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I.

In weißlich flimmerndem Lichte lag der große, freie Platz der alten, stillen Stadt, von dem aus die steile, holperige Burgstraße zu der Burg und dem alten Dome emporführte. Um diese Nachmittagsstunde ließen sich in den engen, dunstigen Straßen nur wenige sehen, und auch die vielen Fremden, die sonst von überall her kamen, um auf diesem Wege nach der alten Burg mit ihren vielen Erinnerungen und Schönheiten emporzusteigen, mieden den Weg.

Selbst in dem kleinen Garten der Wirtschaft an der Platzecke, der ganz mit Reben umsponnen war, war niemand anwesend, nur eine junge, weiße Katze spielte zwischen den eisernen Stäben des Gitters mit den herabhängenden Reben.

Aber trotzdem war der Platz nicht ganz leer.

Oben auf einem freieren Raume, auf den roten Stufen, die ebenfalls auf kürzerem, steilerem Wege zum Schlosse führen, an einem kleinen Garten, in dem vollerblühte Rosen in den leuchtendsten Farben besonders gepflegt wurden, kauerten zwei junge Menschen nebeneinander, zwei Kinder noch, die so in ihre Tätigkeit vertieft waren, daß die Sonnenglut sie nicht störte, die ihre Gesichter längst dunkel gebräunt hatte.

Der Junge saß dicht am Rande der Stufen und ließ die bloßen, ebenfalls stark gebräunten Füße baumeln, während er auf dem Schoße eine ziemlich große Zeichenmappe hielt, über die sein Bleistift mit selbstvergessener Hingabe hastete, als müßte er in kürzester Zeit etwas Versprochenes vollenden. Er mochte etwa dreizehnjährig sein; das Haar, das etwas widerspenstig schien, war aschblond, die Augen, die in diesem Augenblick im Eifer zu glühen schienen, von tiefem Blau. Trotzdem die Züge noch sehr viel Kindliches hatten, verriet sich doch ein über seine Jahre hinausgewachsener Ernst, als hätten diese Augen von den Wirrnissen und der Not des Lebens schon manches gesehen und auch erlitten; die weichen Züge gehörten noch seiner Kindheit, aber seine Blicke und die ganz fest zusammengepreßten Lippen erzählten von nachdenklichem Grübeln und bereits hartem, grausamem Erleben. Sein Hemd und seine Hose sahen ärmlich aus, auch die Joppe war ihm schon zu kurz und eng geworden, daß eine größere für ihn längst notwendig geworden wäre; es waren Ellenbogen und Rücken schon an vielen Stellen geflickt, dabei aber mit so derben Stichen, die eine ganz ungewohnte Hand ausgeführt haben mußte.

Neben ihm hockte ganz in sich zusammengeduckt ein Mädchen, das auf dem Schoß ihrer geblümten Schürze ein umfangreiches Buch hielt, in das sich ihre braunen Augen, in denen trotz der Kindlichkeit bereits ein verträumter Blick war, mit ebensolcher Hingabe versenkten, wie der Junge selbstvergessen in seinem Zeichnen war. Das Mädchen mochte vielleicht neun Jahre alt sein, hatte dunkelbraunes, weiches Haar, große Augen mit langen Wimpern und eine für ein Kind vielleicht zu kräftig geratene Nase, die das Gesicht aber keineswegs unschön machte. Das Kleid des Kindes aber war sehr zierlich und sauber und ließ dadurch unwillkürlich einen scharfen Gegensatz spüren.

Es war, als müßte die Dürftigkeit und Abgerissenheit der Kleidung des Ältern eine Hemmung, etwas Trennendes gegenüber der Freundlichkeit des Mädchenkleides sein; aber der Eifer, das Träumerische in der völligen Hingabe in ihre Beschäftigung hatte wieder etwas Gemeinsames, etwas Zueinanderstrebendes.

Die beiden ließen sich auch nicht stören, als die Gestalt des behäbigen, breiten Konditors aus dem Haustor heraustrat, der die weiße, hohe Mütze auf dem Kopfe trug, dem der Schweiß über die Stirne in den buschigen Schnauzbart tropfte und der mit einer Stimme wie Trompetenton scheltend nach seinem Lehrling schrie, der in der Mittagshitze vielleicht einen Fluchtversuch gemacht hatte, um in einem versteckten Winkel etwas zu schlafen.

Die Köpfe der beiden bewegten sich kaum.

»Habt ihr den Strolch, den Emeran, nicht gesehen?«

Erst als der stimmgewaltige Baß des Konditors ihnen selbst galt, da schraken sie zusammen, wie aus einem Traum gerissen.

»Nein, hier war er nicht.«

Scheltend verschwand die weiße Mütze wieder im Haus.

Nun aber ruhte auch die Hand, die über den Zeichenblock gehastet war, und die blauen Augen prüften das Vollendete. Die Gefährtin aber stützte den Ellenbogen auf das Buch, lehnte ihr schmales Gesicht in die Hand und schaute gleichfalls in das Werk ihres Freundes. Ohre rege Phantasie hatte sofort erkannt, was der andere mit seinem Eifer zu gestalten versucht hatte; ihre Augen wurden ganz eifrig dabei.

»Das ist der grausame Drache, der die Prinzessin bewacht; er sperrt den Rachen auf; und das ist doch das Feuer, das er allen Angreifern entgegenspeit. Nicht wahr, Alex?«

Mit der stolzen Befriedigung des fertigen Künstlers nickte der Junge:

»Und an seinen sechs Füßen hat er eiserne Krallen.«

»Ja! Und da kommt zwischen den Bäumen der Prinz. Aber was trägt er denn da?«

Ein zierlicher Finger wies darauf hin.

Da schoben sich die Brauen des Jungen zusammen; es schien ihm beinahe kränkend, daß dies nicht erkannt wurde.

»Das ist doch die Leier, mit der er ausgezogen ist, die Prinzessin zu suchen. So hast du mir doch das Märchen vorgelesen.«

Die Stimme des Mädchens klang wieder verträumt!

»Ja, das ist die Leier! Ich habe nie eine Leier gesehen!«

»So ist eine Leier!« versicherte der junge Künstler, trotzdem er auch keine andere Art von Vorstellung hatte, als daß dies etwas wie eine Geige sein müsse, wie er es zu zeichnen versucht hatte.

»Gewiß, und dann hat der Prinz auf seiner Leier so schöne Lieder gespielt, daß der Drache darüber das Feuer vergaß.« Dann wies sie, lebhafter werdend, abermals auf die Zeichnung: »Und da hinten in der Höhle sitzt die verwunschene Prinzessin. Was macht die denn da?«

»Aber Lotte, das muß man doch erkennen. Du hast es mir ja selbst vorgelesen. Sie streckt die Arme aus, um den Prinzen zu warnen und um ihn um Erlösung anzuflehen.«

»Ja – ja, jetzt erkenne ich es ganz genau; sie streckt die Arme nach ihm aus.«

Ein längeres Schweigen folgte; beide hingen dabei ihren Träumen nach. Da begann Lotte:

»Ob es verwunschene Prinzen und Königstöchter gibt? Wenn die Fremden kommen, und wenn ich sie am Fenster vorbeiziehen sehe, dann denke ich oft, daß einmal auch ein Prinz dabei sein müsse.

Denkst du nicht auch so?«

»Ja! Es gibt verzauberte Prinzen; aber ob sie alle erlöst werden?«

Der Zweifler meldete sich.

»Doch in den Märchen kommt immer die Erlösung; und dann wurden sie Mann und Frau und König und Königin.«

Diese Gespräche erlitten plötzlich eine unverhoffte Unterbrechung. In dem gleichen Torbogen, aus dem vorher die Gestalt des Konditors aufgetaucht war, erschien jetzt ein Junge mit ganz kurz geschorenem Haar und zwei kleinen grau-grünen Augen, die oft lebhaft zwinkerten.

Es war der einzige Sohn des Konditors, der mit seinem runden Gesicht sehr wohlgenährt aussah; seine lebhaften, roten Wangen glühten und ließen ihn hübsch erscheinen. Er trat auf die beiden zu.

»Da seid ihr! Was macht ihr da?«

Neugierig beugte er sich über die Zeichnung.

Aber wie eifersüchtig auf seine Arbeit schloß Alex sofort sein Heft; etwas unwillig gab er dabei Antwort:

»Nichts, es ist gar nichts.«

»Hast du schon wieder Papier verschmiert?« höhnte der andere.

»Das ist nicht wahr, Hugo, er hat ein sehr schönes Bild gemacht. Ein Märchen. Ich habe alles erkannt, nicht wahr, Alex? Nur die Leier!«

Hugo, der dritte nun, rümpfte die Stumpfnase und entgegnete verächtlich:

»Hm, Märchen! Das ist doch nichts! Das gibt es ja gar nicht. Das weiß ich schon lange. Pah!«

»Doch! Aber Alex kann sie mir alle malen; und sicher gibt es auch verzauberte Prinzen und Königstöchter, die wir nur nicht kennen.«

»Das ist ja Unsinn! Das redet der dir ein! Komm lieber mit mir, Lotte, ich weiß ein Vogelnest in der Jahna. Vier junge Amseln hocken darin.«

Die Augen von Lotte leuchteten heller auf:

»Komm die Alte, um sie zu füttern?«

»Ja? Das kannst du dann sehen! Laß doch das dumme Lesen. Ich weiß auch eine dichte Himbeerhecke, wo alle Beeren schon reif sind.«

»Alex!«

Es klang wie eine Aufforderung, wie eine Frage, die ein Ja erhoffte.

Aber Alex schüttelte den Kopf:

»Ich bleibe; ich werde noch das Märchen vom Dornröschen zeichnen.«

Da zog Hugo Pohl abermals sehr verächtlich seine Schultern hoch:

»Das ist auch etwas! Mein Vater sagt immer, daß Künstler wie Landstreicher und Nichtstuer sind.«

»Das ist gelogen!« brauste nun Alex auf, der sich bereits getroffen fühlte. Und dann wandte er sich an Lotte: »Du kannst ja mit ihm gehen und dir das Vogelnest zeigen lassen. Aber einen Himbeerplatz weiß ich auch.«

»Ich bleib' bei dir!«

Und sie schlug schon wieder ihr Märchenbuch auf.

Aber Hugo Pohl gab deshalb seine Versuche noch nicht auf:

»Laß den doch! Ich hab' mir ein paar Zuckerstangen mitgenommen. Und dann noch Honigtörtchen. Du bekommst etwas.«

Aber Lotte schüttelte beharrlich den Kopf:

»Ich geh' nicht mit.«

»Dann – dann bleib beim Aschegraber-Alex.«

»Du!«

Bei diesem Wort hatte Alex seine Zeichenmappe heftig weggestoßen und wollte emporspringen, als wollte er sich auf Hugo stürzen; seine Fäuste hatten sich schon geballt.

Aber die Hand von Lotte hielt ihn zurück, außerdem lief Hugo Pohl bereits davon, der nach ein paar Schritten nochmals stehen blieb und zurückrief:

»Ich bekomme von meinem Vater meine eigene Armbrust und dann werde ich heuer der Schützenkönig. Mein Vater hat es gesagt.«

Dann verschwand er oben auf der Höhe der roten Stufen.

Alex aber hatte seinen Zorn noch nicht überwunden; seine Mappe lag immer noch weggeworfen auf dem Boden.

»Er soll den Namen nicht sagen! Ich – ich kann doch nichts dafür, und ich haue ihn noch!«

»Das sollst du nicht. Schau, viel schöner wäre es, wenn gerade du nun Schützenkönig würdest. In drei Wochen ist das Fest.«

»Ja, Schützenkönig – dazu müßtest du aber die Königin sein.«

»Dann – dann wäre es auch wie ein Märchen. Ja – Alex – du mußt heuer König werden. Im nächsten Jahr darfst du ja beim Kinderfest doch nicht mehr dabei sein. Und das letztemal sollst du gerade König sein! Und nicht der Hugo, auch wenn er seine eigene Armbrust hat. Du, ja du mußt es werden. Es wäre doch so schön!«

Die Augen des Jungen schauten jetzt ebenfalls sinnend nach dem Schloßberg zu; er hatte sich von ihren Worten zu gleichen Träumen fortreißen lassen:

»Schön! Und dann wären wir beide König und Königin, wie verzaubert, und dann wäre es auch wie im Märchen.«

»Du trügst die Krone …«

»Und du auch.«

Still war es; da begann Alex heftig zu atmen; es war wie ein plötzliches Angstgefühl, und mit einem Male stieß er zwischen den zusammengepreßten Lippen die Antwort hervor:

»Es geht ja nicht – es geht ja nicht; ich kann der König doch nicht werden.«

»Alex! Was hast du? Warum kannst du es nicht werden? Du sollst doch! Wenn ich Königin bin, dann will ich den Hugo nicht.«

»Ich habe ja kein Geld – und mein Vater gibt mir ja keines – wir haben nichts.«

»Es sind doch nur sechzig Pfennige …«

»Nur – aber der Vater ist so arm …«

»Du mußt ihn bitten, Alex, weil ich es will.«

»Bitten!«

So herb und trostlos, so ganz ohne Hoffnung sprach er ihr das Wort nach, daß Lotte ihr Buch vergaß, daß sie es fallen ließ und nach seinem Arm griff:

»Du – er wird es dir geben, nur bitten mußt du; für mich, dann werden wir zwei König und Königin sein. Und ist es im Märchen nicht auch so, daß ein schlimmer Zauber, ein drohendes Ungetüm zwischen dem Prinzen und der Königstochter steht? Und trotzdem müssen sie zusammenkommen. Und du bist der Prinz, der seiner Prinzessin die Krone holt.«

Und Lotte Rödern erzählte mit ihrer weichen, träumerischen Stimme ihr eigenes Märchen, wie ihre Gedanken nun eines erfanden, in dem sie die Prinzessin und Alex der befreiende Königssohn sein mußte.

Darüber vergaß er seine Mutlosigkeit; er hörte nur zu, er folgte ihren lockenden Träumen, er sah dabei die Bilder, die ihre Worte schilderten, so lebhaft, daß er sie in Gedanken festhalten konnte, um sie einmal zu zeichnen oder zu malen, wenn er erst ein Künstler war.

Ein Künstler – und er sah in dem Künstler den König im eignen Reich.

Er vergaß darüber die anfangs über ihn hereingebrochene Hoffnungslosigkeit.

»Ich trage dann den Hermelin und die Kette, und du trägst die Krone und den Preis. Und gemeinsam halten wir es, wie der Prinz und die Königstochter. Bitten wirst du ihn – bitten – es ist ja nicht viel –« und mit einem Male ballten sich ihre Hände; »und gerade Hugo soll nicht König werden.«

»Ich – ich tue es – ich folge dir –«

Da schlug Lotte die Hände zusammen.

»Sehr schön – sehr schön – dann tragen wir zwei die schönsten Kronen.«

»Ich hole sie uns!«

So plauderten sie nur noch von dem schon naheliegenden Kinderfeste.

Mehrere Kinderfreunde aus den schmalen Straßen der Altstadt, die sich unmittelbar an den Schloßberg anlehnten, hatten seit vielen Jahren schon jährlich ein Kinderfest veranstaltet, bei dem mit einer Armbrust auf eine Scheibe in Kronenform geschossen wurde, wobei ein Königspreis zu gewinnen war. Der Sieger durfte dann die Würde des Königs ein Jahr lang behalten, die ihm mit einer Schmuckkette und einer wirklichen Krone mit glänzenden bunten Steinen verliehen wurde. Nur die Kinder, die im Bereich dieses Altstadtbezirks wohnten, durften sich bis zum letzten Schuljahr daran beteiligen. Das Fest, das immer schon mit Sehnsucht erwartet wurde, begann mit einem Spaziergange, an den sich das Armbrustschießen anschloß, bei dem es verschiedene Preise gab, deren bester gleichzeitig den Königstitel verlieh; die feierliche Krönung folgte dann, bei der auch die für das Fest bestimmte Königin mit dem Sieger vereint wurde. Eine reichliche Portion Kaffee mit viel Kuchen, mit Honig und noch anderen Leckerbissen, dann noch kleine Andenken, wie bunte Taschentücher, kleine Spiegel wurden darauf an alle Kinder verteilt. Und ein ganzes Jahr wurde der König beneidet, und ein ganzes Jahr lang hofften die Jungen aus den alten, stillen Straßen und Gassen um den Schloßberg, daß im nächsten Jahre die Königskrone auf sie warte.

In dem Plaudern der beiden trat abermals eine Unterbrechung ein; aus der unteren Burgstraße herauf kam ein breitschultriger, untersetzter Mann mit braunem Vollbart und mit goldner Brille, dessen Augen ein lächelndes Graubraun hatten. Seine weichen Züge und die Augen verrieten den Kinderfreund; und es kam den Kindern und wohl auch den Großen vom Herzen, wenn sie ihn nur den »Vater Rödern« nannten; er war es ja, der das erste Kinderfest gestiftet und seitdem mit anderen alle geleitet hatte.

Kaum hatte Lotte die Gestalt erkannt, da sprang sie auf und rief ihrem Begleiter zu:

»Ich komme wieder – ich muß erst mit Vati.«

Dann flog sie fort, dem Mann entgegen, der sie gleich mit beiden Armen emporhob und an sein Gesicht drückte.

»Vati!« jubelte die Kleine.

Und beide verschwanden in dem unscheinbaren, niederen Eckhause, in dem ein Laden und ein Schaufenster die ganze Straßenfront bildete; in dem sauber und fast mit einer liebevollen Sorgfalt eingerichteten Schaufenster lagen die Waren schön geordnet und wirksam aufgebaut, daß die Käufer wirklich auch angelockt wurden.

Alex blieb oben auf den Stufen sitzen; nun aber legte er sich der Länge nach hin, stützte den Kopf auf die aufgestemmten Arme und blickte nur nach der Ladentüre.

Er wartete.

Zum Kinderfeste mußte er; sie wollte es. In jedem Jahre hatte er dabei sein dürfen, und in diesem Jahre würde es ihm zum letztenmal erlaubt sein. Nie war er König geworden; aber diesmal wollte er es werden, denn für dieses Jahr war doch Lotte als Königin bestimmt. Deshalb, weil sie wollte, mußte er König werden.

Seine Lippen preßten sich dicht zusammen und sein Gesicht bekam dabei wieder den herben, harten Zug, der in so auffallendem Widerspruch zu dem sonst so frischen Kindergesicht stand. Seine Brauen zuckte.

In den Jahren vorher hatte seine Mutter noch gelebt. Aber die war nun tot. Und die Mutter hatte ihm immer etwas zugesteckt, und sie hatte ihm auch immer die paar Pfennige gegeben, daß er an dem Kinderfeste hatte teilnehmen dürfen.

Aber jetzt war die Mutter nicht mehr da, die lag oben auf dem Friedhofe unter den zwei ganz kleinen Tannenbäumchen, die er selbst aus dem Walde geholt und auf ihr Grab gepflanzt hatte, weil er der Toten nichts anderes hatte geben können.

Die war nicht mehr da!

Nur der Vater!

Härter wurde sein Blick.

Der Vater! Sein Vater!

Er dachte daran, wie Lotte ihrem Vater jubelnd entgegengesprungen war.

Und er? Bitten sollte er seinen Vater. Bitten! Er wußte, wie das enden mußte.

Sein Vater – der – –

Da horchte er gespannt auf. Klang da aus der Ferne von Kinderstimmen spottend gerufen, wie im Scherzlied singend nicht der Name, den er selbst in Gedanken eben aussprechen wollte, die Leinewebergasse herauf?

Er sprang empor und starrte in die schmale Gasse hinein, in der sich die Mauern ganz dicht zusammendrängten, in der nur die wenigen Häuser standen.

Und jetzt hörte er deutlich den Spottgesang:

»Aschegraber – Aschegraber –
Willst ein'n Schnaps noch haben?
Hast schon g'nug genommen,
Hast ja schon dein Rausch bekommen,
Aschegraber – Aschegraber –«

Da sah er auch schon mehrere Jungen und Mädel, die spottend um einen Betrunkenen sprangen und hüpften, der torkelnd die Straße entlang kam und dabei wiederholt die Mauer rechts und links als Stützpunkt gebrauchen mußte. So oft dann einer der schreienden Jungen allzu nahe an den Betrunkenen herankam, gröhlte dieser Schimpfworte und versuchte dabei, den Jungen zu fangen, der aber gewandt entschlüpfte, während der Trunkene nur schwankend hin und her torkelte.

Wenn er dabei fiel oder wieder an eine Mauer anprallte, folgte ein um so lärmenderes Lachen.

Lauter erscholl es dann:

»Aschegraber – Aschegraber
Willst ein'n Schnaps noch haben – –«

Das sah Alex.

Da wurde sein Gesicht fahl wie die Wand drüben in der Leinewebergasse.

Das war sein Vater!

Da packte er seine Zeichenmappe und rannte davon, fort, er lief, weil er sich schämte, er floh vor seinem Vater – –

Und es gellte hinter ihm drein:

»Aschegraber – Aschegraber –«

Das Kinderfest – und das Geld – und König werden – alles das war in der Schande, die ihn forttrieb, wie ausgelöscht. Er lief und lief – –

*

Das Licht drang durch das schmale Fenster in das Zimmer und erfüllte den ganzen Raum mit der leuchtenden Helle des neuen Tages. In dem engen, kurzen Bett, das noch für ein Kind bestimmt war, in dem Alex Graber nur zusammengekrümmt liegen konnte, saß er aufgerichtet und lauschte.

Deutlich waren die hellen Glockenschläge der Stadtkirche zu hören.

Der letzte Ton verklang; da sprang Alex rasch heraus.

Er mußte zur Schule; er mußte selbst daran denken.

Ein scheuer Blick flog zu dem zweiten, schmutzigen und zerwühlten Bett hinüber, auf dem nur halb entkleidet sein Vater lag, der mit offenem Munde kreischende Schnarchtöne hervorstieß. Des Jungen tiefblaue Augen ließen die Verachtung erkennen, die er fühlte, der nicht vergessen konnte, wie seine Mutter zu ihm gewesen war, die ihm mit ihrer Liebe zu ersetzen versucht hatte, was er an der Trunkenheit und dabei der Roheit dieses Mannes oft erleiden mußte.

Das Gesicht des alten Graber, der in der Stadt Lumpen, Knochen, Papier und dergleichen Dinge für eine nahe Fabrik sammelte, durch welche Tätigkeit er jenen Namen »Aschegraber« bekommen hatte, sah gedunsen und um die knollenförmige Nase auffallend rot aus. Diese Röte hatte an der Nase selbst einen bläulichen Schimmer und war die Einwirkung des starken Schnapstrinkens. Was er an Geld in die Hände bekam, wurde bei ihm zu Schnaps. Die tote Mutter hatte es noch verstanden, ihm das Geld abzunehmen, da die erwähnte Fabrik einen Teil seines Verdienstes nur der Frau ausgezahlt hatte.

Aber die Mutter war nun tot.

Immer und immer wurde Alex daran erinnert.

Er mußte zur Schule.

Aber an diesem Morgen gab es für ihn keinen Kaffee, keine Suppe. Wie sein Vater am Abend betrunken in das Bett gefallen war, so lag er noch dort.

Langsam war Alex nun doch an das Bett gegangen; der Widerwillen verriet sich lebhaft in den Zügen des frühgeweckten Knaben:

»Vater, aufstehen! Es – es ist kein Kaffee da.«

Ein Brummen und Murren folgte; die gedunsenen Augen öffneten sich nicht; dann– klang es nur halb verständlich:

»Ich – hab' keinen Kaffee – schlafen –«

»Es ist spät – ich muß zur Schule.«

»Ich hab' keinen Kaffee.«

»Ist auch keine Suppe da?«

Da öffneten sich zum erstenmal zwinkernd die Augen:

»Was willst du? – Alle wollen von mir –alle – immer soll ich geben – ich hab' nichts – gestern wollte der Hallbergwirt auch noch Geld – so wollen sie alle – und du auch. Aber ich hab' nichts – nichts – und da laß mich schlafen.«

»Ich muß in die Schule.«

Keine Antwort.

Da mochte Alex wieder an anderes denken.

Kaffee oder Suppe, das bedeutete nicht viel; es war doch nicht zum erstenmal seit Mutters Tode, daß er ohne Brot und ohne Frühstück in die Schule gemußt hatte. Wo das Brot lag, das wußte er; er konnte trockenes Brot mitnehmen. Irgendeinen Apfel oder eine Birne bekam er schließlich. Aber er hatte auch Lotte ein Versprechen gegeben; und das kam ihm in den Sinn.

Bitten!

Der im Bett lag schon wieder mit geschlossenen Augen und halboffenem Munde da.

»Vater! Auch heuer ist wieder das Kinderfest – du weißt doch – so wie alle Jahre – und« – und immer leiser, immer verzagter wurde jetzt seine Stimme, »– und heuer darf ich noch dabei sein – und es braucht nicht viel zu sein – nur – nur sechzig Pfennige –«

Ein Sägen und Schnarchen wie ein gurgelndes Röcheln war die Antwort.

»Vater, nur sechzig Pfennige! Gib sie mir! Ich will nie mehr etwas – nie mehr, – ich will gar nichts mehr, aber nur diesmal – dies einemal und nur sechzig Pfennige –«

Aber das Schnarchen endete nicht.

Da forderte er lauter:

»Nur sechzig Pfennige, die mußt du mir geben, hörst du, sechzig Pfennige.«

Da taumelte der alte Graber etwas auf; seine zwinkernden Trinkeraugen starrten wie verstört auf seinen Jungen:

»Geld – du willst auch Geld – alle kommen sie; ich geh' doch nicht stehlen? Ich hab' keins – nein – geh weg – und laß mich schlafen!«

Da gab Alex seine Versuche auf. Heute ging es nicht. Aber er konnte es ein andermal versuchen.

Das blieb ihm, als gäbe es doch noch eine Hoffnung, denn er wollte doch die Königskrone holen.

Er kleidete sich an, ordnete alles für den Schulweg, nahm sich aus der alten, wackeligen Tischschublade ein Stück trockenes Brot und ging.

Ohne Kaffee, ohne Suppe; das hatte er sich, seit die Mutter tot war, schon angewöhnen müssen.

Auf dem Schulwege mied er die Kameraden, denn er hatte sich nie Freunde gesucht; scheu war er immer allen Jungen ausgewichen, denn er fürchtete sich, daß jeder einmal jenes grausame, für ihn so demütigende Lied vom »Aschegraber« mitsingen werde. Er hatte deshalb keinen Freund.

Die anderen Jungen verstanden auch seinen Ehrgeiz nicht, sein unermüdliches, sein immer neue Schwierigkeiten suchendes Zeichnen.

Nur Lotte! Sie verstand ihn, für sie durfte er zeichnen, sie erzählte ihm ihre Märchen, daß er selbst davon träumte, daß er Bilder sah, die er nun darzustellen versuchte. Nur Lotte!

Und so spähte er aus, ob er sie wenigstens nicht sehen konnte. Sie schämte sich seiner nicht, sie spottete nicht auf seinen Vater.

Erst ganz nahe an der Schule sah er sie; aber er wagte sich nicht an sie heran, denn sie war bei einigen Freundinnen. Und schämen sollte sie sich nicht müssen.

Doch ihre Augen fanden ihn; und da kam sie selbst zu ihm:

»Hast du das Geld schon, Alex?«

»Nein! Noch nicht!«

»Vati hat gesagt, daß am Sonnabend das letzte abgegeben werden muß. Wer beim Fest dabei sein will, der muß am Sonnabend das Geld abliefern. Du darfst mich nicht vergessen, Alex.«

»Ich tue es nicht, Lotte, aber es ging nicht – es ging wirklich nicht, mein Vater hatte gar nichts –«

Und dabei kam in seine Stimme ein würgendes Schlucken; er spürte Tränen aufsteigen, die er aber erstickte.

»Du hast mir die Krone versprochen –«

»Ich hole sie dir – ich bekomme sie schon.«

»Sonst wird der Pohl-Hugo König, den mag ich nicht!« Dann schien sie an etwas anderes zu denken, da sie mit einem Male fragte: »Willst du einen Apfel? Vati hat mir den mitgegeben.«

»Ich – ich will dir keinen nehmen, Lotte.«

»Du nimmst mir keinen, wenn ich ihn dir gebe. Da!«

Da nahm er ihn; nun ließ sich auch der Kaffee vergessen, nun hatte er wenigstens einen Apfel zu seinem Brot.

*

Den ganzen Tag über wurde er den Gedanken nicht los, daß er das Geld erringen mußte; das war notwendig, wenn er die Krone wollte; zerstreut hörte er in der Schule zu. Nur darüber grübelte er nach, wie er das Geld bekommen könnte.

Mittags traf er den Vater zu Hause, der gebückt umherschlich, mißtrauisch auf seinen Jungen schaute, als fürchtete er ihn, als scheute er in diesem die blauen Augen, die doch das Erbe der toten Frau waren. Er hatte eine Suppe gekocht, die er in einer großen Schüssel auf den Tisch stellte, aus der sie dann gemeinsam aßen. Wie es Menschen von der Art des alten Graber machen, der sich zu schämen schien, der genau fühlte, daß des Jungen frühreife Augen schon zu viel verstanden, so begann er, um vielleicht Fragen zuvorzukommen, sofort mit Brummen und Schelten. Er murrte, wie schwer es nun sei, etwas aufzusammeln, wie wenig er dafür bekomme, wie alle mit Forderungen gerade zu ihm drängten; immer lauter schalt er.

Und da wagte Alex keine Frage.

Der Alte aber ging sofort, als die Schüssel mit der Suppe geleert war; er mußte sammeln. Er war froh, wenn er in die blauen Kinderaugen nicht sehen mußte, die ihn an die Tote mahnten.

So hatte Alex wieder nichts bekommen.

Nachmittags aber war für ihn eine der schönsten Stunden in der Schule. Zeichnen! Da war er immer mit aller Begeisterung vertieft; da löste er wie im flüchtigen Spiel die Aufgaben, da erweiterte er sich diese selbst.

Als diese letzte Stunde vorbei war, rief ihn zum Schluß der Lehrer heran, er möge zurückbleiben.

Ungewiß und ängstlich wartete er; der Lehrer aber, ein alter freundlicher Mann, der wußte, wie oft früher die blasse, hagere, ärmliche Frau mit den blauen Augen nach dem Jungen besorgt gefragt hatte, der auch die Geschichte des Vaters wußte und deshalb um so mehr helfen wollte, legte seine Hand auf die Schulter des Jungen:

»Alex, ich habe alle deine Zeichnungen dem Direktor der Malschule in der Porzellanmanufaktur vorgelegt; ich habe für dich gesprochen; und ich habe die ganz zuverlässige Zustimmung, daß du dort einen Freiplatz erhältst. Du bekommst auch alles umsonst geliefert, die Zeichenblöcke, einen Malkasten, alles, was notwendig ist. Der Direktor war ganz erstaunt, wie du schon zeichnen konntest; er hofft alles von dir. Aber willst du auch Künstler werden?«

Da brannten seine Wangen wie im Fieber; die Augen strahlten.

Seine Sehnsucht, sein Traum, sein Hoffen, das sah er da wie halb erfüllt, er sah nun den Weg.

»Ja – ja!« Er stieß es hastig hervor, wie gehetzt, als könnte die Frage plötzlich wieder zurückgezogen werden: »Ich will nichts anderes!«

Einen Malkasten sollte er dann bekommen, einen richtigen; einen großen, nicht den kleinen, den sie in der Schule hatten.

»So sage es deinem Vater, daß du in der Manufaktur in der Malschule einen vollständigen Freiplatz erhältst, so daß du gar nichts zu bezahlen brauchst. Freust du dich?«

»Es gibt nichts Schöneres!«

Wie er das ausrief, da hob der Lehrer überrascht den Kopf. Noch nie hatte er den Ton so echter Freude gehört; das war wie ein Schrei.

»Gut! Sag' es also deinem Vater; er braucht dann für deine Zukunft nicht in Sorge zu kommen. Und wenn du dort recht fleißig bist, dann kommst du schließlich noch nach Dresden, wo die ganz großen Künstler lernen, in die Akademie – und du kannst dann auch einer dieser ganz Großen werden. Du hast, was notwendig ist, Talent, aber Fleiß – Fleiß und wieder Fleiß gehören auch dazu.«

»Ich – ich will einer werden!«

Ganz groß waren seine blauen Augen, als er dies antwortete.

Und wie im Traume, wie versunken in die Märchen, die ihm Lotte so oft erzählte und vorlas, ging er nach Hause.

Er sollte in die Malschule der Manufaktur dürfen; und gar kein Geld sollte es kosten, gar nichts; alles würde er bekommen. Märchen erfüllten sich – Träume konnten wahr werden!

Gab es da nicht doch im Leben verzauberte Prinzen und Königstöchter, Kronen, die erlöst werden mußten, wie Lotte aus den Märchen erzählte?

Er durfte Künstler werden – und dann nach Dresden und vielleicht noch weiter. In die Akademie! Er hatte das Wort des Lehrers gehört und verstanden; er wußte, was das bedeutete.

So froh war er noch nie gewesen wie diesen Abend.

Ein ganz großer Künstler konnte er werden; der Lehrer hatte es gesagt.

Ja, er wollte! Er wollte das Höchste erzwingen.

Und da dachte er an die Krone; eine Krone mußte er erringen, aber das sollte dann eine andere sein, als die beim Kinderfest.

Lotte – das Fest!

Wenn er dem Vater diese frohe Nachricht sagen durfte, wenn er ihm das erzählte, dann gab ihm dieser auch ganz gewiß die sechzig Pfennige. Das war ja eine so frohe Mitteilung; ihm schien sie die schönste, die wertvollste. Und dafür würde ihm dann der Vater auch die sechzig Pfennige geben.

Dann konnte er für Lotte die Königskrone holen.

Als er davon träumte, da war es ihm, als müßte fern in der Zukunft noch eine andere Krone zu gewinnen sein, die er auch für sie holen wollte.

Nie war Alex so froh in das dumpfige, armselige Stübchen gekommen, in dem Vater und Sohn wohnten; er war ja so reich an Hoffnung. Zufrieden aß er das bereitgestellte trockene Brot und den Kartoffelbrei, dann holte er seine Zeichnungen und Bilder hervor.

Da sah er mit anderen Augen, wieviel er noch lernen mußte; da träumte er sich vor die Staffelei, auf der sein Werk zur Vollendung kommen sollte.

So vergingen die Stunden.

Die Sonne war längst hinter dem Schloßberg verschwunden, die Schatten der Nacht füllten die engen Gassen aus.

Aber Alex konnte nicht schlafen; er mußte warten, er mußte an diesem Tage alles noch sagen.

Er hörte von der Stadtkirche her Stunde um Stunde anschlagen, aber sein Vater kam nicht. Da setzte er sich auf einen Stuhl neben sein Bett, er konnte und wollte nicht schlafen, denn alles in ihm war in Erregung. Seine Gedanken hasteten; bald weilte er bei der Zukunft in der Malstunde, dann redete er in Gedanken mit Lotte, der er alles erzählen wollte. Er dachte an das Geld, das er bekommen sollte, um beim Kinderfest König zu werden, und als es immer später wurde, als seine Augen schon müde wurden, da kam es ihm in den Sinn, wie früher seine Mutter so wie er heute auf dem Stuhl gesessen und die Heimkehr des Vaters erwartet hatte.

Und oft hatte er selbst in dem kurzen Kinderbette die Decke dann über den Kopf gezogen, um nicht zu sehen und zu hören, wenn der Betrunkene bei seiner Heimkehr die Mutter geschlagen hatte.

Wenn der Vater wieder so käme? Halb im Schlafe war es ihm, als hörte er das Spottlied:

»Aschegraber – Aschegraber,
Willst ein'n Schnaps noch haben –«

Da schreckte er im Schlafe auf; ein Poltern dröhnte gegen die Tür, die dabei weit aufsprang, und torkelnd taumelte ein dunkler Schatten über die Schwelle.

Der alte Graber kam zurück; tastend suchte er im Finstern nach dem Bette hin.

Ganz kleinlaut begann nun Alex zu rufen:

»Vater – Vater –«, dann lauter, denn der Betrunkene, der unverständlich vor sich hinmurmelte, hörte nichts: »Vater.«

»Heda!«

»Ich bin es, Alex.«

»Was – was willst du – he!« lallte der Gerufene.

»Ich habe auf dich gewartet.«

»So! so! genau wie die Mutter, willst – willst auch den Spion machen, he – mich kontrollieren – du Spion – bist wie die Mutter – aber ich treibe dir das schon aus – ich –«

Er setzte sich auf sein Bett und schien zu überlegen.

»Nein! Aber der Herr Lehrer hat gesagt, ich müßte es dir gleich erzählen, daß ich einen Freiplatz in der Malschule der Manufaktur bekomme.«

»Hehe – he«, ein höhnisches Lachen war die Antwort. »Ich habe ja gesagt, wie die Mutter –hoch hinaus. Hast auch Würmer im Kopf, hoch hinaus, da bin ich nicht gut genug –«

»Ja, Vater! Ich will gewiß mit allem zufrieden sein. Und es kostet dich auch gar nichts – gar nichts – alles bekomme ich umsonst.«

»Ich hab' auch kein Geld –«

»Gar nichts – und ich kann sehr viel lernen –«

Nun geriet er ins Stocken; jetzt mußte er bitten.

»Hochmütig – wie die Mutter – bin dir nicht mehr gut genug. Hast deshalb auch nur auf den betrunkenen Aschegraber gewartet – ich kenn' das – wie alle –«

»Nein, Vater! Aber – aber es ist so viel – so ein Freiplatz – du – du brauchst gar kein Geld für mich – aber das Kinderfest ist – und – Vater – nur sechzig Pfennige – gib sie mir, die sechzig Pfennige – ich bitte dich – ich will gar nichts anderes mehr –«

»He – Geld – also doch – du – du Jung – wie die Mutter – die hat's auch so gemacht – willst mich aussuchen, Geld abnehmen, ob ich schon alles vertrunken habe, nichts – nichts –du – Spion – aber –«

Da war Alex von seinem Stuhle losgekommen; und er hatte sich trotz seines Widerwillens überwunden. Er stand vor dem Vater, hob seine Hände, er bettelte:

»Vater, gib mir die sechzig Pfennige.«

»Du Spion – wie die Mutter – mich überwachen –«

»Die sechzig Pfennige!«

»Da – du – du Spion –« Und die Faust des Betrunkenen schlug mit aller Gewalt nach dem Jungen, der unter der Wucht zurücktaumelte und mit dem Kopf gegen den Bettpfosten fiel. »Noch bin ich Herr – wie die Mutter – hoch hinaus – und überwachen – aber ich – ich lasse mir – das nicht gefallen – –«

Langsam und schwerfällig richtete sich Alex auf; er kroch in sein Bett, biß die Zähne zusammen und starrte in die Dunkelheit.

Nebenan aber erklang bald ein röchelndes, kreischendes Schnarchen.

*

In dem etwas dämmerigen Zimmer, das nur ein Fenster nach dem schmalen Schloßberg zu hatte, stand neben der Kommode Frau Sabine Rödern, die an dem großen, weißen Tischtuche herumzupfte, das als Zeichen außerordentlicher Feierlichkeit über die Kommode gebreitet war, um die Geschenke aufzunehmen, die dem Geburtstagskinde gehören sollten.

Frau Sabine war eine unscheinbare, schmächtige Frau von großer Behendigkeit; ihr Haar hatte immer noch das leuchtende Braun einer Kastanie wie in ihren Mädchenjahren; es schien, als sollte sich in dieses kein graues Haar einschleichen können.

Der Mund mit den dünnen Lippen lachte in eigener Zufriedenheit, als ihre Augen über die Geschenke schauten; dann nickte sie dem Gatten zu, der wie immer an diesem Tage den feierlichem schwarzen Rock trug, als gälte es, einen hohen Festtag würdevoll zu eröffnen.

Und Frau Sabine erklärte lächelnd:

»Schön! Sie wird sich freuen. Aber du – wieder in deinem Bratenrock. Bist doch ein Kindernarr, Vati.«

»Das gehört sich so zum Geburtstag eines Familiengliedes.«

»Still, sie kommt«, mahnte Frau Sabine flüsternd.

Und beide traten rechts und links neben die Türe, die von der Küche in das Zimmer führte, und die sich in dem gleichen Augenblicke auch schon öffnete.

Und Lotte kam; sie wußte, was sie erwartete.

Sie hatte droben in ihrem kleinen Schlafstübchen, als sie das Pochen der Mutter gehört hatte, sofort das hübscheste Kleid ausgewählt, um unten beim Frühstück schon als Festtagskind zu erscheinen.

Den Tag vergaß sie ja nie, der doch immer der schönste im Jahr war. Und sofort blinzelten ihre Augen nach links zu der weißgedeckten Kommode.

Da sah sie zuerst nur das bunte Leuchten von vielen, vielen Blumen.

Dann kam das andere; ach, sie wußte das schon. So hatte es ihr »Vati« noch immer gemacht.

Würdevoll und so ernsthaft, als stünde er einer leibhaftigen Prinzessin gegenüber, verneigte er sich und sprach seinen Glückwunsch.

»Holdseligste Märchenfee!« So nannte er sie dabei. So schön war dies!

Und Lotte hielt stand, würdevoll, wie eine echte, kleine Prinzessin. Ganz andächtig hörte sie zu.

Dann aber, als »Vater Rödern« seinen selbstgedichteten Vers zu Ende gesprochen hatte, vergaß Lotte die prinzeßliche Feierlichkeit und sprang lachend und ganz Kind dem »Vati« an den Hals:

»Vati, du bist ja der aller- – allerbeste und – und das Gedicht mußt du mir aufschreiben.«

Frau Sabine wußte nicht so viel zu sagen; sie drückte nur ihr Kind an sich, küßte es und sagte dann mit merkwürdig bedrückter Stimme, als weinte sie innerlich, obgleich sie sich doch freute:

»Recht glücklich sollst du sein, Lotte; und freuen sollst du dich – und –«

Aber da wußte sie schon nichts mehr, so daß sie Lotte an die Kommode heranschob und schließlich erklärte:

»Da – und schau' dir jetzt alles an, das ist von ›Vati‹ und mir.«

So stand also Lotte vor ihrem Geburtstagstisch, zu dem sie vorher schon hingeschaut hatte; nun konnte sie erst alles sehen. In zwei Vasen leuchteten rosafarbene und purpurne Rosen, zwei mächtige Hortensienstöcke mit großer Blütenfülle von zartem Rot, als hätte die Morgenröte leicht darüber gehaucht, standen dabei. Ein großer Geburtstagskuchen, der mit kandierten Früchten belegt war, bildete mit den zehn Lichtern der nun vollendeten zehn Jahre den Mittelpunkt der weiteren Geschenke. Daneben lagen Bücher, die Lotte sofort mit leuchtenden Augen prüfte, ein duftiger, bestickter Blasenstoff, Wäsche und ganz vorne eine kleine Geldbörse mit bunten Glasperlen.

Eine eigene Geldbörse! So etwas war immer schon Lottes heimliche Sehnsucht gewesen.

Danach griff sie. Und dann flog sie der Mutter in die Arme, küßte sie immer wieder und konnte vor Freude kein Wort hervorbringen. Und zu ihrem »Vati« sprang sie, der sich ihrer Zärtlichkeiten kaum erwehren konnte.

Dieser hielt sie fest:

»Klein-Lotte, bist du zufrieden?«

»Ja, ja, Vati! So schön ist alles – so schön.«

Hast du aber auch schon nachgesehen, ob in deiner Geldbörse nicht auch ein Vermögen liegt?«

Das hatte Lotte vergessen; in die Börse hatte sie noch gar nicht hineingeguckt. Und wirklich! Innen blinkte es ganz hell. Ein neues Zweimarkstück.

Darüber fing ein neuer Jubel an.

»Nun, Lotte, was wird nun gekauft!«

»Das weiß ich noch nicht, Vati! Darüber muß ich lange, lange nachdenken. Vielleicht einmal ein neues Buch, vielleicht eine Puppe. Ich weiß nicht; ich muß erst überlegen.«

»Sehr richtig, Lotte! Eine Kapitalsanlage ist eine Sache, die man sehr überlegen muß.«

So feierte Lotte ihren Geburtstag.

Sogar ihre Freundinnen kamen noch mit Blumen und kleinen Geschenken, und die Tanten vergaßen sie nicht.

Aber als sie dann am Abend in dem schmalen Arbeitszimmer von Max Rödern sitzen durfte, was ihr nicht immer erlaubt war, da blickte sie doch etwas zerstreut auf ihre neuen Bücher, in denen sie fast ohne Interesse blätterte. Ihre Gedanken waren weit fort, und die Augen schauten über die Bilder und Zeilen weg.

Dabei ertappte sie Vater Rödern, als er gerade von einer Arbeit aufblickte; er drehte sich im Schreibtischstuhl seinem Kinde zu und fragte dabei:

»Nun, Kleinlotte, du scheinst Sorgen zu haben?«

Und ganz ernsthaft, nicht scherzend wie die Frage gesprochen worden war, antwortete sie:

»Ja, Vati!«

»Nanu, Lotte, an deinem Geburtstag? Macht dir am Ende gar dein Vermögen Kopfzerbrechen?«

»Ja, Vati!«

Jetzt drehte sich Max Rödern seinem Mädchen vollends zu:

»Kapitalssorgen, schrecklich! Na, komm zu mir aufs Knie, Lotte, und erzähle.«

Da zögerte sie nicht; mit einem Sprung saß sie bei ihm:

»Ich darf doch mit dem Gelde tun, was ich will, Vati?«

»Natürlich! Das ist ganz dein Kapital; du kannst dir davon eine Villa bauen lassen oder eine Puppe kaufen.«

Lotte schüttelte den Kopf:

»Nein, Vati.«

»Was sind es dann für Sorgen?«

»Du sollst das Geld wieder nehmen, Vati, du sollst es Alex geben, damit er beim Kinderfest mitspielen darf. Er hat kein Geld, Vati, und –und – sein Vater ist so arm – und kann ihm nichts geben. Vati, und es ist doch zum letztenmal, daß Alex dabei sein darf – und er will König werden.«

Immer erstaunter hatte »Vater Rödern« zugehört; eine solche Anlage ihres Vermögens hatte er allerdings nicht erwartet. An einen anderen dachte sie; es war also doch sein Kind. Wieviel hatte er nicht selbst schon für fremde Kinder gegeben.

»Für Alex?«

»Ja! Du mußt wissen, Vati, daß Alex in die Malschule der Manufaktur darf, und gar nichts kostet das, denn er bekommt einen Freiplatz. Und dann hat sein Lehrer gesagt, daß Alex ein Künstler wird. Aber sein Vater ist doch so arm –«

Einen Augenblick verdüsterte sich das Gesicht von »Vater Rödern«; er dachte an den alten Graber, der nicht nur arm war, der das Geld für seinen einen Jungen schon haben konnte. Aber war dies des Jungen Schuld? Der war fleißig, der war wie die tote Mutter. Und das mit dem Freiplatz war doch ein Verdienst des Jungen.

Dabei sprach der kleine, weibliche Anwalt immer eifriger:

»Das eine Mal will er noch dabei sein – und wenn er König wird, da bin ich doch Königin; und den Freiplatz bekommt er nur, weil er am allerbesten zeichnen kann. Mir hat er schon das Märchen vom Dornröschen gemacht, und das vom bösen Drachen Fafir, Vati – sag' ja; ich darf das Geld für den Alex geben!«

Da küßte der Vater Rödern seine Kleine auf den Mund und sagte dann:

»Ja, Klein-Lotte, der Alex darf bei dem Kinderfest dabei sein; sein Geld ist schon gezahlt, und dein Vermögen bleibt dir doch.«

»Aber das geht doch nicht; ich muß da schon zahlen.«

Tanz ernsthaft beharrte Lotte auf ihren Standpunkt.

»Dummerchen! So werde eben ich für den Alex zahlen. Geht das nicht auch? Ich hab' schon so viel!«

»Du – du! Vati – du bist doch der allerbeste.«

*

Die Kindergruppen standen dicht beisammen. Die Stimmen schwirrten, Rufe erklangen, Lachen, Jauchzen. Alle waren in ihren Festtagskleidern, alle hatten sich sogar bemüht, besonderen Schmuck zu zeigen, ein paar Blumen, eine weißgrüne Schärpe, einen Kranz im Haar.

Ordnend und befehlend, übereifrig in der Begeisterung für seine Sache, für die Kinder, denen sein Herz mit so tiefer Liebe zugetan war, eilte Herr Rödern an den Kinderscharen entlang, um die Fahnenträger zu bestimmen, um den Zug, der nun den Spaziergang machen würde, in Ordnung zu bringen; er wurde dabei von mehreren gleichgesinnten Freunden unterstützt, von dem Konditor Pohl, dessen Trompetenstimme sich am raschesten Geltung zu verschaffen wußte, und dem Gerbermeister Hilbert.

Drei Musiker stimmten ihre Blechinstrumente, und diese Töne steigerten die Erregung der erwartungsvollen Kinderschar noch mehr.

Die Eltern der Kinder aber, die das Fest begleiten wollten, standen am Ende der Kinderschar und zeigten ebenso frohe, zufriedene Gesichter, wie die Sonne des Frühherbsttages, die wolkenlos am blauen Himmel strahlte.

Hugo Pohl, der mit allem Stolz seiner zwölf Jahre die neue, eigene Armbrust trug, die ihm beim Kronenschießen den Königspreis bringen sollte, da er ja Tag um Tag die Armbrust geübt hatte, trat an Lotte Rödern heran, die etwas abseits stand und mit ihren großen, verträumten Augen jemanden zu suchen schien.

»Ist es wahr, daß du Königin wirst?«

»Ja! Vati hat es gesagt.«

»Da gehen wir zusammen. Sieh, das ist meine Armbrust!«

Und er hielt ihr diese hin, daß der gelbe, glänzende Schaft in der Sonne funkelte. Aber Lotte streifte ihn und seine Waffe nur ganz flüchtig; ihre Gedanken folgten dem Blick gar nicht.

»Ja – ich sehe sie schon –«

»Die Feder ist von Stahl – und das sind ganz goldene Nägel, und das ist echtes Leder.«

»So!«

Die Blicke von Lotte suchten wieder; auf die Zehen stellte sie sich.

»Und ich habe heute morgen mit jedem Schuß die Scheibe getroffen, und mein Vater sagt es auch, daß ich ganz gewiß die Krone treffen werde. Dann gehören wir zusammen.«

»Dein Vater weiß es doch nicht.«

»Doch! Es hat ja keiner eine eigne Armbrust.«

»Ach, als ob das notwendig sein müßte!« klang es etwas verächtlich.

»Du willst also nicht mit mir gehen?« Ein Lauern war in der Frage, und der runde, rote Kopf mit der Stumpfnase beugte sich dabei vor.

»Nein!«

»Mit wem wirst du dann im Zuge gehen?«

»Mit dem, der König wird.«

»Dann mußt du mit mir gehen.«

»Mit dir!« Und ein Blick streifte seine Gestalt, der keinen Glauben an diese Behauptung verriet.

»Ja – oder«, kam es nun gehässig von den Lippen des Jungen. »oder denkst du, daß es der Aschegraber-Alex wird?«

»Ja, der wird's!« beharrte sie, da sie das Verächtliche fühlte, mit dem Hugo den Namen erwähnte.

»Puh, das wäre so ein König. Dann kann ja sein betrunkener Vater, der Aschegraber –«

»Still bist du – ganz still!«

Mit einem Ruck hatte sich ihre Gestalt ihrem Gegenüber zugedreht. Ihr Gesicht war brennend rot dabei.

»Ist doch so – sauft jeden Tag Schnaps.«

»Still – was kann Alex dafür?«

»Dann können wir ja als neues Königslied das vom Aschegraber singen – –«

»Du – ich – ich zerkratz' dir dein Gesicht, dann magst du König sein –«

Ihre Gestalt zitterte im Zorn und ihre Hände fuhren bedenklich nahe an das Gesicht Hugos, der über diesen heftigen Ausbruch erschrocken zurückfuhr; aber dabei gab er seine Feindseligkeit gegen seinen erratenen Nebenbuhler noch nicht auf.

»Wahr ist es doch – und König wird er nicht –«

»Er – er allein – der kann ja viel mehr als ihr alle, der – der wird noch viel mehr – gerade Alex – und nur mit ihm gehe ich, mit keinem anderen –«

»Kannst stolz sein auf den Betteljungen, auf den –«

»Du –»

Jetzt war der Angriff so drohend, daß Hugo kehrt machte und unter der Schar der anderen Kinder verschwand.

Lotte aber blieb immer noch zitternd stehen; aber da berührte ihren Arm ganz leise, wie verschüchtert, eine Hand; sie drehte sich um und sah nun in das fast blutleere, weiße Gesicht des Alex Graber, der mit seinem dünnen, stark abgenützten Anzug, der aber doch sein bester war, neben ihr stand. Seine Stimme klang wie würgend:

»Lotte, ich hab' alles gehört, was er gesagt hat, und du auch. Du bist gut, ja, aber er hat recht. Betteljunge – ich habe ja nicht einmal das Geld für das Kinderfest geben können. Von dir ist es! Und – und mein Vater, – Lotte – du mußt dich mit mir doch nur schämen; es ist wohl besser, ich geh' ganz leise wieder davon –«

»Alex, du bleibst bei mir – gerade Hugo soll dich sehen –«

»Die anderen werden lachen – und das Lied, das häßliche –«

»Das tut keiner – mein ›Vati‹ ist ja dabei – du mußt König werden, das hast du schon versprochen. Deshalb mußt du es auch halten.«

»Lotte – ich hol' für dich, was du willst. Ich will ja – aber wenn du dich dann schämen mußt –«

»Ach, du bist mehr als alle – Alex – du wirst doch ein Künstler! Das wird kein anderer.«

Und dies Wort ließ seine Augen, die so scheu und wie gebrochen auf den Boden schauten, wieder aufleuchten; da hatte ein Wort seinen großen Zukunftsglauben geweckt.

»Ich werde auch einer – und wenn ich ganz groß bin – dann komme ich auch nur zu dir –«

Da tönte über die Schar der schwirrenden, summenden Kinderstimmen hin der dröhnende Ruf des Konditors.

»Alle Fahnenträger an ihre Plätze, alle Kinder paarweise, der Marsch beginnt.«

Und die Blechinstrumente setzen ein.

»Komm!«

Lotte packte die Hand von Alex und zog ihn mit sich.

Seine blauen Augen leuchteten

*

Die drei Musiker bliesen den dritten Tusch.

Auf der großen Wiese blähten sich im Wind die weiß-grünen Fahnen.

Die Krone war heruntergeschossen, das Schießen zu Ende, und der Tusch hatte der Ernennung zum König erst die rechte Würde verliehen. Diese kräftige Fanfare aus den blinkenden, blitzenden, flimmernden Blechinstrumenten war erst die Bekräftigung.

Die Krönung war vorbei, der Preis und die Würde verliehen.

»Vater Rödern« hatte seine schönste Rede gehalten; seine Augen hatten ja in der großen Kinderschar seine Lotte als die Königin gefeiert; und weil er ihr träumerisches Wesen kannte, das halb in Märchen lebte, so hatte er auch in dieser Art gesprochen.

Die Krönung war durch den dreimaligen Tusch besiegelt.

Die Jugend aber setzte jetzt mit dem Liede ein, das in jedem Jahre gesungen wurde:

»Unserm neuen König dreifach hoch – –«

Auf der erhöhten Terrasse, die errichtet worden war, um den König zu zeigen, stand neben der kleinen Königin mit seinem Blondhaar Alex Graber; um seine Schulter war der purpurne Mantel gelegt, der die Würde verlieh, auf seinem Haar lag die golden glänzende Krone mit den glitzernden Steinen, und seine Hand hielt den Königsstab; um seine Brust hing die Kette.

Kein Lachen, kein frohes Leuchten war auf seinem Gesichte. Ernst und hart schauten seine Augen; ihm war diese Krönung in dem Augenblicke kein Spiel, sondern Erfüllung seines Willens.

Er hatte die Krone gewonnen!

Es war, als schaute draußen sein Blick noch eine andere, die er holen mußte.

Und die Entschlossenheit seines Willens lag in seinem Blick; das Kinderspiel empfand er als erste Erfüllung. In diesem Gedanken faßte seine Hand die der Königin; sie hatte ihm den Weg gewiesen; er drückte die Hand, so fest, daß Lotte den Druck fast schmerzend fühlte. Es war dies wie ein Versprechen, das er gab, ihr auch die andere Krone, die er als Lebensziel schaute, zu bringen, um sie damit zu krönen.

Da holte Vater Rödern das Königspaar, damit es den jetzt anschließenden, festlichen Umzug beginne – –

Die anderen alle waren zurückgeblieben; Kaffee und Kuchen warteten ja schon, und die Verteilung der jährlich gegebenen Geschenke ließ die Kinder nicht fort.

Was würde es geben?

Mit Spannung blickten alle auf die braunen, immer noch verschnürten Pakete, mit denen sich Herr Rödern und Gerbermeister Hilbert beschäftigten, eine große, breite Gestalt, mit rundem, bartlosem Kopf, ein Mann, der in seiner Ehe keine Kinder bekommen hatte und nun die Freude an fremden Kindern fand.

Die Eltern aber hatten sich in dem kleinen Garten Plätze gesucht, um rechtzeitig ihre Wünsche äußern zu können und auch erfüllt zu wissen.

Stimmen schwirrten. Laut übertönte sie alle der flotte Marsch der Musikanten.

Da waren König und Königin vergessen, denn alle dachten an eigene Wünsche.

So waren die beiden abseits von dem Trubel gekommen; beide waren Träumer, die in dem Lärm leicht erschreckten. Ihre Hände hielten sich, als sie still nach dem steil abfallenden Rande des Höhenzuges vorgingen, an den Wiesen mit ihren Blumen, vorbei an den weißstämmigen Birken und den niederen Heckenrosen, die aber nur ganz selten noch eine verspätete Blüte zeigten.

Hierher drang nur wie ein fernes Summen, wie aus Märchenweite ein Lied, das Spiel der drei Musikanten.

Die Augen der beiden schauten hinunter auf die träg dahinfließende, grüngraue Elbe, auf der ein paar große Schleppkähne tief beladen nach der Stadt zustrebten, auf die gegenüberliegenden, grünen Höhenzüge, zwischen denen schon an einigen Stellen die Farben des nahenden Herbstes leuchteten.

An der Boselspitze saßen sie dann auf den kahlen Felsen, die wie Throne von der Natur geschaffen an diesem schönsten Punkte dieser Hügelkette lagen. Ganz dicht saßen sie beisammen; sie sprachen nichts und verstanden sich doch in dem schweigenden Hinunterstarren auf die Ebene.

Steil unten zog sich in gerader Linie die Straße mit den alten, hochgiebeligen Häusern hin, die alle in sorgfältig gepflegten Vorgärten bunte Blumenpracht zeigten; weit draußen verlor sich das langhinziehende Dorf. Die Elbe zog ihren Bogen, um ganz ferne zu verschwinden, rechts ganz dicht am Ufer von der bewaldeten Hügelkette begleitet, links in der Ferne dehnten sich in dunstigem Blaugrau andere Höhenzüge hin. Über die endlos weite Fläche kroch ein Bahnzug wie ein Wurm.

In der Ferne aber glühte die Sonne; da leuchtete sie flimmernd und blitzend. Licht lag dort hinten.

Und ganz fern am Horizont, wo die Elbe sich verlor, wo die Hügelketten verschwanden, wo das stärkste Leuchten zu sein schien, dort mußte Dresden liegen.

Und nach diesem Licht starrten die Augen von Alex Graber.

Da sprach Lotte das erste Wort:

»Nun bist du doch König geworden.«

»Durch dich!«

»Das sollst du nicht sagen – du hast die Krone gewonnen, du allein, denn ich habe dabei nichts getan.«

»Aber du hast mir den Willen gegeben, und weil du gewollt hast, hab' ich nicht anders gekonnt –«

»Bist du nicht zufrieden?« fragte sie nach kurzer Pause.

Da nickte er heftig und seine blauen Augen wandten sich groß und weitoffen seiner Königin zu:

»Es ist mein schönster Tag – mein schönster« – und nun kam in seine blauen Träumeraugen ein sinnender, nachdenklicher Zug, der nichts mehr von der Kindlichkeit seiner Jahre hatte: »bis – der andere Tag da sein wird.«

»Welcher?«

»Wenn ich erst Künstler – ein ganz großer –wie der Lehrer gesagt hat, wenn – wenn ich da draußen – erst gewonnen habe –«

Aber Lotte dachte nur an die Königskrone, die hier zu gewinnen war; ihre Phantasie, die nur von Märchen erfüllt war und allzusehr in der Welt der Wunder und Märchen lebte, träumte mit seinem Blick und sie sagte ganz langsam:

»Sind da auch verwunschene, verzauberte Kronen, die erst gefunden werden müssen?«

»Ja! Die schönste aber, die am stolzesten, am reichsten macht, die hole ich mir –«

»Eine Krone, die du dann trägst?«

Und ein neues Märchen ersannen dabei ihre in die Ferne irrenden Gedanken. Warum sollten draußen in der fremden Welt nicht Kronen verborgen sein? Las sie davon nicht in ihren Büchern?

Und warum sollte es Alex nicht sein, der eine verzauberte Königskrone erlöste? Hatte sie nicht Märchen gelesen, in denen Schweinehirten zu Prinzen verwandelt wurden?

Was in der Ferne draußen lag, war ihre Märchenwelt.

Da konnte sich alles erfüllen, was sich träumen ließ.

»Die ich dann trage –«

»Aber mich wirst du dann vergessen haben –« verträumt und leise sagte sie es vor sich hin, als suchte sie das Ende eines selbstersonnenen Märchens.

Da reckte sich die Gestalt von Alex; seine Stimme klang nun fest und unbeugsam hart:

»Dir bringe ich sie – und du mußt dann die Krone tragen, die ich hole – du mußt dann die Kronenträgerin sein wie heute – du und ich –«

Und beide schauten in die helle, grelle Sonnenglut, in das Gleißen und Flimmern; es war, als schauten sie dort schon eine andere Krone.

Dort draußen mußte sie zu gewinnen sein!

Aber was für Kronen hatte dies fremde Leben draußen zu vergeben?

Jetzt trugen sie beide die Kronen des Kinderfestes, nun spielten sie noch im Märchen.

Was aber lag in dem fernen, flimmernden Sonnenglast der Zukunft verborgen? Gab es dort Kronen? Und waren sie auch zu gewinnen?

Beide träumten von fernen Zielen, die noch in der Welt der Märchen steckten – beide waren still und hielten sich nur an den Händen fest –

Da ertönten nahe Rufe:

»Dort vorne sitzen sie – Ohr müßt kommen –– der Kaffee wird verteilt – und Kuchen –«


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