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VI

Spät in der Nacht segelte die Garbosa in den Gewässern des Kap San Antonio.

Rötliche Lichtreflexe vom Feuer des Leuchtturms umspielten das Boot, wurden zerrissen, rollten fort und liefen wieder ineinander im unaufhörlichen Wogen des Wassers.

Die riesige, von den Stürmen polierte Felswand des Kaps stieg steil empor, hinter ihr, landeinwärts, der Gipfel des Mongo – ein schwarzer Fleck auf der endlosen Fläche des tiefblauen Nachthimmels.

Bei dem flauen, zuweilen ganz einschlafenden Winde hatte die Garbosa den ganzen Tag gebraucht, um den Golf zu durchqueren. Endlich – das offene Meer vor dem Bug – konnte man den Kurs auf Algier nehmen.

Der Rektor, dem bislang die dunkle Masse des Kaps zur Orientierung gedient hatte, beobachtete jetzt den alten Kompass seines Onkels, auf dessen trüber Scheibe sich das Licht des einzigen Laternchens an Bord spiegelte.

»Von hier ist der Weg wie eine schnurgerade Chaussee,« informierte ihn der neben ihm sitzende Tonet. »Leg' das Steuer auf Südost und lass den Kahn laufen. Alles andere hängt vom Wind ab.«

Mit beiden Händen die Pinne greifend, ging der Rektor unter qualvollem Ächzen der Garbosa über Stag. Die sanfte, seitliche Dünung, die das Boot bisher geschaukelt hatte, fasste es jetzt von vorn – sachte begann die Garbosa zu stampfen. Weissleuchtender Schaum sprühte über den Bug, und in dem glitzernden Kielwasser brach sich der unruhige Schein des nun rückwärts liegenden Leuchtturms.

Nach diesem Manöver gab es weiter nichts zu tun, und Tonet streckte sich, eine Taurolle als Kopfkissen, neben dem Mast aus. Erst gegen Morgen sollte er seinen Bruder am Steuer ablösen.

Bald wachte der Rektor allein an Bord. Nur das Rauschen der Wogen, das Schnarchen der Mannschaft klang an sein Ohr.

Nie hatte er, der seine Netze sogar bei rauhem Wetter auswarf, auf dem Meer irgendwelche Befürchtungen gekannt. Aber in dieser Einsamkeit vermochte er nicht, sich einer gewissen Beklemmung zu erwehren. Ob die Bark sich in schwerer See noch halten konnte? … Und wenn man ihn auf der Rückkehr mit voller Ladung erwischte? …

Aufmerksam wie ein besorgter Vater, der die Hustenanfälle und die unruhigen Pulsschläge seines kranken Kindes beobachtet, lauschte er auf das Stöhnen der Garbosa, schaute nach dem riesigen, geblähten Segel, dessen Spitze den Sternenhimmel zu berühren schien.

Nach einer ruhig verlaufenen Nacht brach der neue Tag mit einer Hitze an, als wäre der Sommer schon gekommen. Träge flatterte die Leinwand am Mast, kaum geschwellt von dem warmen Lüftchen, das die unbewegliche Oberfläche des Meers, glatt und bläulich wie ein venezianischer Spiegel, zärtlich koste. Die spanische Küste war ausser Sicht. Doch auf der Backbordseite erschienen am Horizont gleich duftigen Morgennebeln zwei rosige Flecken: die Inseln Ibiza und Formentera.

Langsam – so langsam, dass ihr Steven das Wasser kaum bewegte – schlich die Garbosa durch die ungeheure, runde Wasserfläche, an deren Grenzen dann und wann die Rauchfahnen von Dampfern verschwommen auftauchten. Meist hing das Segel vollkommen schlapp und schleifte über die Planken.

Vom Deck drang der Blick bis in die Tiefen des durchsichtigen Wassers, in dem sich Wolken und Boot in wunderbarer Klarheit widerspiegelten. Scharen von Fischen – blitzende, kleine Spielzeuge aus Zinn schossen pfeilgeschwind hin und her; übermütige Delphine steckten ihre grotesken Schnauzen und die schwarzen, schillernden Rücken aus den Fluten; fliegende Fische, die Schmetterlinge des Meers, erschienen einige Augenblicke in der Luft, um dann wieder in den Wogen zu versinken. Und alle diese seltsamen Wesen mit phantastischen Formen und unbestimmbaren Farben – die einen buntscheckig wie Tiger, die anderen schwärzlich düster; riesengross und plump oder fein und zierlich; mit gewaltigem Rachen und kleinem Körper oder mit winzigem Kopf und aufgeblähtem Bauch – wimmelten um die alte Bark, als wäre sie eins dieser mythologischen Fahrzeuge, dem die Meeresgottheiten das Geleit gaben.

Tonet und die beiden anderen Matrosen benutzten die Flaute, um Angelleinen auszuwerfen. Der Schiffsjunge stand am Bug neben dem kleinen Herd, gewissenhaft in dem Topf mit der Mittagssuppe rührend, während der Rektor achtern auf- und abging, den Horizont beobachtete und die Windstille verwünschte, bei der die Garbosa am Fleck festgenagelt zu sein schien.

Auf Steuerbord lag ein Dreimaster, den Bug nach Osten, – wahrscheinlich nach Malta oder Suez bestimmt – der ebenfalls auf Wind wartete. Doch voraus glitten mächtige Dampfer mit dicken Schornsteinen vorbei, schwer geladen, dass sie kaum aus dem Wasser ragten: Kornschiffe vom Schwarzen Meer auf der Fahrt nach dem Norden.

Die Sonne stand jetzt im Zenit. Der endlose Wasserspiegel leuchtete wie von dem Schein einer Feuersbrunst übergossen, und die alten Deckplanken der Garbosa knisterten in der glühenden Luft.

Die Suppe war gar. Patron und Mannschaft, das Hemd auf der Brust geöffnet, schweisstriefend, gelähmt durch diese erdrückende Hitze, setzten sich in den Schatten des Segels und versenkten ihre Löffel in denselben Topf. Unaufhörlich ging dabei der Becher von Hand zu Hand, um die ausgedörrten Kehlen zu erfrischen. Und mit Neid schauten sie nach den Seevögeln, die sich dicht über dem Wasser hielten, als scheuten auch sie die sengende Atmosphäre.

Nach beendigter Mahlzeit schwankten die Matrosen, mehr trunken von der Sonne als vom Wein, nach der Luke, um sich auf den Brettern der engen Kajüte, die bei der geringsten Erschütterung laut ächzten, zum Schlafe auszustrecken.

Der Nachmittag und die Nacht vergingen ohne Neuigkeit. Bei Tagesanbruch aber frischte der Wind auf. Und wie ein altes rassiges Pferd, das den Sporn fühlt, bäumte sich die Garbosa und kam endlich wieder in Fahrt.

Gegen Mittag nahm man dicke Rauchwolken wahr, und bald darauf tauchten Maste auf, hoch wie Kirchtürme, mit riesigen Plattformen – Festungstürme, schwimmende, grau angestrichene Burgen, … eine ganze, von Tausenden von Menschen bewohnte Stadt, die, in Qualm gehüllt, näher kam, kapriziöse Schwenkungen machte, sich bald auf einem Punkt vereinigte, bald über den weiten Horizont verstreute. Eine Herde von Leviathanen, deren verborgene Flossen das Wasser aufrührten. Es war die französische Mittelmeerflotte, die in der Nähe der algerischen Küste manövrierte.

Auf der Garbosa herrschte Staunen und Schreck. Carajo! Das kleinste dieser Schiffe, ein flinker Kreuzer, der den anderen mit Flaggen und schwarzen Kugeln Signale gab, brauchte ihren Kutter nur zu streifen, um ihn in Splitter zu verwandeln. Aber was erst, wenn es diesen Ungeheuern einfallen sollte, mit den schwarzen, runden Nasen, die sie aus den Öffnungen der Türme hervorstreckten, zu niesen? … Und die Schmuggler betrachteten das Geschwader mit dem unruhigen Respekt des jungen Gauners, der eine Abteilung »Guardia civil« vorbeimarschieren sieht.

Die Panzerschiffe entfernten sich und verschwanden in kurzer Zeit am Horizont, ohne eine andere Spur zu hinterlassen als schwarze Rauchwölkchen, die auch bald in dem ungeheuren Blau zerflossen …

Um vier Uhr nachmittags erschien ein verschwommener, langgestreckter Schatten; wie Tonet ihnen erklärte, der Vorposten der Küste, das Kap der Mala Dòna. Auf der Backbordseite lag Algier.

Die Brise wurde stärker. Der Bug neigte sich und kam wieder hoch, als wollte er das zu beiden Seiten aufwallende Wasser artig begrüssen. Und die Garbosa, stöhnend und bebend, sauste los wie ein ausgepumpter Gaul, der die Nähe des Stalles wittert und eine letzte grosse Anstrengung macht.

Zu beiden Seiten der Mala Dòna zeigten sich, undeutlich in der grossen Entfernung, niedrige Berge mit den weissen Flecken zerstreuter Häusergruppen. Immer schneller segelte die Bark, als würde sie vom Lande angezogen, das aber – scheinbar – vor ihr zurückwich wie die verzauberten Landschaften in den Märchen.

Auf dem türkisblauen Himmel zeichnete sich das zackige Profil der Küste ab. Vom Lande kam ein warmer Hauch wie aus einem geheimnisvollen, mit seltsamem Duft erfüllten Hause, und jetzt ging der Mond auf, ein echt orientalischer Mond – die schmale Sichel der Fahne des Propheten, der Kuppeln schlanker Minaretts. Man war wirklich in Afrika.

An den Klippen rauschte die Brandung, in den Stranddörfern flimmerten kleine Lichter. Der Schrei der Mauren ertönte auf den Feldern, und in der Ferne, wo das Meer sich am Ende der Hügelkette in bizarren Krümmungen landeinwärts zu stürzen schien, blitzten feurige, rote Punkte auf.

Dort lag Algier. Mehr und mehr Lichter – bisweilen hunderte in einer langen Schlangenlinie – tauchten auf, als wäre der Boden überall von Glühwürmchen bedeckt. Ein kleines Vorgebirge war noch zu umsegeln, und vor ihren Augen erschien die strahlende Stadt.

»Caramba! Dieser Anblick allein genügt, um die Fahrt hierher zu machen!« rief die Mannschaft verblüfft. »Dagegen ist der ganze Hafen von Valencia ein Dreck!«

Am Ende der grossen Bai, deren dunkle Wasser regungslos dalagen, bezeichneten farbige Leuchtfeuer die Einfahrt zum Hafen. Hinter ihm kletterte die Stadt den Hügel aufwärts, weißschimmernd trotz des Dunkels der Nacht, mit zahllosen, funkelnden Girlanden geschmückt wie zu einem Fest.

»Das nennt man Lichtverschwendung!« meinte der Rektor bewundernd.

Über den Gewässern des Hafens schlängelten sich feurige Linien, als vergnügten sich die Fische damit, Raketen abzuschiessen; rote und grüne Laternen leuchteten in einem Wald von Masten – die meisten nackt, wie es der Nüchternheit der Handelsmarine entspricht, manche aber auch mit Mastkörben und kleinen Geschützen. Dahinter erstrahlten in der unteren, der europäischen Stadt die Fassaden der Variétés, die grossen Luxusläden und die breiten Boulevards, auf denen sich zwischen schnellen, von einem weissen Zeltdach überspannten Wägelchen die Menschen drängten.

Der Nachtwind trug bis zur Garbosa ein Gemisch von tausend Geräuschen. Gellende, aus den Cafés dringende Musik; der verworrene Lärm der Menge in den Strassen; das Blasen vom Zapfenstreich; die schrillen Rufe der arabischen Bootführer – der ganze lebhafte Pulsschlag einer levantinischen Hafenstadt, die tagsüber auf der Jagd nach Geld die grössten Schurkereien begeht, um sich bei Einbruch der Nacht heisshungrig in den Strudel des Vergnügens zu stürzen, füllte die Luft.

Der Rektor, der seine erste Überraschung überwunden hatte, dachte jetzt an sein Geschäft. Nach den Instruktionen des Onkels steckte er ein geteertes Tauende an und schwenkte diese Fackel dreimal über seinem Kopf, jedesmal mit einer kurzen Pause, während der er sie hinter einem Stück Segeltuch verbarg. Wieder und wieder gab er das Signal, bis endlich an dem dunkelsten Teil der Küste ein rotes Licht aufzuckte. Die Freunde vom Zoll antworteten …

Derweile betrachteten die Matrosen, die vorn ihre Beine über Bord baumeln liessen, mit gierigen Augen die schimmernde Stadt und hörten Tonet zu.

»Seht ihr die grossen Lichtreklamen am Kai? … Das sind Cafés chantants, und ihr habt keine Ahnung, wie man sich dort amüsieren kann. Junge Mädchen tanzen da, halbnackt. Aber wie! … Nur mit dem Bauch!« Und der Schiffsjunge, dessen lasterhafte Augen funkelten, riss vor lauter Entzücken den Mund auf.

»Diese schnurgerade Strasse mit den unzähligen Arkaden längs der Mole heisst Boulevard der Republik. An ihr liegen die vornehmen Cafés, in denen die reichen Mauren, jeder einen mächtigen Turban auf dem Kopf, und die jüdischen Kaufleute in seidenem Kaftan verkehren. Das riesige weisse Gebäude drüben ist die grosse Moschee; dort sehen die Mauren, barfuss und frisch gewaschen, nach Mekka und beten zu ihrem Mohammed, während hoch oben auf dem spitzen Türmchen ein altes Männchen hin und her trippelt und wie ein Irrsinniger schreit.

In den Strassen überall elegante Damen, die wunderbar duften und auf jedes nette Wort »merci« antworten; Haufen von Soldaten mit Hosen, in denen eine ganze Familie Platz hat, und wohin man sieht, Menschen aus allen Ländern der Welt – wisst ihr, Leute, die zu Hause etwas ausgefressen haben. Und jedes zweite Haus ist ein Ausschank, wo man an kleinen Tischen vor der Tür sitzt und Absinth trinkt.«

Tonet kannte alles und schilderte es seinen Kameraden mit so lebhaften Gesten und Augenzwinkern, dass der Schiffsjunge immer wieder in ungeziemendes Gelächter ausbrach.

»Dann die obere Stadt, in der die Einheimischen leben, die müsstet ihr mal sehen! Ihr kennt doch die schmale Gasse beim Markt von Grao, in der man mit ausgestreckten Armen die beiden Wände berühren kann? Na ja, das ist eine Landstrasse im Vergleich zu den engen Röhren hier. Die Dächer stossen von rechts und links in der Mitte zusammen, und auf den Pflastersteinen sickert der ganze Unrat langsam bergabwärts.

Doch billig leben kann man da oben. Wem es nichts ausmacht, dass die Mauren mit den Fingern essen und sich zwischendurch an den Zehen kratzen, der bekommt für ein paar Centimes einen vollgehäuften Teller Kuskus, dazu ein paar Eier, rotgefärbt, wie bei uns zu Ostern. Dann legt man sich auf eine Bank, schlürft aus einem winzigen Tässchen seinen Kaffee und lässt sich auf einer Flöte, mit Tamburinbegleitung, etwas vorspielen.

Auch andere gute Sachen gibt es in der oberen Stadt. Kleine Maurenmädchen mit bemalten Gesichtern, blaugefärbten Nägeln und tätowiertem Busen winken einem hereinzukommen, und die stämmigen Negerinnen aus den Badehäusern bieten kräftige Massagen an. Aber erst die richtigen Soñeras, die ihr Gesicht verhüllen, dass nur die Augen freibleiben! Unter ihrem Umhang sieht man unten weite Pluderhosen und oben ein goldgesticktes Jäckchen. Und Schmuck! … An den Armen lauter silberne Reifen, dazu noch auf der Brust unzählige Ketten aus kleinen Münzen und Halbmonden.

Und was für Augen, Jungens! … Was für Hüften! … Eine kniff ich mal in die Pluderhöschen. Por Dios! Fleisch – fest wie Stein! Sie kreischte wie eine Ratte, so dass von allen Seiten scheussliche Burschen mit dicken Knüppeln herbeistürzten, um über mich und meine beiden Freunde herzufallen. Aber wir zogen flugs unsere Messer, und die ganze Geschichte endigte damit, dass die Zuaven uns in den Kasten sperrten, aus dem der spanische Konsul uns nach zwei Tagen herausholte.«

Mit blasierter Miene seine Füsse betrachtend, fügte Tonet hinzu:

»Ja, ja! … damals war ich noch ein ganzer Kerl!«

Achtern erklang ein Ruf. Ein rotes Licht näherte sich: die Dampfbarkasse vom Zoll.

Ein hübscher junger Mann mit blauer Mütze sprang an Bord der Garbosa und meldete in dem Kauderwelsch der afrikanischen Häfen, – einem Mischmasch von italienischen, französischen, griechischen und katalanischen Ausdrücken – dass man den geschätzten Auftrag des Mosiú Mariano aus Valencia rechtzeitig erhalten hätte und schon seit der vergangenen Nacht wartete.

»Alle Mann fertig!« rief der Rektor seinen Leuten zu. »Die Fracht übernehmen!«

Von der Barkasse, deren Schornstein kaum eine Handbreit über ihre Ladung hinausragte, flogen die dicken, in geteerte Leinwand eingehüllten Ballen aufs Deck der Garbosa, und je mehr die Luke verschluckte, desto tiefer sank die gebrechliche Bark ein, dumpf stöhnend wie ein geduldiges Lasttier, dem man zu viel aufpackt.

Der blonde Barkassenführer betrachtete sie mit kritischen Blicken.

»Können denn diese alten Planken noch so viel tragen?«

»Die ganze Ladung, nicht einen Ballen weniger!« antwortete der Rektor mit einer Entschiedenheit, als wollte er die leise aufsteigenden Zweifel in seinem eigenen Innern beschwichtigen.

Da der Raum nichts mehr fassen konnte, wurde der Rest auf dem Deck aufgetürmt und, so gut es ging, mit Stricken gesichert.

»Buona sorte, patrón!« sagte der Blonde, zog seine Mütze und drückte dem Rektor kräftig die Hand.

Leise, wie sie gekommen war, entfernte sich die Barkasse.

Unmittelbar darauf setzte die Garbosa Segel, und bald lag die Stadt, deren Lichtergefunkel langsam verblasste, hinter ihr.

Dem Rektor wurde das Herz schwer. Wenn der liebe Gott nur keinen Sturm schicken möchte! Selbst bei dieser ruhigen See rauschten die Wellen schon über den Bug der bis zum Bordrand im Wasser liegenden Bark. Ein Wunder, dass sie noch zusammenhielt! Tonet aber, unbeschwert von den Sorgen, die Besitz verursacht, lachte und spottete über ihr neues »Torpedoboot«.

Frühmorgens hatten sie Kap Mala Dòna schon übersegelt. Kurz darauf schwamm die Garbosa auf offenem Meer.

Jetzt, da nirgends mehr Land am Horizont zu sehen war, erschien dem Rektor die mit solcher Hast im Schutze der Nacht übernommene Ladung fast wie ein Traum. Doch um ihm jeden Zweifel zu nehmen, lagen die Ballen vor ihm, auf denen die von der schweren Arbeit ermüdete Mannschaft schlief, und als untrüglicher Beweis diente die alte Garbosa selbst, die unbeholfen wie eine Schildkröte ihren Weg machte.

Bis zum Anbruch des zweiten Tages segelte man mit günstigem Wind. Dann schlug das Wetter um; der Himmel bedeckte sich, ein langes Zittern lief über die Oberfläche des Wassers. Voraus, um das Kap San Antonio, türmten sich dunkle Wolken, und der Gipfel des Mongo, dessen Fuss dichte Nebel verhüllten, schien frei im Räume zu hängen.

Die Garbosa, die beunruhigend nach Backbord überhing und mit dem stramm geblähten Segel fast die Wellenkämme streifte, kam schnell vorwärts – viel zu schnell für ihren Patron, der doch die Nacht zum Löschen seiner Fracht abwarten musste.

Plötzlich sprang er auf und hätte beinahe die Steuerpinne fahren lassen. Auf dem dunklen Hintergrunde des Kaps hob sich deutlich ein grosses Segel ab. Verdammt! Er kannte dieses Fahrzeug genau, … ein auf der Lauer liegender Zollkutter von Valencia! Irgendein Spitzel in Cabañal musste es hinterbracht haben, dass die Garbosa auf etwas anderes als Fische aus war.

Tonet, der den Segler ebenfalls erkannte, blickte seinen Bruder beunruhigt an.

»Noch haben wir Zeit. Lass uns ausreissen!«

Willig legte der Rektor das Steuer um. Die Garbosa floh nach Nordosten.

Sofort nahm der Zollkutter denselben Kurs und machte Jagd auf sie. Wohl lief er schneller als die schwergeladene Bark, aber die Entfernung war beträchtlich, und der Rektor schwor, wenn nötig bis zum Hafen von Marseille zu flüchten, falls das Meer nicht vorher seine alte Guitarre mit ihrer ganzen Ladung verschlucken würde.

Bis zum Mittag dauerte die Verfolgung. Dann drehte der Kutter ab, zum Lande. Wahrscheinlich zog er bei dem trüben Wetter vor, an der Küste zu kreuzen, um die Garbosa, die früher oder später löschen musste, dort abzufangen.

»Immerhin schönen Dank für diese Atempause!« meinte der Rektor. »Und jetzt, Jungens, auf nach der Columbreta, wo ehrenhafte Männer, die den Handel protegieren, geborgen sind!«

Um neun Uhr abends – die Bark tanzte wie irrsinnig auf einer immer wilderen See – fuhren sie, durch das rote Licht des Leuchtturms geleitet, in die Columbreta ein, einen erloschenen, von den Wogen zernagten Krater, dessen schroffe Felswände ein Hufeisen bilden, und gingen in der kleinen Bucht vor Anker. Auf der Aussenseite dieses steilen Gürtels verbrannter, wüster Felsen brüllte das wütende Meer, doch drinnen machte sich der Ansturm der Wogen nur durch eine lange, flache Dünung bemerkbar.

Niemand kümmerte sich um sie, denn die Leuchtturmwächter waren an geheimnisvolle Besuche gewöhnt.

Als der Morgen graute, sprang der Rektor an Land und kletterte auf den ungefügen, in die Felsen gehauenen Stufen bis zum höchsten Punkte der Insel, um Ausschau zu halten.

Ob der Zollkutter ihn nicht an diesem als Schmugglerzuflucht nur zu wohl bekannten Orte suchen würde? … Aber auf der weiten Wasserfläche, bis zu der fernen, in dichtem Nebel liegenden Küste zeigte sich kein einziges Segel. Noch nicht! Trotzdem zögerte er, sich von neuem der hochgehenden See anzuvertrauen – die Gefahr, der er sein Leben aussetzte, spielte keine Rolle, wohl aber das Risiko für die Ladung.

Doch der Egoismus, den jeder Besitz mit sich bringt, beschleunigte seinen Entschluss.

»Wir fahren. Eher sollen die Haifische den ganzen Tabak rauchen, als dass diese Banditen mein Eigentum hier in der Columbreta schnappen!«

Und sobald die Leute ihre Suppe ausgelöffelt hatten, verliess die Garbosa die stille Bucht. Nur die gleichgültigen Blicke der auf dem kleinen Platz vor dem Leuchtturm stehenden Kinder folgten ihr noch eine Weile.

Ein böses Wetter. Ohne Unterbrechung kam eine Sturzsee nach der anderen. Bald wurde die Bark von einer Riesenwoge emporgetragen, bald stürzte sie mit hoch erhobenem Heck in düstere Abgründe. Wolken von Gischt fegten über das Deck, und die von Nässe triefende Mannschaft klammerte sich krampfhaft an die Taue, um nicht über Bord gespült zu werden.

Sogar Tonet wurde bleich und biss die Zähne zusammen.

»In einem seetüchtigen Boot … gut! Aber dass wir mit diesem morschen Kahn die Columbreta verliessen, ist ein Wahnsinn.«

Doch der Rektor war taub. Welche Kaltblütigkeit dieser Dickwanst in der Gefahr zeigte! Bei den wütendsten Sturzseen verzog sich keine Miene in dem breiten Pfarrergesicht, das rot und aufgedunsen aussah, als hätte er eben erst in der Taverne einen guten Kauf begossen. Wie eiserne Klammern griffen seine klobigen Hände um die Steuerpinne, und der stämmige Körper schwankte nicht einen Zoll bei den schrecklichen Stössen, die die Bark vom Bug bis zum Heck gewaltsam erschütterten. Auch jetzt noch lachte er mit dem dummen, gutmütigen Ausdruck, der ihm so manchen Spott in Cabañal eintrug.

»Das ist alles nicht so schlimm, wie es aussieht. Nur nicht den Mut verlieren! Auf der See zeigt sich's, wer ein Mann ist – nicht in der Kneipe. Und wenn der alte Kasten nicht mehr will und kieloben geht, was ist weiter dabei? … Achtung! Da kommt eine! … Brrrum! Vorbei! … Kommt die letzte – schnell noch ein Vaterunser und die Augen zugemacht. Die Hölle ist hier auf der Erde, da oben braucht man nicht fürs tägliche Brot zu schuften. Dem Tode entgeht keiner. Und da will ich lieber von einem anständigen Hai gefressen werden als in der Erde verfaulen – für die Würmer. Achtung! Da kommt wieder eine! …«

Doch nur der Schiffsjunge, der sich, mehr grün als blass, an den Mast klammerte, hörte seiner vom alten Borrasca übernommenen Philosophie zu.

Die Nacht kam – schwarz, sternenlos. Die Garbosa fuhr mit gerefftem Segel, ohne Laternen.

Eine Stunde später sah der Rektor die Lichter eines Fahrzeugs über die Wellen tanzen, das in entgegengesetzter Richtung steuerte.

Der Zollkutter! … Er konnte ihn nicht erkennen, aber wer sonst sollte in dieser stürmischen Nacht nach der Columbreta segeln? …

»Fahr' zur Hölle!« rief der Rektor ihm schadenfroh nach.

Mitternacht war vorüber, als sie das Leuchtfeuer der Kirche del Rosario erblickten: ihnen gerade gegenüber musste Cabañal liegen. Und eine Nacht wie geschaffen für das heimliche Löschen der Fracht! Aber ob man sie erwartete? …

Je mehr sich die Bark dem Lande näherte, desto grösser wurde die Unruhe des Rektors. Zurück aufs offene Meer konnte er nicht, denn das Boot nahm immer mehr Wasser über. Noch ein paar Stunden Fahrt, und es ging auseinander.

Also an Land – auf jeden Fall!

Ah! Dreimal blitzte dort kurz ein Licht auf. Der Onkel Mariano gab das verabredete Zeichen.

Sofort setzte die Garbosa tollkühn ihr ganzes Segel und raste los wie ein durchgegangenes Pferd … Grauenhaft schwoll das Toben der See an.

Endlich erblickte man den Strand und eine Gruppe schwarzer Silhouetten. Noch einige Minuten … dann ertönte ein trockener, betäubender Knall. Die Bark machte halt – krachend, als bräche sie in tausend Stücke. Der Sturm zerriss das Segel, eine enorme Woge prasselte über das Heck und warf Menschen und Ladung durcheinander.

Wenige Meter vom Lande entfernt, waren sie aufgelaufen.

Ein Gewimmel stummer Schatten stürmte an Bord und bemächtigte sich der Ballen, die durch eine Kette ausgestreckter Arme auf den Strand befördert wurden.

»Onkel! Onkel!« rief der Rektor und sprang am Bug ins Wasser, das ihm bis an die Brust reichte.

»Hier!« antwortete eine Stimme aus dem Dunkel. »Jetzt aber keine langen Reden. Eile tut not!«

Es war ein seltsames Schauspiel. Das Meer brüllte empört; der heulende Nordost bog das Röhricht bei jedem Stoss bis zum Boden; die Wogen brausten heran, als wollten sie die Erde verschlucken – und eine Horde schwarzer Teufel holte unermüdlich immer neue Ballen von der auseinanderfallenden Bark oder fischte sie auf in dem schäumenden Wasser, um sie wie Gummibälle ans Land zu stossen, wo sie im Handumdrehen verschwanden. Wenn der Sturm für einen Moment Atem holte, hörte man das Knarren fortrollender Wagen.

In riesigen Wasserstiefeln, einen Revolver in der Hand, dirigierte der Onkel mit gebieterischer Stimme das Löschen.

»Wir brauchen keine Sorge zu haben,« begrüsste er seinen Neffen. »Die Zollwächter der nächsten Station sind geschmiert und werden rechtzeitig Bescheid geben, wenn ihr Chef kommt. Aber auf diese Bande hier muss man scharf aufpassen. Die ist sehr schnell bei der Hand, um von dem Wirrwarr zu profitieren. Doch über mich werden sie nicht zu lachen haben! Der Erste, der einen Ballen verschwinden lässt, bekommt eine Kugel.«

Das Ausladen ging mit Windeseile vor sich. Ehe der Rektor sich's versah, fuhr schon der letzte Wagen davon. Mit ihm verschwand auch der ganze Ameisenhaufen lautlos in der Dunkelheit, gefolgt vom Señor Mariano und seinen beiden Neffen, die sich noch die wenigen brauchbaren Gegenstände von Bord aufpackten.

Und keiner hatte auch nur einen Abschiedsblick für die unglückliche Garbosa, der das grausame Meer eine Rippe nach der anderen langsam zerbrach.


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