonderliche Respektsperson oder geistige Autorität in irgendwelchen Angelegenheiten, die sie interessierten; er sprach wie ihresgleichen von ihren Dingen, nur begreiflich mit geringerm wirklichen Verständnis darum. Es drückte sich ihre gutmütige Verachtung seiner Bedeutung darin aus, daß ihn die Zuchthäusler den »Kleinen« nannten, welchen Namen ein Gang Insassen dem nächsten vermachte noch in die Zeit hinein, da es Hrubin längst aufgegeben hatte, die Leute an ihren Arbeitsplätzen aufzusuchen und sich zu ihnen zu setzen. Solches brach er etwa im dritten Jahre seines Pfarramts mit einem Male ab. Er fuhr seit der Zeit öfter nach Prag, einige Male auch nach Wien. In der Anstalt bekam man ihn nur amtierend zu sehen. Sonst saß er auf seiner Stube und las.

Im siebenten Jahre gelang ihm, worum er die letzten zwei Jahre sich bemüht hatte, er wurde als Pfarrer in das kleine Städtchen versetzt, wo er mit der alten Mutter und der ledig gebliebnen Schwester den Pfarrhof teilte. Manchmal kam der ältere Bruder, ein Gütler, stundenweit aus seinem Orte herein, und man saß um den Tisch zu viert wie daheim vor Jahrzehnten und redete auch nicht viel anderes als damals.

Es ist diesem Leben, wie es sich nach außen zeigte, nicht abzusehen, was Anlaß und Ursache waren, die den gewöhnlichen Landgeistlichen Vaclav Hrubin aus dem Gleichgewicht brachten. Die Bücher, die er gelesen hatte, konnten es nicht sein, denn es lag Jahre zurück, daß er sich so eifrig mit Lektüre beschäftigte, und es waren auch durchaus nicht nur theologische oder gar naturwissenschaftliche Werke, die er damals las. Erst waren es Geschichten, dann Lebensläufe, dann Geschichte, was ihn interessiert hatte. Eine aufklärerische Schrift über die Welträtsel hatte er nur in den ersten zehn Seiten aufgeschnitten. Die Bücher und spät aus ihnen aufgegangener Samen dieser mehr zufälligen als bestimmt gewählten Lektüre konnten es nicht sein. Auch ein besonderes Erlebnis war es nicht. Was er aus der Zeit unter den Irren und Zuchthäuslern erzählte, dem Bruder etwa, wenn zufällig die Rede auf so was kam, wo sich eine Erinnerung anbringen ließ, das war ohne Ton auf einen Einzelfall, der auf ein stärkeres Erlebnis hätte schließen lassen. Er sprach von jenen Insassen als von armen Teufeln oder von alten Lumpen, von den Irren als von armen Narren. Hrubin hatte nichts von dem, was man einen für das Dramatische empfänglichen Charakter nennen kann; er war ganz bäuerlich, gleichmütig hinlebend gewesen, ging hinter seinen geistlichen Verrichtungen wie ein Bauer hinter seinem Pflug her, bis dieses über ihn kam wie eine Besessenheit, die, in seinen harten Bauernkopf gesprungen, nicht mehr aus ihm herauswollte und ihn Eines, nur dieses Eine zu tun zwang wie unter höherm Gebot.

Der Kardinal Cavalcaselli saß beim Frühstück, als ihm sein Sekretär den Pfarrer Vaclav Hrubin aus der Erzdiezöse Prag meldete. Draußen auf dem Spanischen Platz glühte die weiße Sonne Feuer aus den Steinen, aber in dem hohen Gemach des Kardinals war es kühl und dämmerig.

Vaclav Hrubin schritt auf Seine Eminenz zu und küßte, wie es der Brauch verlangt, den Ring. Er dankte ablehnend für die Früchte, die ihm der Kardinal in einem silbernen Körbchen anbot, und kam ohne Einleitung auf sein Anliegen zu sprechen.

»Ich bitte um eine Audienz bei unserm Heiligen Vater, aber eine private Audienz.«

»Eine geheime Regierungsmission?« fragte der Kardinal und blinzelte lächelnd mit einem Auge. »Ihr Böhmen habt ja immer so besondere Wünsche.«

»Es handelt sich,« sagte Hrubin in einem etwas mühsam zusammengesuchten Latein, denn er war außer des Tschechischen und eines bißchen Deutsch keiner andern Sprache mächtig, »es handelt sich nicht nur um die böhmische Kirche, Eminenz, weswegen ich um diese Audienz nachsuche, sondern um die ganze katholische Christenheit.«

»So ernst ist es?« meinte der Kardinal. Er biß mit schönen Zähnen in eine mit Mandelkernen farcierte Feige.

»Sehr ernst, molto gravissime,« sagte Hrubin und bemühte sich, zwei Kerzenflecke von seiner Sutane zu putzen, die er soeben darauf bemerkt hatte.

»Ihr habt da oben bei den Obotriten immer solche Sachen. Man hat euch den Hus nicht ordentlich ausgebrannt damals. Da schreibt so einer eurer Gelehrten gegen die Unfehlbarkeit ...«

»Der Ruchlose!« rief Vaclav Hrubin.

Der Kardinal Cavalcaselli wurde etwas verlegen. Er hatte in seiner Jugend, als er noch ein mondäner Priester in Florenz war, gegen die Unfehlbarkeit geschrieben, aber sich gleich darauf unterworfen. Das Thema des Gespräches, dem er selber diese Wendung gegeben hatte, war ihm nicht angenehm, und da er keinen raschen Übergang zu etwas anderem fand, sagte er kurz:

»Hochwürden werden morgen um neun früh die erbetene Audienz haben. Sie kennen das Zeremoniell? Im andern Falle wird es Ihnen mein Sekretär bekannt geben.«

Er streckte die Hand aus, der Pfarrer beugte sich und küßte sie mit einem lauten Geräusch. Rücklings schritt er zur Tür, wo er sich ein zweites Mal verbeugte, während ihm die Eminenz wie abwinkend mit der Rechten den Segen zunickte, die linke Hand verschwand gleichzeitig in den Pfirsichen des Fruchtkorbes.

Des andern Tages wurde Vaclav Hrubin vor den Papst geführt. Er warf sich auf die Knie und küßte den Pantoffel des weißen Pontifex. Hierauf erhob er sich rasch und bat, allein gehört zu werden wie in der Confessio. Und der Heilige Vater gewährte diese kühne Bitte ohne Zögern, aber etwas erstaunten Blickes. Als sie allein waren, begann Hrubin langsam zu sprechen. Aus seiner Unterredung mit dem Kardinal wußte er, daß seine Aussprache des Lateinischen auf die Italiener fremdartig wirke, die Eminenz hatte ihn nicht immer gleich verstanden, und er hatte wiederholen müssen. Das, was er dem Papst zu sagen hatte, war ihm geläufig auf der Zunge, fast wie gelernt, denn immer wieder hatte er es sich Satz um Satz vorgesagt. Doch war Erregung in ihm so mächtig, daß er sich nicht auf rasche Rede verlassen wollte. Ganz langsam sprach er, damit es ihn nicht fortreiße und Frage aus Nichtverstehen ihn unterbrechen könnte.

»Heiliger Vater,« begann der böhmische Pfarrer, »wäre mir Erkenntnis nur aus den Büchern der Gelehrten gekommen, deren Wissenschaften sich im Gegensatze zu fast allen Dogmen unseres Heiligen Glaubens stellen und diese aufheben für alle Vernunft, wäre mir solche Einsicht nur aus solchen Quellen gekommen, dann hätte ich immer noch, so gewaltig auch der Bau ist, den diese Wissenschaften gegen unsern Glauben errichtet haben, die Zweifel mit Gottes Hilfe allein niedergerungen und stünde nicht vor Eurer Heiligkeit.«

»Du hast Glaubenszweifel, mein Sohn,« sagte der Papst hier, denn Vaclav Hrubin machte eine Pause, »ich hoffe, daß du unter solchen Umständen vor allem darauf verzichtet hast, die Heilige Messe zu lesen. Kein Priester des Herrn kann sich rühmen, diese Zweifel nicht gekannt zuhaben. Aber da du nun hier in der Wiege unseres Heiligen Glaubens weilst, wird dir Zurückgezogenheit und Einkehr das verlorene Gut wiedergeben. Was hast du noch zu sagen, mein Sohn?«

»Wären es, Heiliger Vater, nur Zweifel, die mir aus dem Verstande kamen, so würde es wohl sicher sein, daß ich ihrer ledig hier würde. Aber es sind Zweifel nicht mehr, sondern es ist Gewißheit, Heiliger Vater. Der christ-katholische Glaube ist nicht mehr! Nicht bei uns, die wir ihn lehren, noch bei jenen, die ihn gelehrt bekommen! Er ist nicht mehr! Wir haben den Glauben in Weltliches zerschlagen und verschachert und sind Knechte der irdischen Welt geworden überall. Wo unser Wort bindet, da bindet es zum Scheine das, was fest ist längst und ohne uns. Und wo es binden sollte, da ist es schwach und brüchig geworden. Wir buhlen um armselige Gläubigkeit mit Bettelhänden bei jenen, die nichts sonst zu geben haben als ihren trüben Aberglauben. Wir betteln bei den andern, den Mächtigen der Erde, daß sie uns Schutz nicht nur, sondern Dasein damit noch geben, daß sie uns in das Dasein ihrer Macht einschließen, damit wir als mächtig wenigstens noch gelten. Wir segnen, und wir wissen, daß wir ins Leere segnen. Wir verfluchen, und wir wissen, daß die Unwirksamkeit unseres Fluches längst durchschaut ist. Statt Stütze zu sein, sind wir selber aller Stützen bedürftig und können ohne sie nicht einen Schritt tun. Wir sind klug wie die Tauben und listig wie die Schlangen, aber auch glaubenslos wie sie. Wir zelebrieren in Trümmern der Kirche eine von uns entseelte Messe vor Mumien und Lügnern. Bekennt es, Heiliger Vater, die Steine Eurer dreifachen Krone sind die echten nicht mehr! Zögernd tritt seit Jahrhunderten schon jeder neugewählte Papst aus seiner Zelle, niedergedrückt vom ungeheuern Gewicht der gewußten Lüge, als welche die wahrhafte Last des obersten Hirtenamtes geworden ist. Antwortet mir, Heiliger Vater! Ihr wißt das alles längst, was ich sagte! Ein römischer Pontifex der Kirche kann nicht weniger wissend sein als ein armer böhmischer Pfarrer!«

Der Papst war alle Zeit unbeweglich und ernst auf seinem erhobenen Sitz gesessen. Der heiß redende braunrote Mann vor ihm ließ ihn an jene Barbaren denken, die einst plündernd nach Rom kamen und die gleich Statuen bewegungslos auf ihren kurulischen Stühlen sitzenden Senatoren höhnten. Nun blickte er dem Pfarrer Vaclav Hrubin in die Augen und fragte:

»Priester, wo willst du mit all dem hinaus?«

»Heiliger Vater, Ihr habt die Gewalt, zu entscheiden, was gut ist und was böse ist. Eure Unfehlbarkeit ist ein unbestreitbares Dogma, denn es ruht in irdischer Realität und gibt Euerm Spruche Geltung gegen jeden Widerspruch. Ihr könnt den Katholiken den Irrtum oder die Wahrheit auferlegen, es steht ganz in Eurer Wahl. Seid gut, Heiliger Vater! Lehrt das Wahre! Befehlet ex cathedra, daß die katholische Kirche aufgelöst sei! Verkündet das Ende der Kirche! Verkündet dies Ende als ein Dogma und Ihr werdet die Menschheit erlöst haben! Steigt würdig so nieder von Euerm Throne, den von nun ab niemand mehr besteige nach Gesetz und Recht. Verkündet das Dogma des Endes der Kirche, Heiliger Vater!«

Der Papst hatte sich erhoben und war gegen alles Zeremoniell schweigend aus dem Raum geschritten, ohne Wort und Blick für den böhmischen Pfarrer, dessen Mund ein kleines Lächeln aufwarf. Eine Nobelgarde kam und führte ihn durch die Galerien des Vatikans bis zum Ausgang.

Einige Monate später schuf die Kurie einen neuen Bischofsitz in der Slovakei und ernannte den Pfarrer Vaclav Hrubin zu dessen Bischof. Als er bei seiner Reise ad limina ins Kabinett des Kardinals Cavalcaselli trat, empfing ihn dieser lachenden Mundes mit den Worten:

»Mühe machen uns Eure böhmischen Dickköpfe, mein lieber Bischof!«


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