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Katholische Meditation

Auf nichts sonst haben die europäischen Völker mehr Energien Geistes und Leibes verbraucht als darauf, dieses unbewußt ironische Vermächtnis eines kleinen vorderasiatischen Stammes sich einzugleichen. Nichts erreicht die Anstrengung dieses währenden Versuches, das Christentum zu verdauen. Verschlingen, Ausspeien, Neubereiten und Wiederverschlingen sind eine immerwährende Folge durch zwei Jahrtausende. Gesellschaftlich wurde, was es schon vor dem Christentum war, was es auch nach dem Christentum bleiben wird: die Kultformen der Umzüge, Feste, Opfer und Gebete. Das andere alles steht zwischen Ja und Nein, Verehrt und Verworfen, Geglaubt und Geleugnet. Oder ist indifferent geworden.

Wie immer, wenn große Energien an die Aufnahme eines in die Welt Gesetzten verwandt werden, gibt das ein Blühen der Kräfte, eine Steigerung und Verfeinerung und Vertiefung der Mittel, die zuvor nicht war. Und wird, was wir als barbarisch oft erkennen und darob vertilgen möchten, Ursache sublimster Menschlichkeit. Wir venerieren um dieser sublimen Folgen willen. Der Erwerb der sentimentalen Liebe muß es uns vergessen machen, daß wir für die naive Sinnlichkeit das Gewissen eingetauscht haben. Daß ein Leben war wie das des Franz von Assisi, muß es uns hinnehmen lassen, daß die zufälligen Bestimmungen einer judäischen Existenz: niedre Geburt, Armut und Keuschheit als das ethische Ideal dogmatisiert wurden. Und wer auch diese Folge Franciscus nicht will und sie barbarisch empfindet, der veneriert die Fioretti oder die Giottofresken oder Dante. Das Entzücken vor dem Werke des Ignaz von Loyola: die Gnade nicht verlieren und doch die Begehrungen und Lüste leben zu lassen nach dem Eigensinn ihrer Macht, dieses groß geschaffne Werk subtilster Psychologie muß dafür entschädigen, daß wir diese Häßlichkeit der heimlichen Orgie und öffentlichen Ehrbarkeit um uns erleben. Und die Kathedralen und Bildwerke und Gedichte, das Süßbittre der Sünde und das Fremdwerdenkönnen zu sich selber und daß in allem sein Gegenteil lebendig ist, dieses läßt es hinnehmen, daß Pascal, die stärkste Intelligenz eines Jahrhunderts, den Rosenkranz betete, daß ein wütend gewordener Mönch und enger Bauernschädel wie Luther aus des schönen Baumes gefährlichsten Früchten ein ekles Gift zog: eine christliche Moral ohne christliche Voraussetzung, ein Beten mit Erfolgberechnung, pastorale Heiligkeit mit gebilligtem Kinderzeugen. Und die sich am weitesten vom Wesentume des Gottglaubens entfernt haben und für dieses ganz indifferent geworden sind, sagen wir populär die Ästheten, sie nehmen es für die erlebten Schauer in dunklen Kirchenschiffen hin, daß es einen Syllabus gibt und daß Professoren nicht Auslegung nach eigenem Ermessen treiben dürfen. Irgendein Kleinstes hält deinen liebenden Blick und um dieses Kleinsten von dem Ganzen willen nimmst du dieses Ganze hin, das du auch verächtlich und wie immer sonst finden magst. Es ist ein Band, und bindet es auch nicht, so zieht es doch hin. So ist die katholische Kirche ein mannigfach Lebendes.

Der Heiligenalmanach ist sehr umfangreich. Aber es sind nur zwei Heilige, in deren Wesen und Werk der Katholizismus seinen bedeutendsten Ausdruck fand und bis an die Grenzen seiner Möglichkeit geführt wurde: Franz von Assisi und Ignaz von Loyola. Diese beiden erschöpfen. Es gibt Ausnahmeerscheinungen wie Augustinus und Joachim de Fiore, oder Gelehrte wie Origenes, oder Ekstatische und Halluzinierte; oder Ehrgeizige mit einem starken Willen wie Dominicus und kluge Ordner wie Benedictus, dessen Regel ein Meisterwerk ist. Und dann gibt es noch eine große Schar unterernährter Seminaristen mit finnigem Teint. Aber Franz und Ignaz sind das Ganze der Kirche, die auf dieser Erde steht und zum Himmel will, sind das Kreuz, das die Arme breitet und Komm! sagt und das Kreuz, das die Arme spreitet und Halt! ruft.

Franciscus ist der Glühende und Strahlende, unbesorgt und sorglos, der Bruder der Sonne und des Windes, das Herz in Einfalt und alle Sinne erschüttert, ein Dichter. Er hat sich nie die Lehre kümmern lassen, und alle auf das Dogma verwandte Zeit schien ihm verschwendete Zeit. Er polemisierte nie, denn der Hochmut des Geistes war ihm fremd und er richtete weder Weg noch Ziel in Rücksicht auf des Nachbars Existenz. Er befolgte das Wort Joachims, seines geistigen Vaters: »Die Wahrheit, die den Weisen verborgen bleibt, offenbart sich den Kindern; die Dialektik schließt was offen, macht dunkel was klar war; sie ist die Mutter unnützen Redens, der Eifersucht und der Lästerung.« Und lebte des Joachim Mönchsideal: qui vere monachus est nihil reputat esse suum nisi citharam. Es konnte wirklich einer das Leben des Franz als das eines Troubadours schreiben, denn er war ein Gaukler des Herrn und sang sterbend seine Hymne an die Sonne und hatte in seiner Regel bestimmt, die Brüder sollen sich gaudentes in Domino, hilares et convenientes gratiosos zeigen. Dieser ganz unpsychologische Franciscus war ein Häretiker; ein Häretiker wie Jesus Christus. Die Nachfolge gab ihn auf, um nicht den Tod zu erleiden, dem er durch ein Wunder, auch Wunder seines reinen Wesens, entgangen war.

Vier Jahre nach Francisci Tode interpretierte Gregor IX. die Regula und das Testament um, trotzdem der Heilige jeden Kommentar verboten hatte, und erklärte, die Brüder seien an die Beobachtung des Testamentum nicht gehalten. Die wenigen, die wie Caesarius von Spira und Bernardo de Quintavalle die Regel des Franz treu befolgten, wurden gehetzt und umgebracht. Aber was da geschah war nicht Wille der Päpste nur, war vielmehr was die Not der Brüder selber verlangte, die Lebensnot der Brüder. Factus in agonia heißt es bei Luccas vom Gebet des Herrn. Die währende Agonie als das ideale Leben, das Hingabe und Auflösung ist, war das Beispiel Franciscus'. Aber die Brüder waren wie der Franciscaner bei Chaucer; die Fioretti sind eine poetische Fiktion, der man die Wirklichkeit der Manuale gegenüberstellen muß, die Bonaventura, David von Augsburg und andere schrieben: darin ist ein lebensleerer Puritanismus darauf aus, den groben Burschen, die die Brüder waren, Lebensart beizubringen und jenes sterile Mönchsbewußtsein der Abgeschlossenheit gegenüber der Welt und des Besserseins als die Welt. Nach Franz kamen die Machtsucher wie Elias und kamen die Gelehrten, die wie Judas Ischariot bis dreißig zählen können, und kamen die Fanatiker, die ihre Liebe nicht aus dem haben was sie lieben, sondern aus dem was sie hassen, und die alle zu arm an Glauben waren, um Häretiker zu sein wie Franciscus. Und kam diese große Schar der bequemen feisten Burschen, denen das parasitäre Leben recht genehm war und die ihr Untermenschentum um so leichter durchsetzten als so strengem wie dem Beispiel des Heiligen nicht zu folgen war, im einzelnen nicht, wozu im ganzen dann? Franciscus wurde eine Reliquie. Wie Jesus. Seinen Namen zu nennen genügte. Wie bei Jesus. Jeder konnte das und tat es. Es war ganz leicht und verpflichtete nicht. Der Heilige selber hatte ja seine Autorität aufgegeben. Die Reste würden genügen, er brauche nicht zu kochen, sagte Franz einmal dem Bruder Stefano. Und als dem Heiligen die Reste des Mahles dann doch nicht genügten und er, den Bruder fragend, weshalb er nicht gekocht habe, die Antwort bekam: »Du selber, Vater, hast es so gewünscht,«, da sagte Franz: »Teurer Sohn, die Folgsamkeit ist eine schöne Tugend, aber doch sollst du nicht immer tun was dein Oberer dir angibt, besonders, wenn er von einer Leidenschaft bewegt ist.« Franz rechnete mit den Werten seines Genies als mit Selbstverständlichkeiten bei den andern, denn er war ganz einfach und sah auch das Beispiel seines heroischen Lebens als ein ganz einfaches an, als etwas »Natürliches.« Die Komplikationen, die durch eine mindere Begabung oder Begabungslosigkeit entstehen, wenn sein einfaches Wort sie trifft, von diesen Verwirrungen verstand er nichts. So blieb von ihm nur eine Idee, die an einem Beispiel einmal Tat geworden war: ein Genie. Das andere beschreiben die italienischen Novellieri und die deutschen Schwankerzähler.

Das Reich Gottes steht unmittelbar bevor, das Maß ist voll, die Rache des Herrn ist nahe, schon setzt der Engel des jüngsten Gerichts die Posaune an die Lippen: – dieser Glaube lag auf den Stärksten und machte sie abgewandt dieser Welt und richtet sie auf die andere. Deshalb dieses Stillestehen des Mittelalters und diese Steigerung des Religiösen zu Genie und Manie und dieses bis in die feinsten Kapillaren Erfülltsein des ganzen Organismus der Gemeinschaft von den Dingen außer dieser Welt. Genie und Manie: die Geißler und die Selbstmordlehre der Katharer, und das Evangelium der Armut und das mit Bewußtsein Sichhingeben und nichts dafür verlangen: was die Freude ist. Und das unruhvolle Wandern und Ziehen, das es in keiner Behausung leidet, es wäre denn Zelle oder Kirche. Die Erde lächelnd aufgeben um eines höheren Gutes willen, ein Verzicht ohne Schmähung, ein Sterben in Froheit: das war die übermenschliche Forderung des Heiligen Dichters, den das Böse nie quälte wie seine Zeit und der die Angst seiner Zeit nicht kannte. Vor dem nahen Ende zitternd und grausend das Leben aufgeben, das konnte man zur Not, ihm heiter entgegenlachen, das konnte keiner außer ihm. Aber –: die Welt ging nicht nur nicht nächstens unter. Man entdeckte noch neue sinnliche Welten, da man mit den Schiffen ausfuhr, und andre Welten grub man aus dem Schutt und andre fand man in den alten Schriften lesend. Die Welt ging nicht unter, sie wuchs und wurde reicher. Die Oberfläche – das Mittelalter kannte kaum so etwas – entfaltete sich und enthüllte Köstliches. Der Saft schoß in Gezweig und Blatt und Blüte und die Fruchtbarkeit des Sichtbaren kreiste in stolzem Gebären. Die Magerkeit der gotischen Knochen bekam Fleisch und Fett. Die Schweifenden wurden seßhaft und bauten sich prunkvolle sichere Häuser. Das Denken wurde üppig. Und die Nacht verlor das Grauenvolle, denn nicht mehr von Spuk war sie erfüllt, sondern vom Abenteuer. Die große Fastenzeit war vorüber, und es begann des Gargantua mächtiges Fressen alles Versäumte nachzuholen. Das Religiöse war kein Teil des großen Denkens mehr und wurde ein Mittel für irdische Schönheit, wurde Form und Gebärde. Einen Bilderstürmer entzündete es noch, einen andern, aber schon trug ihnen das Volk den Scheiterhaufen zusammen. Und dann beschäftigte das Religiöse ganz nur mehr die mittleren Intelligenzen mit dem Reformeifer, wie Luther und Calvin, wurde eine Pfarrer- und Mönchsangelegenheit, wurde politisches Mittel. Die Epopöe war aus. Das Drama hatte begonnen.

Da stand nach einem glutgekochten Tage die kühle Nacht mit den Sternen über dem fiebernden Krieger, dem eine Kugel das Bein zerschmettert hatte, da waren die quälenden Bücher von Fahrt und Abenteuer in Schlacht und Turnier gelesen, und die gütigen Bücher, die beruhigend von den Heiligen erzählten, waren wie kühlender Trank dem verdorrten Gaumen: und als Ignaz von Loyola vom Lager sich erhob, da war sein Rittertum ausgelebt und sein Heiligtum entschieden. Er ging ins Kloster Manresa. Da gab es erst den Kampf, der mit Gebet und Geißel geführt wurde; wild und mordhaft wütete er gegen das Gefängnis seiner Seele, wie ein Sturm auf eine maurische Veste. Zwei Wege waren: die Mönchskasteiung bis ans Ende der Auflösung, ein Zerbrechen des Leibes ohne Sieg, oder die wonnige Gelassenheit der Beaten, die ihres Gottes so sicher sind, daß sie gleich wie Teufel leben können. Erst schwankte Ignaz. Dann dachte er an eine Flucht: den Märtyrertod bei den Heiden. Doch aber fand und ging er einen dritten Weg. Er wurde »Meister der Affekte«, da er meditierend die Selbstbeherrschung lernte. Er sagte Ja zu diesem Komplex Mensch und wies ihm nur leise die Bahn. Er forderte nicht, er riet. Er moralisierte nicht, er erwog. Er war nicht hart und streng wie ein Gebot, er war klug und sanft wie eine Weisheit. Und kann man die Lehre nach dem Buche des de Sarrasa S. J. wohl nennen, das dieser 1664 unter dem Titel veröffentlichte: Ars Semper gaudendi. Diese Kunst ist die Praxis einer Entdeckung, um deretwillen allein dieses psychologische Genie Loyola sein Heiligtum verdient. Ignaz stellte als Erster fest, daß der durch das Christentum lädierte und mit einem Gewissen versehene Europäer so mehr von diesem Gewissen leidet, untätig, schwach und krank wird, je stärker er an der Täuschung der eigenen Willensbestimmung festhält. Das Gewissen ist dem Menschen nicht zu nehmen, aber seinen schlimmen Einfluß zu mindern, das ist die Aufgabe. Die damit gelöst ist, daß der Eigenwille entfernt, ein anderer an dessen Stelle gesetzt ist. Keine Unruhe hemmt nun das Geschehen, kein Tun ist mehr von Zweifeln beschwert; die Ausschaltung des freien Willens ist das vollendete Glück, dem Glücke des Verliebten gleich, der zur Frau sagt, mach mit mir was du willst, – dem Glücke des Reisenden gleich, der durch eine fremde Landschaft gefahren wird und kein Ziel weiß. Die jesuitische Lehre sagt Gehorchen wie jeder andere Monachismus, nur nimmt sie dem Gehorchen mit dem freien Willen den Zwang, macht es zur Lust, zu einer Ars semper gaudendi.

Des Ignaz Nachfolge – besser die Schule – ist nicht nur den Protestanten ein Vorwurf schwärzester Teufelmalerei; auch brave Katholiken schlagen ein ängstliches Kreuz, wird der Name der Gesellschaft Jesu genannt. Zeiten gab es, wo man allem Bösen, das geschah, die Jesuiten als Urheber gab, und »Jesuitenmoral« ist ein beliebtes Wort liberaler Versammlungsredner. Eine von allen Seiten geschriebene und den Schriften der Jesuiten immer inferiore Literatur ist voller Leidenschaft und ohne Einsicht, mit Beweis und Gegenbeweis um eine Behauptung bemüht, die dem Ignaz und seiner Schule als Erfindung gibt, was seine geniale Findung nur war. Die jesuitischen Kasuisten sagten was ist, und immer wieder so ist, das heißt: sie beschrieben den christlichen Europäer und seine Arten, mit der ihm fremden Religion fertig zu werden. Und es wird behauptet, die Kasuisten sagten, was sein soll und immer so sein soll. Was der Redner als Jesuitenmoral andonnert, ist des Redners Moral, seine und die des Nächsten auf der Plattform, ist deine, meine, unsere Moral. Nur die Begründungen differieren nach dem Motiv, das sich uns aus der Illusion des freien Willens als das stärkste determiniert, – ich will sagen: wir bemühen uns um die psychologischen Variablen mit Adam Rieses Rechenbuch.

Die Jesuiten glaubten nicht an die Verantwortlichkeit des Sünders und stellten die moralische Unverantwortlichkeit des Menschen auf zu einer Zeit, da man Tieren noch den Kriminalprozeß machte. Das war eine wissenschaftliche Entdeckung, welche die abstrakte Moral aufhob und die Moralen feststellte. Das Gebot heißt: Du sollst nicht stehlen, und es wird gestohlen, notwendigerweise gestohlen des Lebens wegen. Die Jesuiten machten das Gebot praktikabel, indem sie es auf das Leben führten. Das Gebot heißt: Du sollst nicht Unkeuschheit treiben, und sie wird getrieben, notwendigerweise des Lebens wegen. Die Jesuiten, die sich aus so negativen Tugenden wie der Keuschheit nicht viel machten, sagten, die Reputation müsse einem überfallenen Mädchen wichtiger sein, als Geschrei und Spektakel. Das hat, wie immer die Sätze der Jesuiten, die Form einer Aufstellung, ist aber nur eine Beschreibung dessen was ist. Die Überfallenen Mädchen schweigen meist und zu ihrem Vorteil. Die Zeitung und der Gerichtssaal sind dem Opfer eines verliebten Überfalles von größerem Nachteil als der unfreiwillige oder zu frühe Verlust der Jungfräulichkeit. Also sagt Taberna S. J.: »Ein junges Mädchen begeht keine Sünde, wenn es in Gefahr des Todes oder der Schande durchaus passiv bleibt und kein verfügbares Mittel gebraucht, den Verführer zu verjagen, wie ihre Eltern oder die Nachbarschaft zu Hilfe zu rufen.« Ohne Heuchelei billigt der jesuitische Satz was gegen alles starre Moralgesetz immer so geschieht; stürzen die Opfer des Lebens nicht in morose Gewissensqualen, helfen ihnen ertragen was zu ertragen ist. Und mehr noch: der jesuitische Satz verteidigt eines jeden Recht, über sich zu verfügen nach Dünken, sowohl nach der Seite der Erhaltung wie Zerstörung des Lebens hin. Er billigt alles das, was man die Vorspiele der Liebe nennt, tut dies klar, kalt, ohne Kritik, physiologisch; zeichnet Plan und Weg der Liebe auf, teilnahmslos, uninteressiert, beinah gleichgültig. Dummköpfe haben in den Schriften der Jesuiten Obszönitäten zu finden behauptet. Sie wissen das Leben nicht oder sie lügen. Denn in den Büchern ist nichts, was nicht das Leben ist. So mögen sie manchmal furchtbar sein. Man kann gegen dieses Leben sein und ein heroisches Beispiel dagegen setzen in einem eigenen Leben anderer Art, wie Franciscus es tat, wie es der Künstler tut. Man kann gegen das Christentum sein und wie Nietzsche sagen: das Christentum, das ist der Feind. Aber man kann nicht für das Christentum sein und gegen die Jesuiten, ein Satz, der in seiner Umkehrung richtig ist für alle, die in den Kasuisten die ersten Analytiker unserer moralischen Werte erkennen. Gewiß: der fiktive Bestand absoluter moralischer Werte ist eine Voraussetzung menschlicher Gesellschaftung soweit wir diese bis jetzt erfahren haben; der Ernst wie die Farce bedürfen dieser Fiktion, und beide wollen sich von dem distinguo der jesuitischen Analyse nicht zerstören lassen, wenn sie es auch nicht hindern können, sich von ihm anfressen zu lassen wie Eisen vom Rost. Und duldet die Gesellschaft nur unwillig einen ewigen Störer dieser Fiktion von der absoluten Moral: die Kunst. Weshalb sie sie »nicht ernst nimmt.«

»Der Mensch kann von den Dingen keine ganze und vollkommene Gewißheit erlangen«, sagt Antonius Escobar. Es gibt Wahrheiten aller Grade, aber nicht gibt es die Wahrheit. Wundervolle Sätze des Syllabus verbeispielen den Probabilismus; der 50.: Auctoritas nihil aliud est nisi numeri et materialium virium summa. Oder der 61.: Fortunata facti injustitia nullum iuris sanctitati detrimentum affert. Die Ehrlichkeit der jesuitischen Kasuisten schaut das Leben lebendig, die Dummheit der Rhetoren, die rechterhand das Gute, linkerhand das Böse setzen und vom absoluten moralischen Gewissen reden, fälscht das Leben und will den Reichtum seiner Formen mindern, weil die Armut ihres Vermögens nicht damit fertig wird. Darüber ist kein Wort mehr zu sagen. Und müßig wäre es auch, heute den Kasuisten ihre schwächlichen Begründungen nachzurechnen oder bei dem Mißverständnis erheitert zu verweilen, daß sie, was sie zu Nutz des Glaubens zu tun meinten, im Leben zum Schaden des Glaubens taten. Aber sie haben das Außerordentliche geleistet, dem im Blute unchristlichen Europäer das Christentum erträglich zu machen, zu einer Zeit, die einen solchen Mittler brauchte. Und haben den Boden der alten Kultur vor dem Protestantismus gerettet, der keine Kathedrale ist, sondern ein Hotel, in dessen Zimmern die guten Gewissen schnarchen und in das Gott nicht eintritt.

Ich habe diese beiden wesentlichen Formen des katholischen Lebens, Franz von Assisi und Ignaz von Loyola nicht um ihrer selbst willen erinnert, sondern weil sie das Entweder-Oder sind, vor das die katholische Kirche gestellt ist, heute wie immer. Und weil heute die Entscheidung, wie sie auch ausfalle, Antwort auf diese Frage gibt: Ist die Kirche im heutigen Leben ein Machtfaktor, der seinen ihr entsprechenden Ausdruck findet?

Vor jeder Art Antwort sind zwei Dinge auszuscheiden; die katholischen Parteien und die Ausnahme des Einzelnen. Wirkliche oder vermeintliche Wirtschaftsinteressen und nicht der Glaube sind dort die Bindung. Die Rolle und Bedeutung der katholischen Parteien sind eine politische und keine religiöse Angelegenheit. Das Schlagwort des Glaubens der klerikalen Parteien unterliegt den gleichen zwingenden Determinanten wie das Schlagwort Freiheit der liberalen Parteien: die Anwendung zum Nutzen der aus dieser und jener Leibesnot klerikal oder liberal Wählenden. Versagt der Nutzen, so versagt der Wähler trotz »Glauben« und trotz »Freiheit«. So ist die Tatsache katholischer Parteien kein Beweis für die heutige Macht des katholischen Glaubens. Sie ist vielmehr ein Gegenbeweis –: die katholischen Parteien sind die mächtigsten Zerstörer der Macht des katholischen Glaubens. Zur Zeit höchster Glaubensmacht waren nur die Kleriker klerikal. Klerikale Laien bedeuten Niedergang und Ende, bedeuten die Aufsaugung der Kirche durch den Staat.

Es ist noch vor der Antwort auf die Machtfrage der als Beweis in Anspruch genommene Anruf der Einzelnen auszuscheiden, jener großen katholischen Energien – Chauteaubriand, Renan, Kirkegaard, Newman, Baudelaire, Claudel, Chesterton. Sie stehen außerhalb der Kirche und sind katholisch trotz ihr. Die lybische Wüste dieser Heiligen heißt Einsamkeit. Kein Ruf dringt hin, kein Ruf kommt her. Das Wesen der Kirche erfährt durch sie keine Bestimmung, wie es keine durch Franciscus erfuhr, dessen Beispiel sie mehr als aufgab, kaum daß es mit dem Tod erfüllt war. Dessen Beispiel sie aufgeben mußte, weil ihm zu folgen soviel bedeutet, wie alle Gemeinschaft auflösen. Das Leben der Vielen die zusammenhängen, ist mächtiger als das Leben des Einzelnen, der losgelöst ist. Und nicht nur Gregor IX., der Franz aufgab, sondern die katholische Kirche bisher hat sich vor dem Entweder-Oder dahin entscheiden müssen, daß die evangelische Forderung unerfüllbar ist, um des Bestandes dieser Art Lebens willen. Sich für Franciscus entscheiden heißt, alle Macht aufgeben und zu Gott einkehren.

Aber die katholische Kirche kann sich heute auch nicht mehr für das irdische Oder des Ignaz von Loyola entscheiden, denn das Entschließen setzt eine Kraft voraus, die ihr fehlt: die Kraft des Glaubens. Die katholische Kirche gibt nicht nach: was wie Kraft aussieht, was aber Schwäche ist. Sie ist nicht mehr der Löwe, der mit seinen Flöhen lebt. Sie fühlt sich von den Flöhen bedroht. Statt im Bewußtsein ihrer Macht, das ihr ehemals eigen war, die Erde sich trotz Schöpfungsgeschichte um die Sonne drehen zu lassen, streitet sie sich mit submissest auslegenden Professoren der Theologie und übt an den schrecklichen Gegnern die Hausmacht einer alten etwas komischen Erzieherin. Diese ehemals so große Kirche, die durch Ignaz weise einen Newton und einen Pascal leicht ertragen konnte, indem sie sie in sich schloß, ängstet nun vor jedem Studenten der Chemie, daß er mit seinem Spiel die Existenz Gottes erschüttere. Die Kirche hat die weise Kraft verloren, das Haus des Glaubens so weit und hoch zu bauen, daß auch der Zweifel darin seinen Platz findet. Sie hat sich in weltliche Hände begeben und nicht in die besten weltlichen Hände. Der Kardinal Newman möge sprechen: »Wer da sagt, die Kirche vermöge nur unter gewissen Voraussetzungen zu leben, der unterwirft sie irdischen Bedingungen. Die Kirche ist nicht das Geschöpf von Ort und Zeit, von weltlicher Politik und populären Launen.« Die ohnmächtigen Mächtigen der Kirche haben selber die Kirche irdischen Bedingungen unterworfen, haben sie zu einem Geschöpf von Ort und Zeit, von weltlicher Politik und populären Launen gemacht und Newmans ersten Satz zur Wahrheit werden lassen: die Kirche vermag nur unter gewissen Voraussetzungen zu leben. Die Voraussetzungen, unter welche das Leben der Kirche heute gestellt ist, sind keine lebenverheißenden. Sie hat sich den Händen der Politiker, den Laien ausgeliefert und den Chancen von deren Sieg und Niederlage. Die Kirche ist zur Markthalle geworden und auf dem Kreuz des Erlösers kleben Wahlaufrufe. Die katholische Kirche ist daran, zur Reliquie zu werden. Das Greisentum stammelt Bannflüche gegen die kleinsten und daß sie sich selber in Bann tat, weiß die Kirche nicht. Das Entweder-Oder, das Franz oder Ignaz, ist nicht mehr zu stellen. Selbst wenn die Kirche diese Forderung verstünde, diesen Aufruf zum Leben begriffe, er käme zu spät. Sie ist ein politisches Mittel in den Händen der großen schwankenden Zahl geworden und nichts mehr selber. Auch wenn sie es wollte: sich vom Staate trennen, sich eigenwillig vom Staate zu trennen, – der Staat ließe sie nicht mehr, der Staat gäbe sein bestes Mittel nicht hin.

So ist heute der Zustand der Kirche: Reliquie, und Machtmittel in der Hand eines Stärkeren: des Staates. Und, zu Selbstbetrug und Schein, Emanationen, die eine große Vergangenheit als Farce parodieren.

Die kurze Encyclica De Profundis hat diesen Wortlaut:

Aus der Tiefe unseres Schmerzes ist uns das Wunder der Gnade geworden. Gott der Allmächtige erschien uns im strahlenden Lichte und nahm alle Wirrnis von uns, in der wir lagen, Herde und Hirten. Und entsiegelte unser Herz und löste uns die Zunge, daß wir der Christenheit der Kirche frohe Botschaft künden.

In Wahn und Irrtum haben wir gelebt und in währendem Verlust. Und schien es, als ob wir die Schlüssel zu den Runen unseres Herzens auf ewig verloren hätten, und fremde Schlüssel, deren wir uns bedienten, verwirrten noch mehr und ließen noch mehr verlieren. Der Glaube ist blind, das Herz aber sieht. Wir hatten das Herz versäumt und wollten darum den Glauben sehend machen. Das hat uns in schwere Irrung geführt, auf Wege fremd uns und fremd wir ihnen. Da sprach der Himmel nicht mehr, und wo der Himmel nicht mehr spricht, da schreit die Erde. Die Erde schreit. Und hilflos waren wir und vermochten nichts, denn wir selber, wir waren mitschreiende Erde, da der Himmel in uns nicht mehr sprach.

Wir sind voll schwerer Sünde – wir haben Gott verleugnet. Wir haben es geduldet nicht nur, wir haben auch alles getan, Gott unsern Herrn zum Götzen zu machen vor den Menschen, uns selber zu Baalpriestern. Und haben uns als Baalpriester gefürchtet und gewehrt dagegen in Zorn und Lüge, daß man andere Einsichten in die materiellen Dinge bekomme als jene sind, die lehren: Baal donnert und schickt den Blitz. Wir haben es in unserer menschlichen Erbärmlichkeit vergessen, daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist, daß der Gott unserer Kirche ein sittlicher Gott ist, nicht ein Naturgott der Wilden, den fortschreitende Kenntnis zerstört. Wir haben, was sich die Wissenschaft nennt in Verkennung ihrer so geringen Bedeutung für der Menschen Heil bekämpft und verlogen, und hat doch, daß die Erde sich um die Sonne dreht noch keine Gewissensqual beruhigt und eine Theorie Darwins noch keiner Mutter die Tränen über ihr gestorbenes Kind getrocknet. In diesem Götzenwahne wollten wir das Wissen beherrschen und die Schule und den Staat und alle öffentlichen Dinge. Und redeten auf der Kanzel nicht von der Not unseres Herzens, aber von unserem und aller irdischen Wahne, redeten als Politiker und dienten als Ruffiane der öffentlichen Meinung. Und gaben vielerlei Antwort auf vielerlei Fragen, wo nur eine Frage ist und nur eine Antwort: Gott. Haben die Kirche zur Markthalle um irdische Güter gemacht, nachgebend menschlicher Schwäche und selber dieser Schwäche erliegend, denn auch wir sind nur Menschen. So füllte sich die Kirche unseres heiligen Glaubens mit Götzendienern, Irrgläubigen und eitler Irdischkeit, und wir selber öffneten das Tor den Würmern, die uns verzehren und die Farbe des glorreichen Leibes haben, den sie verzehren: unsers Glaubens.

Wir haben uns der schreienden Erde ausgeliefert. Wir sind, o tiefe Schmach, ein gemeines Mittel politischer Parteien geworden und sitzen unter dem Kreuze und würfeln um unseres Herrn Jesu Christi Kleid. Wir kreuzigen das Herz und waschen uns wie der Prätor die Hände: wir üben die Politik des Lebens. Und dienen dem fremden Herrn und geben Mordwaffen Segen, verhüllen die Lüge und verlügen die Not. Seelsorger sind wir nicht mehr, Leibdiener sind wir. In Parlamenten reden wir und schreiben Zeitungen und machen Staatspolizei, mit der Totsünde im Munde, daß wir so und damit dem Herrn dienen. Nicht mehr Gläubige wollen wir haben, sondern ein Publikum. Verführte waren wir und Verführer zum Bösen. Niedrig ist unser Leben, da wir schreiende Erde geworden sind.

Niedrig wie das Leben am Abend ist unser Leben, da es sich noch einmal zur Sonne wendet und das Angesicht Gottes sieht. Wartend verweilt es am Rande der Erde. Wendet Euch hin mit der letzten Kraft Eures Herzens. Noch ist eine Rettung vor der Nacht, noch ist das Licht, wenn es auch in Trübnis scheint.

Also ergeht an die katholische Kirche und alle Glieder der katholischen Christenheit die Kunde: Die katholische Kirche trennt sich vom Staate. Die Glaubensgemeinden bestellen und besolden ihre Priester, geben ihnen nach Können und Vermögen, was sie zu einem einfachen Leben nach den Regeln unseres Heiligen Glaubens brauchen zur Erhaltung und Übung dieser Regeln und des dazu Nötigen an Sach und Gerät. Die Bildung und die Verbreitung der Kenntnisse um diese Welt ist Sorge des Staates und der politischen Gemeinden allein. Jede Beteiligung des Klerus an anderen Dingen der Gemeinschaft als solchen des Glaubens ist verboten. Der Kleriker verläßt die Kirche nur, wenn ein Mensch seiner in seelischer Not oder Freude bedarf und nach ihm verlangt. Die wahre Frömmigkeit gibt nur, sie erwartet nichts. Der Kleriker sei ein Gebender immer. Er folge einem Geheiß, aber heiße nicht selber. Und sei einfältigen frohen Herzens, so es sein Gemüt vermag, und erwerbe sich die Kenntnisse dieser Welt, um mit denen sprechen zu können, so diese Kenntnisse besitzen. Er sei ein Diener des Herrn unseres Gottes, in dessen Reich des Herzens kein anderer Herr ist und dessen Diener so keinem andern Herrn dienen können als ihm allein. Also trennt sich die Kirche vom Staate, auf daß das Wort unseres Herrn Jesu Christi Wahrheit werde.

Und wird eine Zeit anbrechen, da die Stimme des Himmels wieder spricht und widertönt im Herz unseres Herzens und da das Schreien der Erde verstummt. Und können dann vor Gott beim Aufruf mit gesenkten Augen stehen, aber mit erhobenem Haupte, denn wir haben unsere große Sünde erkannt und gebüßt und sind wieder ein Teil seiner Herrlichkeit geworden.

Der Segen dieser Botschaft komme über euch. Amen.

Gegeben zu Rom bei Sankt Peter im letzten Jahre unseres Pontifikates. Pius PP. X.


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