Björnstjerne Björnson
Absalons Haar
Björnstjerne Björnson

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IV.

Wie ein hohes Schiff, festlich mit Flaggen geschmückt, kam er nach Christiana; seine Liebe war Musik an Bord. Die zahlreichen Verwandten standen längst zum Empfange bereit. Die vielen Ingenieure darunter waren mit allem, was er geschrieben, à jour; die Verwandtschaft hatte für sein Bekanntwerden gesorgt. Ein Teil der größten technischen Unternehmungen des Landes war in ihren Händen, und das gab Verbindungen nach rechts und links. Die Familie hatte wieder ein Genie, d. h. einen, mit dem sie Staat machen konnte. Raphael ging von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Vorstellung zu Vorstellung, und wo er sich mit seiner Mutter zeigte, war er von einem Hofe umgeben. Diesen bildeten besonders die Damen des Geschlechts, die noch eifriger waren als die Herren; die beiden waren kaum eine halbe Woche in der Stadt, als sie merkten, daß ihr Besuch sensationell wurde. Es giebt Leute, die dazu nicht taugen; sie gleichen rußigen Kesseln ohne Klang oder eigensinnigen Kindern, die nicht wollen, oder mürrischen alten Hunden, die knurren. Er aber war so völlig harmlos – erste Bedingung! – ein richtiger guter Junge mit prächtiger Laune. Und er hatte das äußere Ansehen; er maß seine drei Ellen, und diese drei Ellen waren nach der feinsten Mode gekleidet. In seinen großen lebhaften Augen wehten Festflaggen; um seine breite Stirn glühte elektrischer Glanz; er hatte darin Übung, anderen klar zu machen, was ihn selber begeisterte, und er war hübsch, wenn er das that. Er war ein vollendeter Weltmann, der mehrere Sprachen sprach bei den kosmopolitischen Mittagen, die eine Specialität der Familie waren. Er war Besitzer eines der wenigen wirklichen Güter in Norwegen und verfügte, wie es hieß, außerdem über ein beträchtliches Vermögen. Schon die Hälfte wäre genug, um alle Glocken klingen zu machen. Erst feierte ihn die Familie, dann die Gesellschaft, dann die Stadt. Vierzehn Tage lang war er das Ereignis von Christiania. Man muß die kritischen, phantasielosen Einwohner der Hauptstadt kennen, die lediglich aus Bedürfnis nach Speise täglich einander bei lebendigem Leibe aufessen – man muß es gesehen haben, wie sie klapperdürre, seltsame Bibelerklärungen verschlingen, um zu erkennen, was daraus werden kann, wenn sie ab und zu einmal wirklich ein Thema bekommen! Nichts fegt im Sturm gefährlicher in die Höhe als Wüstensand; keine Sensation ist wie die Christianias. Als es bekannt wurde, daß zwei Sachverständige aus der Familie mit einem angesehenen Geologen und Bergmeister zusammen mit Raphael auf Helleberge gewesen wären und dort seine Angaben über das Cementlager bestätigt gefunden hatten – da stürmte und wirbelte es um ihn zwanzigmal am Tage. Das greift an! Aber er war unermüdlich wie ein Piano, und nicht wählerischer, als daß er neben dem Feinsten und Leckersten auch Mädel und Tauenden genießen konnte. In jeder Hinsicht hielt der junge Tollkopf Maß, Tag und Nacht drehte er sich in einem Rundtanze, der alle anderen, nur ihn nicht, außer Atem brachte. Der herrliche Monat auf Helleberge hatte gut gethan. Er wurde auch von lustigen Abenteuern heimgesucht – so seltsamer und so kecker Art, daß man sein Leben hätte dafür verpfänden können, daß so etwas in Christiania unmöglich wäre. Aber starke Dürre erzeugt Durst. Er war guter Laune wie ein Junge im Einmacheglase, wenn Mund, Nase, Stirn und Hände beschmiert sind. So gefallen den Damen die Kinder am besten; da sind sie das süßeste auf Erden. Ein großer, hochreifer Vogelbeerbaum von tausend Staren umflattert – dasselbe Leben war um ihn herum. Nun fehlte bloß noch, daß er Gott wurde – und das wurde er auch.

In den Fabriken, die er besuchte, gab er bald hier, bald da einen Fingerzeig (er war reich an eigener Anschauung und hatte einen schnellen Blick), und jeder Fingerzeig war kostbar. Endlich in einer Fabrik von ungefähr derselben Art wie die französische, für die er die halbe Betriebskraft erspart hatte, gab er einen ähnlichen Plan an; er zeigte auf der Stelle, wie es gemacht werden könnte.

Das verbreitete sich in allen Gesprächen, das wuchs, wuchs wie die See unter mehrtägigem Westwind. Das neue Genie, das nur einige zwanzig Jahre alt war, mußte einmal das Wunder des Landes werden. Bald wurde es Mode, daß die Herren Fabrikbesitzer ihm ihre Anstalten zeigten, und erst als die Großkaufleute sich versichert hielten, daß sie einen Gott unter sich hatten, da wurde es erst ernst; denn erst die Begeisterung der Großkaufleute giebt den Ausschlag. Diesen großen Augenblick hatten die Damen erwartet, um sich auf einmal vom letzten Grad Vernunft zum fünften Grad Verrücktheit aufzuschwingen. Wie Sonnenschein auf blankem Metall, so tanzten ihre Augen Cancan auf ihm. Er beachtete Grad und Temperatur nicht weiter, dazu war er zu gutmütig in seiner liebenswürdigen Glückseligkeit, auch zu unbekümmert.

Ein starkes Moment bei der Geschichte war das Temperament der Familie; denn das war auch das seine. Er war ein Raon durch und durch – ja vielleicht mit einem kleinen Körnchen Kaas. Er war das, was sie »das echte Raonsche« nannten – frei von allen Schattierungen; er schien ihnen aus der Urwerkstatt des Geschlechts zu stammen, aus seiner gemeinen Grundkraft. Der solide physische Zuschuß hatte die Gaben vielleicht üppiger gedeihen lassen; aber die Gaben selber nahm das Geschlecht für sich in Anspruch. Durch Hans Raon hatte Raphael an dem Zusammenleben mit den Verwandten Geschmack bekommen; nun war es da. Für jedes seiner Worte stand das Lachen des Verständnisses fertig; es knisterte geradezu um ihn. Wo er von dem gewöhnlichen Geschmack, von Vorurteil und herkömmlicher Moral abwich, da wichen auch sie ab; wo sein junges Verständnis hinstürmte, da stand ihres zum Beifall bereit, ja es traf ihn weit weg von dem Ziel, das er erstrebte. Weil er jung von Natur und an Alter war und viel mehr konnte als ein gewöhnlicher junger Mann, so paßte er ebenso in die Gesellschaft der älteren wie der jüngeren – o, wie er in Norwegen gedieh!

Seine Mutter war überall dabei. Ihr Leben war ihnen ja einmal als das sinnloseste erschienen, das sie sich denken konnten, aber daraus hatte sie das größte gemacht. Vor einem so hohen Ziel und so eisernem Willen empfanden sie Ehrerbietung, und die wurde ihr erwiesen. In den zierlichsten Toiletten, mit ihrem diskreten Wesen und vornehmen Anstand ging sie von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Ausflug zu Ausflug, bis es ihr zu viel wurde.

Es ging auch zu weit; es verletzte ihren Takt, ihr wurde bange. Aber der Festzug zog weiter ohne sie – wie eine Reihe von Wagen, die weiter fuhren, während sie abgeworfen war. Die Augen folgten der Staubwolke dort weit voran, und sie hörte den Widerhall des Lärmes.

Helene – ja, was war aus Helene geworden? War sie auch weggekommen? Weit gefehlt! Raphael war so sicher, sie mit zu haben, als er sicher war, daß er seine goldene Uhr in der Brusttasche hatte. Gleich am ersten Tage seines Aufenthalts in der Stadt hatte er ihr einen Brief geschrieben. Der war nicht lang – dazu hatte er keine Zeit – aber ganz er selbst. Er erhielt sofort Antwort; die Pensionswirtin kam selbst damit; er wurde so übermäßig froh, daß die Wirtin, die den Poststempel gesehen hatte und mit dem Propste verwandt war, den ganzen Zusammenhang erriet – was ihn sehr amüsierte.

Aber Helenes Brief war ausweichend; sie kannte ihn offenbar noch nicht genug, um aus sich herauszugehen.

Er hatte keine Zeit, zu versuchen, ob er sie brieflich zum Sprechen bringen könne. Nachts kam er heim, spät am Tage wachte er auf, und da waren schon die Freunde da und erwarteten ihn. Dann kam er nicht eher in die Pension zurück, als bis er sich zum Mittag umkleidete; währenddem stand der Wagen vor der Thür; denn er kam immer erst im letzten Augenblick nach Hause. Wann sollte er schreiben? Bald war es überstanden, und dann nach Hause zu Helene!

Die Cementgeschichte hielt ihn länger zurück als er erwartet hatte. Seine Mutter machte nämlich Schwierigkeiten; – nicht daß sie sich der Bildung der Compagnie widersetzte, aber sie erhob viele Bedenken; offenbar hätte sie die Sache am liebsten hinausgeschoben gesehen. Er hatte keine Zeit, sie zu überreden; sie ärgerte ihn auch. Er überließ es der Wirtin.

Eine merkwürdige Person, diese Frau, die ohne die geringste Spur von Anstrengung die Pension, die Geschäfte ihrer Bewohner und eine Menge Kinder regierte. Sie war Witwe. Ein paar von den Kindern waren fast zwanzig Jahre, aber sie selbst schien erst dreißig Jahre alt zu sein. Groß, geschickt, dunkel, mit Augen wie glühende Kohlen, sicher, schnell in allen Fragen, Antworten, Bewegungen; wie ein Offizier mit langer Kommandierübung; immer wurde ihr geglaubt und gehorcht. Unwillkürlich beugte man sich ihrer kurzen, natürlichen Art, mit der sie alles ordnete. Und diensteifrig, ja aufopfernd war sie denen gegenüber, die sie leiden mochte; – aber das waren freilich bei weitem nicht alle. Diese Rückhaltlosigkeit war eine Grundlage, die sie noch einmal so zuverlässig machte.

Sie hatte sich längst Frau Kaas angenommen – vor allem sie amüsiert. Angelika Nagel gebrauchte in ihrer Rede den modernen Christiania-Jargon. Da verband man Bezeichnungen wie »scheußlich« mit dem geraden Gegenteil von Scheußlichkeit, z. B. »scheußlich schön« u. s. w. Man sagte nicht »hübsch,« sondern »zu hübsch« oder »wunderhübsch«; und umgekehrt nannte man das Allerschlimmste nicht »schlimm,« sondern mit komischer Moderation »freilich schlimm.« Die ausgetretenen Schuhe der Sprache, mit denen die Müßiggänger der Großstadt daher schlürfen, wurden erst jetzt in Christiania eine Modesache.

Alles das war neu und charakteristisch für das Ungezogene, Losgelassene, das aufgekommen war als Reaktion gegen die Zimperlichkeit, über die Frau Kaas sich seiner Zeit hinweggesetzt hatte. Deshalb amüsierte der Typus Frau Kaas; sie studierte ihn. Dann nahm ihr Angelika Nagel alle praktischen Beschwerlichkeiten ab und erledigte sie spielend. So auch jetzt mit der Cementangelegenheit. In ihrer scheinbar unbedachten Art platzte sie auch damit heraus, was der eine und der andere darüber gesagt hatte, und Frau Kaas beachtete das.

Bald brachte sie es so weit, daß es notwendig wurde, mit Raphael zu sprechen; und da er schwer zu treffen war, erwartete sie ihn nachts.

Als er sie das erste Mal die Thür öffnen sah, wurde er ganz schüchtern, und als er erfahren, was sie wollte, außerordentlich dankbar. Das zweite Mal raubte er ihr einen Kuß, sie lachte und lief weg, ohne mit ihm zu sprechen; das war der Lohn für seine Mühe. Aber er hatte die feste Fülle ihres Leibes gespürt, und die Wollust hatte ihn gepackt. Sie blieb indessen gänzlich weg; sogar tagsüber bekam er sie nicht zu sehen, trotzdem er es versuchte. Aber unerwartet traf sie ihn wieder an der Thür; es war etwas, was sie ihm sagen mußte. Da kam es zum Kampfe zwischen ihnen. Auch der endete damit, daß sie ihm entwischte und verschwand. Er flüsterte hinter ihr her, so laut er konnte: »Dann ziehe ich aus!« –

Noch während er sich entkleidete, glitt sie leise in sein Zimmer.

Am Tage darauf, noch bevor er völlig wach geworden, brachte ihm der Postbote einen Geldbrief mit 15 000 Francs. Er glaubte, hier müsse eine Namensverwechslung vorliegen – oder es würde ihm eine Kommission übertragen. Nein, der Brief kam von dem französischen Fabrikbesitzer, dem er damals die Betriebsunkosten um die Hälfte verringert hatte; er erlaubte sich, ihm das als bescheidenes Honorar zu schicken; früher hätte er es nicht thun können, aber jetzt solle es nicht dabei bleiben. Er sah Raphaels Quittung mit einer gewissen Spannung entgegen, da er die Adresse des Empfängers nicht genau kannte.

Blitzschnell war Raphael aus dem Bett; er erzählte es allen – lief hinunter zu seiner Mutter und wieder hinauf. Aber kaum war er einen Augenblick allein – da machte ihn dieses Übermaß von Glück und Sieg bange. Nun mußte es enden! Nun wollte er nach Hause. Er hatte keine Spur von Gewissensbissen gehabt, auch keine Sehnsucht – erst jetzt. Auf einmal so unsäglich. Sie stand rein und hoch da auf dem Berggipfel. Es wurde zur Angst; er mußte sofort reisen oder er wurde verrückt.

Die Angst besänftigte sich, als er die aufrichtige Freude der Mutter sah. Sie kam zu ihm, als sie hörte, daß er sich eingeschlossen hatte; ein wirklich gemütliches Gespräch kam zwischen den beiden zustande. Schließlich sprachen sie auch über ihre finanziellen Verhältnisse. Sie wohnten in der Pension, weil es ihnen zu teuer war, länger im Hotel zu wohnen; das Gut brachte nichts ein, bevor der Wald nicht wieder mitreden konnte, und ihr Kapital war nicht länger unberührt – trotz des Verbotes. Jetzt war sie willig, ihn die Cementcompagnie ordnen zu lassen. Deshalb fuhr er denn in die Stadt, wo sich bald sein Hof um ihn versammelte.

Aber das viele Geld, das dazu gehörte, fand sich nicht an einem Tage, und die Sache zog sich in die Länge. Er wurde ungeduldig; er wollte und mußte reisen, sodaß schließlich seine Mutter ihren Vetter, den Expeditionschef, dazu vermochte, die Compagnie zu bilden, – und sie rüsteten sich zur Abreise.

Teils machten sie Abschiedsbesuche, teils schickten sie Karten umher mit Dank und Gruß. Alles war fertig, der Tag selber kam, als Raphael frühmorgens im Bett einen Brief vom Propst erhielt. Ein anonymer Brief aus Christiania, schrieb der Propst, hätte ihn darauf aufmerksam gemacht, wie Raphael dort lebe; darauf hätte er sich selber Auskunft verschafft, und die Folge wäre, daß er heute seine Tochter ins Ausland reisen ließe. Mehr stand nicht im Briefe.

Aber Raphael erriet, was zwischen Vater und Tochter vorgefallen sein mußte. Eilig kleidete er sich an und stürmte zu seiner Mutter hinunter. Sein Zorn über die erbärmlichen Menschen, die seine und Helenes Zukunft vernichtet hatten, – wer konnte es nur gewesen sein? – floß zusammen mit seiner Verzweiflung; er liebte ja nur sie, um alle die anderen kümmerte er sich ja gar nicht! Er fühlte sich auch beleidigt daß der Propst oder sonstwer es wagte, ihn so zu behandeln – ihn wie einen Diener zu verabschieden, ohne mit ihm zu sprechen, ohne ihm eine Rechtfertigung zu gestatten! Die Mutter las den Brief mit Ruhe. Jetzt hörte sie ihn an – auch mit Ruhe. Und als er darüber noch rasender wurde brach sie in Lachen aus. –

Es war nicht ihre Art, was zwischen ihnen lag in Worten zu begleichen. Aber diesmal fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß sie ihn nicht der Cementangelegenheit wegen zu der Christianiareise bestimmt hätte, – das hatte sie genügend gezeigt – sondern um seine Gedanken von Helene abzulenken und das sagte er ihr.

Ja, er sagte: »Nun geht es mir, wie es dem Vater erging. Und das wird auch deine Schuld.« Damit stürzte er hinaus.

Bald darauf reiste Frau Kaas ab. Am selben Tage abends reiste auch er, aber nach Frankreich.

Von Frankreich aus schrieb er dem Propste, bat aufs dringendste, Helene wieder nach Hause kommen zu lassen; er wollte sie sofort heiraten. Was der Propst auch von seinem Leben in Christiania gehört hätte – das hätte nicht das geringste mit dem Gefühl zu thun, das er für Helene nähre. Sie – und sie allein – hätte die Kraft, ihn zu binden. Ihr wollte er fürs Leben angehören.

Der Propst antwortete nicht.

Nach Verlauf eines Monats ein neuer Brief. Darin erkannte er an, daß er sich nicht recht betragen habe. Er hätte nur nicht darüber nachgedacht. Das sei als eine Fortsetzung von so vielem anderen gekommen, die Umstände seien so irreführend gewesen. Aber, schwur er, damit solle es ein Ende haben; er wolle beweisen, daß er Vertrauen verdiene. Ja, er hätte es bewiesen, seitdem er Christiania verlassen. Der Propst solle doch nur versöhnlich sein; das hieße ja ihn verbannen, denn ohne Helene könnte er nicht nach Helleberge kommen. Alles, was ihm dort lieb sei, wäre in ihrer Gesellschaft eingeweiht worden; alles, was da zu thun sei, wäre mit ihr zusammen geplant. Ja, damit auch sein Leben! Er trauere und habe Sehnsucht, daß es ihm unmöglich sei, so ernsthaft zu arbeiten, als er das Bedürfnis habe.

Diesmal erhielt er Antwort, aber kurz. Sie lief darauf hinaus, daß allein eine längere Prüfung sie von dem Ernst seines Vorsatzes überzeugen könne.

Also nicht nach Hause, nicht arbeiten! Wenigstens keine gedeihliche Arbeit! Er kannte seine Mutter zu gut, um nicht zu wissen, daß jetzt auch die Cementangelegenheit ruhe – ob nun die Compagnie gebildet war oder nicht. Zum Überfluß überzeugte er sich davon.

Er hatte längst seiner Mutter geschrieben und sie gebeten, ihm, was er gesagt hatte, zu verzeihen; sie wüßte, daß es nur in der Hitze geschehen wäre; sie wüßte, wie er sie liebe, wenn er auch so unglücklich wäre, mit ihr über das uneinig zu sein, was ihm teuer wäre und bleiben würde.

Sie antwortete ihm in einem schönen, langen Briefe – ohne das Vorgefallene oder Helene zu erwähnen. Sie erzählte verschiedenes, unter anderem auch, was der Propst mit Rücksicht auf das Gut meine. Daraus schloß er, daß sie wie früher im Pfarrhause verkehrte. Ob vielleicht der letzte Grund des Propstes, die Sache hinauszuschieben, gerade der war, daß er merkte, wie Frau Kaas sich nicht dafür interessierte?

Der Herbst nahte heran; bei all der Ungewißheit fühlte er sich einsam und sehnte sich nach seinen neuen Freunden in Christiana. Das schrieb er ihnen, und daß er zurückkehren wolle; doch wollte er sich eine Zeitlang in Kopenhagen aufhalten.

In Kopenhagen traf er Angelika Nagel wieder. Sie war in Gesellschaft von ein paar Studienfreunden aus Christiania. Sie war ungeheuer munter, strahlend vor Gesundheit und Schönheit und mit der flotten Keckheit, die der Jugend die Sinne verrückte. Die ganze Zeit hatte er alles hierher gehörige verbannt und er kam ohne den Drang, es zu erneuern. Aber hier wurde er zum erstenmal in seinem Leben eifersüchtig! Das war ein ganz neues Gefühl, dem zu widerstehen er nicht vorbereitet war. Er wurde es, sobald er sie nur in Gesellschaft eines Kameraden sah. Sie hatte eine eigene, frische, derbe Art. die seine Sinne entflammte.

Jetzt begann ein neuer Abschnitt in ihrem Zusammenleben; es teilte sich zwischen rasender Eifersucht und rasender Hingabe. Dies führte zu einem Briefwechsel eigener Art, und dieser Briefwechsel zog ihm nach.

An Bord hörte er ein Gespräch zwischen einem Kellner und einer Kellnerin: »Sie lauerte ihm nachts auf, bis es wurde, wie sie wollte. Und jetzt hat sie ihn fest.«

Möglich, daß sich die Worte nicht auf ihn bezogen; aber es war ja auch möglich, daß das Mädchen in der Pension in Christiania gewesen war; er kannte es nicht.

Merkwürdig ist an solchen Verhältnissen wie dem Angelikas und Raphaels, daß beide Teile in dem Glauben leben, unsichtbar gewesen zu sein. Er dachte, bisher hätte kein Mensch etwas davon gewußt. Allein der Verdacht des Gegenteils machte ihm alles widerlich. Die Pension, Angelika, die Briefe – pfui Teufel! Er wollte nicht damit fortfahren – um keinen Preis. Hatte Angelika ihr Netze nach ihm ausgeworfen und ihn wie einen dummen fetten Fisch eingefangen? Das war ihm nie und nimmer eingefallen, das Ganze hatte keine Rolle in seinem Leben gespielt – bis jetzt, wo er sie in Kopenhagen traf. Vielleicht war auch das ein durchdachter Plan!

Nichts kann die Eitelkeit und das Eroberer-Selbstgefühl eines Mannes tiefer kränken, als daß er da, wo er Sieger zu sein glaubt, nur ein eingefangener Sklave ist.

Raphael ging den größten Teil der Nacht auf Deck auf und ab, und als sie nach Christiania kamen, bezog er ein Hotel. Am nächsten Tage wollte er direkt nach Helleberge reisen; jetzt sollte es biegen oder brechen! Dies – und alles ähnliche – mußte für immer ein Ende haben; das führte nur ins Verderben. War er nur erst zu Hause und erfuhr, wo Helene war, da gab sich das andere schon von selber.

Vom Hotel ging er in Angelika Nagels Pension, um zu bestellen, daß man ihm einige Sachen, die dort standen, sofort ins Hotel bringen sollte; er reise nachmittags.

Er hatte zu Mittag gegessen und kam auf sein Zimmer, um zu packen – da stand sie da. Elegant, hübsch und so unglücklich, wie er niemals jemand gesehen hatte. War er wirklich nicht bei ihr abgestiegen? Wollte er sofort abreisen? Sie weinte so ganz hilflos verzweifelt. daß er, der auf alles andere, nur nicht darauf vorbereitet war, sie so trostlos zu sehen, nur ausweichend zu antworten wußte. Ihr Verhältnis, sagte er, hätte ja keine andere Bedeutung gehabt als die eines zufälligen Zusammentreffens; das wüßten sie beide. Also wüßte sie auch, daß es früher oder später ein Ende haben müsse. Und jetzt sei die Zeit gekommen.

Doch, meinte sie, ihr Verhältnis bedeute mehr; sie sei niemand begegnet, den sie so geliebt hätte; das hätte sie ihm bewiesen. Denn sie sei hierher gekommen, um ihm zu sagen, daß sie guter Hoffnung sei. Sie wäre so verzweifelt, wie nur jemand es sein könne; es wäre ihr und ihrer Kinder Ruin. Niemals hätte sie sich etwas so Entsetzliches denken können; aber ihre wahnwitzige Liebe hätte sie ja zu Boden gerissen – nun läge sie denn da, wie sie zu liegen verdiente.

Raphael konnte nicht antworten, weil er nicht denken konnte. Er sah die Zuckungen in ihrem Nacken und Rücken, er sah ihren kleinen Fuß unter dem Rocke hervorlugen, ihre starken Arme in straffen Ärmeln; das Gesicht barg sie in ihren Händen auf der Tischplatte und weinte, schluchzte, schrie.

Trotzdem – das, worum sich seine Gedanken zuerst zu Klarheit sammelten, war nicht Mitleid mit ihr. Das war Helene, war der Propst, war seine Mutter. Was würden die nun sagen? –

Als wenn sie fühlte, wo seine Gedanken waren, hob sie den Kopf. »Willst du mich wirklich verlassen?« Wie war ihr Gesicht verzweifelt, die starke Frau schwächer als ein Kind!

Er stand aufrecht vor ihr mit dem offenen Koffer, auch er ganz unglücklich. »Was kann es nützen, daß ich hierbleibe?« antwortete er ruhig. Ihre Augen ruhten in den seinen, spähend, wurden klarer und klarer, wurden bestimmt, dann leuchteten, dann blitzten sie, der Mund verzog sich höhnisch, sie wuchs von Sekunde zu Sekunde, bis sie aufsprang: »Heiraten sollst du mich, wenn du Ehre im Leibe hast!«

»Ich dich heiraten – dich –!« rief er, erst entsetzt, dann auch höhnend.

Nun bekamen ihre Augen einen bösen Glanz. Sie reckte den Kopf vornüber, die ganze Frau sammelte sich zu einem Anfall wie eine Tigerin. Aber es kam nur zu einem Schlag auf den Tisch mit der Hand eines Mannes: »Ja, das sollst du, zum Kuckuck!« flüsterte sie. Sie ging an ihm vorbei und ans Fenster. Was wollte sie?

Es öffnen, hinaus schreien; – er hörte nicht deutlich, was. Sich ganz über den Rahmen hinaus beugen und noch einmal schreien. Dann schloß sie das Fenster, drehte sich nach ihm um, drohend, triumphierend.

Er stand da. leichenblaß – nicht weil ihm bange war und er sich einschüchtern ließ, sondern weil er merkte, daß er hier seinen Todfeind vor sich hatte. Und da erhob er sich zum Kampf.

Sie sah es sofort; sie fühlte seine Stärke, bevor er sich rührte. Da lag etwas in Auge und Haltung, worüber sie niemals Herrschaft gewann. Eine Kraft im Ausdruck, mit der sich niemand gern einließ. So hatte er sie nie vorher gesehen – so hatte auch sie ihn nie vorher gesehen.

Um so wilder liebte sie ihn! Sie freute sich, daß er ihre Bewegungen im Zimmer nicht beachtete, sondern daran ging, das letzte Stück in den Koffer zu legen und ihn zu schließen. Da trat sie dicht an ihn heran – in Zerknirschung, in Reue und Elend, dem größten, das er je im Leben oder in der Kunst gesehen hatte. Das Gesicht steif vor Entsetzen, die Augen starr, die ganze Gestalt bewegungslos, nur Thräne auf Thräne ohne einen Laut oder Atemzug. Sie wollte und mußte ihn haben, sie zog ihn an sich wie die Meeresbrandung, es waren rasende, verzweifelte Äußerungen einer Liebe, die Lebensbedürfnis ist. Er verstand es jetzt.

Aber er legte das letzte Stück in den Koffer und schloß ihn zu. Dann ging er ein paarmal auf und ab, als wäre er allein – sagte dann, sie müsse selber einsehen, daß es unmöglich sei.

»Glaubst du nicht.« antwortete sie ruhig, »daß ich dir alle Last abnehmen könnte? Sodaß du arbeiten könntest? Hast du nicht gesehen, daß ich mit deiner Mutter umzugehen verstehe?« Er antwortete nicht, aber er mußte einräumen, daß es wahr war. Sie wartete eine Weile, dann fügte sie hinzu: »Und Helleberge . . ., ich kenne ja das Gut auch; der Propst ist ja mit mir verwandt, ich bin dort gewesen. Das wäre etwas für mich zu verwalten – meinst du nicht? Und die Cementgruben,« fügte sie hinzu, »ich besorge das Geschäft, es sollte dich nicht hemmen.«

Sie sagte es gedämpft, kurz. Sie lispelte leicht, und das machte gleichzeitig einen hilflosen Eindruck.

»Auf jeden Fall reise heute nicht – denke darüber nach!« fügte sie hinzu und weinte nun wieder bitterlich. Er glaubte, sie trösten zu müssen.

Sie ging auf ihn zu, umschlang ihn mit ihren Armen, drückte ihn an sich in ihrer Verzweiflung und ihrer Begierde. »Reise nicht, reise nicht!« – –

Sie fühlte, daß er wärmer wurde. »Niemals,« flüsterte sie, »habe ich, seitdem ich Witwe wurde, mich einem anderen hingegeben – und das verstehst du selber –« sie legte den Kopf auf seine Schulter und schluchzte, schluchzte.

»Es kommt so plötzlich über mich,« sagte er. »Ich kann nicht –«

»So nimm dir Zeit!« flüsterte sie und gab ihm einen flüchtigen Kuß. »Ach, Raphael,« sie wand sich um ihn, legte Feuer um ihn.

Es klopfte an die Thür, sie ließen voneinander. Es war der Mann, der die Sachen holen wollte.

»Nein,« sagte Raphael errötend, »ich will bis morgen warten.«

Der Diener ging, sie sprang zu ihm, dankte ihm, jubelte, küßte ihn. Ach, wie sie strahlte von Stärke, von Glück und Sieg. Sie war ein junges Mädchen von einigen zwanzig Jahren. Oder vielmehr ein junger Mann. Denn es war etwas Männliches auch in der Art, wie sie jetzt wegging.

Aber kaum war das Licht und Feuer draußen – so sank auch seine Stimmung. Bald darauf lag er langgestreckt auf dem Sofa wie in einem Grabe. Er meinte, sich nicht wieder erheben zu können.

Was wurde nun aus seinem Leben? Denn das Leben hat einen Traum über sich, der seine Seele ist. Und wenn der Traum weg ist, sieht das Leben aus wie eine Leiche.

Das hatte die große Angst angezeigt. Bis hierher hatten alle Raone das Raubtier in ihm begleitet. Hier sollte es nicht langer spielen und ihn amüsieren, hier sollte es im Ernst seine Klaue in ihn schlagen, ihn niederwerfen und sein frisches Blut einschlürfen.

Aber ebenso sicher war, daß sie ruiniert war, sie und ihre Kinder, wenn er sie verließ. Und dann hielt ihn niemand für einen ehrenhaften Menschen; er sich selbst nicht.

Während seines letzten Aufenthaltes in Frankreich, als er mit einer größeren Arbeit nicht zustande kommen konnte, die ihm immer vorschwebte, da dachte er oft: du hast das Leben zu leicht genommen; wer das thut, dem gelingt nichts Großes.

Wenn er nun jetzt hier seine Schuldigkeit that, sein Verbrechen gegen sie, gegen sich und andere auf sich nahm – es trug wie ein Mann – vielleicht kam er dann dazu, die volle Kraft zu gebrauchen?

Das hatte die Mutter gethan und war vorwärts gekommen.

Aber mit dem Gedanken an die Mutter kam der Gedanke an Helene, kam sein Traum. Der zog nun von ihm weg wie im Herbste die Zugvögel. Er lag wieder da und meinte, nicht wieder aufstehen zu können.

Aus dem Getümmel, in dem er sich im Sommer bewegt hatte, erinnerte er sich an zwei Menschen, zu denen er Zutrauen gefaßt hatte, einen jungen Mann und seine Frau; bei ihnen saß er am Abend; er erzählte ihnen alles ehrlich; denn er war nun einmal ehrlich. Die entscheidende Probe ist, ob einer auch alles von sich selber erzählen kann. Und das konnte er.

Mit Entsetzen hörten sie ihn an. Aber ihr Rat war sehr sonderbar; er solle warten und sehen, ob sie wirklich guter Hoffnung wäre.

Dies erweckte Widerwillen in ihm; hier war kein Zweifel zulässig; denn ehrlich war sie. – Aber sie konnte sich ja irren; – sie mußte es untersuchen lassen. Auch dieser Vorschlag empörte ihn; – aber er ging darauf ein, daß auch sie zu ihnen kommen und mit ihnen reden solle; sie kannte sie.

Am nächsten Tage kam sie zu ihnen. Ihr sagten beide, was sie Raphael nicht gut sagen konnten, nämlich das, daß sie ihn ruinieren würde. Besonders die Frau schonte sie nicht. Ein hochbegabter Mensch wie Raphael Kaas, mit so guten Aussichten in jeder Beziehung, durfte doch nicht, einige zwanzig Jahre alt, eine ältere Frau und viele Kinder aufgebürdet bekommen. Er war nichts weniger als reich, das wußte sie aus seinem eigenen Munde, sein Leben würde das eines Lasttieres werden, und zwar, ehe er gelernt hatte, es zu ertragen. Sollte er den Lebensunterhalt für so viele Menschen erarbeiten, dann müßte er das Unmöglichste auf sich nehmen, würde darunter mittelmäßig werden. Darunter würden sie beide leiden, getäuscht und mißvergnügt werden. Er durfte doch nicht so hart für einen Leichtsinn büßen, für den sie zehnmal mehr verantwortlich war als er. Was glaubte sie wohl, daß die Leute sagen würden? Er, der so beliebt, so gesucht, so überall willkommen war. Sie würden über sie herfallen wie Krähen über eine Krähe und sie in Stücke hacken. Sie würden ohne Ausnahme das Schlimmste glauben.

Der Mann fragte sie, ob sie auch ganz sicher wüßte, daß sie guter Hoffnung sei. Sie müßte sich untersuchen lassen. Angelika Vogel wurde rot und antwortete, halb höhnisch, halb lachend, darauf verstünde sie sich. »Ja,« antwortete der Mann, »das haben viele gesagt und sich doch geirrt. Die Leute erfahren ja, daß Sie gesagt haben, Sie wären guter Hoffnung, und daß er Sie deswegen geheiratet hat – was meinen Sie wohl, werden diese selben Leute sagen, wenn es sich herausstellt, daß Sie sich geirrt haben? Denn es wird ja bekannt werden.«

Sie wurde wieder rot und sprang auf. »Sie mögen sagen, was sie wollen.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Aber Gott bewahre, ich will ihn nicht unglücklich machen.« Um ihre Bewegung zu verbergen, wandte sie sich ab. Aber die Frau ließ sie nicht los; sie schlug ihr vor, sie solle ohne weiteres ihm zu schreiben, ihn freigeben und zu seiner Mutter reisen lassen; da könnten sie es ja abmachen. Angelika war ja so tüchtig, daß sie sich sicher durchschlagen könnte, und das müsse sie versuchen. Raphael müsse ihr ja auch helfen.

Angelika sagte: »Wenn ich nachgeben soll, so will ich an seine Mutter schreiben. Sie soll alles wissen, daß sie auch die Verantwortung kennt, die er auf sich nimmt.«

Das fand die Frau billig, und Angelika setzte sich hin und schrieb. Sie war dabei oft bewegt, aber es ging – schnell, bestimmt, Bogen für Bogen.

Da klingelte es; ein Bote mit einem Briefe. Das Mädchen kam damit herein, die Frau nahm ihn entgegen; aber er war nicht an sie, sondern an Angelika gerichtet – beide erkannten Raphaels kühne Handschrift.

Angelika erbrach ihn, wurde feuerrot, strahlte; denn er schrieb, das Resultat seiner ernstesten Überlegungen sei: durch ihn sollten sie und ihre Kinder nicht unglücklich werden; er sei ein rechtschaffener Mensch, der seine Verantwortungen auf sich nehmen und nicht auf andere abladen wolle.

Angelika gab der Frau den Brief. Dann zerriß sie, was sie fertig geschrieben hatte, in tausend Stücke – und ging.

Die Frau stand da und dachte: »Das Gute in uns muß für das Schlechte bürgen, und so hängen wir fest genug.«

Die Entdeckung, die die Frau hier machte, war vorher schon verschiedenemal gemacht worden. Aber deshalb war sie gleich richtig. –


 


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