Björnstjerne Björnson
Absalons Haar
Björnstjerne Björnson

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V.

Am nächsten Tage wurden sie getraut.

Und die Nacht darauf, als sie in ihren stets guten Schlaf gefallen, lag er da, übersatt, aufgerieben, aber bald in tiefem Kummer über sein verlorenes Paradies. Er konnte nicht schlafen; er lag da und sah über eine Wiese, die keinen Frühling hatte und daher auch keine Blumen. Er musterte die Ereignisse des Tages bis zur letzten Umarmung. Das wurde ein Zusammenleben ohne Spiel und Anmut. Sie war von einem anderen Glauben als er, ein harter Realist, ein höhnischer Skeptiker, ja, im tiefsten Grunde ein Cyniker.

Ihre gleichmäßigen Atemzüge, das regelmäßige Gesicht, der schwellende Leib schienen ihm zu antworten: hopsasa, mein Junge, wir wollen uns tausend Jahre amüsieren! Schlaf nun, du bedarfst es, wenn du mit mir ziehen willst! – –

Tags darauf war ihre Ehe das Gespräch der Stadt, des ganzen Landes.

Gerade wie bei seiner Mutter, riefen die Leute: Sie war aller Hoffnung, sie hätte wählen können und die höchste Stellung im Lande erreichen können; – bums, da ging sie unter in der wahnsinnigsten Ehe. Der wahnsinnigsten –? Nein, die des Sohnes ist doch wahnsinniger.

Und nun ging es los!

Die große Menge trägt ein unbewußtes Gesetz in sich, das unter der einen Sensation ihr befiehlt, sie zwingt, einen Mann höher zu erheben, als sie selber wünscht, und ihr unter einer entgegengesetzten Sensation befiehlt, sie zwingt, ihn noch tiefer hinunterzustoßen. Die meisten Menschen sehen auch nicht mit eigenen Augen, und unter ungewöhnlichen Umständen werden ihnen sogar ein paar Vergrößerungsgläser aufgezwungen, oder ein paar Verkleinerungsgläser – was sie sehr spaßhaft macht.

Raphael Kaas ein hübscher Mann –? Ach ja, aber zu groß, zu hell im Gesicht, der Ausdruck nicht gesammelt genug, der ganze Bursche zu unruhig. Reich? Er? Er besitzt nicht die Tapete an der Wand! Die Ersparnisse sind längst aufgebraucht, die Renten reichen nicht aus, sie haben lange vom Kapital gelebt. Und die Cementlager – wer in aller Welt soll sich mit ihm auf ein großes Unternehmen einlassen? Sie reden von seiner Begabung, ja von seinem Genie; aber ist er denn besonders begabt? Ist es nicht mehr das, was er gelernt hat? Daß er der Fabrik die Hälfte der Betriebskosten erspart hatte – war das nicht nur eine Wiederholung von dem, was er früher gethan, und dies natürlich wieder eine Wiederholung von etwas, was er anderwärts gesehen hatte? Ebenso verhielt es sich mit den vielen Fingerzeigen, die er gegeben – Frucht eigener Anschauung; denn, das mußte man einräumen, davon hatte er mehr als die meisten anderen. Aber das Geniale? Ja, er verstand es zu reden; aber darin bestand gewiß die ganze Genialität. Die Aufsätze, die er geschrieben – wie jetzt eben wieder über die Anwendung der Elektrizität beim Backen und Gerben – konnte man die eigentlich Entdeckungen nennen? Warten wir nun ab, worauf er jetzt verfällt, wo er nach Hause gekommen ist und nicht mehr studiert und sieht, was andere gedacht und gethan, oder durch Unterhaltung mit anderen Ideen bekommt.

Raphael Kaas merkte den Umschlag – zuerst bei den Damen; sie waren auf einmal wie weggeblasen . . . bis auf einige wenige, die eine Ehe wie die seine nicht respektierten und ihn nicht aufgeben wollten. Auch die Verwandten zogen sich teilweise zurück. Er repräsentierte nicht »das echte Raonsche.« An Temperament und Gemüt vielleicht; aber es war gerade sein Fehler, daß er im übrigen Flickwerk war.

Der Umschlag war stark. Er merkte es an allem und allen. Aber es war Manns genug in ihm und auch Trotz genug, um sich dadurch zu strammer Arbeit anreizen zu lassen, und in ihr war vielleicht noch mehr von der Art. Er hatte das Hochgefühl, seine Pflicht gethan zu haben, so lange diese erste Zeit der Spannung bestand, die ihm Kraft gab.

Am Tage seiner Hochzeit – vom frühen Morgen bis zur Trauung – schrieb er an seine Mutter; schrieb einen merkwürdigen, feierlichen Brief vor dem Angesicht des Allwissenden, eines geängstigten Herzens Notschrei in großer Gefahr. Es lag nun bei ihr, ob sie sie zu sich nehmen und das Leben sich gestalten lassen wollte, wie es jetzt allein möglich war; Angelika als Geschäftsführer, Haushälter, Chef – er seinen Studien und Versuchen geweiht, sie beider Führer und zärtliche Mutter.

Er meinte, ihre Zukunft beruhe auf diesem Briefe und der Antwort, und so schrieb er. Niemals hatte er sich selber gezeichnet wie in diesem Briefe; niemals hatte er so mit sich selber abgerechnet. Die Summe der Erlebnisse dieser Tage und die in durchwachten Nächten erlangte Reife – hier war sie! Ehrlicher konnte er sich nicht geben.

Es quälte ihn, daß er nicht sofort Antwort erhielt, trotzdem er verstand, welchen Schlag ihr der Brief versetzen mußte. Er wußte, daß er anfangs alle ihre Träume vernichten mußte, wie die seinen vernichtet waren. Aber er vertraute auf ihre zähe Kraft der Wiedererhebung – er kannte keine größere – und auf die langen Wurzeln aller ihrer Unternehmungen; daß sie auch hier aus der tiefsten Tiefe ihres Zusammenlebens Kraft ziehen und danach ihren Beschluß fassen würde.

Folglich gab er ihr Zeit – trotz Angelikas Unruhe, die kaum zu meistern war; sie fing sogar an zu höhnen. Aber über seiner Erwartung lag etwas Heiliges; die Versuche prallten ab.

Als er auch am dritten Tage keine Antwort erhielt, telegraphierte er. Nur die Worte: »Mutter, gieb mir Antwort!« Der Telegraph hat niemals Worte weitergetragen, die schwerer waren von zurückgehaltenen Thränen. Er konnte nicht nach Hause gehen; er blieb außerhalb der Stadt und bis zum Abend allein; da mußte die Antwort wohl da sein. Sie war da:

»Mein lieber Sohn, du bist immer willkommen, und am meisten, wenn du unglücklich bist.«

Das Wort »du« war unterstrichen.

Er wurde kreideweiß, ließ das Telegramm fallen und ging langsam in sein Zimmer. Dort ließ ihn Angelika eine Weile in Frieden, kam dann aber herein und brannte die Lampen an. Er sah, daß sie in großer Erregung war und daß sie ab und zu auf ihn einen schnellen Blick warf.

»Weißt du was, Raphael, du solltest nur gleich zu deiner Mutter reisen. Das ist doch zu arg, wenn unsere Zukunft – und ihre auch! – durch Klatsch und dergleichen ruiniert werden soll.«

Er war zu unglücklich, um beleidigt werden zu können. Sie hat ja vor niemand und vor nichts Respekt, dachte er, weshalb sollte er da zürnen, daß sie vor seiner Mutter und seinem Verhältnis zu ihr keinen hatte?

Aber wie roh erschien ihm Angelika, wie sie sich über eine widerspenstige Lampe beugte und ihre Ungeduld losbrechen ließ! Ihr Mund konnte allzuleicht einen rohen Zug bekommen, ihr kleiner Kopf konnte zuweilen aus den starken Schultern hervorstechen nach Art einer Schlange, und ihre dicken Handgelenke . . .

»Ach ja.« sagte sie, »schließlich sind wohl die ekligen Helleberge gar keine Sehnsucht wert.«

Jetzt ist sie mit sich selber mißvergnügt, dachte er; nun muß sie weiter gehen! Nun kann sie sich nicht halten, bis Zusammenstoß und Entladung stattgefunden; aber die Freude soll sie nicht haben.

»Nach allem, was die Leute erzählen und was dort vor sich gegangen ist . . .«

Es zündete nicht.

Wie bin ich nur auf den Gedanken gekommen, daß sie mit der Mutter umgehen könnte?

Er stand auf und fing an auf und ab zu gehen. Hat die Mutter das gefühlt? Sie waren doch so gute Freunde, Damals ahnte ich nichts. Woher kommt es, daß die Instinkte der Mutter immer feiner sind? Hab' ich meine verdorben?

Als Angelika kurze Zelt darauf wieder zu ihm kam, sah er tief unglücklich aus; sie wurde davon ergriffen. Und da war sie so gut, so natürlich und aufmerksam um ihn. Und später ging von ihrem kecken Lebensmute so viel Licht aus, daß er ordentlich erfrischt wurde und dachte: hätte die Mutter es doch über sich gewonnen, den Versuch zu machen, es wäre vielleicht gegangen! Es liegt so viel Gutes und Tüchtiges in diesem sonderbaren Wesen.

Er ging zu den Kindern; vom ersten Tage an liebte er sie und sie ihn. Sie hatten Not gelitten in der großen Pension und bei einer Mutter, die selten bei ihnen war oder Lust hatte, sich mit ihnen abzugeben, außer wenn ihre Kleidungsstücke geflickt werden sollten, oder Münder gestopft werden wollten, oder Missethäter ihre Prügel bekommen mußten. Raphael hatte in seiner Natur das Ursprüngliche, für das Kindertreuherzigkeit eine Wonne ist, und er fühlte das Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden. So etwas fühlen Kinder sofort. Sie hielten sie auf, ihr waren sie im Wege – und jetzt mehr denn je. Um es gleich zu sagen: ihr war Raphael alles geworden.

Das war der Zauber an ihr, der sich immer wieder neu gebar, was auch geschehen sein mochte. Ihre Zärtlichkeit, ihre Hingebung war grenzenlos. Dann war sie eigen; sie legte sie stets aus in ihrer Person, in ihrer klugen Geschäftigkeit, ihm alles Gute zu verschaffen, was in ihrem Bereiche lag – und noch darüber hinaus. Sie lag in ihrer Aufopferung bei Tag und Nacht, sobald irgend etwas vorlag, in einer Dienstwilligkeit, wie sie nur ein so gesundes und starkes Wesen zu leisten vermag. Aber in Worten gab sie sie nicht; kaum in einem Blick. Das hatte sie nur damals gethan, als es um ihn zu kämpfen galt; – aber damit hatte es jetzt ein Ende.

Hätte sie eine Linie innehalten können, wenn auch nur ein paar Wochen hintereinander, und sich von ihrer niemals versagenden Liebe leiten lassen – dann hätte er aus seiner Ehe das gerettet, was seine Mutter trotz allem aus der ihren gerettet hatte.

Weshalb geschah das nicht? Weil die Eifersucht, die sie bei ihm erweckt und die ihn wieder zu ihr getrieben hatte – weil sie umschlug. Kaum waren sie verheiratet, so wurde sie eifersüchtig.

War es seltsam? Eine ältere Frau – sie mag nun die stärkste, kräftigste Persönlichkeit sein – wenn sie einen jungen Mann, der in Mode ist, gewinnt, ihn so gewinnt, wie Angelika den ihren – sie wird in ewiger Unruhe leben, daß jemand ihr ihn nehmen könnte. Sie hatte ihn ja selber genommen. Wenn wir sagen, daß sie fast auf jeden Menschen eifersüchtig war, der zu ihnen kam, auf Mann und Weib, jung und alt, weiterhin auf alle, mit denen er näher zusammen kam, so ist das eine Übertreibung! aber diese Übertreibung setzt das Verhältnis in grelles Licht; so war es. Sie duldete nicht, daß jemand anderes für ihn da war. Wenn er sich mit einem anderen angelegentlich unterhielt, so mußte sie stören; sie ertrug es nicht, außerhalb zu stehen. Ihr Gesicht wurde steif, ihr rechter Fuß begann aufzutreten, und nützte das nichts, so warf sie verdrießliche oder spitze Worte ein – unbekümmert, wie es war.

Wurde von jemand Gutes gesprochen und fing es an, bei ihm zu zünden, so blies sie darauf. Buchstäblich! Sie that es wirklich, hob dabei die Schultern hoch, warf den Kopf zurück, warf den Fuß. Anfangs glaubte er, sie wisse etwas Unvorteilhaftes von allen denen, auf die sie blies, und er bewunderte ihre Kenntnis von halb Norwegen. Er glaubte überhaupt an ihre Wahrheitsliebe wie an weniges. Er hielt auch sie für unbegrenzt, wie so vieles andere an ihr. Sie sagte es ja meist zynisch geradeheraus und bildete sich durchaus nichts darauf ein. Aber nach und nach merkte er, daß sie nur das sagte, was ihr gerade in der Stimmung, in der sie war, einfiel. Sie hatte vor der Wahrheit nicht mehr Respekt als vor allem anderen.

Als sie eines Tages zu Tisch gingen – er kam spät nach Hause und war hungrig – freute er sich, daß es Austern gab. »Austern!« rief er, »und noch dazu jetzt? Die müssen sehr teuer sein? –« »Ach, ich kaufte sie bei der alten Frau, weißt du, sie drängte sie mir für dich auf; ich bekam sie fast geschenkt.« – »Das ist doch hübsch. Du bist also auch aus gewesen?« – »Ja, und ich habe dich gesehen. Du gingst mit Emma Raon.« Er hörte sofort an dem Tone, daß er das nicht dürfe, sagte aber trotzdem: »Ja, ist sie nicht süß? So frisch und unverdorben. –« – »Die –? Die hatte eine Frühgeburt, bevor sie heiratete.« – »Emma –! Emma Raon?!« – »Ja – von wem weiß ich nicht!« – »Nein, weißt du was, Angelika, das glaube ich nicht,« sagte er feierlich. – »Das kannst du halten, wie du willst; aber ich war ja selbst da und half ihrer Mutter; es war ja in der Pension! Daraus kannst du erkennen, daß ich es weiß.«

Es konnte ihm nicht beifallen, daß ein Mensch so weit gehen könnte, so etwas ins Blaue hinein zu erlügen. Emmas Augen, klar wie das Wasser einer Quelle, auf deren Grund die Steine gezählt werden können – sie sahen ihn aus der Ferne an, rein und unschuldig. Er begriff nicht, daß solche Augen lügen konnten. Er wurde ganz erschrocken, konnte nicht essen und stand auf. Die Welt war ja der reine Betrug, die reinste Unreinlichkeit. Von dem Tage an machte er, sobald ihm Emma und ihre Mutter mit dem weißen Haar begegneten, einen Umweg, um nicht mit ihnen zusammenzutreffen. Er liebte seine Familie innig; ihre Schwachheiten lagen offen vor allen; aber auch ihre Tüchtigkeit und Ehrlichkeit. Diese eine Geschichte nahm ihm sein Vertrauen, schadete seinem Selbstvertrauen, vernichtete vieles in ihm, und dann machte sie ihn ärmer. Wie konnte er da etwas taugen, wenn er sich so immer und immer wieder zum Narren halten ließ?

An der ganzen Geschichte war kein wahres Wort.

Seine Treuherzigkeit war bei ihr ein Kind in Adlerklauen. Aber doch nicht lange.

Denn glücklicherweise war sie auch darin ohne Beharrlichkeit oder Berechnung. Sie erinnerte sich heute nicht, was sie gestern gesagt hatte, denn jeder Tag brauchte sein Teil, und sie log flott darauf los, je nachdem es ihr paßte. Er dagegen hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und seine mathematische Begabung ordnete die Beweise gegen sie zwingend. Ihre Begabung war mehr Schnelligkeit und Geschicklichkeit als etwas anderes; sie war ohne Erziehung, ohne Zusammenhang, und wurde auf allen Punkten von Leidenschaft durchlöchert. Deshalb konnte er immer ihre Verteidigung brechen. Aber so oft das geschah, zeigte es sich ganz deutlich, daß sie wieder aus Eifersucht gesündigt hatte; und das schmeichelte seiner Eitelkeit, das war der Grund, daß er es nicht ernst genug nahm, es nicht weiter verfolgte.

Vielleicht hätte er dann mehr entdeckt. Die Eifersucht war nämlich bloß die Form, die ihre Unruhe annahm; die Unruhe selbst hatte mehrere Gründe.

Sie hatte nämlich eine Vergangenheit und hatte Schulden. Beides hatte sie geleugnet, und sie lebte nun in beständiger Angst, daß ihn jemand aufklären könnte. Denn, war Spürsinn vorhanden, so brauchte man ihn jetzt ihr gegenüber; das merkte sie. Es kam nur darauf an, was er erfuhr, d. h. mit wem er zusammen kam. Die anonymen Briefe ließ sie außer Betracht, da er es that; – aber es gab böse Menschen genug, die Andeutungen hinwerfen konnten.

Sie sah, daß auch Raphael teilweise seinen zahlreichen Freunden von früher her aus dem Wege ging. Sie verstand den Grund nicht, aber es war der, daß auch er fühlte, sie wüßten mehr von ihr, als ihm zu wissen gut that. Sie sah, daß er sinnreiche Vorwände erfand, um sich nicht mit ihr öffentlich zu zeigen; auch das deutete sie falsch; sie verstand überhaupt nicht, daß er ebenso wie sie vor dem bange war, was die Leute sagten. Sie glaubte, er suche andere als sie. Wenn der Umgang keine anderen Folgen hatte, so konnten doch wenigstens Andeutungen fallen. Deshalb die eifrige Jagd auf fast jeden, mit dem er nur sprach; hatten sie sie verdächtigt, sollten sie wieder verdächtigt werden.

Sie hatte Schulden, und diese ließen sich nicht verheimlichen, wenn sie sie nicht vermehrte. Das that sie mit einer Dreistigkeit, die eines besseren Zieles würdig gewesen wäre. Der Haushalt wurde flott geführt; offener und immer ausgezeichneter Tisch; sonst gedieh er nicht zu Hause, sagte sie und dachte es wohl auch. Sie selber mußte eine der elegantesten Damen der Stadt sein, das verlangte ihr täglicher Kampf, um ihn festzuhalten. Selbstverständlich bekam sie alles »für nichts« oder »für einen Spottpreis.« Immer hatte es ihr jemand »fast geschenkt.«

Er wußte selber nicht, wie viel Geld er schaffte; vielleicht gerade weil sie ihm von dem einen zum andern trieb und jagte. Ursprünglich hatte er ins Ausland ziehen wollen; aber mit einer Frau, die die Sprache nicht verstand, und mit einer großen Familie –? Zu Hause – das merkte er bald – hatte er das Zutrauen der Leute verloren, er durfte nichts Größeres beginnen; oder er wollte warten, bis er den entscheidenden Entschluß faßte. In der Zwischenzeit that er, was ihm gerade unter die Hand kam. Und es war oft Arbeit untergeordneter Art. Sowohl aus Langerweile und um nur etwas zu thun, gab er das Mittelmäßige von sich – und ließ es gehen, wie es wollte.

Immer ging er davon aus, daß es »vorläufig« wäre. Sein wissenschaftlicher Drang, seine Erfindergabe – mit so schwerem Gewicht auf dem Rücken kamen sie nicht weit. Aber es sollte noch werden! Nach Art der Jugend bemaß er Zeit und Kräfte verschwenderisch; er merkte deshalb lange selber nicht, daß die große Familie und das große Haus ihn immer tiefer und tiefer drückten.

Hätte er nur Ruhe bekommen, dachte er, so wollte er alles hervor befördern und noch mehr. Er fühlte solche Kräfte.

Aber gerade Ruhe bekam er nie. Jetzt kommen wir nämlich zum Schlimmsten, oder eigentlich zur Summe des vorhergehenden. Die ewige Unruhe, in der sie war, zeugte ewigen Kampf. Teils besaß sie keine Selbstbeherrschung. Eine Laune, ein Verdacht, eine Spannung mußte sich über irgend jemand entladen, sie ergriff die geringste Gelegenheit. Teils und besonders jagte sie diese eine, das ganze Leben beherrschende Angst, sie könne ihn verlieren – die jagte sie von dem weg, womit sie sich hätte abgeben sollen, um Ruhe zu bekommen. Sie ließ das Hauswesen im Stiche, ließ die Kinder verkommen; ihre freien Kräfte gingen immer auf ihn los; ihre Eifersucht, ihre Furcht, ihre Schulden fraßen an seinem fruchtbaren Geiste, verzehrten seine gute Laune, vernichteten seine Schönheitsfreude, seinen Schöpferdrang.

Er hatte besonders eine große Idee, mit der er es oft aufgenommen hatte, ohne sie zu bewältigen. Der Kampf hatte ernstlich begonnen eines Tages auf der Höhe von Helleberge, er hatte bis in den Sommer hinein gedauert. Merkwürdigerweise – als er eines Tages über einer langweiligen Arbeit saß und Helleberge und Helene im Frühlingssonnenschein vor ihm standen . . . da trat ihm die Idee wieder entgegen, hoch, lächelnd – und er wieder daran! Da bat er zu Hause: »Laßt mir nur einen Monat Ruhe; hier ist Geld; ich bin mit etwas beschäftigt; ich will und muß Ruhe haben! In einem Monat werde ich so weit kommen, daß ich vielleicht erkenne, ob es der Mühe wert ist, damit fortzufahren. Vielleicht kann uns diese eine Idee alle miteinander bergen!«

Das letzte verstand sie. Und jetzt bekam er Ruhe. Er hatte sein Comptoir in der inneren Stadt; nahm aber oft abends seine Papiere mit nach Hause, denn es konnte vorkommen, daß er, wie er gerade saß oder lag, wieder mitten drin war. Sie pflegte ihn aufmerksam, ja, sie setzte sich sogar auf die Treppe, wenn er mittags schlief, um Lärm zu verhindern. Das dauerte ganze vierzehn – 14 – Tage. Da ging er einmal aus. und sie durchstöberte seine Papiere und fand unter den Zeichnungen, Berechnungen und Briefen wirklich einmal etwas. Es war folgendes, von seiner Hand geschrieben:

»Mehr von einer Mutter in ihr als von einer Liebhaberin, mehr von der Fürsorge der Liebe als von ihrem Genuß. Reich in ihrem Gefühl wollte sie es nicht mit dir an einem Tage vergeuden, sondern es mütterlich auf dein Leben verteilen. An Stelle des Sturzbaches – ein fahrbarer Fluß. Ihre Liebe war Hingebung, niemals Aufgehen darin. Du warst einer; und sie war eine, zusammen wäret ihr mächtiger geworden, als zwei Liebende es zu sein pflegen.«

Es stand noch mehr da; aber Angelika wurde so wild, daß sie nicht weiter lesen konnte. Hatte er den Unsinn selber erdacht oder bloß abgeschrieben?

Es war keine Verbesserung darin; es war also das wahrscheinlichste, daß er es abgeschrieben hatte. Jedenfalls zeigte es, wo seine Gedanken waren.

Raphael kam still nach Hause, ging geradeswegs in sein Zimmer und zündete Licht an, noch bevor er den Überrock abgelegt hatte. Und stehend schrieb er ein paar Formeln nieder, schlug in einem Buche nach, setzte sich schräg auf den Stuhl und machte hastig eine Berechnung.

Da kam sie, beugte sich zu seinem Gesicht herunter und sagte gedämpft: »Du bist mir ein netter Bursche? Jetzt weiß ich. womit du beschäftigt bist. Sieh' da, da sind deine heimlichen Gedanken – bei dem Schwein!« –

»Schwein!« fuhr er auf. Der Ärger darüber, daß sie in seinen Papieren gestöbert hatte, daß sie gerade das gefunden, und jetzt in ihrem rohen Munde das Schimpfwort gegen das feinste Wesen, das er kannte, und vor allem das ganz Unerwartete an dem Überfall ließen ihn geradezu die Besinnung verlieren: »Was wagst du –! Wen meinst du –?« – »Ach, thu doch nicht so! Meinst du etwa, ich verstehe nicht, daß das auf die geht, die sich um das Gut bekümmerte, um dabei dich einzufangen?«

Sie sah, wie das traf. Dann ging sie weiter. »Sie, der Tugendspiegel, die mit einem alten Manne sich einließ, als sie noch Kind war.«

In demselben Augenblick wurde sie an der Kehle gepackt und rücklings aufs Sopha geworfen, ohne daß die Hand losließ. Sie bekam keine Luft, sie sah sein Gesicht über dem ihren, es hatte den Ausdruck wahnsinniger Raserei. Eine Stärke, eine Wildheit, von der sie keine Ahnung hatte, die sie anstarrte voll Wollust, sie erwürgen zu können; nach wildem Kampfe sanken ihre Arme matt nieder, mit ihnen ihr Wille, nur die Augen blieben halb offen vor Entsetzen und Neugier – wagte ers? Ja, er wagte es! Es wurde Ihr schwarz vor den Augen, die Glieder begannen zu zittern, zu zittern . . .

»Du hast meine Äpfel genommen!« klang eine Kinderstimme im Nebenzimmer. eine schwache. lispelnde. Aus dem unschuldigsten Frieden, den die Erde kennt, klang es herein. Und das rettete sie.

Er eilte wieder hinaus. Und als ihn das verließ, was gleichsam hinterrücks alle Macht von ihm genommen und ihn gebraucht hatte, wie ein Reiter ein Pferd braucht, da wurde er nicht eigentlich bange; die Zufriedenheit damit, daß sie endlich seine Kraft hatte fühlen müssen, war zu groß.

Aber nach und nach schlug die Stimmung um. Gesetzt, er hätte sie ermordet! Und sollte dafür auf Lebenszelt ins Zuchthaus – –!

War diese Möglichkeit in sein Leben eingetreten? Konnte das öfter geschehen?

Nein, nein, nein, antwortete er. Nein, nein, nein! – Merkwürdig, ihn dauerte damals Angelika! Wie entsetzlich muß es ihr gehen, daß sie so häßlich werden und so Häßliches von ganz unschuldigen Leuten denken kann! Wie schlecht muß es ihr gehen, daß sie so gegen den sein kann, den sie über alles liebt, ja, der der einzige ist, für den sie lebt. Ein langes, langes Rechenstück folgte – mit seiner Schuld, ihrer Schuld, anderer Schuld – und das kühlte ab, brachte zur Besinnung. Nach ein paar Stunden war er imstande, nach Hause zu gehen, um sie auf ihrem Bette in Thränen schwimmend zu finden, bereit, sofort beide Arme um ihren Hals zu schlingen. Er beugte sich über sie mit hundert Bitten um Verzeihung in Worten, Küssen und Umarmungen.

Aber mit dieser Scene war auch die Idee ihrer Wege gegangen. Jene hohe Stille ihrer Geburtsstunde war entweiht; er sah sie später nur noch flüchtig. Ja, bald war es ihm widerwärtig, sie zu verfolgen; er schloß die ganze Gedankenreihe ab – und begann wieder Geld zu verdienen; es bot sich gerade etwas dar, was Angelika aufgespürt hatte.

Wieder hinein in die ewige aufreibende Arbeit; jetzt endlich gab es die Erbitterung des Luxuspferdes darüber, daß es Lasttier sein soll. Das verschlimmerte die Scenen zu Hause. Seit jenem Auftritt hatten die Zusammenstöße überhaupt keine Grenzen mehr. Es brauchte auch keines Wortes mehr um sie zu veranlassen; eine Bewegung, eine Miene, ja ein Stillschweigen seinen Worten gegenüber genügte, um die heftigsten Spektakel herauf zu beschwören. Früher hatten sie sich in Gegenwart anderer geschämt; jetzt war es gleichgiltig, ob sie allein waren oder nicht. Bald stand er ihr, was die Brutalität der Worte oder die Unbedeutendheit des Streitobjekts anlangte, nicht im geringsten mehr nach; er war eher schlimmer. Seine ledige Phantasie und Schöpferkraft trieb ihr Wesen hier nun; hier warf sie über den Haufen und trat zu Boden so viele der schönen Gaben des Lebens; hier vergeudete sie jene Zuschüsse zum Glück, die das tägliche Leben beisteuern kann.

Seine Entbehrung, sein Leiden lief mit seiner Leidenschaftlichkeit um die Wette. Bald war das eine, bald das andere voraus. Die Form der Verzweiflung war immer dieselbe; daß das ihm zustoßen konnte. Wenn er flüchtete? Dadurch wurde er es nicht los. Das Verhältnis hatte sein Gewissen von Anfang an gepackt, dann waren ihm die Kinder teuer geworden, und das Beispiel seiner Mutter sagte ihm: »Halt aus, halt aus!« Die einstimmige Prophezeiung der Leute, daß diese Ehe, kaum eingegangen, auch wieder gelöst werden würde, wollte er nicht in Erfüllung gehen lassen. Außerdem kannte er jetzt Angelika viel zu gut, als daß er nicht gewußt hätte, daß er die Scheidung nicht durchsetzen könnte, bevor sie ihm mit dem Gesetze in der Hand das Fell abgezogen hatte. Er kam nicht los.

Zuerst galt es Ehre und Pflicht. Die Ehre und Pflicht betraf das Kind, das kommen sollte und nicht kam.

Hier konnte er eine ungeheuere Anklage erheben. Aber mitten im Trauerspiele war es spaßhaft genug, daß die Anklage behend gegen ihn selber gerichtet wurde! Sie hatte genugsam bewiesen, daß sie imstande war, Kinder zur Welt zu schaffen; aber er hatte das nicht bewiesen! Hatte sie sich geirrt, so lag die Schuld auf seiner Seite. – Zuletzt wagte er gar nicht mehr darauf zurückzukommen; denn dann wurde ihm sein lustiges Junggesellenleben vorgeworfen; sein lustiges Junggesellenleben war schuld daran, daß er keine Kinder bekam!

Je länger das dauerte und je bekannter es wurde, um so unverständlicher war es den meisten, daß es nicht zum Bruche kam. Ihm selbst ab und zu auch in schlaflosen Nächten. Aber es ist nun einmal so, daß, wer tausend kleine Aufstände macht, sich nicht zu einem großen sammeln kann. Sogar der endlose Streit bindet, indem er die Kräfte in Anspruch nimmt.

Er nahm ab. Das in jeder Hinsicht aufreibende Zusammenleben und daneben die straffe Arbeit bewirkte, daß er nur noch die Bedürfnisse des Tages bewältigen konnte; nach und nach verlor er sowohl Initiative als Willen.

Ein eigener Zustand entwickelte sich: er hatte Hallucinationen, Gesichte. Er sah sich selbst, seinen Vater, seine Mutter – alle Bilder waren drohender Art. Im Schlafe träumte er das Entsetzlichste; seine brachliegende Phantasie, sein lediger Schöpferdrang nahmen Rache. Und alles ermattete ihn.

Mit Bewunderung sah er auf ihre robuste Gesundheit; sie hatte die Natur und Funktionen eines Raubtieres. Aber zuweilen – ihre Kämpfe und Versöhnungen führten ja alle Offenbarungen mit sich – gewann er auch einen Einblick in ihre Not. Sie klagte nicht, sagte kein Wort – das konnte sie nicht –; aber zuweilen weinte sie und sank zusammen, wie man es nur in der höchsten Verzweiflung kann. Ihre Natur war stark, und ihr Liebeskampf ohne Glauben. Die Schönheit der Lebensfülle war darin, selbst wenn sie sich am häßlichsten gebärdete; der Kampf der wilden Natur mit ihrem Geschick wirkte oft tragisch.

Eines Tages traf er seinen Verwandten, den Expeditionschef. Sie pflegten sich auszuweichen; heute aber hielt er ihn an: »Du, Raphael,« sagte der kleine lebhafte Mann in nervöser Bewegung, »ich war auf dem Wege zu dir.«

»Was giebt es. Lieber?« –

»Ich sehe, du ahnst es. Es ist ein Brief von deiner Mutter.«

»Von der Mutter –!«

Sie hatten die ganze Zeit seit ihrem Telegramm kein Wort gewechselt.

»Ein langer, großer Brief. Aber sie hat eine Bedingung gesetzt.«

»Hm, hm. Bedingung?«

»Ja. zürne nicht, sie ist nicht schlimm. Du sollst nur aus der Stadt heraus und irgend wohin reisen, wo du Ruhe haben kannst. Und dort sollst du ihn lesen.«

»Du weißt, was er enthält?«

»Ich weiß, was er enthält. Ich bürge dafür.«

Was er damit meinte oder weshalb er so aufgeregt war, verstand Raphael nicht. Aber es steckte Ihn an; hätte er Geld gehabt und wäre gerade heute frei gewesen, so wäre er sofort gereist. Aber Geld hatte er nicht – nicht mehr Geld als er heute abend zum Feste brauchte. Er hatte die Billets dazu in der Tasche; er hatte Angelika versprochen, mit ihr hin zu gehen, und das wollte er halten; denn das Versprechen war bei einer großen Versöhnungsscene gegeben. Ein weißes Seidenkleid war das Ölblatt dieser letzten friedlichen Tage gewesen. –

Sie sah auch sehr hübsch aus, als sie am Abend an seiner Seite, hoch und gebieterisch, den großen Saal der Loge betrat. Sie fühlte die Stimmung; ihre schnellen Augen maßen die Polhöhe; mit sicherer Überlegenheit steuerte sie dahin, wo sie erfreuen, und dahin, wo sie ärgern wollte.

Er war nicht sicher. Er fand überhaupt keinen Gefallen daran, sich mit ihr öffentlich zu zeigen, und in der letzten Zeit hatte sie gerade öffentliche Lokale gewählt, um Spektakel zu machen. Weiterhin war er nervös bei dem Gedanken, was seine Mutter von ihm wollte. Kurze Zeit, bevor er kam, hatte er an zwei Stellen Geld zu leihen versucht und hatte an beiden Stellen nur Entschuldigungen gehört und kein Geld bekommen. Das hatte ihn tief gedemütigt. Dieser sein unruhiger Zustand machte ihn (wie Nervöse so oft) eifrig und ausgelassen, ja, er amüsierte sich vortrefflich. Und als ob etwas von dem alten Glücke den Abend verklären sollte, traf er seinen Verwandten und Freund aus dem Ausland. Hans Raon – ihn und seine Frau, eine Bayerin; sie waren eben in die Stadt gekommen. Alle drei waren hocherfreut sich zu treffen. »Erinnerst du dich,« sagte Hans Raon, »wie oft du mir Geld geliehen hast, Raphael?« und zog ihn abseits. »Jetzt bin ich obenauf, ich bin reich verheiratet, und noch dazu mit dem liebenswürdigsten Wesen der Welt! – Ach, du solltest sie kennen!« – »Und hübsch ist sie auch!« – »Und hübsch ist sie auch – – und lustig. Wie du mich hier siehst, bin ich der glücklichste Mann Norwegens.« Raphaels Augen füllten sich. Der Freund legte die Hände auf seine hohen Schultern. »Bist du nicht glücklich, Raphael?« – »Nicht ganz so glücklich wie du, Hans.« – Er verließ ihn, um mit jemand zu sprechen – dann kam er wieder. – »Hans, du sagtest, daß ich dir oft Geld geliehen habe – – –« – »Brauchst du welches? Willst du etwas haben, Raphael? Wie viel, Lieber?« – »Kannst du 200 Kronen entbehren?« – »Hier sind sie!« – »Nein, nein, nicht hier. Gehen wir hinaus,« flüsterte Raphael. – »Ja, komm, dann begießen wir das Wiedersehen mit Champagner. – Nein, die Frauen nicht mit!« fügte er hinzu, als Raphael dorthin sah, wo die beiden sich unterhielten. »Die Frauen nicht mit!« lachte Raphael, er verstand, was er meinte, und jetzt wollte er seine Freiheit von Grund aus genießen.

Aufgeräumt und in lauter Unterhaltung kamen sie wieder herein. Raphael engagierte die junge Frau Hans Raon zum Tanz; ihre hübsche Gestalt, frische Lustigkeit und vor allem ihr Entzücken über die Familie ihres Mannes nahmen ihn im Sturm gefangen. Auch den nächsten Tanz tanzten sie zusammen und unterhielten sich dann lachend. – Im Verlauf des Abends, als man zu Tisch gehen sollte, fanden die Freunde ihre Frauen wieder; sie sollten zusammen sitzen. Raphael sah von weitem das Gewitter, das auf Angelikas Gesicht aufzog. Sofort wurde er rasend; unschuldiger war er nie angeklagt. Und dann, daß er niemals eine ungetrübte Freude haben konnte! Aber er begnügte sich, zu flüstern: »Jetzt bitte ich dich, daß du dich anständig aufführst!«

Aber das wollte sie gerade nicht. Er hatte sie offenkundig sitzen lassen; nun wollte sie sich rächen. Die Lustigkeit Hans Raons – und besonders die seiner Frau ertrug sie nicht; da hieb sie denn dazwischen – einmal, zweimal, dreimal, während das Gesicht Hans Raons immer verwunderter wurde. Das Unwetter wäre vielleicht vorübergegangen; denn Raphael parierte jedesmal die Hiebe, ja, er zog sie ins Spaßhafte, sodaß die Gesellschaft in lustige Laune geriet, und da schmerzt ja nichts.

Aber sie versuchte etwas anderes. Wie früher erzählt, hatte sie einige spottende Mienen, Zeichen, Bewegungen, die nur er verstand. Die ließ sie jetzt spielen. Auf diese Weise verhöhnte sie alles, was die anderen sagten, und besonders was er sagte. Er konnte es nicht unterlassen, sie anzusehen, und jedesmal bekam er seinen Teil – bis er mitten in der allgemeinen Fidelität der anderen – mit all der Innerlichkeit und Liebenswürdigkeit, die man in solche Worte hineinlegen kann, zu ihr hinüberrief: »Du bist eine Mähre!« – »Ein ›Mehr‹ was ist das?« fragte die fremde Dame mit den lustigen Augen. Da schlug das Ganze in unwiderstehliche Komik um, selbst Angelika lachte, und alle meinten, damit wäre die Situation zum unwideruflich letztenmal geklärt.

Nein – als wenn der leibhaftige Satan am Tische säße, sie gab sich nicht. Das Gespräch wurde wieder lebhaft, und als es am lebhaftesten war, da blies sie auf das, worüber die anderen lachten – und das verstanden alle. Man wurde verlegen, Raphael sah sie rasend an, und da blies sie wieder: »Du da, Junge!« sagte sie. Von jetzt ab gab Raphael heftige Antworten. Von jetzt ab ließ er nichts passieren, ohne Vergeltung zu üben – harte, böse Vergeltung; er war schlimmer als sie. – »Aber, Herrgott,« sagte endlich der gute Hans Raon, »wie du dich geändert hast, Raphael!« Die treuen, liebenswürdigen Augen ruhten auf Raphael mit einem Ausdruck, den er nie wieder vergessen konnte, er wurde auch sehr bleich. »Ja, ich kann es nicht mehr aushalten,« sagte die junge Frau Raon, die Thränen standen ihr im Auge, sie stand auf, der Mann sofort zu ihr und mit ihr weg. Raphael blieb mit Angelika sitzen, die Nachbarn beobachteten sie und flüsterten zusammen. Beschämt und wütend sah er zu Angelika hinüber – die lachte. Es wurde ihm rot vor den Augen; er hatte einen wilden Drang, sie hier vor aller Augen zu erwürgen. Ja, die Versuchung überwältigte ihn so sehr, daß er meinte, die Leute müßten es ihm ansehen. »Ist Ihnen nicht wohl, Kaas?« hörte er jemand neben sich sagen. Er erinnerte sich später nicht daran, wer es war, oder ob er antwortete, auch nicht, wie er ins Freie kam. Aber noch auf der Straße dachte er mit der größten Wollust daran, wie es sein würde, wenn er sie erwürgte – wieder ihr Gesicht blau werden sähe, ihre matt niedersinkenden Arme sähe, ihre Augen offen vor Entsetzen. Denn einmal würde er es doch thun! Sein Leben endete im Zuchthause, das war ihm ebenso sicher bestimmt, als er die Begabung zum Ingenieur besaß und sie verriet. –

Eine Viertelstunde später stand er am Observatorium, er sah nach den Sternen am Himmel; aber es war keiner da. Er fühlte, daß er so in Schweiß gebadet war, daß die Kleider fest klebten und daß er trotzdem erschauerte. Das ist die Zukunft, die dich erwartet, dachte er; sie durchschauert schon deine Glieder.

Da geschah es, daß eine neue – bislang ungebrauchte Kraft, die tiefer lag als jede andere – hervorbrach und das Kommando übernahm. »Du darfst nicht wieder zu ihr nach Hause. Jetzt ist es vorbei, Junge; ich dulde es nicht länger.«

Was war das –? Was war das für eine Stimme? Sie klang wirklich, als käme sie von außen. War es die Stimme seines Vaters? Eine Mannesstimme war es; sie machte ihn ruhig und klar. Er wandte sich um, er ging direkt nach dem nächsten Hotel, ohne Bedenken, ohne Angst. »Nun beginnt etwas Neues.« Und darauf schlief er drei Stunden fest, zum erstenmal seit langer Zeit ungestört von Träumen.

Dann auf. –

Am Vormittag des nächsten Tages saß er in dem kleinen Glaspavillon der Station Eidsvold; der Brief der Mutter lag offen vor ihm; er bestand aus einem Haufen von Papieren; jetzt waren sie durchgelesen.

Die Ebene graukalt unter dem Herbstnebel; die Berge noch nicht sichtbar. Rechts Klopfen in den Werkstätten, dazwischen Lärm von den über die Brücke fahrenden Wagen; von links die Signalpfeife eines Zuges; Tassengeklirr in der Restauration – was er sah und hörte, brodelte um die Eindrücke des Gelesenen wie das Wasser um kochende Eier –

Sobald seine Mutter erkannt hatte, daß Angelika nicht guter Hoffnung gewesen war, fing sie an, alle Nachrichten über sie zu sammeln, deren sie habhaft werden konnte. Mit Hilfe der überall gegenwärtigen und unermüdlichen Familie war das auch in einem Umfang bis ins Einzelne hinein geschehen, daß kein Untersuchungsrichter es ihnen hätte nachmachen können. Hier lagen nun Briefe, Erklärungen, oft Zeugnisse, die sich der betreffende zu beschwören erbot; ferner Originalbriefe von Angelika, unbedachte Briefe, die diese leidenschaftliche Frau mitten in ihrer Berechnung schreiben konnte; oder sehr berechnende Briefe, die anderen aus einer anderen Periode mit anderer Berechnung völlig widersprachen. Diese Dokumente waren nur Beilagen zu einer klaren Auseinandersetzung seiner Mutter. Sie hatte also den Spürsinn der anderen geleitet und das Gefundene zu einem Ganzen gesammelt. Mit mathematischer Strenge lag hier geordnet, was man wußte und was man nicht wußte, aber vermuten konnte. Keine einzige Bemerkung war hinzugefügt, kein einziges direktes Wort an ihn.

Ein Teil dieser Aufklärungen, die ihre Vergangenheit betrafen, geht uns nichts an. Der Teil, der das Verhältnis zu Raphael betraf, begann mit dem Nachweis, daß die anonymen Briefe, die seiner Zeit seine Verlobung mit Helene zerstört hatten, von Angelika geschrieben waren. Diese eine Aufklärung und das, was hier früher auseinandergesetzt ist, geben einen Begriff von dem überwältigenden, demütigenden Eindruck, unter dem Raphael jetzt leiden mußte. Wer war er, daß er wie ein eingefangenes Tier genarrt und abgerichtet werden konnte? Daß ihn sowohl das Schlechte um ihn wie das Gute in ihm so weit auf Abwege führen konnte? Wie ein kraftloser Thor war er weggespült; er hatte weder gesehen, noch gehört, noch gedacht, bevor er aus alledem, was sein Eigen, und alledem, was ihm lieb war, herausgerissen worden war.

Er saß nun hier ebenso in Schweiß gebadet wie gestern nacht; es fing an ihn fürchterlich zu frieren. Deshalb lief er mit den Papieren auf sein Zimmer und verschloß sie in seinem Koffer; er selbst eilte springend die Landstraße entlang. Die Leute blieben stehen und starrten dem langen Menschen nach.

Aber der da sprang, wiederholte vor sich selber: »Wer bist du, mein Junge, wer bist du?« Bald fragte er die Hügel danach, hier gab es so viele; schließlich auch die Bäume. Ja, den Nebel, der sich jetzt verzog, fragte er: »Wer bin ich – kannst du es mir sagen?« Der nasse kahle Rasen lag halbwelk da und höhnte ihn; ebenso der ausgenommene Kartoffelacker, das Stoppelfeld, das gefallene Laub.

Der du bist, kannst du nicht sein; was du kannst, darfst du nicht thun; was du werden solltest, erreichst du nicht.

Wie du – deine Mutter vor dir. Hinein auf den Abweg. Und dein Vater auch. Hinein in den reinen Unsinn! Vielleicht ihr Vater und ihre Mutter vor ihnen, wer weiß? Das ist der Zweig einer großen Familie, der niemals erreicht, wozu er bestimmt ist. Jeden von uns bringt etwas anderes vom Wege ab; aber es geschieht mit uns allen. Weshalb ist es so? Wir haben doch größere Aufgaben als die meisten anderen. Aber die anderen fahren aus gebahntem Wege direkt in ihres Glückes Haus – wir gehen vom gebahnten Wege ab und in den Wald hinein – sieh, bin ich nicht selber da? Von der Landstraße weg und in den Wald hinein, als gehorchte ich einem inneren Gesetz? In den Wald hineingekommen? Er sah sich um zwischen Vogelbeerbäumen und Birken und anderem falben Laubholz. Sie standen naß um ihn herum, als warteten sie auf seinen Kummer. Ja, ja, sie wollen mich hier hängen sehen – wie Absalon an seinem langen Haar.

Kaum hatte er dieses alte Bild hervorgezogen, da machte er Halt, als hielte ihn eine starke Hand fest; davon durfte er nicht weglaufen, das mußte er bis auf den Grund durchdenken! Je tiefer er hineinkam, desto klarer wurde es ihm: Absalons Geschichte war seine eigene.

Mit Aufruhr fängt es an . . . damit beginnt es natürlich, das, was einen vom Hauptwege weg in die Leidenschaften und ihre Zufälligkeiten hineintreibt. Das ist ja klar genug. Dann wachsen die Leidenschaften höher als die Bestimmung. Dann nehmen die Ereignisse der Anlage die Macht aus der Hand. – – Aber David empörte sich auch. Weshalb blieb David nicht an seinem Haar hängen? Es war gewiß wenigstens ebenso lang als das Absalons. Ach, David war auch oft nahe daran – bis in sein Alter hinein. Aber die centrale Kraft in David war zu stark. Die Energie in ihm war und blieb zu gewaltig; sie unterwarf sich die aufrührerischen Kräfte; sie konnten ihn nicht weit weg in leidenschaftliche Unternehmungen fortziehen. Sie wurden nur Ferienausflüge in seinem Leben und gaben die Poesie. Die Bestimmung verrückten sie nicht. Ach, die Energie war in David so stark, daß er sie in sich aufnahm und sich von ihr nährte. Und doch war auch er oft nahe daran!

Das ist gerade das, was ich elendes, verdammtes Zwittergeschöpf nicht kann. Deshalb bleibe ich hängen. Bald erreicht mich der Mann mit dem Spieße.

Jetzt sprang Raphael in den dichtesten Wald hinein; wahrscheinlich wollte er dem Manne mit dem Spieße entrinnen. Er war in einem engen Thal zwischen zwei großen Anhöhen; Schatten lag über ihm. Ach, wie durstig er geworden war, so entsetzlich durstig. Er blieb stehen und bedachte, wie er etwas zu trinken bekommen könnte. Da hörte er einen Bach murmeln; er ging dem Laute nach. In der Nähe hatte der Wald eine Öffnung. Anstatt an den Bach zu gehen, starrte er sprachlos auf die Waldöffnung. Die Sonne war hervorgebrochen und glänzte auf den Gipfeln, während unten tiefer Schatten herrschte. Sah er etwas? Ja, er meinte, sich selber zu sehen – nicht gerade an der Öffnung, aber am Saum des Waldes, im Schatten, unter einem Baume; da hing er an seinem Haar. Hing da und baumelte, lang, aber in der Sammetkleidern seiner Jugend und den dichtanliegenden Hosen. Er hing an seinem Haar, wie es damals war, rot und gelockt. Aber weiter weg sah er deutlich noch jemand, das war seine Mutter, stramm und stattlich, die sich im Takte drehte. Ja, Herrgott, noch weiter weg, da hing sein Vater, breit und schwer, an seinem spärlichen dünnen Nackenhaar mit verzerrtem, kümmerlichem Gesicht wie auf dem Totenbette. Im übrigen war es nicht so sehr schade um die beiden, sie waren ja alt; aber um ihn war es sehr schade, er war jung. Und dann war es ihm niemals gut gegangen, nicht einmal in seiner Kindheit. Etwas hatte ihn immer mißgestimmt gemacht oder erschreckt oder ihn in Unsicherheit über sich selbst, in beständiger Spannung erhalten. Niemals hatte er im stillen, natürlichen Frieden bei der Hauptsache verweilen dürfen. Immer war etwas los. Nur einmal nicht – als er Helene traf.

Ihm war, als führe er mit ihr im Boote auf der See; die Luft glänzte und vom Walde her klang Vogelgesang. Und er war mit ihr oben auf der Höhe bei den Tannensetzlingen; sie erklärte ihm, daß es auf die Pflege ankäme, ob sie gediehen oder nicht. – –

Er ging dicht an den Bach heran, um zu trinken, legte sich nieder und beugte sich über das Wasser. Dabei sah er sein Gesicht; wie ging das zu? Ja, die Sonne schien natürlich.

Er sah sein eigenes Gesicht. Herrgott, wie war es dem seines Vaters ähnlich geworden!

Im letzten Jahre war er seinem Vater sehr ähnlich geworden, hatten sie gesagt. Er sah deutlich die Miene der Mutter, wenn sie es sah. Aber, Gott im Himmel, hatte er nicht schon graues Haar? Ja, massenhaft, – so dicht, daß sein Haar nicht mehr rötlich war, es war graugesprengelt. Das hatte ihm niemand gesagt. Hatte er so viel gelitten? Und wie wenig war er sich darüber klar geworden, daß Hans Raons Worte: »wie du dich verändert hast, Raphael!« ihn erschreckt hatten. Er hatte sich gewiß der Selbstbeobachtung entwöhnt, in diesem Leben mit dem groben, ewigen Kampf. Dabei wurden ja Worte und Handlungen nicht abgewogen. Und dann diese ewige Hast. Natürlich war er der Beobachtung im ganzen entwöhnt. Wäre der Bach etwas tiefer gewesen, so hätte er sich hineingleiten lassen. –

Er stand auf und ging weiter, schnell und schneller. Bald sah er den, bald jenen im Walde hängen; er getraute sich nicht umzuwenden. War es denn auch wunderlich, daß mehrere als er und sein Geschlecht von der Hauptlinie abwichen und im tiefem Wald die Zweige der Bäume versorgten? Er war gegen sich selbst und seine Eltern ungerecht gewesen; sie waren nicht allein, sie waren in allzu großer Gesellschaft! Was heißt ein unfertiges Volk anderes, als daß Dinge, die es nicht sollen, die Macht an sich reißen?

Mehr als die Hälfte kommt nicht vorwärts, mehr als die Hälfte der Kräfte geht zu Grunde.

Auf diesen Waldwiesen, diesen Hügeln, die wie Orgelpfeifen geordnet nebeneinander herlaufen, war auch Henrik Wergeland herumgesprungen. Auch er war nahe daran!

Es war doch wahrhaftig nicht verwunderlich, daß sich die Raben hier versammelten; hier hingen viele.

Ha – ha, das mußte er seiner Mutter schreiben! Das war etwas, um es ihr zu schreiben, die das letzte Mal von ihm weggereist war, die ihn verließ, als er am unglücklichsten wurde; für sie war es ja das Wichtigste, ihre heilige Person unverletzt zu erhalten, ihren Trotz aufrecht, ihre Beleidigung pompös, ihre Verschmähung sich rächend . . . o, das lange Haar, – o wie die Mutter fest hängt! Sie hat sich das Haar nicht verschnitten. Aber jetzt soll sie es wahrhaftig haben! So weit zurück, als er etwas wußte, wollte er alles ausgraben; endlich einmal wollte er sie selber in Augenschein nehmen! Jetzt hatte er die Macht und das Recht!

Seine Entdeckungsgabe hatte die endlose Aufreibung bei Tag und bei Nacht so lange verdeckt gehalten. Jetzt wachte sie hier wieder auf, und das sollte die Mutter haben! – Die Leute sahen den langen Mann aus dem Walde hervorbrechen, sahen ihn über Zäune und Gräben springen, immer weiter hinauf und immer geradeaus. Oben auf der höchsten Höhe wollte er an seine Mutter schreiben. –

Er kam auf das Bahnhofshotel erst, als es finster war – beschmutzt, naß, entsetzlich mitgenommen. Er wäre hungrig wie ein Wolf, sagte er; aber er aß fast nichts – dafür trank er ungeheuer viel. Dann stand er auf, er wollte ein paar Tage da bleiben und schlafen, sagte er.

Sie hielten es für Spaß; aber er schlief ohne Unterbrechung bis zum Nachmittag des nächsten Tages, wurde da geweckt, aß ein wenig, trank wieder viel; er hatte stark geschwitzt. Dann schlief er wieder ein. Einen Tag ging es noch ungefähr ebenso; am Morgen erwachte er und war allein. War nicht ein Arzt bei ihm gewesen – und hatte er nicht gesagt, es wäre gut, wenn er schliefe? Er meinte ab und zu Stimmen gehört zu haben; – aber auf jeden Fall war ihm jetzt wohl; er hatte nur einen rasenden Hunger und Durst, und wenn er aufstand, wurde ihm schwindlig. Aber das ging vorüber, nachdem er etwas von dem gegessen hatte, was noch dastand. Er trank aus dem Waschkrug – die Flasche war geleert, trank, ging bei offenem Fenster einigemal auf und ab. Es war sehr kalt, er schloß das Fenster wieder. Wie er sich eben umkehrte, um sich anzukleiden, erinnerte er sich daran, daß er an seine Mutter einen fürchterlichen Brief geschrieben haben mußte. Wie lange war das her? Hatte er nicht sehr lange geschlafen? Und war er nicht grau geworden?

Er trat vor den Spiegel, vergaß aber das graue Haar über dem Bild, das sich ihm bot. Wie sah er aus! Mager, schlaff, beschmutzt . . . Der Brief, der Brief! Herrgott, der Brief würde ja die Mutter töten. Hier gab es Unglück genug, mehr sollte nicht dazu kommen. Er kleidete sich an, als könnte er mit dem Briefe um die Wette laufen, er sah auf die Uhr, sie war stehen geblieben. Wenn nun der Zug bald da war! Er mußte mit, und von der Bahn mußte er sofort aufs Dampfschiff und nach Hause, nach Helleberge. Aber sofort mußte er an die Mutter telegraphieren, er schrieb: »Beachte den Brief nicht. Mutter! Heute abend komme ich und verlasse dich nie wieder.« – So, nun noch einen neuen Kragen, dann die Uhr – ja, es ist doch wohl Morgen? – dann packen, dann hinunter und bezahlen, essen, Billet lösen, telegraphieren; aber erst – nein, alles mußte gleichzeitig gethan werden; der Zug war da, er wartete nur noch wenige Minuten!

Er kam gerade noch mit; – das Telegramm wurde einem anderen zur Besorgung übergeben. Aber kaum saß er im Coupé – er war allein – als ihn der Gedanke an den Brief, den Brief quälte, daß er nicht sitzen konnte. Die entsetzliche Zergliederung seiner Mutter – jetzt kam sie ihm ins Gedächtnis – das jagte ihn wieder in die Stimmungen hinein, die er auf den Hügeln und Wiesen bei Eidsvold gehabt hatte. Auch auf dieser Seite des Tunnels war die Landschaft dieselbe. Du guter Gott, dieser fürchterliche Brief kam auch nicht aus dem Centralen in ihm; sonst hätte er dabei nicht so gelitten!

Welches Recht hatte er, seiner Mutter oder irgendjemand Vorwürfe zu machen, daß das Zufällige, das was nur an der Peripherie liegt, für unser Leben bestimmend werden kann?

Konnte das Telegramm früh genug ankommen, daß sie nicht in zu große Verzweiflung geriet? Daß es sie nur nicht von Hause verscheuchte, daß er kam!

So etwas an sie zu schreiben, die nur gelebt hatte, um die Aufklärungen zu sammeln, die ihn befreien konnten! Die Undankbarkeit mußte ihr zu groß scheinen. Sie hatte etwas unbehilflich Verschlossenes, das zu Katastrophen führte; sie vermochte ihre Seele nicht zu öffnen, deshalb kamen Sprengungen. Worauf konnte sie jetzt nicht verfallen sein, wenn sie zum Dank diesen fürchterlichen Überfall erntete? Vielleicht schiene ihr dann das Leben nicht mehr lebenswert. Sie, der der Tod so leicht erschien! Es durchschauerte ihn.

Aber die Mutter handelt nicht blindlings, dachte er; – sie wägt erst. Die Wurzeln in ihr gehen tief; wenn es aussieht, als handle sie unter einer Eingebung, so geschieht das, weil sie oft daran gedacht hat. Aber hieran hat sie nie gedacht, das erwägt sie. Er sah sie in Seelennot umherwandern, in ihren Shawl gehüllt, er sah sie mit großen Augen in ihr und sein Leben hineinstarren – bis beide ihr trostlos verscherzt erschienen; er sah sie darüber nachdenken, wie sie sich am besten verbergen könne, sodaß nicht mehr Leid daraus entstünde.

Wie er sie liebte! Diese Zeit hatte ihm eine Kappe über den Kopf gezogen! Jetzt war sie weg! – –

Er saß auf dem Dampfschiffe, das ihn nach Hause führte. Ein milder, stiller Regen fiel, es war jetzt das reine Sommerwetter geworden. Gegen Abend wurde es heller; er kam gewiß bei klarem Wetter und Vollmond nach Helleberge; dann wurde es wieder kälter.

Er sprach mit niemand; er hatte auch kein Auge für irgend etwas um ihn her. Er sah seine Mutter in dem seidenen Shawl, das war seine Gesellschaft, nur sie, nur sie. Wenn das Telegramm sie nun noch mehr erschreckt hatte! Ihn zu sehen, konnte ihr ja das Schlimmste von allem erscheinen. Ein so vernichtendes Urteil über ihr ganzes Leben zu lesen, und noch dazu von ihm – – die Mutter war nicht so beschaffen, daß so etwas dadurch ausgelöscht wurde, daß er um Verzeihung bat und kam. Im Gegenteil, es würde das Schlimmste beschleunigen.

Natürlich würde es das! Wieder begann der starke Schweiß, er mußte sich noch dichter einhüllen.

Die Angst erfaßte ihn widerstandslos, er mußte in die grauenvollste Vorstellung hinein . . . sich ausmalen, welchen Tod die Mutter wählte! Er sprang auf, wandte sich hierhin und dahin, hätte sich gern jemand an die Brust geworfen und geschrien – aber er wußte ja, es war keine Rede davon, loszukommen. Er mußte sie die Gewehre mustern sehen – bis sie es aufgab, eins davon zu gebrauchen. Dann dachte sie an die tiefsten Verstecke des Waldes; wo waren sie alle Sie musterte eins nach dem anderen. Nein, sie konnte keins davon brauchen; denn sie wollte sich so verbergen, daß sie nie wieder gefunden werden konnte. Da waren die Cementlager; da ging es schroff abwärts, da war die See tief. Er hielt sich an den schmutzigen Tauen fest, um nicht umzufallen; er bettelte darum, loszukommen. Aber da kam sie geschwommen auf und ab auf den Wellen. War es das Gesicht, das höher lag als der Leib, oder war es der Leib, der noch eine Weile höher lag als das Gesicht?

Allmählich wurde er dadurch befreit, daß Leute zu ihm kamen und fragten, ob er krank wäre. Er bekam etwas Warmes und Starkes zu trinken, und dann bog das Schiff zu bekannten Städten ein. Sie fuhren an der Gegend vorüber, wo es nach Helleberge ging; denn erst mußten sie in die Stadt, und von dort aus ins Boot. Nun kam es bloß darauf an, ob ein Boot nach ihm ausgeschickt war. Darin lag der Beweis. Dann lebte sie, dann wollte sie ihn aufnehmen. Aber war kein Boot geschickt, dann hatte dafür der Abgrund Botschaft geschickt.

Und es war kein Boot geschickt.

Einen Augenblick verlor er die Besinnung. Dann aber bohrte er sich vorwärts wie aus einem finsteren Gange heraus – er wollte nach Helleberge, wollte sehen, was geschehen war, wollte wissen und suchen. Jetzt war es schon finster; aber er ging vom Schiffe weg und irrte im Halbschlafe herum auf der Suche nach einem Boot; er konnte kaum reden, gab aber nicht nach, ehe er Boot und Mannschaft gefunden. Er selber nahm das Steuer und hieß sie aus Leibeskräften rudern. Er kenne jede Felsspitze in der Dämmerung; sie sollten sich auf ihn verlassen, nur drauf los rudern, ohne sich umzusehen. Bald waren sie an den Felsspitzen vorüber und zwischen den Inseln. Diesmal kamen sie ihm nicht entgegen, sie lagen fest da und stießen ihn von sich. War kein Boot ausgeschickt, so hatte er hier nichts mehr zu suchen; – war kein Boot geschickt, so hatte er den Aufenthalt hier verwirkt. Wie zornige Tiere standen ihm Felsspitzen und Inseln entgegen. »Rudert nur drauf los!« sagte er; denn jetzt kam in ihm wieder die Kraft auf, die dalag und auf die letzte Probe wartete. »Was wird aus dir, Junge? Ich bekomme dich satt. Tritt nun einmal vor!« rief ihm eine Stimme von außen auch diesmal zu. Die Stimme eines Mannes. Seines Vaters?

Seines Vaters oder nicht – hier vor dem Besitze der Väter wollte er sich mit ihrem Geschick messen – ja, das wollte er!

In der äußersten Not eines Menschen trifft aufeinander, was er gefehlt hat und was er kann. Wie das Boot eben die Inseln und die Landzunge hinter sich hatte und in die Bucht hinein sollte, stand er auf, so hoch wie er war; die Ruderer sahen ihn erstaunt an, er hatte das Steuer mit sich erhoben und sah aus, als sollte er seinem Feinde begegnen. – Oder hörte er etwas? Waren das Ruderschläge? – Ja, jetzt hörten sie sie auch. In der Verengung bei der Einfahrt kam ihnen ein Boot entgegen, es sah groß aus über der Meeresfläche und fuhr schnell. »Boot von Helleberge?« rief Raphael mit zitternder Stimme. »Ja,« klang es aus dem Dunkel, und er erkannte die Stimme des Gutsverwalters. »Ist es Raphael?« – »Ja. Weshalb kamt ihr nicht eher?« – »Das Telegramm ist eben erst gekommen.«

Er setzte sich, sagte kein Wort. Das ankommende Boot brauchte nur umzukehren und zu folgen. Raphael selber hätte seins fast aufs Land laufen lassen; er dachte nicht mehr daran, daß er steuerte.

Bald hatten sie die lange Enge passiert, die in die Bucht hinein führte; dann kamen sie an der letzten Landspitze vorüber und dort – dort lag Helleberge vor ihnen, glänzend hell illuminiert. Vom Keller bis zum Giebel strahlte es in jedem Fenster; die Ställe strahlten – und jetzt schlug auch auf dem Gipfel eine große, hohe Lohe empor.

So empfing ihn die Mutter! Er schluchzte, die Ruderknechte hörten es, sie sahen, daß es heller um sie wurde und drehten sich um. Der Anblick bezauberte sie so sehr, daß sie zu rudern vergaßen. »Nein, ihr müßt mich weiter rudern,« brachte er mit Mühe hervor.

All sein Leid hatte er vergessen, als er ans Land sprang. Er dachte auch nichts dabei, daß er seine Mutter nicht in oder vor dem Hofe traf und sie auch nicht auf dem Altan stehen sah. Er stürmte nur die Treppe hinauf und öffnete; – – die Lichte in den Fenstern erhellten das Zimmer nicht, im Gegenteil, hier war etwas vor die Lichter gestellt, sodaß das Zimmer halbdunkel war. Aber sein Auge kaum aus dem Halbdunkel, er sah sich nach ihr um und hörte nur, daß sie in der äußersten Ecke weinte – und da saß sie auch zusammengesunken in der Sofaecke, die Beine an sich gezogen wie in alten Tagen, wenn sie sich fürchtete. Sie streckte auch die Arme nicht aus, sie war ganz verschüchtert – aber er beugte sich über sie, kniete nieder, barg sein Gesicht in ihrem Schoße und weinte mit ihr. Fein, dünn, mager war sie geworden, ach, als könnte sie weggeblasen werden! Sie ließ ihn sie an sich ziehen wie ein Kind und sich streicheln und küssen an seiner Brust; – ach, wie war sie körperlos geworden! Und diese Augen, die er endlich gewahr wurde, sie sahen durch Thränen aus großen Höhlen heraus, aber unschuldig, wie Vögel aus einem Neste. Um ihre schwere Stirn hatte sie ein langes Seidentuch in Turbanform geschlungen, das hinten überfiel; sie wollte verbergen, daß das Haar so dünn geworden; er lächelte, daß er sie darin wieder erkannte. Geistiger, schöner in ihrer Körperlosigkeit als je; das innerste Ich war unverhüllt hervorgetreten.

Ihre schwachen, schwachen Hände tasteten in sein Haar, und jetzt sah sie ihm in die Augen. »Raphael! Mein Raphael!« Sie schlang den Arm um ihn und drückte sich wieder an seine Brust. »Willkommen!« flüsterte sie. Aber bald hob sie den Kopf und blieb aufrecht und frei sitzen. Sie wollte reden. Er kam ihr zuvor; »vergieb den Brief!« flüsterte er und seine Augen waren eine einzige Bitte – ebenso seine Stimme, seine Hände, die ihren Kopf umfaßten. »Ich sah deine große Seelennot,« antwortete sie auch flüsternd; denn darüber durfte nicht laut gesprochen werden. »Und da war nichts zu vergeben,« fügte sie hinzu. Wieder hatte sie ihren Kopf an den seinen gelehnt. »Und dann war es ja wahr. Raphael!« flüsterte sie wieder.

Sie muß hier schwere Tage und Nächte gehabt haben, dachte er, um so etwas sagen zu können.

»Mutter, Mutter, welche entsetzliche Zeit –!« Ihre kleine Hand suchte die seine; sie war kalt, sie lag in der seinen wie ein Ei, das im Neste verloren gewesen war. Er wärmte sie und erfaßte die andere auch. »War die Illumination nicht hübsch?« fragte sie, und jetzt war ihr Gesicht wie das eines Kindes. Er rückte den Schirm etwas beiseite, der das Licht verdeckte; er mußte sie besser sehen. Als er den Freudenschimmer auf ihrem Gesicht sah, dachte er: Wenn das Leben für sie noch so schön aussieht, o, so wollen wir viele Tage zusammen bleiben.

»Hättest du nur das von Absalon – ja, das Bild, das du sahest, als du Davids Geschichte hörtest. Raphael – hättest du mir das nur früher gesagt –!« Sie hielt inne, ihr Mund bebte. »Wie hätte ich es dir sagen können, Mutter, wo ich es früher selber nicht verstand?« – Sie lächelte. »Die Illumination sollte mein Verständnis bedeuten. Es sollte dir gleichsam entgegenleuchten. Verstandest du das nicht?«

 


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