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IV.

Wieder nichts?«

»Nein!«

»Warst du nicht bei Desaistre in der Avenue de la terre?«

»Ja! Nichts!«

»Und Bertrand, Lesier, Frapineur?«

»Frapineur ist im Hospital. Seine Lunge schafft es nicht mehr. Die anderen sitzen auch im kalten Atelier.«

Das Fenster, das jenen Blick hinunter die Buttes Montmartres über die endlose Stadt mit dem riesigen Häusermeer und den vielen Türmen und Kuppeln gewährte, war ganz durch Eisblumen undurchsichtig gemacht. Manche der Möbel, die Alex in den ersten Wochen, als er mit dem Gelde noch verschwenden zu dürfen geglaubt hatte, zum Schmuck seines Ateliers bei den Pariser Altertumshändlern erworben hatte, waren längst wieder verschwunden.

Mit dem Herbstfeste waren langsam die Blätter gefallen; ein kalter Schneesturm hatte noch die letzten abgeschüttelt, und dann hatte ein unerbittlich grausamer, eisiger Winter seine Herrschaft begonnen.

Drei Monate schon knarrte der Boden auf den Straßen und sang, wenn die Wagen über ihn rollten; der Schnee auf den Dächern und freien Plätzen trug eine dicke Eiskruste. Und manchmal brachte Bertrand aus dem kahlen, tief in Schnee gehüllten Garten einen erfrorenen Spatz.

Alex schlug die Tür hinter sich zu; ein buntes, wollenes Tuch hatte er zweimal um den Hals geschlungen und seine blauroten Hände stießen die große Mappe, in der er Radierungen und ein paar fertige Bilder mitgebracht hatte, an die kahle Wandseite bei dem Kamin, in dem nur ein paar Zweige und Äste, die er aus dem Garten zusammengelesen hatte, langsam verkohlten.

Dicht bei dem Kamin stand eine Staffelei mit einem begonnenen Bild; nahe an die Glut hatte sich Sascha Zychlinsky gestellt, die ihre erstarrten Hände zu wärmen versuchte, um wieder Palette, Pinsel und Spachtel gebrauchen zu können. Ihr bronzefarbenes Gesicht war etwas schmäler geworden, weshalb die schwarzen Augen noch größer erschienen. Der Kopf hatte sich dem Erschienenen zugewendet, der jetzt mit raschen Schritten auf- und niederging.

Dann stellte er sich neben Sascha, kauerte sich aber tief nieder und hielt seine erstarrten Hände ganz nahe an die zusammensinkende, verlöschende Glut.

Die Lippen von Alex waren zusammengekniffen, die Brauen hochgezogen und verrieten, daß hinter seiner hohen Stirne erregte Gedanken arbeiteten.

Eine Weile wurde zwischen den beiden nichts gesprochen.

Als Sascha Zychlinsky dann wieder nach der Palette griff, die sie auf einen Holzschemel gelegt hatte, vor das Bild hintrat und zu arbeiten begann, wandte ihr Alex sein Gesicht zu und sagte in hartem Ton:

»Wozu? Welchen Zweck hat dies Arbeiten? Wir vermehren nur den Vorrat an bunt bestrichener Leinwand. Die unbemalte hat noch immer mehr Wert.«

All die Erbitterung und Enttäuschung der letzten Wochen sprach aus seinen Worten; was er erleben mußte, was das Schicksal von Tausenden junger Künstler ist, das hatte auch Alex zermürbt. Daß er jetzt mit allem Fleiß und Ehrgeiz das Schicksal nicht zwingen konnte, daß niemand in seinen Arbeiten das Können sehen und anerkennen wollte, nachdem er doch schon den Erfolg, den Ruhm in Händen zu halten sich gewöhnt hatte, das hatte ihn verbittern

In dem Leichtsinn aller Künstler war ihm das Geld, das er von Winfried Elmshorn erhalten hatte, und das von dem Akademiepreis zu rasch durch die Finger geschlüpft; er hatte nicht verstehen können, warum nicht jede Arbeit seiner Kunst den gleichen Erfolg gewinnen sollte wie seine erste.

In dem Glauben, daß jedes Werk ihm Reichtum schaffen müsse, hatte er für sein Atelier alte Schränke mit Renaissanceschnitzereien, wertvolle Stoffe, Decken und echte, indische Batikarbeiten gekauft, die er dann, als der Winter immer grausamer geworden war, als der Erfolg an klingendem Golde treulos blieb, um eine lächerlich geringe Summe wieder verschleudern mußte.

So weit war er nun gekommen

Die Wände sahen kahl und leer aus; die eigenen Bilder und auch die von Sascha Zychlinsky lehnten in einem Winkel, da immer wieder der Versuch gemacht worden war, sie bei einem Kunsthändler zu verkaufen; zuerst hatte Alex die großen Verkaufsräume in der Avenue de l'Opera, in der Rue de Rivoli, auf dem Boulevard Montmartre ausgesucht, dann aber war er immer bescheidener geworden und hatte selbst den Händlern am Ufer der Seine bei der Notre Damekirche seine Radierungen angeboten. Es war, als sollten die Tage der Not aus seiner Kindheit, und noch schlimmer, wiederkommen.

Da er sich wehrlos fühlte, da er nicht mehr arbeiten konnte, und da ihm diese Arbeiten bei strengster Selbstkritik gut erschienen, so war in ihm allmählich ein Haß gegen die Arbeit selbst aufgestiegen.

Wozu noch arbeiten?

Und nun war diese Erbitterung auch laut geworden.

Die Augen von Sascha Zychlinsky kehrten sich von ihrem Bilde nicht ab, als sie ihm Antwort gab:

»Immer dies wozu? und warum? Ich will selbst prüfen, was ich kann, ich will mir selbst genügen.«

»Schafft das Kohlen, bringt es auch nur den Kaffee für heute ein? Es wäre besser, auf die Straße zu gehen und den Schneekarren zu ziehen. Zwei Franken werden für den Tag immer noch bezahlt.«

»Und der Ehrgeiz, deine Kunst? Ist dir das alles nicht mehr wert als die Franks und Sousstücke, die du bei einem Händler dafür erhältst?«

Jetzt streckte sich Alex; dabei trat in seinem Gesichte der spottende Zug noch schärfer hervor.

Er mußte an seinen Märchenwahn von der verwunschenen Krone denken, den er gläubig in sich aufgenommen hatte. War sein Glaube an das Märchen und an die Krone nicht der gleiche Wahn, die gleiche Torheit, als wenn unter diesen Menschen hier in der Kolonie mit tönenden Worten von Kunst und Selbstgenügen gesprochen wurde? War dieser Glaube Saschas an die eigene Kunst, an die Befriedigung am eigenen Schaffen etwas anderes als sein einstiger Glaube an die Krone, die reich und wunschlos glücklich machen sollte?

Kronen hatte Alex Graber getragen. Aber das Lorbeerzweiglein war verdorrt und der Weinlaubkranz verloren.

Langsam, als prüfe er jedes Wort erst, antwortete er nun:

»Nein – nein! Und nochmals nein! Genügte mir das, dann ist ja kein Unterschied mehr mit den Narren, die in Irrenanstalten papierne Kronen aufsetzen und sich Könige wähnen! Jedem Narren gefällt seine Kappe. Trifft dies nicht auf uns selbst zu, wenn wir nicht mehr von unserem Schaffen fordern, als daß dies uns allein gefällt? Nein! In den Augen anderer muß ich es lesen, und der Wert meines Könnens muß von anderen geschätzt werden in irgendeinem Marktpreis. Gilt das Gold nun einmal als Wertmesser, auch für geistiges Schaffen, so will ich das gleiche Gold auch als Wertmesser meiner Kunst ansehen.«

Er schwieg. Ruhig und ohne irgendwelche Erregung hatte Sascha Zychlinsky weitergearbeitet.

»Und als Richter über dich erkennst du alle an, denen der blinde Zufall Gold zum Verschwenden gab?«

»Nicht alle! Aber unter den Tausenden muß doch einer sein! Ich finde ihn nur nicht.«

»Es ist das gleiche, was Du immer schon gesagt hast.«

»Ja! Weil ich den Glauben an Märchen und Wunder verloren habe.«

Da hielt Sascha Zychlinsky in ihrer Arbeit inne: »Märchen und Wunder? Was meinst du damit?«

»Das, was ihr Selbstgenügen nennt, was ihr an schönen Worten für eure Kunstauffassung verschwendet, denn die Märchen klingen ebenso schön und ebenso lockend. Über Märchen vergaßt ihr die Wirklichkeit, wie ich es auch tat.«

»Damit kannst du vielleicht unseren Glauben an unsere Kunst treffen. Vielleicht? Aber etwas vergißt du: wir tragen damit die Lebensfreude in uns. Und diese läßt uns das andere unbedeutend erscheinen, was dir alles gilt.«

Da lachte Alex schrill auf:

»Ja, Lebensfreude – ja, Weinlaubkranz! Was ihr damit meint, ist auch ein Märchen von der verwunschenen Krone, ist auch ein Wahn wie der Ruhm. Was ihr Lebensfreude nennt, ist immer der Rausch, die Betäubung eines Augenblicks, ein Fest mit trunkener Vergangenheit.«

»Hast du daran nicht selbst geglaubt?«

»Ja! Dies Wort betäubte mich, berauschte mich wie einmal ein schönes Märchen, wie einmal ein unscheinbares Lorbeerzweiglein. Lebensfreude! Wie klingt das! Wie trug sich der Weinlaubkranz beim Rausch des Festes! Lebensfreude! Wie leidenschaftlich hatte Gaston Fragineur davon gesprochen! Und nun liegt er im Hospital, und morgen schon bringen ihn vielleicht ein paar Klepper auf einem Karren zum Armenfriedhof. Und Bertrand, der sieghafte Prediger der Lebensfreude? In seinem Atelier kauert er und weint haltlos und hilflos wie ein Kind vor Hunger; selbst seine Gitarre hat er verkauft. Wo ist nun sein Lachen?«

»Das sind Heimsuchungen! Wir finden die Lebensfreude wieder, denn der Glaube an uns und in uns lebt weiter. Es kommt noch ein anderer Tag.«

»Ja! Ja, das ist es. Märchen! Es kommt ein Königssohn. Die verwunschene Krone liegt irgendwo. Märchen lügen wie euer Wort von Lebensfreude.«

»So haben wir uns nie verstanden, Alex.«

»Doch, einmal, als der Rausch auch über mir in hochgehenden Flammenwogen zusammenschlug, als ich für ein altes Märchen ein neues eintauschte.«

»Du nanntest dies neue Märchen ›Liebe‹! Meinst du das?«

Sie legte die Palette wieder auf den Schemel und blieb dicht vor Alex stehen

»Ja! Der Weinlaubkranz war es – auch eine falsche Krone – auch ein Märchen. Ein Rausch – ein Selbstvergessen.«

»Und weiter war dir alles nichts?«

Groß und weitoffen schauten ihn ihre Augen an; in diesen schwarzen Sternen glühte wieder die Leidenschaft wie damals. Ihre Finger schlossen sich zu Fäusten und öffneten sich wieder.

Da wich Alex ihrem Blick aus; dann antwortete er gequält:

»Weiß ich es denn? Ist das nicht auch nur ein Wort wie alle die schönen anderen von Lebensfreude und Ruhm, von Rausch und Genuß?«

Da zog Sascha Zychlinsky die Schulter hoch:

»Dann allerdings.«

Und so ruhig wie vorher wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Aber Alex schwieg; er fühlte wohl, daß er sich zu sehr von seiner Erbitterung hatte fortreißen lassen; er hatte sie zu mitleidslos getroffen?

Aber war es nicht Wahrheit?

Wieder stellte er sich an den Kamin und versuchte dort die Hände zu wärmen. Aber die letzte Glut war verloschen.

Liebe! Nein! Ein Rausch war es – ein Versinken in die Stimmung jener Nacht – Lebensgenuß –; die Schönheit so nahe, ihr heißes Blut, der Zauber der Lieder. –

Liebe?

Lag seine Liebe nicht weit zurück – in der alten, stillen Heimatstadt, in der vielleicht immer noch ein junges Blut, ein warmes Herz auf ihn wartete?

Monate waren jetzt verstrichen seit sich von ihm kein Wort mehr dahingefunden hatte. Seit jenem Tage nicht mehr, da er den Weinlaubkranz im Haar getragen hatte.

Aber wie dieser ein Wahn war, ein schönes berauschendes Wort, so war wohl auch die Liebe nicht mehr als die Erfindung eines Märchens.

Worin aber lag dann die Lösung des Rätsels Leben? Worin?

In diesem Brüten achteten Alex und auch Sascha Zychlinsky nicht darauf, daß die Türe geöffnet wurde. Ein Depeschenbote blieb an der Türschwelle stehen, schaute auf das Telegramm in seiner Hand und fragte:

»Herr Alex Graber?«

»Ja! Das bin ich!«

Der Bote hatte die Türe bereits wieder hinter sich geschlossen, da hielt Alex Graber die Depesche immer noch uneröffnet in der Hand und drehte sie unentschlossen zwischen den Fingern.

Sascha wandte sich ihm zu.

Erst auf ihren fragenden Blick hin riß er das Telegramm auf; hastig flogen seine Augen über die wenigen Worte hin:

»Endlich lösen wir unser Versprechen ein. Erwarten Sie uns Gare de l'Est, Mittwoch, fünf Uhr nachmittags. Winfried-Marga Elmshorn.«

Alex Graber erklärte nichts; seine Finger zerknitterten die Depesche zu einem Papierklumpen, während sein ausdrucksvolles Gesicht die Erbitterung noch schärfer erkennen ließ.

»Was gibt es?«

»Elmshorns kommen.«

»Dann hast du ja die Wertmesser deiner Kunst! Vielleicht findest du nun eher, was du hier vergebens erstrebt hast.«

Aber Alex gab keine Antwort.

*

Lotte Rödern stand allein oben bei der »schönen Aussicht«; wie ein Silberband schlängelte sich die Elbe dahin und widerspiegelte die kahlen, rötlichen Felswände der Steinbrüche. Die Fluren und auch die Klosterruine unten waren mit Schnee bedeckt, der in der gedämpften frostigen Wintersonne in Millionen Kristallen flimmerte und glitzerte. Kahl streckten die Bäume ihre Äste und Zweige empor, die ebenfalls eine schwere Schneelast zu tragen hatten, die sie mit einem Windstoß öfters abzuschütteln versuchten. Die Schatten im Schnee aber hatten bei dem Sonnenlicht des Spätnachmittags ein reines, klares Blau.

Diesen Wintertag voll Sonne hatte Lotte Rödern dazu benutzt, um wieder einmal die Stätte aufzusuchen, die ihren Abschied von Alex mit angesehen hatte.

Damals war es ein Sommertag gewesen, und golden hatten die Felder geleuchtet, die reiche Ernte versprachen; nun aber deckte eine weiße Decke das weite Gefilde zu.

Und die Hoffnung und der Traum von damals lag nun auch unter einer schweren Decke, daß sie fast ersticken mußten.

Aber den Saaten unter der drückenden Last des Schnees war ein Frühling bestimmt, ein Tag, an dem sie keimend neues Leben gewinnen sollten.

Gab es für ihre Hoffnung auch einen kommenden Frühlingstag, der die Last wegnehmen würde, die nun so schwer auf ihr lag?

Keine Nachricht war mehr von Alex gekommen; nach einigen Karten, auf denen kühle, teilnahmlose Worte gestanden hatten, war dann sein Schweigen gefolgt.

Ihr Brief hatte keine Antwort erhalten. War er verlorengegangen, war er vergessen worden? War er nicht in seinen Besitz gelangt, oder hatte er ihn als lästig weggelegt?

Hatte er sein Märchen von der verwunschenen Krone vergessen? Hatte er sie selbst aus seinem Gedächtnis ausgelöscht? War er vielleicht draußen im Lebenskampf, im Ringen um die Anerkennung seiner Kunst untergegangen? Wie oft hatte sie schon von Künstlern gelesen, die im Elend den Tod fanden, weil ihnen die Krone nicht zugefallen war, nach der auch Alex strebte.

Was sollte sie glauben?

An seine Untreue? An seinen Untergang? War er im Elend, im Kämpfen untergegangen, oder hatte sie ihn an eine andere verloren?

Wenn sie so mit sich selbst in Zweifeln rang, wenn sie grübelnd die Antwort suchte, dann lebte in ihren Gedanken immer wieder jener Brief auf, den er an sie zum Abschied vor der Reise nach Paris geschrieben hatte.

Einzelne Worte und Sätze erstanden so vor ihr, wie er sie geschrieben hatte.

Und da war es ihr, als könnte das Märchen, für das sie gelebt hatte, das ja ihre Liebe war, das diese Liebe doch zu so etwas Wundersamen gemacht hatte, niemals untergehen.

Niemals!

Was er an Vertrauen auf ihre Treue und ihren Glauben geschrieben hatte, sie trug alles noch in sich; sie wollte den Glauben trotz allem nicht verlieren, daß er einmal die Straße zu ihr zurückfinden werde, um ihr die Krone zu reichen, die er für sie gesucht hatte.

Und mit leichterem Herzen, mit neuem Vertrauen stapfte sie durch den tiefen Schnee zurück, um an den Klosterhäusern vorbei den Weg zur Stadt zu nehmen; der Wind strich dabei durch die kahlen Äste und Zweige, und ihr klang dies wie ein Lied von Treue.

Die Liebe in ihr konnte nicht sterben, die Liebe war ein Teil ihres Lebens, das sich nicht auslöschen ließ. Sie wollte das Märchen von Liebe und Treue, von der Königskrone und von seiner Heimkehr nie vergessen.

Jetzt hatte sie allen Glauben wiedergefunden.

Flüchtig waren ihre Gedanken wohl auch zu Doktor Anwander geirrt. Dieser hatte sein Versprechen gehalten und war als ein treuer Freund wiedergekommen; es waren Stunden gefolgt, die erfüllt waren von ernsten, eifrigen Gesprächen über neue Bücher, von harmlosem Scherz, von Erzählungen über Reisen und Schönheiten der Natur, die Doktor Anwander mit großer Anschaulichkeit zu schildern verstand.

Aber nie mehr sprach er davon, was einmal mit nur wenigen Worten zwischen ihnen berührt worden war; nur wenn er ihre Hand beim Abschiednehmen hielt, dann zitterte die seine etwas. So leicht, daß Lotte Rödern es eben noch fühlte. Und sie wußte, daß dies eine Liebe war, die stumm sein mußte.

Doch sie konnte ihm nicht mehr geben!

Sie selbst litt ja wie er; auch sie erhielt keine Botschaft mehr, nicht ein Wort, das neuen Glauben gegeben hätte, sie trug stumm die gleiche Sorge, aber deshalb gehörte ihre Liebe immer noch dem Fernen, Verschollenen.

*

Die Dämmerung senkte sich bereits wieder in die engen Gassen, als Lotte nach Hause kam; etwas verwundert schaute sie, als sie vor dem kleinen, unscheinbaren Hause Kinder und Erwachsene stehen sah, die erregt plauderten, und die dann wie scheu zurückwichen, als Lotte sich näherte.

Was war geschehen? Im flüchtigen Vorübergehen war es ihr, als hörte sie die Worte, wie »so ein Unglück«, »der Schrecken«!, »beide Füße«. Es mußte ein Unglück geschehen sein. Aber weshalb standen sie alle vor dem Hause ihrer Eltern?

Mit einem plötzlichen Ahnen hastete sie nun die paar Schritte bis zur Ladentüre hin; das Mädchen im Geschäftsraum, das rotumränderte Augen hatte, begann sofort zu weinen, als sie Lotte sah.

Da fand diese keine Zeit mehr zu einer Frage; das erriet sie nun, daß hier selbst das Unglück geschehen war. Sie lief durch das schmale Arbeitszimmer nach dem Wohnraum.

Und da fand sie die Mutter mit ihren gelähmten Füßen wie immer in dem gewohnten Lehnsessel. Aber das Gesicht von Frau Sabine Rödern sah wie in furchtbarem Schrecken verzerrt und erstarrt aus; der Schmerz schien so schreckhaft über sie gekommen zu sein, daß die Augen keine Tränen gefunden hatten, daß nur die Muskeln im Gesicht wie in einem Krampf zuckten.

»Lotte!«

Ein Schreien war es, so schmerzlich, so gellend wie ein Schrei in Todesnot.

»Mutter! Was ist geschehen? Was?«

»Vater – Lotte – Vater – oben –«

Und nun löste sich der Schmerz von Frau Sabine, nun stürzten die Tränen mit einem Male aus den Augen über die hageren Wangen; aber sie konnte dabei kein Wort mehr sprechen.

Lotte lief die Treppe empor in das Schlafzimmer ihrer Eltern.

Nur das konnte die Mutter gemeint haben, als sie oben gesagt hatte.

Im Korridor selbst stand sie dann Doktor Anwander gegenüber.

Mit beiden Händen faßte sie dessen Arm; fragen konnte sie dabei nicht, aber in ihren braunen Augen war ein flehender Blick, den er sofort verstand:

»Fräulein Lotte, ein Unglück. Die Eisenbahn streifte ihn; ich mußte es sehen, ich eilte noch hin und kam doch zu spät.«

Nun wußte Lotte, was geschehen war. Ihr Vater war verunglückt, war von der Bahn erfaßt worden.

»Tot?«

»Nein, nein – aber beide Füße –«

»Mein Gott –«

Dann stürmte sie in das Zimmer. Da lag der Verunglückte in den Kissen; sein Gesicht schien noch weißer als das weiße Linnen; die rechte Seite war blutig geschürft. Er trug die goldene Brille nicht mehr, die bei dem Unglück verlorengegangen sein mußte. Aber trotzdem er an furchtbaren Schmerzen leiden mußte, trotzdem er vor Schwäche gegen eine Bewußtlosigkeit mit allem zähen Lebenswillen ankämpfte, so zwang er in sein Gesicht doch ein gütiges Lächeln, wie er es für sein Kind immer hatte.

»Vati!«

Lotte lag am Boden, mit beiden Händen faßte sie nach dem hilflos Daliegenden und schaute ihn starr vor Angst an, von diesen blutleeren Lippen irgendein Wort erwartend.

Und es war, als hätte dieser zähe Lebenswille nur auf, ihr Kommen gewartet.

»Lotte – nicht weinen – dann tut's noch weher.«

»Vati, was ist geschehen?«

»Ein Unglück– die Füße– es geschah so rasch –; er hat mich nicht mehr retten können. – Lotte –da kann keiner mehr helfen – keiner –«

»Vati! Du darfst nicht sterben.«

»Dies liegt in keines Menschen Willen, Lotte aber ich sterbe leichter – leichter, Lotte, wenn ich dich – in guten – Händen weiß. Draußen –«

»Vati – nicht sterben – nein – nein –«

»Das tut weh, Lotte –«

»Ich will ja still sein, aber du mußt uns bleiben!«

»Behaltet mich – in Gedanken – da bleibe ich euch – und – er – draußen. Lotte – mich hat er nicht mehr retten können – aber – dich – dich wird er glücklich machen – ein Sterbender sieht tief in Herzen – und seines ist gut – und leicht wird mir der Tod sein – leicht – wenn er – er und du – – und die Mutter – versprich –«

Seine Stimme war immer leiser geworden; aber seine brechenden Augen ruhten mit flehendem Blick auf Lotte, als wollten sie noch die Antwort erzwingen.

»Vati!«

Ein Lächeln in dem Gesichte des Vaters täuschte eine augenblickliche Schmerzlosigkeit vor; angestrengt bewegten sich seine Lippen, aber die wenigen Worte waren nur wie ein Hauch zu hören:

»Gut – ich sehe ihn – und – er – er wird euch helfen – er – hat mir – seine Hand gegeben – – –«

Dann streckte er sich und sank zurück.

Gellend schrie Lotte auf.

Und der eintretende Arzt fand nur noch einen Toten.

*

»Verehrter Meister,

mit vollem Rechte kann ich Sie so nennen. Ich habe ja an den Meister immer geglaubt, und wenn Ihnen selbst die volle Anerkennung zu gewinnen nie gelungen war, dann konnte die Ursache nur daran gelegen sein, daß Sie die falschen Wege gingen. Daß mich selbst mein Glaube an Ihre Kunst nie getäuscht hat, darüber habe ich nun Gewißheit. Und weil es stets mein Vertrauen war, so will ich Ihnen als erste die Botschaft mitteilen. Ihre Mappe mit den Radierungen »Sonnenleben« will die Kunsthandlung Steinbeck in Dresden verlegen und bezüglich des Honorars mit Ihnen verhandeln. Steinbeck hat Fühlung mit Berlin und München, so daß der Erfolg dieser Mappe gesichert ist. Sie brauchen mit Ihren Honorarforderungen auch nicht bescheiden zu sein, denn Steinbeck wird bestimmt kaufen. Auch über die drei fertigen Arbeiten in Öl, die Sie mir anvertrauten, kann ich Ihnen ein sehr günstiges Geschick melden; »Blütenträume« erwarb Kommerzienrat Frommel für 4000 Mark, »Sternschnuppen« will ich selbst behalten und ersuche um Ihre Forderung, »Lebensfreude« aber, dies Bild eines stimmungsvollen Künstlerfestes mit dem ganzen Reiz einer Farbensymphonie in Blau, will die Galerie in *** erwerben. Der Direktor hat die feste Zusage gegeben. Der Abschluß des Ankaufs wird durch Sie erfolgen und gewiß die vollste Befriedigung für einen Künstler bedeuten. Meinen Glückwunsch! Gleichzeitig aber erwarte ich heute noch Ihren Besuch in unserem Hotel zum Nachmittagstee. Auch Winfried will noch kaufen, da er jetzt gleichfalls überzeugt ist.

Auf Wiedersehen,

Ihre getreue Bewunderin
Marga Elmshorn.«

 

Durch einen Eilboten hatte Alex diese Nachricht erhalten; aber die Botschaft war nicht in das alte Haus in dem Garten der Rue Leporelle gegangen, nicht dahin, wo er jene Tage der ausgelassenen Feste und die Tage der Rot und Entbehrung durchlebt hatte, sondern nach dem Hotel de la Reine, in das er übergesiedelt war.

Als Alex diese Nachricht las, saß er in dem vornehm eingerichteten Hotelzimmer, zurückgelehnt in einen Klubsessel, der wohl schon viel gebraucht aussah, aber immerhin einen Luxus bedeutete; er trug einen modernen Sakkoanzug, eine sehr bunte Krawatte, Lackschuhe und Gamaschen.

Alex Graber war auch äußerlich mit der Übersiedlung aus der Rue Leporelle nach dem Hotel de la Reine ein anderer geworden; im Kamin seines Zimmers brannten jetzt starke Holzscheite und verbreiteten eine wohlige Wärme. Der Schnee, den er von seinem Fenster aus auf den Dächern der Häuser des Boulevards Sebastopol sehen konnte, hatte für ihn keinen Schrecken mehr. Und der dicke, pelzgefütterte Mantel, der nachlässig hingeworfen auf dem Bette lag, ließ ein Ausgehen angenehmer machen als an den Tagen, da er mit seiner Mappe bei den Pariser Kunsthändlern hausieren gegangen war.

Dabei waren seit jenem Tage kaum zwei Wochen verstrichen.

Als die blauen Augen von Alex Graber von dem eben erhaltenen Briefe aufblickten, war ein sinnender Zug in dem schmalen Gesichte mit der aschblonden Haarlocke in der hohen Stirne. Langsam falteten seine schmalen, feinen Finger den Brief wieder zusammen. zweifach – vierfach, so daß der Brief immer kleiner wurde. Er tat dies wie mechanisch, ohne es zu wissen, denn seine Gedanken waren zu lebhaft mit dem Inhalte beschäftigt. Ein Galerieankauf, ein Verkauf an einen Unbekannten, an einen Dresdner Kommerzienrat, ein Verleger für seine Radierungen, und dann noch der Erwerb eines dritten Bildes durch Marga Elmshorn.

Das alles bedeutete für ihn immerhin eine Summe gegen zehntausend Mark.

Und mit einem Male war dies gekommen, mit dem Erscheinen der Geschwister Elmshorn.

Flüchtig durchlebte er diese zwei Wochen nochmals.

Ohne Hoffnung war er gewesen, als diese beiden telegraphisch ihr Kommen angezeigt hatten; er war schon entschlossen, der Aufforderung gar nicht zu folgen und fernzubleiben; er hätte nur seine eigene Demütigung empfunden, wenn er so mit dem wollenen Tuche um den Hals gebunden auf dem Bahnhof stehen sollte. Sein Stolz lehnte sich dagegen auf. Da traf ihn das spottende Wort von Sascha Zychlinsky, von den Wertmessern seiner Kunst.

Das verwundete ihn so stark, daß in ihm ein anderer Trotz noch stärker wurde; er wollte sich nun erst recht gegen den Phrasenschwall dieser Kollegen auflehnen. Er hatte erkannt, daß alle die Worte von Kunst und Selbstgenügen, von Lebensfreude nur schöne Worte waren, wie Märchen, die ein Dichter ersonnen hat. Irrlichter, Phantome. Was nützte Lebensfreude, wenn der Winter das Leben erstarrte, und der Hunger schmerzte?

Nein! Er wollte sich losreißen! Er wollte nichts mehr mit all diesen gemeinsam haben, denen er doch fremd geblieben war. Alle! Auch Sascha!

In einem Rausch, in einer leidenschaftdurchlebten Nacht hatte er wohl an einen Überschwang der Gefühle geglaubt, aber dann hatte er doch immer mehr fühlen müssen, wie er auch zu ihr ein Fremder geblieben war. In einem Sinnentaumel hatte er Sascha gehört.

Mit ihrem letzten Worte, als sie ihm das Kommen der Geschwister höhnend als seinen Wertmesser bezeichnet hatte, war er anderen Sinnes geworden.

Erstaunt schauten wohl beide, Winfried Elmshorn und Marga, auf die Gestalt Alex Grabers, als er in dem Froste, diesem grausamsten aller Pariser Winter, in dem dünnen Anzuge und mit dem wollenen Tuche um den Hals auf dem Bahnhof wartete.

Aber schnell hatte ihn Winfried Elmshorn beiseite genommen und ihn nach Arbeiten gefragt, die Alex zu verkaufen wünschte; und auf die Verkäufe hin, die Winfried Elmshorn für ganz sicher hielt, hatte er Alex einen Vorschuß von tausend Franken gegeben.

Alex hatte wohl bemerkt, daß diesem Eingreifen von Winfried Elmshorn ein erregt flüsterndes Gespräch zwischen den Geschwistern vorausgegangen war, daß also Marga diese Hilfe veranlaßt hatte; aber er hatte bei der Annahme doch nicht gezögert. Seine Arbeiten besaßen den Wert – und dazu wollte er sich frei machen.

Als er mit den tausend Franken nach der Rue Leporelle zurückkam, wählte er gleich drei seiner besten fertigen Arbeiten, darunter auch »Lebensfreude«, ein Bild, das die nächtliche Stimmung jenes Künstlerherbstfestes wiedergab, sortierte die Mappe mit den gelungensten Radierungen, die er »Sonnenleben« genannt hatte und schickte diese Werke in das Hotel, in dem die Geschwister Elmshorn abgestiegen waren.

Dann ordnete er noch alles, was sein Eigentum war, und ließ es durch einen Träger nach dem Hotel de la Reine schaffen.

Zwischen ihm und Sascha Zychlinsky wurden nur wenige Worte gewechselt.

Fremd waren sie sich ja schon geworden. Als er ihr beim Gehen wie in einem Schuldbewußtsein, oder auch wie in Mitleid ein paar hundert Franken geben wollte, da stieß Sascha Zychlinsky das Geld und seine Hand mit kurzem Auflachen zurück.

»Nein, Alex, von dir nehme ich kein Almosen. Du magst scheinbar nun der Glücklichere sein. Deine Bilder sind zum Kaufen, das sagte ich dir schon. Aber Käufer sind meist Liebhaber und Liebhaberinnen. Halte dich also fest an die Quelle, die einträglich ist. Du verlangst danach. Aber etwas von dem, was uns hier beherrscht, von dieser innerlichen Schaffensfreude, von dem Glück des echten Künstlers besitzest du im Reichtum allein nicht.«

»Das sind wieder nur Worte, deren Leere und Hohlheit an schönen Klingen verborgen werden soll. Schaffensfreude, jetzt ein Wort wie Lebensfreude, wie Ruhm, wie Märchenkrone, wie das von einem verzauberten Königssohn. Mir soll nur eines gelten: …«

Aber er kam nicht dazu, das Wort auszusprechen, denn da unterbrach ihn Sascha Zychlinsky auch schon:

»Gold – Gold! Reichtum. Du hast recht! Das Lorbeerzweiglein genügte dir nicht, auch nicht der Weinlaubkranz Vielleicht greifst du nach goldner Krone, nach Reichtum, der dich verschwenden läßt. Glück zu!«

Da reckte sich Alex trotzig auf:

»Warum nicht? Das Gold gibt alles, Ruhm, Erfolg, Genuß und Lebensfreude.«

Und das war der Abschied.

In dem kahlen, leeren Atelier aber, das er in der Rue Leporelle zurückließ, blieben auch noch das Lorbeerzweiglein und der Weinlaubkranz liegen.

Sie bedeuteten ihm nichts mehr; er hatte den Glauben an sie verloren, wie den an Märchen. Er glaubte an keine verwunschene Krone mehr. Diesen Glauben hatte er endgültig abgeschüttelt.

Und mit diesem auch den Willen zu einer Rückkehr in die alte Heimat und zu der einen, die noch auf ihn wartete, daß er des Weges käme.

Mit der Übersiedlung war er dann auch in der äußerlichen Erscheinung ein anderer geworden.

Und als er wieder bei den Geschwistern Elmshorn im Hotel erschienen war, da erinnerte an ihm nichts mehr an die letzten Tage in der Rue Leporelle.

Wiederholt begleitete er dann die beiden durch Paris, war ihr Führer durch die Sammlungen des Louvre und des Luxemburg-Museums, zeigte ihnen das Nachtleben dieser ruhelosen Stadt. Regelmäßig aber hatte es sich gefügt, daß er fast nur mit Marga Elmshorn ins Gespräch kam. Immer wieder fesselten ihn ihre graugrünen, faszinierenden Augen, daß er das Wort stets nur an sie fand. Und sie hatte mit leidenschaftlicher Begeisterung von den Arbeiten gesprochen, die er ihrem Bruder übergeben hatte.

Nun hatte er die Antwort darauf.

Alles verkauft, aber durch sie, nur durch sie; das fühlte er nicht drückend, sondern eher wie einen Sieg.

Und nun erwartete sie ihn.

Alex blickte nach der Uhr. Er sprang auf. Er hatte wirklich zu lange darüber nachgegrübelt, wie rasch sich sein Leben in diesen Wochen wiederum anders gestaltet hatte. Es war Zeit, daß er den Nachmittagskaffee nicht versäumte.

Vor dem Spiegel machte er flüchtig nochmals Toilette; und er nickte seiner Gestalt lächelnd zu.

Galerieverkauf. Das Mappenwerk! Wie leicht ließ sich jetzt der Erfolg festhalten, der Ruhm war nun beinahe ein Spiel. Weil Marga Elmshorn seine Werke übernommen hatte!

Das Gold, der Reichtum, der mit dem Namen Elmshorn verknüpft war, hatten das erwirkt. Gold schaffte auch immerdauernde Lebensfreude, denn er hatte es erlebt, daß diese an der Not und am Hunger sterben muß. Mit Gold ließen sich immerwährend Feste feiern – so war Gold und Reichtum die Krone, die wunschlos glücklich machen mußte.

An die Krone selbst glaubte Alex nicht mehr. Das war vorbei. Und jene papierne Königskrone mit den bunten Steinen, die er als Knabe gewonnen hatte, das Lorbeerzweiglein Ruhm, und der Weinlaubkranz Lebensrausch brachten in sein Gesicht nur noch ein Lächeln.

Reichtum gab alles! Wie im Spiel hatte der den Erfolg gebracht, für jeden Tag konnte er Feste bieten. Das war nun sein lockendes Ziel – Gold – Reichtum.

War es so unmöglich, dies zu gewinnen?

Lockte die Erfüllung nicht durch Marga Elmshorn?

Warum sollte er nicht danach greifen?

Begehrte er zuviel?

Bei dieser Frage schüttelte er den Kopf. Nein! Er durfte begehren; in ihren stechenden Augen hatte er schon gesehen, was er forderte: ihre Leidenschaft.

Aber dann galt es die Erfüllung möglichst rasch zu erzwingen, denn Winfried und Marga Elmshorn hatten die Abreise von Paris bereits für die nächsten Tage beschlossen.

Gold!

Mochte Sascha Zychlinsky recht behalten. Er wollte danach streben. Nichts fesselte ihn, er war ja frei, um nach dem Golde zu greifen. Von Sascha hatte er sich frei gemacht, denn die Leidenschaft, der Rausch, der sie allein zusammengeführt hatte, war ausgelöscht.

Und sonst? Da meldeten sich in seiner Erinnerung zwei große, dunkle Träumeraugen, erfüllt von sehnendem Schauen. Lotte – Lotte! War er auch von ihr frei? Aber er hatte ihr keine Nachricht mehr gegeben, und auch von ihr selbst war keine Zeile gekommen. Und so viele Monate waren jetzt seit dem letzten Brief verstrichen – ein halbes Jahr schon. Was sie geeint hatte, das war doch nur ein Kindheitstraum gewesen, ein Märchen, das sie mit Kindheitsphantasien ausgeschmückt hatten.

Aber Märchen lügen – Märchen gab es keine, wie auch keine verzauberten Kronen und verwunschene Prinzen; als halbe Kinder hatten sie sich von einem gleichen, schillernden Irrlicht umfangen lassen wie Sascha Zychlinsky, Bertrand, Lesier und die anderen von ihren schönen Worten.

Er schüttelte den Kopf. Und er lächelte. Die braunen Träumeraugen hatten keinen Zauber mehr, denn ihm war der Glaube an das Märchen verlorengegangen.

Gold – Reichtum; das erfüllte alle Wünsche.

Und mit festem Willen begab er sich nach dem Hotel, in dem er von Marga Elmshorn erwartet wurde.

Winfried Elmshorn war nicht anwesend. Marga Elmshorn empfing ihn allein in einem kleinen Salon, der mit Möbeln aus der Zeit Ludwig XIV. geschmückt war; die Wände trugen sogar seidene Wandbespannung mit eingestickten, goldenen Blumen auf bläulichem Grau. Marga, die in einem kimonoartigen Hauskleide aus schwerer Seide in zartem, gedämpftem Olivgrün, in die in Rosa duftende Blüten eingestickt waren, einen Teetisch mit dünnen chinesischen Schalen deckte, trat ihm rasch entgegen:

»Sind Sie zufrieden, Meister?«

Aus dem weiten Ärmel streckte sich ihm ein schmaler Arm von dem matten, gelblichen Ton alten Elfenbeins entgegen; wie Perlmutter bläulichsilbern schimmerten durchsichtig auf der Haut ein paar dünne Blutadern.

Alex faßte die dünne Hand, mit den langen, schmalen Fingern, die Hand, die für einen Bildhauer die schönste sein mußte, und streifte den Rücken flüchtig mit seinen Lippen:

»Meister nennen Sie mich? Was wäre ich ohne Sie? Sie sehen Ihren dankbarsten Diener.«

»Wieder diese falsche Demütigung?««

»Vor Ihnen immer. Sie öffneten dem Künstler erst das Tor, das ihm Erfolg und Meisterschaft verleiht.«

»Ich weiß, es ist die Dankbarkeit, die Sie mir schon einmal bestätigen wollten.«

»Fräulein Marga! Durfte ich bei aller Vermessenheit, bei aller Kühnheit je einen anderen Gedanken hegen als den einer tiefen Dankbarkeit, solange ich für die Welt nur ein Unbekannter war? Solange mußte ich mich bescheiden. Ich durfte nicht nach etwas zu greifen versuchen, was mir wie eine Fata Morgana entglitten wäre.«

Sie saßen sich dabei am Teetische dicht gegenüber; und die tiefblauen Augen und die graugrünen begegneten sich, die einen suchend, fragend, die anderen aber in einem leidenschaftlichen Begehren; dann senkten sich ihre langen Wimpern wie ein Vorhang, als sollten sie etwas verhüllen. Die dünnen Lippen in dem schmalen Gesichte fragten mit einem Lächeln:

»Klingen Ihre Worte nicht so, als hätte der große Künstler den Gedanken an Dankbarkeit abgeschüttelt? Dann also würden Sie uns gar nichts gegeben haben, dann würde mir nicht einmal Ihre Dankbarkeit gehört haben?«

»Dann – dann – wenn ich wirklich der große Meister wäre, dann würde ich anderes bieten – dann – doch davon muß der unbedeutende Streber schweigen.«

»Weshalb?«

»Weil ihm der Mut und das Recht zu solch kühnem Fordern fehlen.«

Doch immer weiter drängte Marga Elmshorn; sie spürte ja in der Stimme von Alex das Begehren, das ihr galt. Sie selbst hatte dieses Begehren ja schon in Dresden mit aller Leidenschaft für sich wecken wollen – nun endlich gehörte es ihr.

»Und wenn ich es zu wissen wünschte? Wenn ich die Antwort fordere, die Sie mir verweigern?«

»Marga – mein Herz selbst würde ich dahingegeben haben; dann hätte ich es gewagt, von Liebe zu sprechen, die sich so verkriechen mußte, denn allzu hoch standen Sie mir, und allzu hoch stehen Sie mir immer noch. Das durfte ich nicht anbieten, nicht fordern. Verzeihen Sie, daß nun die Glut nicht mehr schweigen kann. Die Liebe mußte sich hinter der Dankbarkeit verstecken, weil sie die Ungnade, die Verdammung, den Sturz in die Hölle fürchtete. Nun aber ist sie doch laut geworden, und Sie können mich immer noch verdammen. Marga, könnten Sie mir diese höchste Sehnsucht erfüllen. Darf ich hoffen?«

»Nicht nur hoffen –« dann leise: »erfüllt sehen!«

»Marga!«

Und da kniete er vor ihr, faßte ihre beiden Hände und bedeckte sie mit Küssen.

*

Von dem Garten aus sah man auf die Elbe und auf die bewaldete Hügelkette von Siebeneichen; jung und frisch sah das Grün aus, das mit dem Frühling die kahlen Baumkronen wieder geschmückt hatte. Über die letzten Wölbungen von Buchen und Linden erhob sich das hohe Dach des alten Schlosses Siebeneichen. Rechts davon leuchtete aus dem Walde ein weißer Pavillon.

Träg schleppte sich der Strom dahin; die ersten Schlepper nach dem Winter trug er auf seinem Rücken mit.

Aus dem kleinen Häuschen, das sich dicht an die Wand der Spaarer Berge lehnte, kam Lotte Rödern und schob einen Fahrstuhl vor sich her, in dem Frau Sabine saß.

Das Häuschen lag fast den ganzen Tag im Sonnenlicht; das rote, neue Ziegeldach leuchtete und die Fenster glitzerten; dicht neben dem Hause stieg terrassenförmig ein Weinberg hoch. Im Garten aber waren fast nur Blumenbeete, die ihre ersten Keime aus der schwarzbraunen Erde emporhoben.

Dichte Efeuwände sperrten den Garten von der Straße ab.

Lotte Rödern trug ein schwarzes Kleid, auch Frau Sabine, deren schmales Gesicht noch mehr eingefallen war. Langsam schob Lotte den Fahrstuhl über den Kiesboden nach einem Gartenhäuschen, das ebenfalls ganz in Sonnenlicht gebadet war.

»Ist es hier nicht schön?« fragte Lotte, während sie sich auf eine Bank in dem Gartenhäuschen setzte und den Fahrstuhl neben sich rückte.

Der magere Kopf, dessen dunkelbraunes Haar sich nun so rasch mit weißen Fäden durchzogen hatte, nickte:

»Ja, doch schöner wäre es mit ihm; er hätte hier noch ein paar Jahre der Ruhe pflegen können.«

»Muttchen, du sollst nicht immer nur an ›Vati‹ denken. Du weißt, er selbst würde das nicht dulden. Hat er nicht, als er noch lebte, stets gesagt: Wenn ich tot sein werde, dann sprecht von mir nur wie von einem Lebenden, den der Zufall am Kommen verhinderte? Du wirst krank, wenn du immer nur weinst.«

Dabei beugte sich Lotte zur Mutter herab und streichelte leicht über deren Haar.

Frau Sabine aber antwortete:

»Mit Worten ist leicht irgendein Trost zu finden. Aber wenn das Herz so viele Jahre nur einen geliebt hat, wenn man mit einem Tag um Tag zusammengelebt hat, der so war wie er, dann läßt sich das nicht verwinden. Liebe, echte Liebe, die im Herzen wurzelt, läßt sich nicht auslöschen, die bleibt über den Tod hinaus.«

Lotte antwortete nicht sofort; sie dachte an eine andere Liebe, an die in ihrem Herzen, die stumm und verschwiegen wie ein heimliches Feuer glühte, das nur von dem Glauben geschürt war, der die Flamme nicht versinken ließ. Ihre Liebe würde dem, der irgendwo verschollen war, auch über den Tod hinaus gehören.

Aber Mutter brauchte Trost; um der Mutter willen sprach sie und vergaß, daß der eine, auf den ihre Sehnsucht immer noch wartete, vielleicht ebenso elend gestorben sein konnte wie ihr Vater, daß er verdorben sein konnte, daß er ihr wohl für immer verloren war.

»Die Liebe will ich dir ja nicht nehmen, nur den Schmerz. Der soll langsam stiller werden. Und hier soll dir das eher gelingen, wo doch so viele Ruhe ist, wo du in dem werdenden Frühling neues Leben siehst.«

Wieder nickte der hagere Kopf von Frau Sabine:

»Ja, der Schmerz liegt nicht mehr so schwer auf mir; es ist, als wandelte er sich in eine stille Wehmut, in eine Trauer, die wie versteckte Blumen alle schönen Erinnerungen an den Toten sucht und sie dann wie zu einem Strauß vereint, daß man am Ende mit einem Lächeln unter Tränen dieser Erinnerungen gedenkt.«

»Ja, Muttchen! So muß es kommen, und so ist es gewiß nach Vatis Willen. Hier wirst du dies Lächeln auch noch gewinnen.«

»Ich glaube es selbst. Hier ist es auch so schön; dies Erdenfleckchen, so bescheiden und beschaulich es ist, ist wie dazu geschaffen, einer müden Seele Ruhe zu geben.«

Einen flüchtigen Augenblick huschte ein Gedanke in Lotte Rödern auf: War ihre Seele in dem trostlosen Warten nicht auch schon müde geworden, daß sie hier die Ruhe gewinnen sollte? Aber nein – immer – noch immer hatte sie die Hoffnung, die Frau Sabine nicht mehr gehörte.

Und Frau Sabine sagte dann noch mit ihrer leisen Stimme:

»Wir hätten diese Ruhestätte hier kaum gefunden, wäre uns in den harten Prüfungstagen Doktor Anwander nicht so treu zur Seite gestanden. Ihm verdanken wir allein, daß wir jene Zeit überwunden haben.«

Die Brauen von Lotte Rödern zuckten; aber sie blieb ruhig:

»Ja, er erwies sich als zuverlässiger Freund.«

»Wir beide verstanden ja nichts von Vaters Geschäften. Wir wußten nicht, was uns gehörte, wir waren den Geldsachen doch so unbeholfen gegenüber und wußten nicht, was wir beanspruchen und fordern durften. Da hat Doktor Anwander alles in seine Hand genommen; er allein hat uns das Vermögen gerettet, er brachte Aufklärung in des Vaters Aufzeichnungen, er hat das alte Haus so vorteilhaft verkauft und dafür gesorgt, daß wir nun ohne Sorge in die Zukunft sehen können. Ihm verdanken wir so unendlich viel.«

»Ja! Er weiß auch, wie sehr wir diesen Dank fühlen.«

»Und dieses neue Heim hier hat er auch für uns gesucht. Wie stehen wir in seiner Schuld und können es ihm mit nichts vergelten.«

»Keiner seiner Gedanken war dabei auf eine Vergeltung gerichtet, Muttchen. Wie wolltest du das auch?«

»Vergelten? Nein, ich könnte seiner Freundschaft nichts geben, denn alles, was ich hingeben könnte, Geld oder ein Geschenk, das würde ihn beleidigen. Aber – du, Lotte!«

»Ich!«

Erschrocken rief sie es.

»Ich habe schon soviel darüber nachgedacht, wie er uns gerade ein solcher Freund werden konnte. Ob er nicht dir allein der Freund ist, und ob seine Freundschaft nicht Liebe heißt? Lotte, wenn es das wäre, du – du müßtest ihn glücklich machen um deswillen, weil er soviel für uns getan hat.«

»Nein, Muttchen, nein, das ist es nicht.«

»Spricht er denn nie von Liebe?«

»Nie, Muttchen, nie.«

Da schüttelte Frau Sabine langsam den Kopf:

»Vielleicht hat er nur den Mut nicht? Aber schön wäre es, dich bei ihm behütet zu wissen.«

»Er denkt nicht daran, nein, nein; ich müßte ihn dann ja auch lieben.«

Und hastig suchte Lotte Rödern von anderen Dingen zu sprechen.

Desto lebhafter aber beschäftigten sich ihre Gedanken damit, als Frau Sabine unter der Einwirkung der warmen Frühlingssonne eingeschlafen war.

Auch die Mutter wünschte und verlangte, wofür Lotte Rödern dem sterbenden Vater schon ein Versprechen gegeben hatte. Ein Versprechen war es, denn der Tote hatte ihren Ruf als ein solches angenommen; sein letzter versöhnender Blick im Todeskampf, sein Lächeln im Sterben war die Genugtuung über dies Versprechen.

Aber mußte sie dies Versprechen dem Toten gegenüber auch einlösen?

Mit dem Herzen, mit dem Willen hatte sie es nicht versprochen. Aber der Tote hatte es als solches hingenommen.

War es dem liebsten Menschen, ihrem »Vati« gegenüber, nicht eine Sünde, ein Betrug, wenn sie jetzt mit Worten dies Versprechen wegzutäuschen versuchte?

Sie mußte dies Wort halten, wenn Doktor Anwander nochmals die Frage an sie stellte. Sie mußte dann den Wunsch des Toten erfüllen, der nun auch der von Frau Sabine war. Aber nur dann, wenn Doktor Anwander sie nochmals begehrte.

Sein Tun nach dem Tode des Vaters aber war nichts als Liebe gewesen, und da mußte wohl auch die Stunde kommen, in der er nochmals die Frage wagte, die ihre Liebe forderte. Lotte Rödern fühlte Doktor Anwanders Liebe bei jedem Besuch, in jedem Wort, bei jedem Gruß. Aber er hatte doch kein Wort mehr laut werden lassen.

Wie lange aber?

Und wenn er fragte, dann – dann mußte sie ihm gehören, wenn sie den toten »Vati« nicht um seine letzte Freude betrogen haben wollte.

Aber ohne Liebe würde es geschehen; denn ihre Liebe gehörte noch immer dem einen, der verschollen war, der verstummt war, der aber einmal doch kommen mußte, wenn nicht alle Märchen logen.

Ihr Herz konnte nur einmal lieben und nur dieser einen Liebe treu bleiben.

Über den Tod hinaus, wie die Mutter von ihrer Liebe zum Vater gesagt hatte.

Deshalb konnte sie Doktor Anwander nichts geben, als ihre Treue, ihre Achtung, ihr Vertrauen, aber nie ihre Liebe.

Und Lotte Rödern fürchtete sich vor dem Tage, der sie dann ihrer Liebe treulos machen mußte, um einem Toten ihr Wort einzulösen.

Diese Gedanken quälten sie schon Tag um Tag und Woche um Woche; ihr Blick war starr in die Ferne gerichtet, als diese Gedanken nun wiederum selbstquälerisch an ihr vorbeizogen. Ein Ruf vom Gartenzaun her ließ sie aufschrecken.

Als sie den Briefträger erkannte, eilte sie rasch zu ihm hin.

Vielleicht? pochte wieder ihr Herz, denn die Hoffnung lebte in ihr mit jedem Tag.

»Nur die Zeitung!« rief der Briefträger, der ihr diese zureichte.

Lotte Rödern nahm sie entgegen und kehrte langsam nach dem Gartenhäuschen zurück.

Die Mutter schlief immer noch. Da begann Lotte in der Zeitung zu blättern und zu lesen, mit halber Teilnahme nur, um die Gedanken zu zerstreuen. Da stieß sie plötzlich auf eine Notiz, die ihren Atem erstarren machte, daß der Herzschlag einen Augenblick zu stocken schien.

Einmal – zweimal – ein drittes Mal las sie die Nachricht, bis ihre Hand, die die Zeitung hielt, kraftlos niedersank. Aber die Augen hatten sie nicht getäuscht.

»Der Kunstmaler Alex Graber, ein Kind unserer Stadt, erzielte einen außergewöhnlichen Erfolg durch den Verkauf eines seiner Werke an die Galerie in ***. Gleichzeitig geht uns damit noch die Nachricht zu, daß er sich in Paris mit der Tochter des bekannten Großindustriellen Elmshorn, mit Fräulein Marga Elmshorn, verlobte. Die Hochzeit selbst soll schon in nächster Zeit auf dem Gute Lankwitz, einem Besitztum Elmshorns, gefeiert werden. Dem Kinde unserer Stadt wünschen wir alles Glück, nicht nur zu seiner bevorstehenden Vermählung, sondern auch zu seinem künstlerischen Erfolg.«

Alex Graber! Da stand es! Marga Elmshorn! Das war der Name, den Hugo Pohl schon einmal genannt hatte. Jetzt erinnerte sich Lotte des Namens wieder. Und schon in nächster Zeit sollte die Hochzeit sein!

Deshalb – deshalb war er verstummt, deshalb hatte er geschwiegen – deshalb – –

So war mit dieser Nachricht ihre letzte Hoffnung zusammengebrochen.

Er – der Gatte einer anderen!

Ihre Hände zitterten. Was war nun mit ihrer Liebe?

Ihr Herz wollte aufschreien vor Weh.

Da schlug die schlafende Mutter die Augen auf.

Und nun hieß es stille sein, nun hieß es, das herbste Leid, das tiefste Weh zu überwinden! Nicht einmal weinen durfte sie jetzt. Nur die Nächte blieben ihr noch für den eigenen Schmerz.

Jetzt, da die Mutter mit ihren dunklen Augen sie suchte, durfte sie nicht an sich denken.

Und mit erzwungenem Lächeln fragte Lotte Rödern:

»Muttchen, du hast ja geschlafen? Hat dir das nicht gut getan?«

*

Die Kapelle von Lankwitz war wie von Rosen übersponnen. Nach dem Willen der Braut war dies geschehen. Von allen großen Rosenkulturen waren die schönsten in mächtigen Kisten und Paketen eingetroffen, und der Gärtner des Gutes hatte mit allen verwendbaren Leuten den Schmuck der kleinen Kirche besorgt.

Das Tor, durch das die Brautleute in die Kapelle eintreten sollten, zeigte einen gewaltigen Bogen aus weißen Rosen. Wie Trauben dicht hingen andere von den Bögen nieder. Die Fenster waren mit dunkelroten und rosablassen Rosen umkränzt. Fahlgelbe und dunkelgelbe waren in der Kirche selbst zu Kränzen gebunden und hingen in den Fensterkreuzen, von tiefroten Rosengebinden festgehalten.

Ein beklemmender Duft stieg von dieser Rosenfülle auf.

Die schönsten aber, solche in bläulichrotem Schimmer, ganz weiße, seltene Erzeugnisse der besten Rosenzucht, schmückten den Altar.

In Rosen wollte Marga Elmshorn vor den Altar hintreten.

Aber ihr Ehrgeiz war damit noch nicht zufrieden; sie wußte es und hatte es auch so gewollt, daß ein Photograph der »Woche« in Lankwitz eingetroffen war, um von dieser Rosenhochzeit eine Aufnahme zu machen, um die reichgeschmückte Kirche und das Brautpaar im Bilde zu bringen. Die Trauung des bekannten Künstlers Alex Graber, dessen Werk »Lebensfreude« von der Galerie in L*** erworben wurde. Damit sollte die Nachricht durch ganz Deutschland laufen.

Alex wußte davon nichts; er verstand es nicht, die Menge zur Aufmerksamkeit, zur Anerkennung zu zwingen. Er wußte nicht, worin die Macht lag, an einen einzelnen glauben zu lassen.

Um so größeren Willen hierzu und Ehrgeiz besaß Marga Elmshorn. Sie hatte in Alex die Kunst erkannt. Durch seine Kunst und seinen Ruhm wollte sie emporgetragen werden. Aber sie kannte die Menschen und die Welt; sie kannte die eigenen Kreise. Weil sie wußte, daß die Kunst allein nicht genügte, um durch sie emporgehoben zu werden, so gab sie das hinzu, was Alex fehlte.

Das Bild in der »Woche« sollte der Beginn sein; auch die Zeitschrift der eleganten Welt, der Kreise, die Marga Elmshorn ebenfalls zur Anerkennung zwingen wollte, »Sport im Bild« hatte das Erscheinen eines Photographen zugesagt.

Zweiundneunzig Gäste waren auf dem Gute zur Feier eingetroffen; der mächtige alte Saal, der sonst leer stand, der durch seine Größe in dem geräumigen Herrenhaus bisher wie eine lästige Überflüssigkeit betrachtet wurde, war nun für das Festmahl geschmückt. Eine kleine Kapelle aus Mitgliedern der Hofoper war mit großem Kostenaufwand gewonnen worden, die auch die Kirchenmusik spielen sollte.

Die Tafel selbst trug schweres Silberzeug, Kristalle und Kopenhagener Porzellan.

Der Wagen, den vier fehlerlose Schimmel in neuem Geschirr zogen, trug gleichfalls Rosenschmuck.

Silbern klirrte das Geschirr, als die Pferde in kurzgehaltenem Trabe von dem Gute zur Kapelle von Lankwitz fuhren.

Und dem Wagen folgte eine endlose Reihe anderer, die die übrigen Gäste zur Kirche brachten.

Marga Elmshorn trug in einfach vornehmem Schnitt ein Brautkleid aus elfenbeinfarbenem Seidenmusselin, eine Art Reformtracht, die ihre schlanke Erscheinung wirksam hervorhob. Die Blendenstreifen, die die Taille und die Hüftpasse umgaben, waren aus mattglänzender Seide; eine viereckige Spitzenfigur und gleiche Ärmelaufschläge, die in der schlesischen Spitzenschule nach Originalentwürfen und nur in dem einen Stück angefertigt worden waren, bildeten den einzigen, aber in der Einfachheit desto wirksameren Schmuck des Kleides. Eigenartig war die runde, nur halblange Form des Brautschleiers, der sich an eine im Dreieck gearbeitete, duftige Klöppelarbeit anfügte. Statt des Myrthenzweiges trug Marga Elmshorn in ihrem Haar ein paar halbaufgeblühte, weiße Rosenknospen.

In ihren Augen war dabei ein sieghafter Blick, ein Blick voll Stolz und Befriedigung.

Sie wollte den Ruhm durch die Kraft eines anderen, sie wollte die blonde, starke Schönheit dieses Mannes, dessen tiefblaue Augen ihre Leidenschaft geweckt hatten. Seiner reckenhaften Gestalt, die von den anderen Erscheinungen ihrer Kreise sich stark unterschied, seiner Unverdorbenheit in den blauen Augen hatte ihr erstes Begehren gehört.

Sie hatte ihren Wunsch erreicht; und sie glaubte dabei an Liebe, mehr noch an Leidenschaft und Glut. Wie ein Kind trotzig und begehrlich stets nach einem Spielzeug greift, so war ihr Verlangen gewesen und dadurch erst zu einem leidenschaftlichen Begehren gesteigert worden, als Alex in der ersten Zeit scheinbar kalt und unberührt geblieben war, gegen sie, die sonst von allen nur verwöhnt wurde.

In ihren großen, graugrünen Augen schillerte die Befriedigung, und sie nickte lächelnd, als sie neben dem rosenumkränzten Kirchenportal die Photographen erkannte.

Alex Graber ließ auf seinen Lippen gleichfalls ein stolzes Lächeln sehen.

Auch er wußte sich als Sieger.

Alle Phantome: Ruhm und Lebensfreude, wie der Glaube an Märchen im Leben hatte er als Lächerlichkeiten abgeschüttelt; er wußte sich nun sicher, daß er den Wert des Lebens durchschaut hatte, die Leere und die Hohlheit aller schönen Worte.

Er wußte, daß diese alle käuflich waren mit Gold.

Die Vergangenheit mit allen Torheiten lag nun weit hinter ihm. In schnellem Fluge hastete sie noch einmal in seinen Gedanken vorüber; er sah sich als den träumenden, märchenerfüllten Knaben, als den gekrönten Schützenkönig auf der Boselspitze, der im Sonnenglast glänzende Zukunft träumte und ahnte. Er dachte an seine Königin von damals, an die kleine Lotte; und diese sah er, dachte des Augenblicks, da er zu ihr das erste Wort von Liebe gesprochen hatte, umfangen und berauscht von alten Märchen. Er erinnerte sich jenes Lorbeerzweigleins und des Weinlaubkranzes.

Das alles war nun Vergangenheit. Nichts Gemeinsames fühlte er mehr damit. Und doch! Die braunen Träumeraugen aus Kindheit und Jugend, die in die seinen geschaut hatten, als mit süßem Zauber die erste Liebe über ihn gekommen war, diese Augen wollten nicht weichen. Sascha Zychlinsky war nur ein Taumel, ein Rausch, aber die andere?

Lotte – Lotte! Ihm war es, als verfolgten ihn diese Augen, als schauten sie ihn in tiefer Wehmut an.

Ihnen war er treulos geworden!

Sie wollte auf ihn warten – und sie würde dies Wort auch halten; sie wartete auf die Krone, die er ihr versprochen hatte.

Märchen, die lügen!

Nein, es gab keine solche Liebe, es gab keine solche Treue – und wenn er den Weg zurückgesucht hätte, so würde ihn niemand erwartet haben; er hatte keinen Glauben mehr.

Er wollte die goldene Krone, wie Sascha Zychlinsky sein Streben genannt hatte.

Diese war nun sein, diese allein konnte wunschlos glücklich machen, denn alles war zu kaufen.

Sieg! Das war sein Gefühl.

Aber Liebe? Liebte er Marga? Er begehrte sie! Und das war ja wohl Liebe. Ja, er liebte sie, denn ihre Schönheit war von eigener Art, er bewunderte sie, und ihr Besitz machte ihn eitel.

Liebe? Das, was Dichter und Märchen Liebe nennen, war nichts anderes als ein schönes Wort.

Und an diese glaubte er nicht mehr.

Da waren sie vor der Kirche; und mit Marga Elmshorn schritt er durch die Rosenpforte.

Der Pastor aber, der sie segnete, vor dem sie knieten, sprach mit klingender Stimme, mit Worten, die von einem Dichter ersonnen waren. Er wußte von der Rosenkapelle zu erzählen und nannte das Paar, das er vereinte, Rosenkönig und Rosenkönigin; seine Traurede klang wie ein Gedicht.

Beim Mahl aber, als er mit Marga am Arm zu den Gästen an den Tisch trat, da kam ihnen Doktor Sommerstein entgegen, ein bekannter Schriftsteller, der in den Händen zwei aus tiefroten Rosen gewundene Kränze trug.

»Der Pastor heute hat wie ein Dichter gesprochen; aber er hat nur die Wahrheit geschaut. In dem Reichtum des Rosenschmuckes, in dieser duftenden Schönheit und Pracht seid ihr in eurem strahlenden Glück Rosenkönig und Königin gewesen. Die zwei haben Hochzeit gehalten. Und so wollen wir euch hier auch empfangen, Rosenkönig und Königin, mit diesen Kronen, aus der schönsten, der Königin unter den Blumen wollen wir das Paar geschmückt sehen, Rosenkönig und Rosenkönigin.«

Und beide traten dann mit dem Rosenkranz im Haar an den Tisch, umjubelt von den Gästen.

In diesem Augenblicke dachte Alex daran, daß er nun die vierte Krone trug, die des Knaben, die Schützenkrone des Kinderfestes, die aus dem Lorbeerzweiglein Ruhm und die vom Weinlaub Lebensfreude, und nun die aus Rosen.

Diese aber bedeutete für ihn die schönste, die eine, die nun wunschlos glücklich machen mußte.


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