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Der treue Diener seines Herrn oder Die Wanze

Hingebung und Opfer seines treuesten Dieners Wunibald Bausbacke bis zum Harakiri zu steigern, war dem Schriftsteller Petit Gendelett während des Abendessens mit ihm und dessen junger Frau wachsender Wunsch und überlegender Gedanke gewesen. Nun, als die kleine, rundliche Hand der Frau nach der Orange des Desserts nach vielen Gängen griff und mit einem Hundeblick der Diener den Herrn zu gestatten bat, daß die Frau ihm die Frucht schäle, da waren Wille und Gedanke in Gendelett reif geworden zum Plan. Rücksprache mit dem Direktor des Hotels, in dessen Grillroom man speiste, nahm kaum Minute. Das Wetter, nach dem er eben Blick geworfen, sei nicht derart und zudem es spät geworden, um der jungen Frau die kalte Wagenfahrt nach Hause zuzumuten, solches mit gleich gut machendem Bedauern sagend, trat er zurück an den Tisch, und er hätte also Zimmer im Hotel bestellt; nicht drei leider auf der ersten Etage hätte es gegeben, sondern nur zwei, das dritte im vierten Stockwerk:

»Aber das wird Ihnen für die eine Nacht ja nichts ausmachen, mein lieber Bausbacke.«

Dieser gab entzückt Versicherungen und Dankworte halb unter den Tisch gesprochen vor Verehrung und die umsichtige Größe des Mannes bewundernd, der eben noch tiefste Probleme deutscher und europäischer Existenz mit ihm lösend nun auch schon solches Geringes bedachte, wie kalte Füße seiner kleinen Frau, die, wie er ärgerlich merkte, wieder einmal ihr dümmstes Gesicht machte und das leichte weibliche Wort zu dem großen Petit Gendelett nicht fände, das doch ihr Departement sei wie das seine, den tiefen Äußerungen des Mannes zu lauschen und sie zustimmend zu kommentieren.

Solches nun in Ordnung gebracht und an Uhr nicht mehr gebunden, könnte man – »Kellner, die Weinkarte«, befahl Gendelett, klemmte das Einglas ein, zeigte in manchen fachlichen Bemerkungen weniger dem wartenden Kellner als dem Ehepaar treffliche Kennerschaft in Marken, Gebinden, Jahrgängen und bestellte. Kellner flitzte ab, und Gendelett griff, ganz Weltmann und behaglich tuend nun, die auf dem Tisch ruhende Hand der Frau und äußerte Zufriedenheit mit der getroffenen Anordnung, da man noch ein Weilchen beisammen bleiben könne. Wunibald Bausbacke, Verfasser des Buches »Die Pferde sind gesattelt – im deutschen Lustspiel von Christian Felix Weiße bis Petit Gendelett«, hatte bereits mehr getrunken, als er vertrug, hastig, da er es nicht gewohnt war, und aufgeregt von der Tatsache, daß er, Bausbacke samt Frau, hier in diesem ersten und teuersten Lokale der Stadt, gesehen von der besten Welt, mit ihm, dem derzeit und bekannt größten deutschen Dramatiker, an einem Tisch sitze, speise, rede. Gewiß sei er, Bausbacke, ja der eminente Kritiker und Literarhistoriker, und man würde von ihm ja schon noch was erleben. Trotzdem ein Ereignis. Und nun auch noch dieses Übernachten unter dem gleichen Dache mit ihm, von ihm eingeladen – das gab Perspektiven einer geistigen Untrennbarkeit, einer Intimität auf Höhen der Menschheit, ungeahnt. Und Bausbacke leerte ein Glas Burgunder, als wäre es die rasch hinuntergespülte Tasse Tee des Morgens, bevor er auf die Bibliothek ging. Über dem etwas fahlen Gesichte, auf dem nur die Nase wie ein Knöpfchen aus Perlmutt glänzte, stand Haar strohgelb in verschieden starken, etwas verklebten Büscheln lächerlich. Doch versuchte, wenn auch erfolglos, solches Outsidertum des jungen Gelehrten korrektest im neuesten Schnitt und Schmiß gebauter modefarbiger Anzug wieder ins Gleis und den ganzen Mann in die Welt, die sich nicht langweilt, zu bringen. Verbeult stand linke Manschette zu weit ab als allzu enger Behälter eines Nastuches, mehr vom Format für eine geräumige Tasche. Mißglückter Versuch mit einem Monokel, nachmittags angestellt, hatte für das Tuch im Ärmel entschieden als de rigueur im Grillroom und in Gesellschaft Gendeletts.

Frau Hanna, wie sie hieß, oder Anais, wie sie von ihrem seit vier Monaten geehelichten Manne Wunibald genannt wurde in den gehobeneren Momenten des Daseins – das Gemeine des Alltags wurde von ihm kurzweg mit Hanna besprochen – Frau Anais war wie immer in Gesellschaft bedeutender und bestaunter Männer vollauf damit beschäftigt, nicht zu vergessen, ihr Mündchen zu beachten, daß dessen Lippen sich schlossen. Diese zwei winzigen Rosenblättchen hatten die Neigung ihrer Abneigung von einander, so daß das pfennigrunde Mäulchen immer leicht offen stand, was zusammen mit den kugelrunden blauen Augen geeignet war, Anais als eine rechte Hanne zu denunzieren mit ihrem allerliebsten zierlichen Schafsgesichtchen. Aus einem einfachen Jungmädchen-Dasein kleinbürgerlicher und provinzieller Färbung durch ihre Heirat in den ständigen Wind schöngeistiger Betriebsamkeit gekommen, tat sie ihr möglichstes, das Hütchen auf dem zierlichen Kopfe zu behalten, strengte sich über ihre Kraft an zu kapieren, worum man da redete; aber es blieb meist dabei, daß sie verkrampft dachte, sie müsse sich was denken. Von welcher Anstrengung sie immer wieder in ihr Vertrautes glitt, indem ihr etwa einfiel, ein gesehenes Möbelstück würde gut ins Eßzimmer passen, oder ob Frieda der, mit dem sie jetzt ginge, heiraten würde, oder daß Wunibald doch furchtbar gescheut sei, und was derlei mehr. Fiel ihr auch solches nicht ein, sah sie wie jetzt aufmerksam einer Fliege zu, die sich auf dem Streuzucker zu schaffen machte, während sie ihrem Gesichte den Zug größter Aufmerksamkeit gab, um damit Beteiligung an der geistigen Turnerei der beiden Männer auszudrücken. Glücklich war sie, ergab sich aus Tonfall und Lachen der Männer Meinung zu einer Sache deutlicher, wie dann zuweilen, wenn der Name irgend eines von ihnen nicht geachteten Kollegen, etwa Goethens, fiel. Denn da konnte sie ja schnell ein wenig ihr Näschen verziehen und wegwerfend den verfemten Namen wiederholen: das brachte sie mühelos au pair und rechtfertigte sie als Schriftstellersgattin. Lieber war ihr statt bloßen Zusammensitzens, daß man lange und ausführlich aß. Einmal, weil sie das gern tat, und dann war es eine Beschäftigung, die Aufmerksamkeit verlangte, von der an geistvolle Gespräche was abzugeben nicht nötig war, um gefällige Anwesenheit bemerklich zu machen. Da paßte es dazu ebenso gut, entzückt von der Kalbskotelette und der Bechamelsauce zu sprechen, zumal Petit Gendelett als ein Schlecker, der er war, in solches Entzücken, wenn auch kritischer, einstimmte.

Nun gab die Eröffnung, daß man im Hotel übernachten würde, dem Denken der Frau Anais Inhalt und Richtung. Sie sagte, daß sie es reizend finde. Das Arrangement mit den zwei Zimmern unten, dem einen Zimmer vier Stockwerke höher in einigen der Möglichkeiten auszudenken, dazu brauchte sie eine kleine Weile, um, als sie es begriffen hatte, das Mündchen offen zu lassen, wie es wollte. Denn sie bekam eine vage Vorstellung ins Gefühl der Haut, die ihr etwas zu prickeln begann, aber zu einem Gedanken diese Vorstellung zu bringen, versagte die Kraft. Oder es war der Wein und Wohlbehagen nach dem vielen guten Essen, das im Wege stand. Das Mäulchen ging dann in ein kleines Lächeln etwas auseinander und behielt es. Daß sie seit einer Minute Gendeletts Knie an ihrem spürte, wurde ihr nun bewußt, und sie empfand das Bedürfnis, ein zärtliches Gefühl, das in ihr für Wunibald aufkam, diesem zu zeigen. Wozu sie ihr Glas griff und an das seine stieß, der ihren verschwimmenden Blick mit einem Auge beantwortete, das, auf Entfernungen nicht mehr ganz richtig einzustellen fähig, um einige Linien an ihr vorbeisah. Er schluckte kennerhaft tuend den Wein, um hier auf der Höhe des Gastgebers zu sein, der, Rothschild und dessen Weinagent in einer Person, ihm zuschnalzte: »Ein Tropfen das, was, Freundchen?« Worauf Wunibald, als ob er damit bestätigen müßte, sein Glas leer trank in einem Zuge. Inzwischen wurde das Knie an ihrem schäkernd intimer, und sie drückte leise wieder, wie sie meinte, hielt aber nur fest stand, wich nicht aus.

Es war Mitternacht, als man sich als die längst letzten Gäste erhob und durch den Korridor in die Halle schritt. Anais in Wunibald gehängt und Gendelett knapp hinterdrein. Der Aufzug sei der späten Stunde wegen bereits außer Betrieb gesetzt, sagte der Portier, als er Petit die drei Schlüssel überreichte, je zwei und einen. Nummer 17 und 18 und Nummer 112. Die Nummer 112 drückte der berühmte Schriftsteller seinem Panegyriker zusamt dem Gutenachtwunsch in die Hand, während Anais »meinem Wuni« einen Kuß auf die Backe gab, mit den kleinen Zähnen nachhelfend, denn wieder spürte sie Welle zärtlichster Liebe zu ihm über sie wegspülen und das Bedürfnis, ihn solches merken zu lassen. Petit Gendelett fühlte die Notwendigkeit einer Umschaltung in den Fingerspitzen, sollte nicht im letzten Augenblick zu lächerlicher Szene werden, was er als das Schauspiel höchsten Triumphes arrangiert hatte. Er sagte daher, den Ton übersteigernd und mit der Wichtigkeit eines Mannes, der erklärt, es sei nun genug gescherzt und der Ernst des Lebens trete in seine Rechte: »Überdenken Sie Gesprochenes, Lieber! Zeit steht fordernd, und wir haben der Antwort Definitives. Kampf der Metonymie! Pardon wird nicht gegeben!« Es hatte das keinerlei Sinn in Verbindung zu Gesprochenem, das einerseits aus Klatsch, anderseits aus Versicherungen Gendeletts über seine einzige Bedeutung bestanden hatte, aber Gendelett war längst überzeugt, daß diese ihm selber etwas unklaren napoleonisch geschmetterten Dikta Inspirationen seines Daimon seien und nichts, als eben von sich zu geben. »Wird nicht gegeben«, echote Wunibald Bausbacke, von Gefühlen großartiger Ungewöhnlichkeit ergriffen und unterstützt darin von einem ganz simpeln kleinen Rausche, und war der festen Gewißheit, in diesem Satze die Lösung des Welträtsels zu besitzen und auszusprechen. Im Schwung solchen Zustands nahm er drei Treppenstufen und noch drei, um aber darauf Stufe um Stufe, auf das Geländer sich stützend, in das vierte Stockwerk hinaufzuklimmen, wodurch er unserm Blick und aus dieser Geschichte entschwindet. Er soll, so geht ein Gerücht, im Halbschlaf erbrochen und darauf bis in den nächsten Nachmittag fest geschlafen haben.

Gendelett hatte Frau Anais nah bei der Achsel unter den Arm genommen und führte sie ins erste Stockwerk. Hier ärgerte sie sich ein wenig über die gar geringe Beleuchtung der Gänge, denn es konnte deshalb Gendelett nicht sehen, daß sie die Augen geschlossen hätte, sich führen ließe wie eine vor dem Schicksal ergebene Blinde. Sie hatte das Gefühl, das Gesicht, das sie gerade mache, stünde ihr einerseits reizend, andererseits drücke es ohne große Mühe etwas aus, wofür ihr das Wort romantisch einfiel, sie wußte nicht warum. Aber da stand man schon im Zimmer Nummer 17. Und hier bekam sie etwas Ohrensausen, so daß sie nur undeutlich, was Gendelett sagte, hörte, der sie nun durch die Verbindungstüre nach dem Zimmer Nummer 18 führte und entschied, das sei als das größere das ihre. Ob es ihr nicht zu heiß sei und er die Heizung abstellen solle? Da platzte das Sausen, und sie hatte sich wieder bei sich, sagte, es sei sehr behaglich warm, ging in raschem Schritt hierhin, dorthin, warf die Handschuhe auf den Tisch, den Beutel in ein Fauteuil, knipste mehr Licht auf, nun ganz, da das Romantische im Korridor mangels Lichtes durchgefallen war, mondäne Sicherheit und ein Zuhause betonend. Irgend in einem Winkel in ihr krabbelte ein kleines Unbehagen wie ein Käfer in der geschlossenen Hand. Sie lachte auf, wie um es wegzuscheuchen, ganz laut, ohne äußern Anlaß lachte sie und brach plötzlich ab, weil ihr einfiel, Gendelett könnte es dem Weine zuschreiben. Nun stand sie an den ovalen Tisch gelehnt und streckte ihm die Hand hin: »Gute Nacht!« Er nahm die Hand, zog sie daran näher, tat, als schaute er ihr den Rücken hinunter. Dann, ob er ihr als Zofe dienen könne, es sei rückwärts geknöpft. Nein, das träfe sie ganz alleine. »Dann also ...« sagte Petit Gendelett, machte die Augen, die das Weitere sagen sollten, und beugte sich zum Kusse über die Hand, küßte sie lang und auf der Innenfläche. Und ging. Gendelett schritt durch die Verbindungstür in sein Zimmer, drückte sie zu und blieb lauschend davor stehen. Er wartete und wartete darauf, daß sie den Riegel vorschöbe. Den Schlüssel hatte er zu sich genommen. Mit dem Fuß zog er nahstehenden Stuhl an sich, setzte sich vorsichtig, beide Ohren im Nebenzimmer, wo er, Schritte dämpfte der dicke Teppich völlig, leises Geräusch vernahm: Kleider lösen sich, Wasser rauscht in die Schüssel, ein Plätschern. Gendelett begann sich die Schuhe aufzuknöpfen. Kam dem Schlüsselloch nah, schaute, sah nichts als gleichgültige Gegenstände des Zimmers in rötlichem Halbdunkel der unsichtbaren Lampe vom Bette her: Anais hatte die Deckenbeleuchtung gelöscht. Gendelett steckte seine Augen in seine Ohren. Da war Geräusch wie von einem, der sich auf den Bettrand setzt. Sie wird ihr Haar aufstecken, dachte Gendelett. Nun hörte er Geräusch des Bettes. Sie hatte sich gelegt. Das Licht brannte weiter auf dem Nachttisch, wie er sich nach einer Weile durch das Schlüsselloch überzeugte. Geärgert ließ er den Stiefel fallen. Wäre es Vergeßlichkeit, daß sie den Riegel nicht vorgeschoben hatte? Dummheit? Oder, und dies war Gendelett das Unangenehme, allzu großes Entgegenkommen der dummen Pute? Sein Appetit nach dieser kleinen Person war nicht stark genug, als daß er, ihn zu reizen, auf Widerstände hätte verzichten können. Der Kampf um die Türe wäre ihm, das fühlte er geärgert, nötig gewesen. Und nun legte sich diese kindische Person einfach auf den Rücken, wartend ...

Die kindische Person aber war vor Müdigkeit eingeschlafen, und das war so rasch über sie gekommen, daß sie nicht einmal die kleine Lampe ausgeknipst hatte, die auf dem Bettisch stand. Kaum daß sie sich mit gestreckten Gliedern zurechtgelegt hatte, um die Situation, ja bloß die angenehme Kühle des Linnens zu genießen, zog man ihr das Brett weg, daß sie mit einem Ruck in das schwarze Loch des Schlafes fiel.

Petit Gendelett setzte seine Stiefel vor die Tür. Legte dann, was er in den Taschen trug, auf den Tisch und zog den Rock aus. Wusch sich, spülte den Mund. Er dachte, schlafen wäre eigentlich das beste. Sorgfältig legte er die Hose in ihre Falten und über einen Stuhl. Gestern hatte er dem Reisenden Simpson and Simpson, London, New Bondstreet, der nur ihn und den Fürsten Thurn und Taxis in Deutschland belieferte, neben andern Dingen ein weichselrotes mit Schwarz ausgeputztes Pyjama abgekauft. Jetzt vermißte er dieses Kleidungsstück außerordentlich, denn mehr als ein solches wäre es unzweifelhaft für die Nachbarin gewesen. Er streckte ein Bein, um seidenes hellrosafarbnes Unterbeinkleid, stramm über Schenkel prallend, zu begutachten, und die Halbstrümpfe in etwas mehr fleischiger Farbe. Er entfernte, als zu entkleidet wirkend, die Halter von den Socken. Pumps sollte man hier haben. Vor dem Spiegel band er besser den schwarzen Schlips, glättete das Frackhemd, zog es straff in das Trikot, daß nichts bauschte. Dann machte er »Tja!«und klemmte das Glas. Aber es hielt nicht. Er war zu müde. Und warf sich aufs Bett.

Genuß, den er von Anais als deren zweites Mannserlebnis erwartete, war das geringste, das ihn wachhielt. Das wäre nur ein unterweges Mitgenommenes im Sturm auf das Ziel. Wahrscheinlich kaum der Rede wert. Widerstandslos in ein vom Zufall, wie sie es nennen würde, Gefügtes sich faltend, könnte es darin ohne Rest aufgehen und wäre also ergebnislos und so gut wie nicht geschehen. Und Gendeletts Lust zur Frau war immer gewesen, Ereignis zu bedeuten, nicht galant bedienender Liebhaber im Spenden und Nehmen sinnlicher Freuden, naiv glücklich und beglückend. Viele Jahre zurück lag festigendes Erlebnis solcher Haltung, und mannigfach waren seitdem deren Variationen gewesen. Das bleichsüchtige Mädchen drängte sich im Schrecken zur Tür, als er ihm olympisch befahl, vor ihn hinzuknien und ihn anzubeten als den Gott, und stürzte, als es die Tür verschlossen fand, ans Fenster und sprang auf die Straße, wo sie mit gebrochenen Beinen liegen blieb. Gendelett mußte sich damals für vier Monate in ein Sanatorium flüchten, um gerichtlichen Unannehmlichkeiten zu entgehen, und mußte da, um seine Anwesenheit zu rechtfertigen, seiner Praxis mit jenem Mädchen so was wie System und Theorie geben, was wieder dem Anstaltsarzt den besonderen Fall gab, in welchem Karussell Patient und Arzt vier Monate lang herumfuhren, – als sie ausstiegen, glaubte der Arzt an seinen Heilerfolg, Gendelett an seine Theorie. Aber er verzichtete doch in seinem weiteren Liebesleben auf so gewaltige Probe seiner Personswirkung und begnügte sich, jenen Sprung aus dem Fenster nur als Beispiel seiner intensiven Gefühle zu erzählen. Zumal es mit wachsender Bekanntheit des Theaterschriftstellers genügte, solche in allen ihren Weiten und Tiefen dem jeweiligen Mädchen gehörig zu explizieren, um ganz willenlosen Respekt zu erreichen. Als sich auch dies müde lief, indem die Bekanntheit dem Ruhme Platz machte, und zu viele andere Leute über ihn redeten, als daß er selber es noch nötig gehabt hätte, versuchte es Gendelett wieder damit, durch Erzählung erfundener erotischer Erfolge als bloßes Ergebnis seines Ruhmes gewünschte Wirkung zu erreichen: Erschütterung, wie er es nannte. So bedeutete er einer jungen Frau, in dem Hotelzimmer, in dem er sie empfange, habe er die Nacht vor acht Tagen mit der Fürstin L. verbracht. Die Frau war aber zu dumm gewesen, die ihr erteilte Bedeutung, unmittelbare Zimmer- und Bettnachfolgerin einer Fürstin zu sein, zu begreifen, und hatte gelacht. Gendelett hatte solche Mißerfolge seines Systems in der letzten Zeit öfter und zunehmend erfahren, was ihm so peinlicher war, als ihn mit den zunehmenden Jahren – er ging an die Fünfzig – auch die natürlichen Wirkungsmittel des Mannes allmählich zu verlassen begannen. Scheitel lichtete sich bedenklich, vier falsche Zähne hielt eine Goldplatte, und dem wortreichen Elan, den er seinem Vorher gab, war im Nachher nur mit größter Anstrengung so etwas wie eine Balance zu geben. Das alles war deutlich genug, selbst für ihn, der zur Maske erstarrt war, die nun da und dort abzubröckeln begann. Und die fahle Haut trüber Gedanken kam ans Licht und juckte ihn. Er suchte Ausweg aus bedrängendem Gewissen, Standpunkt in irgend Sittlichem, das ihn rechtfertigte nicht nur, sondern billige und zu scheinbar unsittlichem Mittel das mache, was er tue, um höchsten sittlichen Zweck zu erreichen. Solcher schien ihm ganz in seiner Literatur gegeben: sie und ihre ganz einzigartige Bedeutung verlange jedes Opfer von ihm, auch das seiner Moral, ja das seiner ewigen Seele, wenn es sein müsse. Als Diener meines Werkes bin ich nicht Herr meines Tuns: so war sein ihn betäubender Schluß. Er lag auf dem Bette, verfiebert in hitzenden Schemen dessen, was er Gedanken nannte, und bohrte in der Nase.

Frau Anais erwachte traumbedrängt an ganz ausgetrocknetem Halse und brennendem Durst. Sie glaubte, nur gerade ein Auge zugemacht zu haben. Leise erhob sie sich und ging an den Waschtisch. Da trank sie aus der Flasche, das Geräusch ins Glas gegossenen Wassers zu vermeiden. Schlaf war ganz weg von ihr, nur von einem Traume mochte etwas geblieben sein, daß sie so ihren Körper spürte, der ihr eben noch im Traum nicht gehört hatte und der nun wie zu ihr zurückgekehrt war; und wie in vertrauter Fremdheit dazu fuhren ihre Hände über Brust und Hüften. Ein angenehmes Erschrecken schauerte sie, als ihr, aus Weibtum, Wärme, Lektüre der Einfall kam, zur Tür zu gehen, sie zu öffnen, in Gendeletts Schlafzimmer zu treten. Wunibald wird es, erzähl ich es ihm, großartig finden, auf der Höhe. Er wird vor ihr auf die Knie stürzen. Nie hätte er solche Größe der Leidenschaft von seiner Anais erwartet. Und sie machte eine Bewegung, als ob sie mit beiden Armen Wunibald aus der Knielage höbe. Ja, da stünde sie in Gendeletts Zimmer. Weiter konnte sie ihre Rolle nicht denken. Aber es würde eben Gendelett auf sie zueilen und »Geliebte!« ausrufen oder so etwas, und sie würde in der stummen Größe ihrer Leidenschaft, ihrer Tat Worte nicht nötig haben. Die Männer sprächen doch immer von der Geste. Ja, das sei es, sie habe eben die Geste.

Frau Anais würde nie in ihrem Leben und unter keinen Umständen zugegeben haben, daß sie sich im Genuß ihres Einfalls schon völlig verausgabt hatte und jetzt, wo sie leise an die Türe schlich, gar nicht daran dachte, diese zu öffnen und einzutreten. Sie kauerte hin und guckte durchs Schlüsselloch. Im günstiger arrangierten Zimmer erblickte sie das Bett und darauf liegend im vollen Lichte aller Lampen des Raumes Petit Gendelett, wie er in seiner Nase bohrte. Wie selber bei solcher Beschäftigung ertappt, nahm sie ihren Blick gleich weg davon, ließ ihn über den übrigen Mann gleiten und konstatierte, daß er jedenfalls ausgezogen sei. Da platzte ihr das Strumpfband und, erschreckt davon, glaubend, es müsse das auch für Gendelett ein deutlich vernommenes Geräusch hervorgerufen haben, ließ sich Anais nach rückwärts auf den Teppich sinken und kroch, so rasch sie, ohne sich gehört zu glauben, konnte, auf allen Vieren zum Bett, stieg hinein und spürte ihr Herz klopfen. Vorsichtig zog sie sich die Strümpfe ab.

Er warte also, dachte sie. Erwarte er sie? dachte sie. Nicht ausgeführt zu haben, was sie gerade gewollt hatte, dessen gab sie Grund, daß sie Petit Gendelett in einer Weise beschäftigt gesehen habe, die nicht erwarten ließ, daß er a tempo in ihre große Geste einstimmen würde. Er hat sich um etwas Schönes gebracht, bedauerte sie ihn, er hat sich um etwas großes Erlebtes gebracht. Es sind die Männer, die uns im Stich lassen. Aber als sie etwa eine Stunde später Gendelett erzählte, daß er ihr zuvorgekommen sei und sie es sich so herrlich gedacht habe, zu ihm zu kommen, was sie gerade hätte tun wollen, als er eintrat, da glaubte sie solches durchaus und hatte vergessen, wie sie den Geliebten durch das Schlüsselloch gesehen hatte. Doch ich eile der Geschichte voraus und will nur, um diese Episode zu schließen, sagen, daß Anais mit ihrem Geständnis weiter keinen Eindruck auf Gendelett machte, er ihr aber versicherte, sie sei eine grande amoureuse, womit sie mehr als zufrieden war.

Petit Gendeletts Gedanken wurden bestimmter, als sie sich nun mit dem eigentlichen Gegenstand dieses ganzen Abenteuers beschäftigten, mit diesem flachen Hirn Bausbacke, wie er ihn bei sich nannte. Da kröche dieser Literat um ihn herum, beeckermanne ihn und bringe dann nichts weiter zu stande als dieses Werk von den gesattelten Pferden, das eine schlechte Presse gehabt habe. Und was gebe er sich Mühe, diesem leeren Kopfe Genius einzublasen und höheres Begreifen von Gendeletts Weltmission! Aber eben da hapere es. Dem Burschen fehle der Blick für die großen Zusammenhänge. Das liege beim Weibchen und mache dann am Schreibtisch erlebnisstumpfe Bureauarbeit. Dem Kerle müsse eben noch ganz anders eingetrichtert werden. Leben, Erschütterung, Konflikt, Aufwühlendes: das sei es, was der blonde Junge brauche, um Mann zu werden. Das habe eben nichts hinter sich als Lektüre und kapiere seine eigene Trine nicht.

Gings um Dinge, die Gendeletts Fortkommen und Bedeutung betrafen, verstand er sich auf die Realitäten dieses Daseins wie ein Geldverleiher, sah ihnen kalt ins Auge, zog seine harten Schlüsse und machte sich nicht das mindeste vor. Da war er von einer Präzision wie in seinen Geldgeschäften: die Dinge mußten klappen wie eine Bankabrechnung. Er wußte: Bausbacke würde, spräche Anais nicht von selber, sie fragen. Sagt sie, sie hätte die Nacht geschlafen, wird er es ihr nicht glauben und nicht glauben wollen, als durch das von Gendelett nicht beachtete Weib in seiner Ehre getroffen. Zudem würde sich die Sache mit dem Übernachten herumsprechen, und der glatte Anschein sei für Ehebruch, was auch die Beteiligten andres sagen mögen. Und Gendelett schloß weiter. Bliebe er hier liegen, schliefe hier in den Morgen, früher oder später würde Bausbacke erkennen, daß seine Frau die Wahrheit gesprochen habe, als sie den Ehebruch leugnete. Dann verlöre er den darob geärgerten Eckermann, denn alle Welt hielte ihn für einen Hahnrei und er seine Frau für eine dürftige weiblich unbemittelte Person: davon trage die Kosten ich, sagte sich Gendelett, unbekümmert darum, was die Frau dabei trüge. Ginge er aber hinüber zu Anais, wird einzige Wichtigkeit, daß es bei dieser Nacht sein Bewenden habe, die zum großen Erlebnis verpflichtet Erschütterung nur dann zur Folge habe, wenn es als scharlachner Rausch Einzigkeit des Fatums behandelt und sich nicht in triviale Wochen und Monate eines lächerlichen Liebesverhältnisses verbreite. Hierin traute Gendelett seiner erprobten Geschicklichkeit, daß in gelegentlichen notwendigen oder auch gerade angenehmen Vertraulichkeiten gröberer Art die geschraubte Ekstase der einen Nacht ohne Gefühligkeiten und sonstige größere Auslagen verkümmere. Und ganz aus seiner Natur heraus, auf die der armseligste Teufel bei der Schöpfung seinen Schwanz gelegt hatte, fand es Gendelett nicht ohne Witz, daß vielleicht nach dieser Nacht dieser gute Bausbacke Anlaß haben könnte, sich nicht nur um Petits geistige Kinder zu sorgen. Dieser Spaß schnellte ihn aus dem Bette. Als ob er nur gerade rasch wohin müßte, ging er zur Tür, öffnete sie, stand in Anais' Zimmer. Da löschte sie das Licht und hörte nur seine Worte: »Mein blonder Traum, daß ich dich halte.«

Und dann ganz nah an ihrem Bette:

»Die Nacht rauscht, Anais. Das Blut rauscht.« Die Kriegswirren und deren Folgen auf allen Gebieten, also auch auf denen des Hotelwesens, erklären es, daß selbst in diesem ersten Hotel der Stadt, dem »Hohenzollernhof«, eine Wanze sich befand. In dem haardünnen Spalt zwischen Tür und Schwelle, welche Zimmer Nummer 17 und Nummer 18 gemeinsam hatten, war das flache braune Scheibchen auf der Lauer gelegen all die Zeit, wartend, in welchem der beiden Zimmer ihr mit dem Signal des gelöschten Lichtes der Tisch gedeckt wäre. Wie ein Hündchen seinem Herrn, so lief das kluge Tierchen Herrn Petit Gendelett in Anais' Zimmer nach, – besäße es durch Gottes Wille ein solches, es hätte mit dem Schweifchen gewedelt.


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