Björnstjerne Björnson
Absalons Haar
Björnstjerne Björnson

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III

An einem heiteren Abend zu Anfang Juni verließen sie in Christiania den Dampfer und bestiegen das Boot, das sie nach Helleberge befördern sollte. Sie kannten niemand von den Leuten, trotzdem sie vom Gute waren; das Boot war auch neu. Aber die Inseln, zwischen denen sie bald darauf hindurchfuhren, waren die alten. Sie hatten lange auf sie gewartet und waren hinausgeschwommen, um sie zu empfangen; jetzt machten sie, eine nach der anderen, Platz, sodaß das Boot vorwärts kommen konnte.

Sie sprachen nicht mit den Leuten, auch nicht miteinander daraus errieten sie ein jedes ihre Stimmung, daß sie nämlich beide bange waren. Es kam so auf einmal! Der heitere Abendsonnenglanz über Meer und Inseln, der würzige Duft vom Lande, das geschäftige Keuchen eines kleinen Küstendampfers, nichts tröstete. Jetzt, da es ihnen ans Leben ging, erhoben Gefühle der Verantwortlichkeit, alte und neue, ihr Haupt. Wie waren die Verhältnisse, in die sie jetzt eintraten, und wie paßten sie jetzt hinein? Bald hatten sie den schmalen Trakt passiert, der in die Bucht führte, und die letzte Landspitze vor Helleberge . . . da lag die grüne Rundung, mit den Häusern in der Mitte, vor ihnen. Früher waren die Gipfel gekrönt, dunkel von üppigem Wald, breit im Schatten . . . jetzt lagen sie da, abgeschabt, eingesunken, formlos, mit einem hellen Grün überschmiert, das nicht überall Wurzel gefaßt hatte. Alles, was die Gipfel früher eingerahmt hatten, war mit ihnen flachgedrückt, war zusammengeschrumpft – nicht an Ausdehnung, aber an Aussehen; die beiden hatten keine Lust es anzusehen. Sie erinnerten sich, wie es früher war, und fühlten sich selber mager und gerupft.

Die Häuser frisch abgeputzt, aber klein im Vergleich mit denen, an die sie sich erinnerten. Niemand am Landungsplatz, um sie abzuholen; oben vor dem Söller ein paar verlegene oder vielleicht mißtrauische Gestalten. Sie gingen in die alten Zimmer der Frau Kaas, oben und unten; sie waren in demselben Zustande, wie sie sie verlassen hatten. Aber wie verblichen und unansehnlich sie geworden waren! Ein Tisch war gedeckt; er bog sich unter der schweren Last von Speisen, als gälte es eine Bauernhochzeit. Die alten Linden – verschwunden. Da weinte Frau Kaas.

Da erinnerte sie sich auf einmal an etwas: »Gehen wir in den anderen Flügel!« Sie sagte das, als ob sie sich dort wiederfinden sollten. Im Söller nahm sie Raphaels Arm; er wurde gespannt.

Die Zimmer seines Vaters waren für ihn ganz neu eingerichtet. Im großen wie im kleinen spürte er ihren Geschmack – eine lange, heimliche Arbeit, also ein weitläufiger Briefwechsel, eine große Geldausgabe. Wie war hier alles neu und frei! Die Räume dem Leben, das hier gelebt worden, ebenso entfremdet, als sie es mit ihm versucht hatte.

Die beiden führten noch am Abend ein gemütliches Gespräch, sie unternahmen später längs dem Strande einen feierlichen Spaziergang. Die mattblinkende Bucht redete wieder zu ihnen in ihrer alten Sprache; die Sommernacht senkte in Dämmerungsvertraulichkeit den Himmel auf sie herab.

Am Morgen des nächsten Tages ruderte er über die Bucht, den Spielplatz seiner Kindheit. Trotzdem die Berggipfel halb eingesunken und völlig abgeschunden waren, war es ihm eine unbeschreibliche Freude, wieder da zu sitzen. Unbeschreiblich durch die Einsamkeit, die Stille; niemand und nichts drängte sich störend irgendwoher hinzu. Nach langjährigem Aufenthalte in großen Städten in einer norwegischen Bucht allein zu sitzen, das heißt, vormittags vom lärmenden Markte in eine hochgewölbte Kirche eintreten, in der man keinen Laut von draußen hört; und außer seinen eigenen Schritten keinen Laut innerhalb. Heilig, heilig, Reinigung, Versinken, Andacht – aber in einer Erleuchtung und Freiheit, die keine Kirche besitzt. Das Vergangene weicht zurück und damit die Zeit überhaupt. Es war hier, als wäre er auch gestern und vorgestern hier gewesen. Außer hier wußte niemand von ihm.

Unbeschreiblicher Friede durch die Stimmungsfülle, in die er dabei versank; niemals hatte er eine reichere gefühlt. Eine neue Art von Empfindungen, Schönheitseindrücke aus der Kindheit, die er völlig vergessen, deren er sich anders erinnert hatte, schwebten ihm entgegen, sprachen ihn an wie wiedererkennende frohe Geister.

Eine neue Art Gebirgslinien, ein alter lieber Duft, Farben, die auf ungeahnte Weise nebeneinander standen, ein Himmel, der zwar näher aber doch zurückhaltender war; die Lichtwirkung in kälterem Stoff, aber feiner, leichter. Nirgends eine breite Fläche, eine endlose Fortsetzung; nein, mannigfach, vielgestaltig, kurz, abgebrochen, unruhig, dadurch einzig frisch, er möchte sagen aufrührerisch.

Mehr und mehr floß das mit seinen Erinnerungen und ihm selber zusammen; er hatte Natur dafür! Nach jedem Ruderschlag ruhte er; fühlte sich jedesmal wie auf einem Schoß. Das Boot fuhr weiter; er kümmerte sich nicht, wohin . . . bis er Ruderschläge hörte, die nicht Wiederhall der seinen waren; sie folgten wieder, der eine auf den anderen. Er wandte sich um. –

– Oben trat gerade Frau Kaas mit ihrem prächtigen Doppelfernrohr auf den Altan heraus. Sie hatte Kaffee getrunken und sich an der Aussicht über Bucht, Inseln und Meer erfreut; Raphael war schon im Boot zu sehen. Dort draußen, ja, da war er; – sie setzte das Fernrohr vor die Augen in dem Augenblicke, als ein weißangestrichnes Boot seinem braunen geteerten entgegenfuhr. Das weiße ruderte eine Dame in hellem Kleide . . . grand Dieu, hier giebt es also auch Damen! Raphael hielt an, d. h. beide zogen die Ruder ein, während die Boote aneinander vorüberglitten.

Frau Kaas sieht unter dem dunkeln Haar der Dame den starken Hals; aber ein breitkrempiger Strohhut verdeckt ihr Gesicht. Da stößt Raphael seine Ruder ins Wasser und hält vor ihr, und sie stößt die Ruder ins Wasser und hält vor ihm. Kennen sie sich denn? Sobald sie wieder Seite an Seite sind, erfaßt Raphael ihr Boot und zieht es näher, und da giebt er ihr die Hand, und sie giebt ihm die Hand! Frau Kaas sieht Raphael im Profil, und so deutlich, daß sie die Bewegungen seiner Lippen erkennen kann; er lacht! Der Hut verbirgt immer noch das Gesicht der Dame, aber sie sieht ihre üppige Brust und sieht einen kraftvollen Arm aus dem Halbärmel hervortreten. Ihre Hände geben nicht los, jetzt lacht er, daß sein breiter Rücken schüttert, – was ist das, was ist das . . .? Ist jemand von München nachgereist?

Frau Kaas kann nicht mehr still sitzen; sie geht ins Zimmer, legt das Fernrohr weg, eine große Angst erfaßt sie, sie verfällt in hilflosen Zorn. Es dauert eine Weile, bis sie es über sich gewinnt, wieder das Fernrohr zu ergreifen, hinaus zu gehen und weiter zu beobachten.

Die Dame hatte ihr Boot gewendet; jetzt fuhren sie beide Seite an Seite landwärts, sie ebenso schnell als er. Sobald Frau Kaas nach ihrem Sohn sah, lachte er, und das Gesicht der Dame hing unverwandt an dem seinen. Da machten sie eine Biegung, sie fuhren nach dem Landungsplatz der Pfarre. War es Helene? Die einzige Dame im Umkreis von einer Meile, und diese einzige Dame hatte Raphael gleich am ersten Tage nach seiner Heimkehr eingefangen.

Diese Damen, die ihn nicht sehen können, ohne es gleich auf ihn abzusehen.

Da legt das Boot an – nicht am Landgang, die Steine sind wohl schlüpfrig; nein, sie rudern ihre Boote, so fest sie nur können, den lehmigen Strand hinauf. Schnell und leicht springt sie ans Ufer, jetzt er etwas schwerer – und da geben sie sich die Hand. Die ›Dame‹ steht fertig!

Frau Kaas wandte sich ab. Jetzt wußte sie, daß sie selbst vor einer Weile ein altes Möbel geworden, das aus den Vorsaal geräumt wird. –

Es war wirklich Helene. Sie wußte, daß sie gekommen waren, sie wollte an dem Gute vorbei fahren und dabei traf sie ihn, der bloß um zu rudern gerudert hatte. Als sie beide die Ruder eingezogen und die Boote lautlos an einander vorüber glitten, dachte er: »Die da? – Sie ist nicht hier aufgewachsen; dazu ist ihr Wesen in zu großem Stil. In ihr ist nicht der Geist dieser Gegend.«

Er sah nämlich in ein Gesicht mit festen Bogen, großen grauen, tief liegenden Augen. Ein ruhiges, klares Gesicht – und auf einmal huschte der Schalk darüber! . . . Das erkannte er wieder, das hatte ihm seiner Zeit wohl gethan. Die erste Empfindung bei allem Wiedererkennen, bei aller Erinnerung (d. h. wenn dazu Gelegenheit ist) ist die, ob das, was wir wieder wiedererkennen oder woran wir uns erinnern, uns wohl oder weh gethan. Dieser große Mund, diese gesunden Augen, in denen jetzt der Schelm sitzt, sie haben ihm nur wohl gethan . . . »Helene!« rief er und stieß seine Ruder ins Wasser, um zu halten; »Raphael« antwortete sie feuerrot und stieß auch ihre Ruder ein. Eine gedämpfte Altstimme.

– – Als er zum zweiten Frühstück nach Hause kam und strahlend erzählte, begegnete er zwei großen Augen, die deutlich sagten: »Hast du mich schon in den Vorsaal gestellt?«

Er wurde ganz rasend. Während des Frühstücks teilte sie ihm gleichgiltig mit, daß sie nun zum Propst fahren wolle, um ihm für die Beaufsichtigung des Gutes in all diesen Jahren zu danken. Er antwortete nicht. Daraus schloß sie, daß er nicht mitfahren wollte. Es verging geraume Zeit, bis sie fortfahren konnte; das Fuhrwerk war neu, der Stallknecht auch neu und ungeübt. Um Raphael kümmerte sie sich nicht.

Beim Propste wurde sie mit der größten Ehrerbietung und doch sehr herzlich empfangen. Der Propst war ein schöner alter Mann, ein gebieterischer Praktiker; seine Frau war eine tiefere Natur. Beide leugneten, daß ihnen die Aufsicht Schererei gemacht habe, nur einen behaglichen Zeitvertreib, den jetzt Helene übernommen habe. Helene? Ja, das war so gekommen; der erste Verwalter von Helleberge war Agronom und Forstmann bei einem großen Werke gewesen, das damals freiwillig Konkurs machte. Zu ihm faßte Helene eine so große Zuneigung, daß sie ihn in ihrer freien Zeit überall begleitete; er war auch ein ausgezeichneter alter Mann. Auf diesen Wanderungen lehrte er sie, was er selber wußte; er hatte eine eigene Begabung dafür. Ihr wurde es eine Entwicklungssache, denn so bekam sie etwas, wofür sie lebte. Nach und nach hatte sie die ganze Aufsicht übernommen; es war ihr Leben.

Frau Kaas bat Helene zu grüßen und ihr zu danken. Aber Helene wäre ja eben mit Raphael ausgegangen –! »Das ist ja wahr!« sagte Frau Kaas, sie mußte thun als wüßte sie es; aber sie bat sofort um ihren Wagen.

Zu dieser Zeit waren die jungen Leute dabei, den Berggipfel zu erklimmen. Sie gingen das Flußbett entlang, sie voran, er hinterher. Das war sicher, daß Helene im Walde aufgewachsen war! Wie geschmeidig ihr kräftiger Körper war; und die Art, wie sie sich anstellte, wenn sie über einen Bach hinüber mußte, einen Abhang hinauf, durch eine Hecke junger, starrender Nadelbäume, die sie nicht hindurch lassen wollten . . . oder wenn sie in einem Schieferbruche, deren es hier so viele gab, lavieren sollte. Der Aufstieg vom Fluß aus war der geradeste und amüsanteste! deshalb mußten sie ihn einschlagen. Raphael wollte ja nicht hintanstehen, er war ihr auf den Fersen; aber welche Anstrengung kostete das nicht! Teils hatte er keine Übung, teils – »Hier ist es etwas schwierig, hinüber zu kommen,« sagte sie; ein Baum war beim letzten Regenwetter gestürzt; oben hing er mit der Wurzel fest, und hier sperrte er ihnen den Weg. »Halt dich nicht daran; er kann nachgeben und uns mit sich ziehen.« – Endlich doch etwas, was sie schwierig findet, dachte er. Er sah sie den Stamm entlang vorwärts manövrieren, ohne sich darauf zu stützen. Er sah, wie sie sich eine Weile vor dem ersten starrenden Aste bedachte, über den sie mußte, dann aber die Kleider bis ans Knie hob – dann hinüber, schnell, schnell, über den nächsten auch – und dann über den Stamm selber, sobald zu oberst kein Ast mehr im Wege war. Dann schräg über die Anhöhe, bis sie oben stand und ihm zusah, wie er ihr nachkletterte.

Ihm kostete es entsetzliche Anstrengung. Der Atem wollte nicht mehr mit. Der Schweiß strömte an ihm herunter. Als er gleich hinter ihr oben ankam, wurde es ihm schwarz vor den Augen – wenn auch nur eine halbe Sekunde lang, es war doch genug, um ihn den Umfang ihrer Gesundheit erkennen zu lassen. Sie stand da und sah ihn an. Sie war rot, warm, mit heiterem Glanz in den Augen und rasch steigender, rasch sinkender Brust; aber zweifellos hätte sie sofort ebenso weit und ebenso wacker weiter klettern können. Er brachte kein Wort hervor; sie sagte: »Nun mußt du dich umwenden und aufs Meer sehen.«

Die Worte wirkten auf ihn, als sagte sie der große Pan dort weit hinten von den Bergen her; – die Berge fielen ihm zu gleicher Zeit ins Auge. Die Worte quollen ihm aus der Natur, die ihn umgab, sie strichen an ihm herunter mit eiskalter Hand und wieder empor mit warmer – und danach wurde er ein anderer!

Denn er hatte sich verirrt – sich in sie verirrt, während sie ihn das Flußbett herauf und über die Hügel führte. Immer und immer empfing sie Verstärkung vom Walde; sie wurde höher, geschmeidiger, sie wurde mächtiger. Die Wärme der Augen, die Fülle der Stimme, die Bewegungen, die Formen, der seelenvolle Blick lockten ihn in der Thaltiefe und bei dem Brausen des Flusses; und die Verirrung stieg mit dem Anstieg und seiner Hitze. Kein Ballsaal und kein Spielplatz, keine Turn- oder Reitschule kann die Kraft des Körpers, kann das Durchblinken des Geistes darin so zeigen, die Einheit des Wesens so offenbaren, wie das Klettern über Hügel und Abhang. Schließlich wurde er berauscht, er dachte: nun klimme ich ihr nach, eine Leiter zum höchsten Glücke hinauf. Dort oben, dort oben! Ihre Keckheit in seiner Gesellschaft, ihr Unbekümmertsein um das. was er sah, berauschte ihn. Dort oben, dort oben!

Aber noch weiter hinauf, und sie wurde feuriger und er kläglich.

Und dort oben, dort oben – da wurde ihm schwarz vor den Augen; ein paar Sekunden vermochte er sich nicht zu rühren, ein paar weitere konnte er nicht reden; aber da sagte sie: »Nun mußt du dich umwenden und aufs Meer sehen!«

Man sagt, daß Frauen, die gebären, in demselben Augenblick neues Blut bekommen; jeder Tropfen ist sofort ein anderer. Etwas Ähnliches widerfuhr ihm. – Das Gesicht, mit dem er bis hier oben sah, die Sinne, mit denen er bis hier oben fühlte – hier waren sie verwandelt. Das Neue entsprach dem, was die Berge da weit hinten sprachen; er erinnerte sich an sie aus seiner Kinderzeit. Das entsprach dem Meere vor ihm, dem Meere mit den Inseln, dem Meere weit hinter den Inseln, dem Meere weit in die große Welt hinaus, das Willen und Lebensgeschicke, die ganze Erde umspült. Das Meer lag matt glänzend in der Nachmittagssonne und starrte auf das unregierliche Land vor sich wie auf einen Lieblingssohn, der Lebenskraft hat. Halt dich ans Große! Sonst wird deine Kraft dein Untergang.

Und einige von den Entdeckungen, die ihm zugehörten, dämmerten halbklar; sie lagen draußen, und es beruhte auf ihm, ob er sie eines Tages hier in die Bucht hereinbrachte.

»Woran denkst du?« sagte sie. Da verließ es ihn, alles. Da war er nur hier, nur hier. Er fühlte, wie rund und warm ihre Altstimme war. Vor einem Augenblick hätte er es ihr sagen können und mehr noch, als eine Einleitung zu noch mehr. Jetzt setzte er sich, ohne zu antworten. Sie setzte sich auch. »Ich gehe so oft hier herauf.« sagte sie, »um das Meer zu sehen. Von hier oben wird es doch Ursprung und Tod. Unten ist es nur Schiffsbahn.«

Er lächelte. Sie fuhr fort: »So ist es mit dem Meere; es kann einer hier herauf kommen, womit es auch sei – hier oben ist es bald weg. Auf der Fläche da geht es weit hinaus in etwas anderes.«

Er sah sie an. »Ja, das ist wahr,« sagte sie und errötete. – »Ich zweifle durchaus nicht daran.«

Aber sie verstand die ganze Gedankenreihe. »Du siehst auf die Setzlinge dort?« – »Ja.« – »Du mußt wissen, daß voriges Jahr so trockenes Wetter war, daß hier oben fast die ganze Pflanzung verging. Auch sonst noch hier auf den Gipfeln, wie du siebst.« Sie zeigte. »Wenn einer in die Bucht fährt so sieht es so häßlich aus. Ich dachte gestern wohl daran. Aber dann dachte ich auch, gleich wenn er ans Land gekommen, da soll er auch sehen, daß er uns unrecht thut. Denn giebt es wohl etwas Herrlicheres als solch einen Kiefernsetzling, wie er da in seiner Vertiefung steht? Nein, sieh die Farbe, die ist so gesund, so klar. Und diese barschen Stecken da! Und dies kleine Ding da!« – Helenes Stimme änderte sich nach dem Inhalt. »Aber der dort ist doch das Hauptstück!« Sie klomm dorthin und er hinterher. »Siehst du ihn. Schon zwei Äste, und was für Äste!« Sie kniete vor ihm. »Der Junge hat Eltern gehabt, mit denen er Staat machen kann. Denn hier hat der eine ebensoviel und ebensowenig Schutz als der andere. – Nein, die widerwärtige Fliege!« Sie war bei dem armen Kinde nebenan, das nahe daran war, eingesponnen zu werden. Sie befreite es und erhob sich, um mit nasser Erde wieder zu kommen, die sie vorsichtig um den Keim legte. »Das arme Ding braucht gewiß Wasser, trotzdem es erst neulich ganz fürchterlich geregnet hat.« – »Bist du oft hier oben?« – »Ohne das wird nichts daraus.« Sie sah ihn prüfend an: »Du glaubst vielleicht nicht, daß mich das kleine Volk kennt? Doch, jeder einzelne. Bleibe ich lange weg. so gedeihen sie nicht; bin ich oft bei ihnen, werden sie frisch.« Sie kniete, auf die eine Hand stützte sie sich, mit der anderen jätete sie Unkraut. »Die Spitzbuben!« sagte sie, »die von meinen Setzlingen stehlen wollen.«

Wenn es nun ein kleines Menschenkind gewesen wäre, das so sprach – ein kleines Menschenkind mit flinken Augen und frohem Mund; – aber Helene war ein großes Menschenkind; ihre Augen waren nicht rasch, sie verweilten da, wo sie hinfielen. Der Mund war groß und behandelte die Worte behutsam in vollem Ernst. Wenn einer das, was sie sagt, schnell, lebhaft gelesen hat, dann muß er es noch einmal lesen; sie sprach es gedämpft, gewichtig, jede Silbe deutlich, und der Rhythmus umschwebte es graziös. Sie war jetzt eine andere als im Flußbette und auf den Hügeln. Da schwang sich ihre Kraft vorwärts, als bedürfte sie der Anstrengung; – hier verwandelte sie sich in feinen Sinnengenuß.

Eine der merkwürdigsten Frauen des Nordens, die auch diese beiden Seiten hatte und aus beiden das größte machte, sah Helene gerade als sie erwachsen war. Frau Heiberg konnte von ihr nicht lassen, Augen und Ohren folgten ihr. Erkannte die alte Dame – es war in den letzten Jahren ihres Lebens – in ihr etwas von ihrer Jugend? Auch äußerlich waren sie ähnlich. Helene war dunkel, wie Frau Heiberg einst war, sie hatte dieselbe Höhe, dieselbe Figur, doch stärker, hatte einen großen Mund, große graue Augen wie sie; auch in ihren Augen konnte der Schelm aufleuchten. Aber die größte Ähnlichkeit lag im Wesen, im Ausdruck, wie ihn Frau Heiberg hatte, wenn sie ruhig und mütterlich ernst war; denn das war der Hauptstamm in ihrer Natur. »Welch gesundes Mädchen!« sagte sie, ließ sie zu sich holen, zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn.

Die beiden Jugendgespielen waren über die Höhe nach der anderen Seite gegangen; er sollte durchaus das Moorland sehen.

Aber als er dahin kam, erkannte er es nicht wieder; es war ja üppiger Wald! »Ja, das ist das Werk des alten Helgesen« sagte sie strahlend. »Er sah, daß die große Fläche durch künstliches Aufdämmen zu Moor geworden, und dem machte er ein Ende. Ich war damals noch ein Kind, aber ich war dabei. Unten am Flusse bekam ich ein Stück Land, um Kohlrabi darauf zu pflanzen, und dies Stück pflegte ich den ganzen Sommer. Dann bekam ich andere Stücke. Für das, was wir daraus einnahmen, zogen wir hier oben Gräben; im vierten Jahre kauften wir Pflanzen. Ja, das heißt, er that so, als ob ich das alles mit meiner Arbeit bezahlte; er war ein großer Schelm.«

– Als Raphael nach Hause kam, saß seine Mutter bei Tisch; sie hatte sich eingerichtet, als wäre sie allein – ein sicheres Zeichen, daß sie sich beleidigt fühlte. Es nützte ihm alles nichts, worauf er auch verfiel, um sie wieder gut zu machen, sie antwortete nicht und verließ bald den Tisch.

Jetzt fühlte er selber, wie herrlich es für seine Mutter gewesen wäre, mit ihm rundum zu gehen, um Neues zu entdecken und Altes wieder zu erkennen. Gestern abend im Zimmer des Vaters waren sie wie unzertrennlich fürs Leben . . . und schon frühmorgens am nächsten Tage war er mit einer anderen aus!

Er wußte, daß heute abend nichts zu thun war; aber am nächsten Morgen bat er sie so innig, ob sie denn nicht heute mit ihnen gehen wolle, dann würden sie ihr zeigen, was er gestern gesehen. Sie schüttelte den Kopf und fing an ein Buch zu lesen. Tag für Tag machte er ihr denselben Vorschlag, aber mit demselben Erfolg. Diese Vorschläge, meinte sie, wären gezwungen.

Und in einer Beziehung waren sie es. Er wollte sie so gern versöhnen, so gern sie herumführen; denn er fühlte sich schuldig, trotzdem er meinte, es ließe sich verstehen. Aber daß sie mit ihrer Gegenwart alle ihre Zusammenkünfte stören sollte – er wäre recht sehr verzweifelt gewesen, wenn sie ja gesagt hätte.

Der Probst mit Frau und Tochter kam am nächsten Sonntag zum Gegenbesuch; Frau Kaas war die Höflichkeit selber, und besonders dankte sie Helene für ihre unvergleichliche Fürsorge für das Gut. Helene wurde rot, sie wußte selbst nicht warum. Aber als sie sah, daß Raphael auch rot wurde, wurde sie es doppelt. Das war das Ereignis des Besuches; ein anderes kam nicht vor.

Der tägliche Spaziergang der Jugendgespielen erschöpfte das Thema Helleberge bald; nun trug er vor, das Thema wurde ein anderes, nämlich seine Entdeckungen. Von der Zeit her, da er mit seiner Mutter zusammen studierte, hatte er eine ungewöhnliche Geschicklichkeit, sich zu erklären, und in Helene fand er einen Zuhörer, dessengleichen er nie gehabt. Sie wußte schon im voraus so viel von den Naturgesetzen, daß sie eine populäre Darstellung verstand; aber die Hauptsache war doch nicht, was er erklärte, das war er – er fühlte das und wurde dabei warm; ihre Augen machten sein Denken klarer. Niemals zuvor hatte er ein so gesundes Selbstvertrauen gefühlt wie in ihrer Nähe; diesmal kam keine Angst hinterher.

Aber Helene hatte früher nichts von der Art und dem Resultat seiner Studien gewußt; sie hatte nur gehört, daß er Ingenieur war. Je mehr er erzählte, um so mehr wuchs er – bald verlor sie einen Teil ihrer Sicherheit ihm gegenüber. Erst wußte sie nicht, warum sie sich mehr und mehr zurückhalten mußte; aber bald fand sie Vorwände, um ganz weg zu bleiben. Und als anderes dazu kam, wurden ihre Spaziergänge selten; »sie hatte so viel Arbeit bekommen.«

Er verstand den Grund nicht; er ging davon aus, daß seine Mutter auf irgend eine Weise daran schuld war (was übrigens nicht ganz unrichtig war) – und wurde rasend. Schon, daß seine Mutter das, was er früher gesucht hatte mit dem, was er jetzt suchte, zusammenwarf, beleidigte ihn furchtbar. Er vergaß völlig, daß nicht viel gefehlt, so hätte er hier dasselbe gesucht wie sonst; er gab sich bloß seiner Verliebtheit hin, und die duldete keinen Widerspruch, kein Hindernis, die wurde majestätisch. In Helene hatte er seine Zukunft gefunden.

Aber der Propst zog sich zurück, weil Frau Kaas es that, und es kam die Zeit, wo die vielen Versuche, Helene allein zu sprechen, aufgegeben werden mußten.

Niemals war er leidenschaftlicher verliebt gewesen. Er sah sie vor sich, wo er ging und stand, ihre runde Fülle in leichter Bewegung, ihre großen Augen fest in die seinen blickend . . . weshalb konnten sich die beiden nicht morgen heiraten? Oder übermorgen? Was war natürlicher, was würde ihn sicherer vorwärts bringen?

Die Spannung zwischen der Mutter und ihm erreichte den höchsten Grad, den sie je erreicht hatte. Er dachte in vollem Ernste daran, sie und das Land zu verlassen. Er hatte ja etwas Geld vom Verkauf des Patentes übrig und wollte sich schon mehr verschaffen.

Wie es ihm widerstrebte, ohne Helene durch Wald und Feld zu gehen! Studieren konnte er nicht; er hatte niemand, mit dem er sich unterhalten konnte. Was sollte er thun? Er ruderte – ruderte weit hinaus, am liebsten von der Bucht weg, ja, bis zur Stadt.

Wie er so eines Tages links außerhalb der Bucht die Küste entlang rudert, bemerkt er, daß hier die Thon- und Schieferformation in dem Gestein graue Stellen hatte. Helene hatte ihm gesagt, daß es dort »so merkwürdig aussähe, seitdem die großen Bäume weg wären.« Da sie aber ins Boot mußten, um es zu sehen, hatte er die Äußerung nicht weiter beachtet. Jetzt legte er dort an. Der Fels stieg von unten steil empor; aber er klomm empor. Er hatte gemeint, es wäre Kalk; – aber er traute seinen eigenen Augen nicht; es war Cement, ganz bestimmt Cement! Wie weit sich dieser erstrecken mochte? So viel er sehen konnte, ging das Lager weit hinein, vielleicht fast bis an die Grenzen des Gutes. Auf jeden Fall war hier auf viele, viele Jahre hinaus für den stärksten Betrieb mehr als genug zu thun, wenn nur im Thon und Kalk genug Kohlensäure war. Er war nicht faul, ein paar Stücke abzuschlagen, sie ins Boot und mit nach Hause zu nehmen und Analysen anzustellen. Selten ist jemand schneller als er an den Inseln vorbei in die Bucht hineingerudert, dem Anlegeplatze unter den Häusern entgegen. Zeigte der Cement die richtigen Verhältnisse, so war hier gefunden, was Helene und ihn von ihnen allen unabhängig machte – und zwar sofort!

Mit übel zugerichteten Kleidern und Händen, das Gesicht in Schweiß gebadet, stürmte er späterhin am Tage zu seiner Mutter ins Zimmer mit dem Resultat: »Hier sollst du etwas sehen!«

Sie saß da und las, blickte auf, wurde kreideweiß . . . »Ist das der Cement?« fragte sie, indem sie das Buch weglegte. – »Weißt du davon?« fragte er aufs höchste erstaunt.

»Gott, ja,« antwortete sie, stand auf, ging ans Fenster und wieder zurück, preßte die Hände gegeneinander, rieb sie: »Nun hast auch du den Cement gefunden! – Nun hast auch du ihn gefunden!«

»Wer denn vor mir –?«

»Dein Vater, Raphael, dein Vater. Als ich zum erstenmal hier war – kurz bevor wir abreisen wollten.« Sie machte eine Pause.

»Er kam zu uns hereingestürmt, wie du jetzt – ja, nicht so schnell, er war nicht gut zu Fuß; aber sonst genau so wie du –« Ihre Augen glitten mit einem eigenen Blick über Raphaels beschmutzte Hände; sie waren an sich nicht fein; sie waren die seines Vaters.

Raphael sah es nicht. »Hatte er das Cementlager gefunden?«

»Ja. Er schloß die Thür hinter sich. Ich stand auf und fragte, was er sich unterstünde. Er konnte kaum sprechen.« Sie hielt etwas inne; dachte sich wieder in das Geschehene – ein. hin – »Nun ja. dann war es also das.« –

»Was sagte er, Mutter?«

Sie ging weiter. »Dein Vater glaubte ja, ich brächte das Glück ins Haus.«

»Weshalb wurde denn nichts daraus?« Sie wandte sich schnell nach ihm um. »Verzeih, Mutter, du mißverstehst mich. Weshalb wurde es nichts mit dem Cement, meine ich.« – Er errötete.

»Du hast deinen Vater nicht gekannt. Es waren zu viel Haken an ihm, als daß er irgend etwas zustande gebracht hätte.« – »Haken?« – »Ja, Eigenheiten, Egoismus, Leidenschaft, die ihn fest hielten!« – »Wie fing er es an?« – »Niemand sollte dabei sein dürfen, kein einziger es wissen; er alles! Und deshalb sollten die Wälder gehauen und aufgebraucht werden – – und als wir verheiratet waren – und als wir verheiratet waren, sage ich, sollte auch mein ganzes Vermögen verwandt werden.«

Ihr Entsetzen darüber sah er noch jetzt. Sie durchlebte den ganzen Kampf von neuem, und er verstand, daß er nicht mehr fragen durfte. Sie streckte auch schon ihre Hand aus, als er sich beeilte zu sagen: »Weshalb hast du mir das nicht früher erzählt, Mutter, daß es hier Cement giebt?« – »Weil es dir nicht gut gethan hätte,« antwortete sie bestimmt.

Er fühlte, ja, er sah, daß es ihm ihrer Meinung nach auch jetzt noch nicht gut that.

»Du hast die wundeste Stelle meines Lebens berührt; laß mich jetzt allein.« Sie hob ihre Hand, er ging.

Als er wieder im Boote saß, um seine große Botschaft nach der Pfarre zu rudern, dachte er: »Hier liegt der Grund zu der tödlichen Feindschaft zwischen Vater und Mutter, im Cement! Sie hat kein Zutrauen zu ihm gehabt; sie hat ihm nicht sich und ihr Vermögen ausliefern wollen. So wurde aus dem Cement nichts. Nicht einmal die Wälder wurden gehauen. Er war doch ganz in allen Fällen. – Ja, die Mutter auch. Aber Gott helfe mir –!«

Dann berechnete er, was die Wälder und ihr Vermögen zusammen hätten ergeben können und was darauf (und auf das Cementlager) weiterhin hatte geliehen werden können. Er verstand seinen Vater besser als seine Mutter! – Welches Vermögen das ergeben hätte! Welche Macht, welche Herrlichkeit – welches Leben!

Beim Propst riß er alle mit sich fort. Den Propst, weil er ein praktischer Mann war, der sofort erkannte, wie viel das wert war. »Sie sind ja nun ein reicher Mann!« Die Frau, weil sie seine Begabung und Begeisterung ansprach.

Helene? Sie war stumm und erschrocken. Er wandte sich an sie und fragte, ob sie nicht mit rudern und sehen wollte. Sie mußte doch sehen, wie groß das Lager war! »Fahr mit, Kind!« sagte ihr Vater.

Im Boote wollte er sie vor sich sitzen sehen und eilte nach vorn. Ohne etwas zu sagen, ging sie neben ihm vor, setzte sich und setzte ein Ruder ein; da mußte er wieder hinten sitzen.

Mit dieser kleinen Spannung fing es an. Er hatte sie also im Rücken; er sah, wie es unter ihren Rudern schäumte. Ein heimlicher Kampf, eine stille Furcht. Die vernahm man auch aus den wenigen Worten, die gesprochen wurden. Sie vermehrten nur die Spannung.

Als sie ans Ziel kamen, waren beide rot und warm. Nun mußte er sich umwenden, um zu sehen, wo sie anlegen könnten. Erst fuhren sie langsam an dem ganzen Cementlager vorüber, so weit es sichtbar war. Er saß also ihr gegenüber und erklärte; sie sah die ganze Zeit hinauf und nur flüchtig oder gar nicht auf ihn. Sie wandten das Boot wieder, um dort anzulegen, wo nach seiner Meinung die Fabrik stehen sollte. Ein paar Sprengungen mußten erst Platz schaffen. Die Schiffe konnten wohl dicht heran kommen; aber der Hafen mußte mehr geschützt werden, und das kostete Geld.

Sie stiegen aus, er voran, um ihr zu helfen; aber sie sprang an ihm vorbei ans Land. Dann stiegen sie aufwärts, er, erklärend, voran, um den Weg zu zeigen; sie mit großen Augen und offenen Ohren hinterher.

Alles, was sie mit dem Gute von Kind auf erstrebt und erträumt hatte, wurde nun so gering. Viele Jahre mußten noch hingehen, bis der Wald Ausbeute ergab. Dies dagegen gab sofort Wohlstand und später Reichtum – wenn seine Aussagen richtig waren, und daran zweifelte sie nicht.

Das demütigte sie, setzte sie herab, oder wie sie nun es nennen sollte. Ihn aber machte es groß.

Das Rudern, der Aufstieg, die Erschütterung, in der Raphael war, beschwingte seine Auseinandersetzungen; Gesicht und Gestalt waren gespannt. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie in einer Brandung; sie mußte sich ins Boot retten und allein wegrudern; aber sie war zu stolz, um sich zu verraten. Seine Augen und sein Wesen waren das eines Eroberers; aber sie wollte nicht erobert werden. Auch wollte sie nicht den Anschein erwecken, als hätte sie gewartet und auf seine Rückkehr spekuliert. Das hieße gerade, das Uneigennützigste, das Liebste in ihrem Leben gegen sie selbst wenden.

Vor etwas in ihm fürchtete sie sich, etwas, worüber er vielleicht selbst nicht die Macht hatte – vor dem Sturm in ihm. Der war nicht lärmend oder erschreckend; er war strahlender, eindringlicher Eifer, der nahm ihm selbst die Beherrschung und ihr den Willen. Und das duldete sie nicht.

Kaum waren sie hinaufgekommen und standen angesichts der Inseln und des Meeres, sahen die Bucht bis zum Gute, den Flußlauf dort in der inneren Bucht und die Pfarre; da wandte er sich um und sah von all dem weg, auf sie, die dastand mit wogender Brust, warmen Wangen und Augen, die sich nicht getrauten, das Meer zu lassen . . . »Helene!« flüsterte er und ging zu ihr. Er wollte sie umarmen.

Sie zitterte, ohne sich umzuwenden. Dann aber wandte sie sich ohne weiteres von ihm weg und sprang hinunter. Sie hörte nicht auf, bis sie im Boote stand; das wollte sie lösen – bedachte sich aber: das wäre zu feig. So blieb sie stehen und sah, wie er nachkam. – »Aber Helene –!« rief er von oben. »weshalb springst du von mir weg?« – »Raphael, du darfst nicht –!« antwortete sie, als er herunterkam. Alles an Bitte und Befehl, worüber ein starker Mensch verfügt, lag darin.

Sie im Boot, er am Lande auf sie zu. Sie sahen sich an im Ringkampf, beide flammend, wogend unter tiefsten Atemzügen – bis er ins Boot stieg, es löste und abstieß.

Sie setzte sich. Aber bevor er es that, sagte er: »Du weißt wohl, was ich dir sagen wollte –?« Es fiel ihm schwer, so viel hervorzubringen.

Sie antwortete nicht, legte aber die Ruder aus; sie war nahe daran, in Thränen auszubrechen.

Sie ruderten lange nicht so schnell heimwärts, als sie gekommen waren.

Eine Lerche schwirrte über ihnen, eine Singdrossel sang vom Lande herüber. Eine Lumme sprang in gerader Linie über die Meeresfläche in der Richtung, die sie nahmen, eine Seeschwalbe folgte ihnen mit kleinen Schreien; da drinnen wartete gewiß etwas. Der Duft von jungem Nadelholz und frischem Heidekraut zog ihnen entgegen; weiter einwärts standen die Felder von Helleberge in Blüte. Weit hinter ihnen kam hoch oben aus den Bergen ein Adler, gefolgt von einer Schar schreiender Krähen, die sich einbildeten, ihn zu jagen.

Er machte sie auf diesen Zug aufmerksam. »Ja, sieh da!« sagte auch sie; es war eine Erleichterung, die paar natürlichen Worte sagen zu können. Er sah sich nach ihr um und lächelte. Und da gab sie ihm das Lächeln zurück.

Er fühlte ein Wohlbehagen wie im siebenten Himmel; aber er durfte es also nicht sagen, nur rudern, im Takt rudern: »Sie – ist – es! Sie – ist – es! Sie – ist – es!«

Nicht wahr, sagte er zu sich selbst, ihr Widerstand ist tausendmal schöner als –?

»Merkwürdig, daß der Seevogel auf den Inseln hier keine Eier mehr legt?« sagte er.

»Das kommt daher, daß die Inseln so lange nicht geschont sind. Die Vögel sind weiter hinaus gezogen.«

»Dann müssen die Inseln wieder geschont werden! Wir müssen doch versuchen, die Vögel wieder herein zu bekommen; – nicht wahr?« –

»Ja.«

Er drehte sich sofort nach ihr um.

Das »ja« hätte vielleicht nicht gesagt werden sollen, dachte sie; er hatte ja »wir« gebraucht.

Um zu zeigen, wie weit sie von solchen Gedanken entfernt war, sah sie nach dem Lande. »Der Klee steht heuer nicht gut.«

»Nein. – Was willst du denn mit dem Stück im nächsten Jahre thun?« Aber in die Falle ging sie nicht.

Er drehte sich um; aber sie beachtete es nicht.

Das Brausen des Flusses drang auf sie ein; die Strömung machte das Boot schwanken. Raphael sah dahin, wo sie am ersten Tage zusammen gegangen waren. Er drehte sich um, um zu sehen, ob sie auch hinaufblickte. Ja, sie that es.

Sie ruderten nach dem Landungsplatz an der Pfarre. Er sagte ab und zu etwas; aber sie hatte gelernt, daß es gefährlich war. Sie legten an. »Helene!« sagte er, als sie ans Land sprang und im Vorübereilen »Lebe wohl« sagte. »Helene!« Aber sie hielt nicht an. »Helene!« rief er, und darin lag so viel, daß sie sich umkehrte – und ihn ansah; aber sie lief weiter.

Mehr brauchte es nicht! Er ruderte nach Hause als der größte Sieger, den diese Wasser je getragen oder gesehen hatten – seitdem die Wikinger in der innersten Bucht aufeinander trafen und den Totenhügel errichteten, der beim Pfarrhofe noch zu sehen ist – ja, seit das Elender der Urwälder mit hohem Geweih von dem Renntier, das es im Kampf erlegt, zu dem anderen hinüberschwamm, das es auf der anderen Seite hörte – ja, seit die ersten Seehunde um die Wette auf sie zupatschten, die sie auf Helleberge liegen und sich sonnen sahen.

Frau Kaas hatte sie eiligst hinausrudern sehen. Sie hatte sie langsam zurückrudern sehen. Da verstand sie alles.

Schon, daß sie gerade an den Cementlagern –! Sie ging auf und ab, sie weinte.

Sie traute nicht seiner Beständigkeit, und jedenfalls war es für Raphael zu früh, sich hier zu ketten; er hatte ganz anderes zu thun. Der Cement lief ihm nicht davon; auch sie nicht – wenn es Ernst war. Diese Begegnung mit Helene betrachtete sie bloß als eine Entgleisung; er kam nicht vorwärts.

Raphael ruderte, daß Schaum vor dem Steven aufstieg. Jetzt war er gelandet, jetzt zog er das Boot herauf, als wär's ein Kinderspiel, jetzt kam er auf seinen langen Beinen heraufgerannt.

Entsetzt, verzweifelt kroch sie wie gewöhnlich in die äußerste Ecke des Sofas, zog diesmal die Beine mit – schrie, als er ins Zimmer stürzte und zu reden anfing. »Taisez-vous! Des égards, s'il vous plaît!« Sie streckte abwehrend die Arme aus.

Aber diesmal kam er getragen von Liebe und mutig vor Glück; darin lag seine Zukunft. Er that, was er noch niemals gewagt hatte, er ging gerade auf sie zu, erfaßte ihre Arme und zwang sie nieder, umarmte sie, küßte sie – erst auf die Stirn, dann auf die Wangen, den Mund, die Augen, die Ohren, den Hals, das Kinn, wo es war, ohne zu sprechen, ganz berauscht. »Verrückter Junge!« stöhnte sie, »des égards – Mais, Raphael, donc! – Que – –!« Und dann endete es an seiner Brust mit beiden Armen um seinen Hals. »Nun willst du mich verlassen, Raphael?« weinte sie.

»Dich verlassen, Mutter! Niemand kann die beiden Flügel zu einem machen wie Helene!« Und nun pries er sie maßlos, ohne zu hören, daß er immer und immer wieder dasselbe sagte.

Als er ruhiger geworden war und Atem schöpfte – bat sie, er möge sie allein lassen. Daran war er gewöhnt.

Am Abend kam sie dann zu ihm und sagte, erst müßten sie nach Christiania reisen, die Cementlager von kundigen Leuten untersuchen lassen und hören, was dann weiter geschehen sollte. Ihr Vetter, der Expeditionschef, würde schon Rat wissen. Andere ihrer Verwandten auch; die meisten von ihnen waren ja Ingenieure und Kaufleute.

Er wollte gerade jetzt Helleberge ungern verlassen, das mußte sie doch einsehen. Außerdem hatten sie ja verabredet, erst im Herbste in die Stadt zu reisen. Aber sie überzeugte ihn, daß gerade das der geradeste Weg zu Helene sei. Nur bat sie, das ganze Verhältnis zu Helene so zu belassen, wie es jetzt stand – bis sie in Christiania gewesen wären. Davon ließ sie sich nicht abbringen.

So möchte es denn so sein!

Nach ihrer Art packte sie sofort. Noch am selben Abend fuhren sie in das Pfarrhaus, um sich zu verabschieden.

Dort war die Stimmung sehr munter – seitens Frau Kaas, weil sie unruhig war und das mit Lebhaftigkeit verdecken wollte; seitens des Propstes, weil er sich wirklich über die große Entdeckung freute, die für Helleberge und den ganzen Bezirk Wohlstand versprach; seitens der Frau Pastorin, weil sie etwas ahnte. Sie gaben ihnen herzliche Glückwünsche auf die Reise mit.

Raphael hatte die allgemeine Freude benutzt, um in einem Winkel ein paar wenige Worte mit Helene allein zu wechseln. Hier entrang er ihr ein halbes Versprechen, daß sie antworten wollte, wenn er schriebe. Aber er hütete sich wohl ihr zu sagen, daß er bereits im voraus mit seiner Mutter gesprochen hatte. Er fühlte, daß Helene über ein solches Vorgehen erschrecken würde, das er so natürlich fand.

Als sie wegfuhren, winkte er mit seinem Hut, so lange sie sich sehen konnten. Man winkte wieder – erst alle, schließlich nur eine.

Der Sommerabend war hell und warm; aber nicht hell genug, nicht warm genug – auch nicht groß genug; er fand keinen Platz darin, keine Farben, deren Wonne groß genug war. Er konnte nicht schlafen, er konnte mit niemand sprechen. Er dachte im vollen Ernst daran, nach dem Pfarrhofe zurück zu rudern und an Helenes Kammerfenster zu klopfen. Er war schon auf dem Wege nach dem Schuppen und schob das Boot heraus. Aber vielleicht würde er sie erschrecken, seine Sache auf die eine oder die andere Weise verderben. So ruderte er denn hinaus, immer weiter hinaus – bis zu den äußersten Inseln, und da erschreckte er die Vögel. Als er anlegte, stiegen sie auf, erst einige, dann mehrere, dann alle, protestierten in gräßlichem Chorus – und mit mehr als Schreien! Er befand sich in einer zornigen Wolke, einer Hölle von lauter Vögeln. Aber er verlor seine gute Laune nicht. »Wartet!« sagte er zu ihnen, als er, von dem ganzen Schwarme verfolgt zurück ruderte: »Wartet – bis die Inseln bei Helleberge gefriedet werden – wie das ganze Gut! Da mögt ihr kommen und euch bei uns wohl fühlen! Auf Wiedersehen daraufhin!«


 


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