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III.

»Liebe Lotte!

Die Sehnsucht war mit solcher Macht über mich gekommen, daß ich Dich gerade in diesen Tagen nicht länger vermissen zu können glaubte. Wie oft haben wir uns Märchen ausgetauscht, wie oft darüber geschrieben. Diesen Märchenglauben habe ich mir gerettet, und ich möchte überall noch Prinzen und Königstöchter sehen. Meine Augen haben sie nur nicht finden können, aber deshalb lebt doch der Glaube daran weiter, der so schön ist, weil er in jeder Stunde Trost gewährt. Und so glaube ich wie als Kind oben auf der Bosel, als wir die ersten Lustschlösser bauten, als Du mir das Märchen und damit den Glauben an die verwunschene Krone gabst, immer noch an den Zauber dieser geheimen Krone. Ich weiß, das Leben hat solche Kronen verborgen, die es an Glückskinder gibt, Kronen, die reich und wunschlos glücklich machen, wie Du davon erzähltest. Dir versprach ich, sie zu holen, als Dein König beim Kinderfest, dir versprach ich, Dich zu meiner Königin zu machen, zur Mitträgerin jener Krone, die ich um Deinetwillen erjagen wollte, oben auf der schönen Aussicht, als wir unsere Liebe entdeckten. Arm, mit leeren Händen, aber unersättlichem Ehrgeiz, eisern und unbeugsam im Willen, ging ich aus, diese Krone zu suchen. Und ich gab Dir das Wort, nur mit der Krone zu kommen, um sie Dir zu überreichen. Du wolltest warten! Nun habe ich eine Krone errungen, ein kleines, unscheinbares Lorbeerzweiglein, das mir auch überreicht und aufs Haar gelegt wurde, wie einst dem Knaben die Schützenkrone. Das Lorbeerzweiglein ist der Erfolg, der Ruhm. Ich habe in der Akademie den Preis gewonnen, der dem Besten ausgesetzt war, der mir ein Jahr Studium und Arbeit in Paris ermöglicht. Darüber schrieb ich Dir schon, von dieser Sehnsucht, von diesem Wunsch! Nun habe ich gesiegt, nun habe ich die Krone im Erfolg. Aber ist dies jene aus unserem Märchen? Ich trage sie mit, ich habe sie gewonnen; der Erfolg gab mir die Reise. Aber trotzdem bin ich nicht ganz froh! So unscheinbar sieht dies Zweiglein aus. Und Dein Vater würde lachen, würde uns beide die ›Märchennarren‹ schelten, wie er es schon einmal tat, wenn ich nichts anderes mitbringen würde als dies Zweiglein, um das mit Dir zu teilen. Er würde an den Zauber nicht glauben. Und weiß ich es denn selbst, ob dies auch die Krone ist, die ich Dir zu bringen versprach? Weiß ich's denn? Und so würde ich wieder mit leeren Händen kommen und nur Lachen finden. Erst muß sich die Krone, die ich gewann, erproben. Verstehst Du mich, daß es mein Stolz, mein Ehrgeiz nicht ertragen könnte, wenn ich nur einem ungläubigen Kopfschütteln, einem Mißtrauen, oder gar Verachtung und Spott begegnen müßte? Deshalb kann ich noch nicht kommen, deshalb muß mein Weg erst noch hinausführen, wo sich der Zauber meiner unscheinbaren Krone, des Lorbeerzweigleins, das mir den Erfolg bedeutet, erst bewähren soll. Eine kurze Spanne Zeit noch – ein Jahr –. Ich weiß, Deine sehnenden Träumeraugen schauen aus nach mir, aber ich weiß auch, Deine Treue, Dein Glauben wartet, denn er weiß, daß ich einmal des Weges kommen muß, und die Krone Dir bringen werde.«

 

So weit hatte Lotte Rödern wieder einmal gelesen. Wie oft schon! Als dieser Brief mit den steilen Buchstaben zum erstenmal in ihrer zitternden Hand lag, da hatte sie sich in einen Winkel ihres Stübchens verkrochen, die Türe versperrt und geweint. Damals hatte sie nur den Schmerz verspürt, daß er wieder so in die Ferne hatte ziehen können, ohne den Weg zu ihr zu finden. Aber die Tränen versiegten, ihre Augen träumten bald wieder, schauten hinein in das weite Leben, das noch irgendwo ferne bereit lag, und im Sinnen und Träumen verstand sie ihn, begriff seinen Stolz und Ehrgeiz. Er hatte die Krone noch nicht bringen können, nicht die echte, nach der sein Suchen ging, und mit leeren Händen konnte er nicht den Weg gehen, auf dem er sein Glück – sie selbst holen wollte.

Den unmerklichsten Spott oder gar Mißachtung ertrug er nicht.

Jetzt verstand sie ihn; und Lotte wußte, daß auch ihr Vater, so gut er war, so sehr er mit aller Liebe an ihr hing, an die Kunst und an den Weg von Alex Graber nicht glaubte.

Lotte wartete, lächelnd und sicher!

Die Häßlichkeiten, die Hugo Pohl prahlend und lärmend gegen Alex Graber ausgeschrien hatte, verschwanden und verflüchtigten wie Worte im Wind, als Lotte Rödern jenen Brief von Alex erhalten hatte. An sie war sein letzter Abschiedsgedanke gerichtet, ihr galt das unscheinbare Lorbeerzweiglein, ihr sein Hoffen. Allein war er nach Paris.

Sie glaubte wieder!

Und der Tag mußte kommen, der ihn des Weges bringen würde, mit der Krone –

Lächeln konnte sie im Warten; und wenn die Sehnsucht allzu stark wurde, wenn jeder ihrer Gedanken, all ihre Sinne nach ihm begehrten, dann schloß sie sich ein und las in seinen Briefen, die alle in dem verträumten Märchenton geschrieben waren, der sein Wesen widerspiegelte, der in seinem Herzen Träume spann und der in seiner Kunst ein Leben erstrebte. Da wurden ihr die Tage wieder leicht, und sie glaubte an ihn und die Krone, die er ihr bringen würde.

Wieder einmal las sie seinen Brief; in späteren hatte er von seiner Ankunft in Paris erzählt, von dem Leben dort, von seinem Ziele und von seiner Arbeit; und dazwischen klangen immer die anderen Weisen, sein Träumen, seine Phantasien.

Hugo Pohl hatte gelogen! Nie wurde in Alex' Briefen jener Name genannt, den jener ausgelärmt hatte.

Und das andere mit einer Geliebten mußte auch eine Lüge sein, denn Hugo Pohl haßte Alex Graber.

Allerdings waren in den letzten Wochen dessen Briefe seltener geworden; sie waren stiller geworden. Nur noch Karten hatte er einige gesandt, mit Bildern der fernen großen Stadt, mit flüchtigen Notizen, mit Tatsachenmitteilungen; dabei schrieb er zumeist von einem neuen, großen Werk.

Aber immer noch galt ihr der Brief, der sein Abschied war.

»– ich weiß auch, Deine Treue, Dein Glauben wartet – –«

So las sie aus diesem Brief und diese Worte wollte sie nie vergessen.

Doch nun hatte Lotte schon zu lange über diesen Erinnerungen und Hoffnungen geträumt; sie mußte wieder an den Alltag mit seinen Aufgaben und Arbeiten denken. Doch alles ließ sich leichter erfüllen, wenn in den Gedanken ein frohes Hoffen von fernem Glück träumte; und es gab jetzt in dem kleinen, unscheinbaren Häuschen mehr als sonst zu tun. Frau Sabine war krank geworden; ihre Füße waren fast gelähmt, so daß die sonst so regsame und behende Frau zumeist an einen Platz gefesselt war. Plötzlich war diese Krankheit gekommen. Lotte aber hatte dann in dem kleinen Häuschen, in dem bisher immer nur das stille Glück zu Hause war, in dem die drei Menschen, die darin wohnten, nur die Zufriedenheit kannten, die Arbeiten der Mutter übernehmen müssen.

Frau Sabine trug schwer an dieser Lähmung; ihr Gatte aber wußte für ihre Klage stets ein beruhigendes Wort; er war der gleiche geblieben, der immer noch die jährlichen Kinderfeste leitete, der immer noch hinter den Brillengläsern das schalkhafte Lachen hatte und den leisen Humor, der dabei aber doch auch den Lebensernst zeigte, wenn er es für notwendig hielt.

Lotte hatte eben den Kaffeetisch abgedeckt; Frau Sabine saß in dem gewohnten Lehnstuhle und machte ihr Nachmittagsschläfchen.

Herr Rödern, der eben erst im angrenzenden Arbeitszimmer verschwunden war, tauchte dort wieder auf und schaute spähend in das Wohnzimmer, als hätte er dort etwas vergessen; dabei nickte er Lotte zu und sagte ganz leise:

»Lotte, komm! Ich habe mit dir was zu besprechen. Mutter braucht es vorerst nicht zu hören.«

Lotte folgte ihm auf den Zehen, um die Mutter nicht zu wecken; vorsichtig wurde die Zwischentüre mit der Glasscheibe zugedrückt.

»Was denn, Vati?«

Immer noch dies trauliche Wort, das einmal das Kind in verliebter Zärtlichkeit gebraucht hatte.

»Lotte, du bist nicht mehr die Jüngste, und der Spiegel sagt mir auch – so sehr ich mich gegen die Tatsache zu wehren versuche –, daß ich alt werde. Du aber kennst das Mädchenschicksal, daß sie alle einmal zu Frauen und Müttern werden.«

So weit war Herr Rödern gekommen; da flammten die Wangen von Lotte in dunkler Röte und hastig unterbrach sie ihn:

»Du sollst darüber nicht sprechen, Vati! Du hattest mir dies auch versprochen. Du weißt, ich will ihn nicht, ich kann ihn auch nie lieben. Und wenn er mich selbst gefragt hätte, so würde ich es ihm gesagt haben; er hätte nicht deine Vermittlung suchen müssen.«

»Du meinst Hugo Pohl?«

»Gewiß! Von ihm hattest du mir ja vor drei Wochen schon erzählt.«

»Hm! Ja! Mir hätte er auch gefallen; er ist ein guter Geschäftsmann, versteht etwas, ist gesund und sicherlich gut, denn auch sein Vater ist es. Reich ist er auch, so daß du bei ihm gewiß nie Not leiden würdest –«

»Vati, das alles hast du mir schon einmal gesagt; aber ich kann ihn nie lieben – nie – niemals. Du kannst mich nicht zwingen wollen, denn ohne Liebe würdest du Mutter auch nie genommen haben. Und du liebst Muttern heute noch, Vati.«

Bei dieser Erklärung sah Herr Rödern einen Augenblick zu der Glaswand der Türe hin, ob Frau Sabine darüber nicht aufgewacht sei und etwas gehört haben könne.

»Muttern, ja! Aber still, das mußt du ihr gerade nicht sagen. Von dir wollte ich doch reden.«

»Ich kann Hugo Pohl nie, niemals lieben.«

»Ich wollte dir doch nicht mehr zu verstehen geben, als daß er mir gefallen hätte. Aber von ihm wollte ich dir nichts sagen.«

»Nicht!« Mit erstaunten Augen blickte sie nun den Vater an. »Aber – aber du sprachst doch so seltsam, als – als« und nun verwirrten sich ihre Worte; sie konnte den Satz nicht vollenden, und ein erneutes Rot zeigte neue Verlegenheit.

Dies aber ließ Herrn Rödern noch mehr lächeln; ihm schien es eine Freude zu sein, was er sagen wollte:

»Erraten hast du die Ursache, erraten den Zweck, aber in der Person fehlgegriffen.«

»Vati – wer? Ich – ich kenne keinen Menschen, ich weiß keinen; es – es kann keiner sagen, daß ich ihm zu – zu solcher Frage Anlaß gegeben hätte.«

»Hm! Gibt es nicht doch einen Menschen, mit dem du gerne plauderst, bei dem du munterer wirst, mit dem du in deinen Büchern träumen kannst, und den du bei jedem Besuche mit heller, froher Stimme empfängst?«

Und dabei drohte Herr Rödern scherzend mit dem Finger und legte schelmisch den Kopf zur Seite.

Zuerst schüttelte Lotte Rödern den Kopf; sie dachte an niemanden, sie verstand den Vater nicht, aber mit einem Male kam es wie ein Erschrecken über sie; in ihrer Stimme klang mehr Angst als Erstaunen.

»Wer? Vati, ist es – ist es Doktor Anwander?«

»Ja!«

»Mein Gott, wie hat er mich mißverstanden. Nein, nein, ich dachte nie an solche Möglichkeit. Wie hätte ich daran denken sollen? Ich hörte ihn gerne, und dann ist er gut; ich freute mich, wenn er kam, aber das – nein, Vati.«

So erregt sprach sie dabei, daß Herr Rödern erst zur Stille mahnen mußte:

»Aber Lotte, Lotte, wie kann dich das so erregen. Mutter soll doch nichts hören.«

»Hat – hat er von dir eine Antwort gewollt?«

»Nein, gewiß nicht. So mit Worten fragte er auch nicht, aber fühlen mußte ich es; ein Verliebter ist doch nicht immer Herr seiner Worte, und da habe ich nicht allzu schwer raten müssen, daß er dich fragen will.«

»Vati, nein! Ich kann ihn nicht lieben.«

»Nur ruhig, Lotte. Ich weiß ja, der kurze Fuß des Doktors –«

Da unterbrach sie ihn:

»Das ist es nicht, nein! So etwas wird die Liebe nicht sehen.«

»Das nicht? Ja, würdest du das vergessen können?«

»Ich habe es nie beachtet, wenn ich ihm zuhörte –«

»Aber was ist es dann? Er hat eine sehr angesehene Stellung, er wird dir jeden Wunsch erfüllen, er liebt die Bücher wie du, und dann meint er es ehrlich.«

»Ja, ja! Ich glaube es, ja, ich – ich wünschte mir selbst oft seinen Besuch, ich freute mich über seine Worte, ich weiß alles – alles – aber, Vati, die Liebe ist das nicht.«

»Die Liebe, Lotte, kommt erst, wenn die Menschen sich im Alltag kennenlernen – die Liebe ist nicht nur Rausch und Leidenschaft, die Liebe ist wie ein Heimchen am Herd, so wie Muttern und ich im Winkel uns lieben. Und das – das wird dir Doktor Anwander auch geben können.«

»Ich kann nicht – nein, ich – vermag es nicht. Vati, er soll mich nicht fragen. Du mußt es ihm sagen, daß er nicht kommen darf.«

»Aber Lotte, das kann ich nicht! Die Frage selbst hat er an mich nicht gestellt. Ich konnte es nur fühlen, daß er dich zuerst fragen wird. Und da wollte ich bei dir auf den Busch klopfen, um gleich ein baldiges Fest vorzubereiten. Denn ein Fest wäre es, für Muttern und mich.«

»Ich kann nicht! Nein! Das wollte ich nie. Aber – aber wenn er dann kommt, was – was soll ich ihm dann antworten?«

»Lotte, das mußt du allein wissen! Aber noch ist es nicht geschehen, noch ist er nicht da, und – wenn du erst ein paar Nächte darüber geschlafen haben wirst, wenn du erst ruhiger an ihn denken wirst, dann – dann wirst du vielleicht doch noch ein Fest bereiten lassen. Freude, Herzensfreude wäre es uns, dich so geborgen zu wissen. Mit meiner Vaterliebe sage ich es dir.«

»Ja, ja – aber – aber, – ich kann keine Liebe geben –«

»Du bist Träumerin, Lotte! Ich habe dich zu viel Märchen lesen und in deinen Märchen leben lassen. Das Leben, das wir ertragen, das wir durchkämpfen müssen, ist anders; in diesem gibt es keine Märchenprinzen und Prinzessinnen, denen du in deiner Träumerei nachsinnen magst. Nein – nein, glaube mir, Märchen sind wie Irrlichte – Trugbilder – doch still. Mutter ist erwacht. Und denke daran – uns wäre es eine Freude –«

*

Als Alex Graber zum ersten Male von dem Gare de l'Est nach dem Boulevard Strasbourg schlenderte, als er mit seiner Reisehandtasche auf das erregte, hastende Treiben dieser Stadt seines Sehnens schaute, als er dies Stimmengewirr brausend und anschwellend um sich hörte, da ging er wie im Traum. Er starrte auf die schreitenden Camelottes, auf die Straßenverkäufer, die mit sicherem Gefühl in ihm den Deutschen erkannt hatten und ihn nun mit gebrochenen deutschen Worten zum Ankauf sehr bedenklicher Photographien bestimmen wollten, auf die eleganten Gestalten der Frauen, er folgte den Wagenreihen, die rechts und links in langen Ketten durch die Boulevards fuhren, die aber sofort auf einen Wink des wie eine Mauer aus dem Getümmel emporragenden Polizisten stille standen und erst wieder auf ein weiteres Zeichen vorwärtsstrebten.

In dem bunten Treiben war bei genauerem Beobachten in allem doch eine Ordnung herauszufühlen.

Die ersten Tage verbrachte Alex Graber halb im Traum; in der kleinen Rue Leporelle, einer schmalen Gasse dicht am Abhange des Montmartre, die holperig den Berg emporführte, in der Nähe der gewaltigen, über das endlose Paris von der Höhe der Buttes Montmartres hinschauenden Kirche du sacre coeur, stand in einem verwilderten Garten ein unscheinbares Haus, in dem sich eine deutsche Künstlerkolonie niedergelassen hatte; dort fand auch Alex Graber ein Unterkommen.

Mit staunenden Augen aber schaute er auf das ungewohnte Treiben, auf das Zusammenleben dieser jungen Künstler. Wie anders waren diese als die Kameraden in Professor Mannharts Atelier.

Lebensgenuß und Lebensfreude herrschten hier; wenn in manchen Stunden mit Worten auch erbittert um die Ziele einer neuen Kunst gestritten wurde, wenn die Meinungen noch so heftig zusammenstießen, wenn auch die Köpfe glühten, wenn sich dabei noch in lebhafter Weise mehrere französische Kollegen einfanden, und wenn dann noch der heißblütige Ungar Sandor Breczeny wie eine Bombe mit revolutionären Zukunftsideen dazwischentrat, so endeten doch alle diese Kämpfe in irgendeinem Cafe, in einer Brasserie, wenn das Geld in dieser Kolonie etwas knapp war, oder in einer Weinstube, oder bei dem »pere Lalande« im Kabarett zum »Behenden Kaninchen«, wenn einer aus der Schar einen guten Verkauf abgeschlossen hatte. Und dieser eine führte dann wie im Triumph die anderen Kameraden als Gäste mit sich.

Ein Festefeiern war das Leben auf dem Montmartre. Mit staunenden, verwunderten Augen folgte Alex Graber diesem neuen Leben, stumm trat er in diese neue Welt und schaute nur zu. Sein Ernst, sein Fleiß wurden nur flüchtig betrachtet.

Sein Lorbeerzweiglein hatte er mitgebracht; aber die Kameraden hier wußten nichts von seinem Erfolg, sie achteten seiner nicht, als er einmal davon erzählte; er hörte nur, wie dieser und jener von eigenem Erfolge wußte, wie der eine den Preis der Münchener Akademie erhalten, wie ein anderer in einer Wiener Ausstellung bereits eine goldene Medaille gewonnen und ein dritter einen Staatsverkauf an ein großes Museum erzielt hatte. Sie alle hatten schon den Erfolg, das Lorbeerzweiglein. Aber bei keinem hatte sich das Wunder der verwunschenen Krone ereignet. Die meisten hatten jenen Erfolg schon wieder vergessen, lachten dazu und tranken.

Da wurden dann die Zweifel von Alex Graber stärker und peinigender.

Bedeutete sein Erfolg nichts?

Es mußte wohl so sein, denn so unermüdlich er auch schaffte, so sehr er mit seinen fertigen Werken vor sich selbst zufrieden war, niemand kaufte mehr.

Alex Graber bedeutete nichts.

Die Krone aber, die er mit solchem Stolz und Ehrgeiz gewonnen hatte, das Lorbeerzweiglein, schwand dahin, vertrocknete und zerfiel. Die Zeit zerstörte die Krone Erfolg!

Und langsam lernte er verstehen, daß der Erfolg, der Ruhm kein Gewinn ist, keine Märchenkrone, die man erringt und trägt, und deren Zauber dann wundersam weiterwirkt, sondern daß der Erfolg wie das tanzende, schillernde Schwirren einer Eintagsfliege im Sonnenlicht ist, daß er zu jedem Tage einem anderen gehört, wenn er nicht an jedem Tage neu erstritten wird.

So hatte er recht getan, daß er diese Winzigkeit nicht wie die Krone, die er ersehnte, zu Lotte gebracht hatte.

Doch davon schrieb er ihr nichts; und als er es immer mehr fühlte, da verstummte er in Briefen, da konnte er auch nicht mehr träumen.

Er begann an dem Märchen zu zweifeln. Nur noch Karten mit Bildern, mit Notizen, die nichts von seinem Kämpfen verrieten, gingen an Lotte.

Gab es die ersehnte Krone?

Der Erfolg, der Ruhm, sie waren die Krone nicht.

Noch war kein halbes Jahr vorbei, da sah er sein Lorbeerzweiglein zu nichts zerfallen.

Als Künstler hatte er vieles gesehen und vieles gelernt; die Kühnheit leuchtender Farben, die Klarheit des Sehens neuer Farben, die Technik, die hier die Reinheit vibrierender Luft, die selbst im Sonnenlicht flimmernden Staub wiederzugeben vermochte, die erste Darstellung vereinfachter Formen und Flächen durch Cezanne, der zum erstenmal von ein paar eifrigen Künstlern als der Begründer einer letzten, höchsten Kunst ausgerufen wurde. Alle diese neuen Ziele stürmten auf seinen vorwärtsstrebenden Geist ein. Unermüdlich suchte er für seine Kunst zu gewinnen, was ihm zur Weiterentwicklung beachtenswert schien.

Gewinnen wollte er!

Aber wenn er seine Arbeiten auch an Ausstellungen verschickte, sie kehrten immer wieder in sein Atelier zurück; er wußte wohl, daß er irgendwohin verkaufen konnte, aber dahin wollte sein Stolz nichts senden.

Von Marga Elmshorn waren manche Fragen nach seinen Erfolgen und Schicksalen gekommen; er hatte diese kühl und ruhig beantwortet, aber kein Bild hatte er dabei mitgeschickt. In jenen Briefen, die von Marga Elmshorn und etwas seltener auch von Winfried Elmshorn kamen, wurde oft noch die beabsichtigte Reise nach Paris erwähnt, aber nie eine bestimmte Zeit dafür genannt. Alex Graber fragte auch nicht danach, denn er fühlte, daß er selbst keinen Erfolg, kein Vorwärtskommen erreicht hatte. Und er hätte dies dann zugestehen müssen.

So sehr Alex Graber als Künstler neue Formen, neue Ziele gefunden hatte, so sehr er über dies neue Leben staunte, so sehr er hier überall Neues entdeckte, bald die Goyas im Louvre, dann eine prächtig sonnendurchglühte Landschaft draußen bei Meaux oder die Kunst eines Rodin – er selbst für sich kam sich vor, als trüge er Bleisohlen, die ihn nicht vorwärts kommen ließen.

Einmal saß er wieder in seiner Unzufriedenheit im Garten des gemeinsamen Hauses der Rue Leporelle; den Kopf hatte er niedergebeugt auf beide Hände gestützt, die Lippen zusammengekniffen, die Stirne gefurcht.

Um ihn liefen die paar Hühner, die sich die Künstler hier im Garten hielten, und die mit behender Geschäftigkeit ein paar Körner suchten. Diese Hühner, ein Hahn und ein Kolonieschwein, das von allen Teilhabern der Kolonie wie etwas Wundersames in seinem Fetterwerden überwacht und beobachtet wurde, bildeten die landwirtschaftlichen Interessen dieser Ansiedlung. Die Eier wurden auf Anteilschein vergeben, das Schwein aber für das Herbstfest zu einem gemeinsamen Schmaus vorbereitet.

Alex Graber sah nicht danach, er fühlte auch den Humor nicht, der aus allen so laut sprach, sondern brütete nur vor sich hin.

Dabei traf ihn Emil Bertrand, ein Elsässer, ein Bildhauer, der in sich die Bedachtsamkeit bei der Arbeit mit dem Deutschen, die sorglose Lebensart und das bewegliche Temperament mit dem Romanen vereinte. Hager und schmächtig war seine Gestalt, sein Gesicht knochig, aber mit schwarzen, beweglichen Augen. Der Mund sah spottlustig aus; er gehörte zu den Beliebtesten der Kolonie, da er in Stunden des Kämpfens und der Not ein bereitwilliger Helfer war. Mit weit auseinander gespreizten Beinen blieb er vor Alex Graber stehen und schaute ihm erst längere Zeit zu, bis er mit seiner hellen, hastenden Stimme fragte:

»Was plagt dich, Kamerad? Schon seit ein paar Tagen sehe ich dir zu. Warum lachst du nicht, wenn die Sonne lacht? Warum freust du dich nicht an jedem Tag, der dir geschenkt wird? Du siehst aus, als hätte dir ein Gewitter alle Fluren verhagelt und alle Saat zerschlagen. Weshalb dies Grübeln?«

Alex Graber hatte den Kopf hochgehoben, ließ aber Emil Bertrand ruhig vollenden; selbst dann folgte erst eine kurze Pause, ehe er eine Antwort fand:

»Wenn du es erraten hättest? Ja! Ein Hagel hat mir meine Saat zerschlagen.«

»Was liegt daran? Freue dich des kommenden Jahres, das wieder eine Ernte bringt. Die wird noch viel reicher und besser sein als die für diesmal erhoffte. Aber genug mit solchen Reden. Du bist ein Grübler, du nimmst alles, was dir begegnet, zu ernst! Was willst du denn? Du kannst etwas, du bist Künstler, nicht nur ein Handwerker, nicht nur ein Poseur oder Schwätzer. Ja! Was jetzt auf deiner Staffelei steht, ist gut. Freut dich das nicht?«

»Was nützt das?«

»Was? Ja, kannst du nicht lachen, wenn du mit dir selbst zufrieden bist?«

»Sind es die anderen?«

»Die anderen? Wer sind die?« Und er blickte umher, als wollte er in dem verwilderten Garten jemand suchen.

Etwas unwillig über dies Spiel entgegnete Alex Graber:

»Den Erfolg will ich, den Ruhm, den ich schon einmal festzuhalten glaubte, verkaufen will ich, die Stimmen anderer hören. Herrgott, ich bin nicht zum Scherzen gelaunt. Ich kann doch etwas! Warum wollen es die anderen nicht sehen? Warum kommen meine Bilder von überall zurück?«

»Ah, also träges, schweres Blut! Unsterblichkeitskoller, gußeiserner Denkmalswahn – Kinderkrankheiten. Die machen wir alle durch. Erfolg ist nichts als Geschrei. Hole dir unsere Hühner zusammen; wenn die schreien, bedeutet es so viel, wie der Lärm der Menge. Gib denen, die heute dich bewundern, morgen ein anderes Steckenpferd, dann schreien sie dem neuen zu. Die Menge kaut und wiederkaut. Vor einem guten Futtertrog und bei hungrigem Magen kehren sie alle einem Rembrandt die Rückseite zu. Mit vollem Magen schwätzen sie gelehrt, weil dies die Verdaulichkeit fördert; diese vielen steinigen morgen, was sie heute erhöht haben. Und darüber ein Grübeln? Weg – träges Blut macht lebenssatt. Erfolg –Erfolg? Frage alle! Jeder hatte ihn schon ganz fest.«

»Aber was kann denn den Künstler zufriedenstellen?«

»Sein eigenes Urteil. Ist das nicht genug, sich sagen zu können: Herrgott, wie hab' ich das gut gemacht, wie danke ich dir, daß du mich das hast schaffen lassen?«

»Genügt das?«

»Weshalb nicht? Gilt dir dein Urteil nicht mehr als die Meinung in der Verdauungspause eines vollen Magens?«

»So soll ein Künstler kein anderes Ziel haben?«

»Doch, schaffen soll er, arbeiten, sich selbst zur Freude, sich selbst zum Genuß! Das soll er! Lachen soll er, wenn er dabei ein Blättlein Erfolg findet, lachen soll er, wenn er taube Nüsse entdeckt. Das träge Blut muß aus dir heraus. Dir fehlt die Lebensfreude, der Lebensgenuß. Sieh uns nur alle an! Nicht der vertrocknete Lorbeer ins Haar, Weinlaub – Weinlaub. Feste! Und im Festerausch schaffen! So arbeiten! Wie schrieb doch der Dichter Leuthold:

›Drum laßt uns zechen und krönen mit Laubgewind,
Die Stirnen, die noch dem Schönen ergeben sind.‹

So ähnlich heißt es wohl. Das fehlt dir! Nicht in den unnützen anderen liegt die Befriedigung des Schaffenden, sondern im eigenen Ich! Nun weißt du es. Erst mußt du leben, lachend leben, die Kunst zu leben begreifen und lernen, dann wirst du über deine schwermütigen Grübeleien mit einem erlösten Aufatmen wegkommen. Suche dir den Lebensgenuß, die Lebensfreude, wie wir sie genießen, dann heilen solche Kinderkrankheiten. Ich gebe dir einen Rat! Wir haben da eine neue Kollegin in unsere Kolonie bekommen, diese schau dir an. Die sucht nur die Kunst, die ihr selbst genügt. Und sie hat auch die Lebensfreude in sich. Vielleicht lernst du etwas.«

»Vielleicht hast du recht, vielleicht! Also eine Neue? Ich habe davon noch nichts bemerkt. Wer ist sie denn?«

»Eine Polin, Sascha Zychlinsky!«

Da fuhr Alex Graber von seinem Stuhl empor:

»Zychlinsky! Das ist sie! Mit ihr habe ich schon gearbeitet, mit ihr zusammen fand ich meinen Erfolg.«

»Um so besser! Aber sie scheint daran keineswegs gemütskrank geworden zu sein. Suche sie nur gleich auf, vielleicht lernst du doch die Lebensfreude.«

*

»Das Licht ist uns nicht mehr günstig, ich glaube, wir können für heute die Arbeit aufgeben.«

Sascha Zychlinsky legte bei diesen Worten die große Palette, auf der die hellen Farben leuchteten, auf den kleinen Feldstuhl, trat einige Schritte von ihrer Staffelei zurück und schaute durch halbgeschlossene Lider auf das an diesem Tage fertig gearbeitete Werk.

Sie blickte nicht auf ihren Gefährten, der mehrere Schritte von ihr entfernt seine Staffelei aufgeschlagen hatte und dort eben noch kräftige Lichter aufsetzte, um die Wirkung von Schatten und Sonne noch stärker zur Geltung zu bringen, sondern betrachtete nur mit immer schärferer Selbstkritik ihre eigene Arbeit:

»Fertig könnte ich es nennen. Tausende würden es tun. Aber nein – der Ton ist zu stumpf, der Schatten nicht kräftig genug. Mehr blau! Und zwischen den herabhängenden Zweigen liegt nicht die flimmernde Luft, wie ich sie sehe. Nein, morgen muß ich nochmals daran. Sonst habe ich selbst keine Freude an der Arbeit.«

Alex Graber legte nun gleichfalls seine Palette zur Seite und trat zu Sascha Zychlinsky hin; er blieb neben ihr stehen und prüfte ihre Arbeit nach ihrer eigenen Kritik; seine Brauen schoben sich zusammen:

»Ich würde fast den Mut nicht haben, ob mir bei einem weiteren Versuch die gleiche Wirkung gelingen wird, schließlich wird nur zerstört, was jetzt so durchsichtig und zart wirkt.«

»Dann ist das ganze Bild schlecht, dann taugt es nichts.«

»Ich würde es so lassen, wie es ist. Jede Jury, selbst die gefürchtete Kritik muß das Fertige sehen.«

»Möglich! Irgend jemand würde es vielleicht sogar kaufen. Aber das allein kann mich nicht zufrieden machen. Wollen wir nun zurück?«

»Ja, das Licht genügt doch nicht mehr.«

Beide packten ihre Kästen, zerlegten die Staffeleien und kehrten dann zur Stadt zurück, die in einem Dunstnebel vor ihnen lag; sie hatten einen nicht allzu langen Weg zur Bahnstation, von der aus ihr Ziel leicht zu erreichen war. Lange schritten sie schweigend nebeneinander her.

Das gebräunte Gesicht von Sascha Zychlinsky mit den großen, leidenschaftlichen Augen zeigte im Wandern ein Lächeln; ihre zierliche Gestalt mußte schnelle Schritte machen, um neben Alex zu bleiben, der es an diesem Abende vergessen zu haben schien, daß er nicht allein war. Immer rascher wurde sein Schritt, der zuletzt wie ein Stürmen war, als würde er gehetzt. Jenes Wort wollte ihn nicht ruhen lassen, das Sascha Zychlinsky eben von ihrer Arbeit gesagt hatte. »Sonst habe ich selbst keine Freude an der Arbeit.« Sie schien nichts von Erfolg zu wissen, sie schien den Ehrgeiz nach der Anerkennung der Masse nicht zu kennen, alles schien ihr gleichgültig zu sein neben der eigenen Befriedigung.

Mit ähnlichen Worten hatte Emil Bertrand zu ihm von der Befriedigung des Schaffenden gesprochen.

Warum besaß er dieses gleiche Gefühl nicht? Sein Streben ging immer weiter nach dem Urteil der anderen; und dabei war er immer unbefriedigt, rastlos, gehetzt – und kam doch nicht weiter.

Es war, als folgte er einem falschen Wege. Sollte sein Glaube an jene Krone, den er als ein Märchen empfangen, an das Lorbeerzweiglein Erfolg ein Irrwahn sein? Sein ganzes Hetzen und Jagen nach einem Phantom?

Gab es im Leben keine Märchen, keine verwunschenen Kronen?

Hatte er nur träges Blut, wie Bertrand gesagt hatte?

Alex merkte nicht, wie er dahinhastete; mit lächelndem Kopfschütteln sah ihn Sascha Zychlinsky an, sagte aber nichts, sondern bemühte sich, mit ihm gleichen Schritt zu halten.

So waren Märchenglauben nur Irrlichter wie Erfolg und Ruhm?

Warum hatte er die Freude nicht? Seit fast einem Monat arbeitete er wieder mit Sascha Zychlinsky; und stets hatte er sie froh gesehen, stets bereit zu den Festen mit den anderen.

Warum fand er diese Lebensfreude nicht?

Und was war Lebensfreude? Weinlaub im Haar, lachend leben – im Festrausch schaffen. Diese Worte von Emil Bertrand jagten durch seine Gedanken.

Warum hatte er Sascha Zychlinsky immer nur froh gesehen? Sie hatte eben leichtes Blut! Oder sie besaß eine Kunst zu leben.

Lebensfreude!

Konnte das allein ein Ziel sein? Ein Ziel nur im Rausch, im Lebensgenuß, wie es Bertrand predigte?

Vielleicht?

Erfolg mußte ein Wahn sein! Sein Glaube schwand – und er würde jenen Weg wohl nie zurückmachen, um eine Krone hinzutragen. Märchen lügen – und die Krone gibt es nicht, die reich und wunschlos glücklich macht.

Ein Irrwahn!

War es da nicht besser, Feste zu feiern, jauchzend dem Genuß zu leben?

Vielleicht bedeutete das die Krone, die er suchte?

War es nicht besser – Weinlaub im Haar als das dürre Lorbeerzweiglein?

Wie hatte ihm Bertrand geraten? Und die anderen Worte kamen ihm in den Sinn: Sie hat die Lebensfreude in sich; vielleicht lernst du etwas von ihr.

Da traf ihn ein Wort von der Seite her; Sascha Zychlinsky hatte stehenbleiben müssen, aber lachend rief sie dem Stürmenden zu:

»Mir geht der Atem aus, Graber. Ich kann nicht mehr. Es sind doch keine Polizisten hinter uns, die einen Steckbrief erledigen wollen?«

Da mäßigte auch Alex Graber seine Schritte; dann wartete er. Als er dabei das Lachen in ihrem Gesicht sah, erklärte er:

»Entschuldige, Sascha, ich dachte nicht an dich.«

»Wonach hattest du denn solche Eile? Du ranntest wie ein hungriges Pferd zur Krippe. Bist du wieder hinter großen Zielen her, hinter Hirngespinsten?«

»Warum ist alles anders geworden? Wir wissen doch, wie gut unsere Bilder sind. Warum sehen das die anderen nicht?«

»Also immer noch der Gleiche, Graber? Du jagst dem Erfolg nach. Mich wundert, daß er dir nicht treuer ist. Deine Bilder sind zum Kaufen.«

»Zum Kaufen! Wie das klingt! Sind sie schlecht?«

»Nein, im Gegenteil, gut. Sonst würde ich nicht mit dir gemeinsam zur Arbeit ausziehen. Du erfaßt ja von allem das Beste. Die anderen« – und dabei zog sie verächtlich die Schultern hoch, »sind Theoretiker, die mit Worten und Phrasen Kunst machen. Wie wenige sind es doch, die mit Werken ihre Kunst beweisen. Mit Worten, mit hochtrabenden Redensarten läßt sich leicht etwas behaupten, aber gerade die Geschwätzigsten beweisen das Wenigste. Du aber bist nur Arbeit, zu sehr vielleicht, zu deinem Unheil.«

Langsam schritten sie jetzt nebeneinander weiter.

Alex hörte jetzt aus ihren Reden so manches, was ihm Bertrand schon gesagt hatte. Wie lauernd fragte er daher:

»Was fehlt mir denn, Sascha? Hast du das auch schon entdeckt?«

»Hm! Ich meine ein Schuß Leichtsinn. Mehr Lebensgleichgültigkeit. Mehr Hingabe an das Schöne, an das Leben, wie es ist.«

»Ich habe das alles schon hören müssen. Von Bertrand! Lebensfreude fehle mir, so behauptet er.«

»Ja, das ist das rechte Wort, Lebensfreude!«

»Was ist Lebensfreude? Nur dieses Festefeiern? Ein Taumel im Genuß, ein Augenzudrücken gegen das, was unbequem und häßlich ist?«

Wieder klangen die Worte bitter von den Lippen Alex'; er, dessen Kindheit nur ein Kämpfen war, der Not und Elend gelitten hatte, der nur in härtester Arbeit und mit rücksichtslosem Streben sein Ziel als Künstler erreicht hatte, dem aus seiner Kindheit nichts geblieben war als das Träumen in Märchen, als der Glaube an ein solches, konnte nicht anders antworten, da doch sein letztes Märchen, sein Glaube an die Krone, die er gewinnen wollte, in nichts zerfallen war. Er hatte ja nie ein sorgloses Lachen gekannt, nie ein Selbstvergessen. Nur jener Märchenglaube hatte sein Leben begleitet. Und der Glaube war an den Enttäuschungen dieser Tage zusammengebrochen.

»Du bist verbittert, Graber! Nein, Lebensfreude ist der Frohsinn über jede Minute, die du atmest, in der dir die Sonne scheint, über alles Schöne, das du als Künstler doch mit allen Sinnen fühlen mußt, Lebensfreude ist die Gemeinsamkeit mit anderen, oder mit einer anderen, also Liebe. Liebe ist Lebensfreude, Liebe, die alles schön sieht; mehr weiß ich nicht. Lebensfreude muß man selbst fühlen, muß man in sich tragen. Anders erklären kann ich das Wort nicht«

Mit solcher Begeisterung hatte Sascha Zychlinsky geantwortet, daß ihr Gesicht glühte, daß ihre Wangen brannten und in den schwarzen Augen ein Leuchten flackerte.

Und als Alex sie nun anschaute, da war es ihm mit einem Male, als hätte er sie nie so gesehen; die Zierlichkeit der Gestalt, die an die feinen, graziösen Figürchen aus Kaendlers bester Zeit in der heimatlichen Porzellanmanufaktur erinnerte, das schmale Gesicht mit dem schimmernden Bronzeton im Abendlicht, das blauschwarze Haar.

In diesem Augenblick war sie nicht nur schön, sondern vor allem begehrenswert.

Und zum erstenmal stieg in Alex ein anderes Gefühl auf; zum erstenmal sah er nicht nur den Kameraden, zum erstenmal regte sich in ihm ein Begehren nach Besitz.

Lebensfreude!

Sollte das die Lösung des Rätsels Leben sein?

War er bisher nicht ein Tor gewesen, daß er an ein Kindheitsmärchen, an einen Wahn geglaubt hatte?

Da versank mit einem Male die Gestalt mit den hoffendem großen Träumeraugen, die auf ihn wartete, der er die Krone bringen sollte, die Krone aus dem Märchen, da vergaß er, was weit zurücklag –Hatten sie nicht alle recht, Bertrand, der heißblütige Lesier, Sascha selbst, Gaston Fragineur, und alle, mit denen er zusammenlebte, und deren sorgloser Lebensgenuß ihm bisher wie etwas Fremdes erschienen war? Hatten sie nicht recht?

Warum er nicht?

Und als er nun die zierliche Gestalt Saschas neben sich sah, da war es ihm, als wäre die Lebensfreude schon lange neben ihm hergeschritten, ohne daß er sie gekannt hätte.

War er blind gewesen?

So fand er nur die Antwort:

»Mancher möchte diese Lebensfreude finden, aber er besitzt schließlich nur den Mut nicht.«

»Den Mut? Gehört dazu Mut? Immer wird ein Tag sein und eine Stunde kommen, in der das Leben uns das Schönste zeigt, immer gibt es Augenblicke, die lockend reife Früchte anbieten, aber dann heißt es zupacken, den Augenblick fassen, ehe es zu spät werden könnte. Die Stunde nützen, das gehört auch zur Lebensfreude. Doch da haben wir ja nun endlich den Bahnhof erreicht.«

Den Augenblick fassen, die Stunde nützen!

So hatte sie gesagt.

Und als sie dann im Eisenbahnwagen saßen, mitten unter gleichgültigen Menschen, als sie deshalb schwiegen und nur irgendwelchen Gedanken nachhingen, da sann Alex über diese letzten Worte nach.

Vielleicht war Lebensfreude die Lösung aller Rätsel!

Lockte diese nicht in den Augen Saschas? Hatte er darin an diesem Tage nicht etwas gefunden, was er bisher nie entdeckt hatte? Lebensfreude –

Den Augenblick fassen, in dem sich lockend reife Früchte anbieten –

Nur auf sie schaute er, auf Sascha! War er nicht ein Narr, daß er einem Wahn, einem Traum nachjagte?

Vergessen war die Heimat, in der eine andere am Wege wartete, auf dem er kommen sollte.

Lebensfreude war ihm jetzt ein anderes Ziel.

*

Lotte Rödern konnte an diesem Tage nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit und mit der gleichen Freude auf Doktor Anwander hören, der wieder mit seiner weichen Stimme die bilderreichen Erklärungen zu einem Roman von Keller gab, den Lotte kurz vorher gelesen hatte. Sie fühlte sich innerlich unruhig und spürte dabei einen beängstigenden Druck auf ihrem Herzen; sie konnte das vor ein paar Tagen erlebte Gespräch mit ihrem Vater nicht vergessen. Ihr war es, als müßte nach jeder kurzen Pause die Frage kommen, vor der sie sich fürchtete.

Aber kein Wort fiel.

Doktor Anwander erzählte. Er konnte ja von Büchern sprechen, die er liebte; er selbst hatte ja Dichter werden wollen, und in den verschwiegenen Schubfächern seines Schreibtisches lagen auch manche Gedichte, die er wie ein Geheimnis für sich behielt. Da er als Sproß eines kleinen Beamten studierte, da er also sehr rasch verdienen mußte, so hatte er den Traum nach dichterischem Schaffen bald begraben und sich eine Existenz begründet, die ihn unabhängig machte. Das eine war ihm dabei ja geblieben, daß er schöne und gute Bücher suchen durfte.

Und in dieser Liebe nach Büchern hatte er in der Stadt, in die er als Fremder, als ein Unbekannter gekommen war, so bald in Lotte Rödern ein tiefes Verständnis gefunden. Und je länger er dann mit ihr beisammen war, um so mehr hatte er auch die stille Schönheit an ihr erkannt, und ihre Verträumtheit, die so sehr seinem eigenen Wesen entsprach.

Und darüber war die Liebe gekommen; er liebte sie, aber er behielt diese Liebe wie seine Gedichte, gleich einem Geheimnis, für sich, und er ahnte nicht, daß die Augen Röderns seine Gefühle bald erkannt hatten. Nur Lotte hatte davon nichts gespürt.

Doktor Anwander hatte auch nicht den Mut, von seinen Wünschen und Hoffnungen zu sprechen, denn er kannte ja sein Gebrechen. Wenn er neben Lotte Rödern dahinhumpeln mußte, da kam es ihm stets zum Bewußtsein, daß ihre kräftige Gestalt, ihre gesunde Schönheit nicht den Krüppel, der er eben war, lieben konnte. So oft auch in ihm immer ein neuer Wille und eine stärkere Sehnsucht danach drängte, von seiner Liebe zu sprechen, so oft er für sich auch schon den festen Entschluß gefaßt hatte, im letzten Augenblick, wenn er sie so schlank und gesund vor sich sah, brach sein Wille stets wieder zusammen.

Er ahnte nicht, daß die braunen Träumeraugen von Lotte Rödern in Gedanken nur nach Alex Ausschau hielten, der in der Welt der Abenteuer und Kämpfe die verwunschene Krone des Glückes suchte, um sie ihr zu bringen. Mit je größerer Macht des Wortes Doktor Anwander von der Liebe der Helden aus den Büchern sprach, um so mehr verlor er sie, um so stärker wurde ihr Glaube, daß sie Alex Grabers Heimkehr erwarten müsse.

Die beiden saßen auf der Terrasse des Waldschlößchens und schauten von hier aus über die Baumkronen des Stadtparkes; das Laub zeigte bereits in kräftigen Tönen die bunte Herbstfärbung. Vom Hang her leuchtete Karmin, Braun, heller Ocker, fahles Orangegelb; wie ein buntgestickter Teppich war das Laubgewirr der sich über den Hügel hinbreitenden Baumkronen.

Lotte Rödern vermochte ihm diesmal nicht zu folgen. Stets drängten sich ihre Befürchtungen dazwischen.

Wenn er nun von sich selbst zu sprechen begann, wenn er von seiner eigenen Liebe erzählte, wenn er sie fragte, wenn er Antwort forderte? Immer erschrak sie wieder vor solcher Frage.

Der blonde Bart, dessen Spitzen ein rötliches Licht hatten, die sinnenden Augen, die schmalen, feinen Hände, die stille Vornehmheit seines Wesens machten Doktor Anwander zu einer begehrenswerten Erscheinung. Lotte Rödern sah dies auch. Und sein Gebrechen hatte sie oft selbst schon vergessen. Wenn er sprach, dann dachte man nicht an seinen kurzen Fuß.

Je mehr Lotte Rödern grübelte, um so mehr erkannte sie, wie Doktor Anwander für sie ein Freund geworden war. Etwas in ihr wehrte sich dagegen, ihn zu verlieren. Sie wollte ihn nicht vermissen, sie wollte ihn behalten und seine Stimme weiter hören, sie erschrak auch bei dem Gedanken an sein Gebrechen nicht, sie hätte ihn wohl auch lieben können, wenn der andere nicht gewesen wäre. Zu tief lebte in ihr der Glaube an Alex, auf den sie warten mußte, der ihr vertraute, und der für sie draußen im fremden Leben die Krone holen wollte, die Krone eines Kindertraumes. Und die Schilderung starker, das Leben besiegender Liebe aus so manchen großen Dichterwerken, die Doktor Anwander noch mit seiner eigenen schöpferischen Kraft verherrlichte, weil er dabei an seine eigene Liebe dachte, befestigte in Lotte den Glauben, daß sie warten mußte, daß sie nur dem Tag gehören durfte, der Alex Grabers Heimkehr sein würde.

Wenn dieser Glaube nicht gewesen wäre, dann hätte sie Doktor Anwander geliebt, vielleicht nicht so stark, aber doch mit aller Hingabe ihrer Träumernatur.

So aber gehörte sie nur dem einen draußen, an den sie mit aller Treue glaubte.

Doch was sollte sie Doktor Anwander entgegnen, wenn er fragte?

Die Wahrheit?

Dann aber war er ihr verloren, dann würde sie auch seine Stimme nicht mehr hören, die von so viel Schönem träumen ließ.

Und seine Frage würde kommen! Ihr Vater hatte es gesagt; auch sie selbst fühlte es nun, daß aus ihm eine schüchterne, stille Liebe nach ihr suchte.

Lotte Rödern merkte gar nicht, daß Doktor Anwander bereits seit einiger Zeit schwieg und sie mitten in halbvollendeter Erklärung erstaunt anschaute; erst nach einigen Augenblicken fühlte sie das Schweigen, das sie für das Warten auf eine Frage hielt.

Hatte er die Frage ausgesprochen, vor der sie sich fürchtete, ohne daß sie diese beachtet hatte?

Ein Rot huschte über ihr Gesicht.

»Ich habe wohl nicht recht auf Sie gehört. Verzeihen Sie!«

»Gewiß! Aber was ist es, was Sie so verträumt macht, daß Sie mitten in Worten wie in ferner Welt sein können?«

»Ich weiß es nicht, ich kann es auch nicht sagen.«

»Manchmal scheint es, als leuchteten bei diesem Träumen Ihre Augen heller auf, und manchmal ist es, als ängstigte sich in den dunklen Sternen eine Sorge. Wie schön muß die Gewißheit sein, sich als Inhalt dieser Träume zu wissen, als Ursache der Freude und der Sorge.«

Da erschrak Lotte: Jetzt – nun fand er das Wort.

Rasch suchte sie über diese Wendung des Gesprächs hinwegzukommen:

»Es ist nichts, nur Zerstreutheit. Daß ich an das Buch denke, das ich lese, mehr dürfen Sie nicht annehmen.«

Lächelnd schüttelte Doktor Anwander den Kopf:

»Nein, das soll ich nur glauben! Und wenn es auch so sein würde; könnte Ihre grübelnden Gedanken nicht einmal statt der leblosen, schattengleichen Gestalten aus Büchern ein anderer ausfüllen, das diesem gilt, was nun an Bewunderung, an Mitleid, an einer Träne vielleicht, an rascherem Herzschlag einem Romanhelden gehört? Dieser eine sein! Das ist ein Gedanke, der berauscht, der glücklich machen muß, Fräulein Lotte –«

Dabei suchte seine Hand nach der ihren wie in einem Besitzergreifen; aber unter der Berührung zuckte Lotte Rödern zusammen, und hastig zog sie ihre Hand zurück; ihre Stimme wurde heiser und dabei leise:

»Herr Doktor – nicht – nicht – Sie sollen so nicht sprechen.«

Er schien das Ängstliche, das Erschreckte in den Worten zu fühlen, denn sofort nahm auch Doktor Arnold Anwander seine Hand vom Tisch und strich sich damit an seinem Blondbart entlang.

»Ich verstehe Sie! Nein – es ist auch Torheit, solche Hoffnungen gehegt zu haben. Wie hatte das auch möglich sein sollen? Verstanden haben Sie mich, ja –«

»Nicht weiter!«

Es klang wie eine Bitte.

»Ja, ja! Ein Krüppel –«

»Stillt Sie dürfen mir nicht mit einer Kränkung wehetun, Herr Doktor. Ihr Gebrechen sah ich nie – nein – das – das allein würde nie die Ursache sein können. Sie nicht zu hören, auch nicht die Ursache, Ihnen das nicht zu erfüllen, was Sie hoffen. Nie – das – niemals –«

»Fräulein Lotte –«

»Aber ich kann Ihnen nicht geben, was ich keinem mehr geben kann.«

Und dabei wandte sich ihr Gesicht zur Seite, und ihre Augen starrten nun in die Ferne hinaus, wo sich die Höhenzüge verloren.

»Zu spät also! Verzeihen Sie mir, daß ich Sie mißverstehen wollte; aber dann ist es besser, wenn – wenn ich Ihnen nun aus dem Wege gehe –«

»Ich will Sie nicht verjagen; aber nur Liebe kann ich nicht geben, nicht Liebe –«

Dann war es still; zwischen beiden wurde nichts mehr gesprochen. Es war, als fühlte jeder eine Scheu vor dem anderen; auch mit den Blicken wichen sie sich aus.

Und rascher, als es in der Absicht der beiden gelegen hatte, verließen sie die Terrasse des Waldschlößchens; aber auch jetzt fanden sie keine Worte.

Stumm gingen sie nebeneinander.

Erst als ihre Wege sich trennten, als sie voneinander gehen mußten, da fanden sich die Blicke wieder.

Doktor Anwander bot ihr die Hand; und als sie diese nahm, als sie in seine graubraunem treublickenden Augen schaute, in denen ein Blick wie eine Bitte war, da sagte Lotte Rödern mit stockender Stimme:

»Einen Freund möchte ich gewonnen haben, aber nicht verloren. Mehr – mehr kann ich nicht geben!«

Da nickte er:

»Ja! Den behalten Sie! Menschen wie mich hat das Schicksal bescheiden gemacht. Ein Freund, das will ich Ihnen bleiben.«

Und so gingen sie voneinander.

Zu Hause aber suchte Lotte Rödern sofort ihr Zimmer auf; dort sank sie müde, wie gebrochen auf einen Stuhl, schlug beide Hände vor ihr Gesicht und flüsterte schluchzend: »Mitleid habe ich mit ihm – gut ist er – gut und treu –– und lieben müßte ich ihn – wenn – wenn Alex nicht alles gehörte – Mein Gott, laß ihn bald kommen – laß ihn bald sich heimfinden, daß ich nicht irre werde an meinem Glauben – an meiner Liebe –.«

*

In dem Garten des alten Hauses in der Rue Leporelle, unter den Bäumen, die hier ungepflegt nach Eigenwillen dem Licht zustrebten, in den hohen Gebüschen, in denen sich die Hühner der kleinen Künstlerkolonie oft versteckten, um dort die Eier zu verbergen, die an jedem Tag ein anderes Mitglied dieser lebensfrohen Gesellschaft suchen mußte, waren überall bunte Papierlaternen verteilt; da waren manche darunter, die von einem lustigen Gesellen der Kolonie mit einfachen Mitteln selbst angefertigt worden waren, die auf dem durchsichtigen, ölgetränkten Papier grellbunte Drachen und Masken, verzerrte Gestalten, dickbauchige Götzenbilder und wunderliche Schnörkel und Zeichen darstellten. China – dies groteske, sagenhafte Land mit der Eigenart seiner Kunst – sollte in den verschiedenartigen Papierlaternen vorgetäuscht werden.

Die Schatten der Nacht hatten sich längst niedergesenkt. Die Kerzen und Lämpchen in den Laternen verschiedener Größe und Form verbreiteten ein Halbdämmerlicht, das die Stimmung des Herbstfestes noch erhöhte. Auf dem großen Wiesenplan vor dem Hause, auf dem manchmal Wäsche gebleicht wurde, ein andermal die Staffeleien von Schaffenden standen, der wiederum als Tanzboden Verwendung fand, lagerten in Gruppen die Angehörigen der Kolonie und die geladenen Gäste.

Die Stimmung war von ausgelassener Fröhlichkeit.

Das Kolonieschwein war so fett gefüttert worden, daß ein köstliches Festmahl möglich war; die Reste hatte es abends noch gegeben, dazu vorzüglichen Käse, eine kleine pikante Mehlspeise und reichlich Obst.

An dem mächtigen Fasse schweren Bordeaux, den ein junger Bildhauer gestiftet hatte, der mit einem großen Auftrage für ein Mausoleum im Pere Lachaise plötzlich eine Berühmtheit geworden war, hockte wie ein getreuer Wächter die schmächtige,

knochige Gestalt von Emil Bertrand als Kellermeister; seine beweglichen Augen funkelten und sprühten. In jede Pause fielen von seinen spottlustigen Lippen bissige Epigramme, ein paar höhnende Aphorismen und dann und wann ein kurzes Scherzlied, wobei er sich selbst auf einer Gitarre begleitete.

In bunten, phantastischen Kostümen, selbst arrangiert aus alten Teppichen, aus seidenen Tüchern und anderen Stoffen, die sonst den Atelierschmuck bildeten, lagerten alle im Grase. Immer wieder reichten Arme ihre Gläser dem Kellermeister Bertrand hin, der dabei aber die Sorge für seine eigene Kehle nicht vernachlässigte.

Im Chor wurde eben ein ausgelassenes tolles Trinklied gesungen, ein wildes Lied von Richard Dehmel, zu dem der Musiker der Kolonie, Manfred Halpach, eine ebenso tolle, jauchzende Melodie geschrieben hatte. Die letzte Strophe verhallte in der stillen Nacht, die sich tiefblau und wolkenlos über den Zechenden wölbte, die mit tausenden, funkelnden Sternen das Fest mitfeierte.

»Singt mir das Lied vom Tode und vom Leben,
Dagloni, Scherben, klirrlala!
Klingklang! neues Glas! Trinkt! Wir schweben
Über dem Leben, an dem wir kleben!
Hoch!«

Da sprang auch schon Marcel Lesier empor, und während seine langen Arme wie Windmühlenflügel arbeiteten und gestikulierten, sprach er flammend und zündend von Lebenslust.

Und wieder später sang Alef Eylendahl, ein Schwede, ein trauriges, sentimentales Lied aus den Fjorden seiner Heimat, ein Lied mit so schwermütiger Melodie, daß die Augen zu glänzen und zu träumen anfingen; er hatte eine so einschmeichelnde Baritonstimme, daß sich ihrem Zauber niemand entziehen konnte. Da war es dann still; und in dem Schweigen hörte man jetzt das Rauschen des Windes durch die schon welkenden Blätter, das dumpfe Brausen und Branden der Stadt, dazwischen ein helles Klingen von einem Glas.

Da gellte schrill die Gitarre in Emil Bertrands Hand; und die träumerische Stille zerriß ein Schelmenlied von solcher Übermütigkeit, daß lautes Lachen Schreien und Klatschen folgte.

Der Weinlaubkranz, den alle Teilnehmer dieses Herbstfestes trugen, war ihm tief in die Stirne gerutscht; er lachte und schüttelte nur den Kopf.

Immer wußte einer Neues.

Die Nacht war ja so schön und noch so lang; manchmal sonderte sich auch einer, oder ein Paar von der lagernden Gruppe ab, um durch den alten, verwilderten Park zu schlendern um von einem versteckten Winkel aus der bunten vom Licht der Papierlaternen beschienenen, im Grase lagernden, singenden und zechenden Gruppe zuzuschauen

Die Laternen schwankten leise im Nachtwind, daß sie wie große, riesenhafte Irrlichter schaukelten; bald beleuchtete ein Schein den goldflimmernden Sarong, den eine weibliche Gestalt um die Schultern gelegt hatte. Dann tanzte ein Licht über ein tiefes, gedämpftes Rotbraun; aber alle diese Farben waren wie durch einen Schleier von Blau zu sehen. Blaue Tinten, blaue Schatten, hinter blau verhängte Lichter. Das Grün war von den Schatten wie aufgehoben worden.

Wie Silhouetten wirkten die Gestalten, bald sah man eine sich erheben, die mit Gebärden zu sprechen schien; andere auf dem Boden bewegten sich, dann sah man zwei Schatten einen phantastischen, selbstersonnenen Tanz improvisieren, zu dem Manfred Halpach eine eigenartige Melodie auf seiner Violine spielte.

Ein Bild von märchenhafter Verträumtheit war es.

Aus dem dunklen Winkeln des Parkes, wo eine halbvermoderte Sandsteinbank versteckt in einer Rotdornhecke stand, schauten Sascha Zychlinsky und Alex Graber auf die beleuchtete Gruppe.

Sascha, der das Jauchzen des Festes etwas zu laut geworden war, hatte sich – wie sie selbst glaubte – unbeachtet entfernt, um alles gedämpft und aus der Ferne mit den Augen der Künstlerin zu sehen.

Diese zuckenden Lichter, diese ungewissen Farben, diese gespensterhaften Gestalten zwischen den scharfumrandeten Formen der Baumzweige, für Saschas Augen war dies ein Bildmotiv.

Alex, der ihr Fortgehen bemerkt hatte, war ihr gefolgt.

Nun ruhten sie auf der Sandsteinbank. Zuerst waren nur ein paar gleichgültige Worte über den nun hingleitenden Tag, über das Fest und seine Gäste gefallen. Nun schwiegen beide.

Auch sie trugen wie alle den Weinlaubkranz im Haar, wie es dies bacchische Fest verlangte.

Wie ein Summen klang die Gitarre zu ihnen her; gedämpft erreichte sie das Lied, das Bertrand wiederum sang:

»Und als das Blatt zerblasen war,
Da gab ich meinen Mund ihm dar
Und küßt an ihm mich satt.
Und viel mehr Dinge tat noch kund
Der rote Mund am roten Mund
Selbst als das Rosenblatt.«

Eine schwüle Luft drückte in die Hecke. Oder war es das heiße Blut, das der Wein, die Reden und die Lieder in Alex Graber in Wallung gebracht hatten?

Dies war das Herbstfest!

Er spürte den Weinlaubkranz im Haar. Ein bacchisches Fest der Lebenslust.

Jetzt schlugen die Wellen der Lebensfreude wie in einem Rausch über ihm zusammen; er spürte die zierliche Gestalt, er glaubte zu fühlen, wie ihre Wangen ebenso heiß wie die seinen brennen mußten.

Und in ihr klang es nach: der rote Mund am roten Mund.

Da fragte er mit rauher Stimme:

»Ist das nun Lebensfreude? Ist es das?«

»Ja, das ist es.«

»Dann spüre ich auch den Zauber, dann begreife ich, daß ich bisher ein Tor war –.«

Und das Wort fiel ihm wiederum ein, das Sascha selbst gesagt hatte: »es gibt Augenblicke, die lockend reife Früchte anbieten«, das war ein solcher Augenblick.

Wollte er noch länger ein Narr sein, der einem Wahn, einem Irrlicht nachjagte und dabei nicht sehen konnte, was an Schönheit im Leben war?

Geheilt wollte er sein!

Seine Krone war nun der Weinlaubkranz, jauchzende Lebensluft. überschäumender Lebensgenuß. –

Da sich ihm jetzt in diesem Augenblicke das Gesicht von Sascha Zychlinsky zuwandte, dieses schmale Gesicht mit den schwarzen brennenden Augen, mit den roten, vollen Lippen, da die Schwüle der trunkenen Nacht in seinem Blut war, da ihr Atem ihn streifte wie eine Glut, nun riß er sie an sich.

»Sascha – Sascha – nun habe ich es gelernt – zupacken – du – Sascha – deine Lippen – laß mich trunken werden – laß mich den Rausch dieser Wonnen genießen – du –«

Der rote Mund am roten Mund.

So klang es von fern.

Und sein Mund spürte die Lippen die nicht wehrten, sondern in gleicher Leidenschaft küßten.

*

Grau dämmerte der neue Tag; Alex betrat sein Zimmer, das im obersten Stockwerk lag, und von dessen Fenster aus das Dächergewirr hinab an den Buttes Montmartres zu überschauen war.

Seine Augen leuchteten; seine Gestalt streckte sich.

Er fühlte keine Müdigkeit, kein Bedürfnis zu schlafen. Er kam sich selbst stärker, froher vor, er spürte die Lust am Leben.

Der Rausch lag noch in all seinen Gliedern.

Jetzt nicht schlafen, nach solcher Nacht nicht!

Eher noch würde er arbeiten können. Die Glut brannte noch in seinen Adern, die Küsse noch auf seinen Lippen, sein Körper glaubte noch den ihren zu spüren,

Das war des Lebensrätsels Lösung: Lebensfreude, Genuß, Rausch in selbstvergessener Hingabe.

Oh, er wollte mit der Radiernadel auf der Kupferplatte diese Nacht festhalten – ihm war es, als müßte er in fliegender Hast alles auf die Platte bannen können.

Sollte er es versuchen?

Ja – ja – aber nicht schlafen!

Da griff er nach seinem Arbeitskittel, den er anziehen wollte; dabei spürte er in der einen Tasche ein Knistern von Papier. Mechanisch griff er in die Tasche.

Ein Brief, noch uneröffnet! Er mußte ihn schon mehrere Tage in der Tasche haben.

Die Schrift kannte er; von Lotte Rödern.

Er schaute nach dem Poststempel. Zwölf Tage! Vor zwölf Tagen hatte er den Brief bereits erhalten und ungelesen in die Tasche seines Arbeitsrockes gesteckt. Er erinnerte sich daran; er war damals im Atelier und Sascha Zychlinsky plauderte mit ihm.

Und nun hatte er den Brief vergessen.

Der Brief war alt geworden, fremd, lästig; dabei lag etwas hinter ihm, eine Torheit, ein Wahn, ein Irren.

Jetzt sah er andere Ziele.

Der Brief konnte ihm nichts mehr sein. Jetzt nicht, da eben diese Nacht verstrichen war.

Und mechanisch, unberührt schob er den Brief wieder in die Tasche zurück.


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