Björnstjerne Björnson
Absalons Haar
Björnstjerne Björnson

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II

Damit begann die lange Studienzeit, für die sie in allen diesen Jahren unter allerhand Qualen und Entbehrungen Geld gespart, auf die ihn ihr Unterricht vorbereitet hatte. Kaas hatte das Gut bis aufs äußerste ausgesaugt hinterlassen, mit Hypotheken belastet, der Wald nur brauchbar zu Brennholz. Ihr Nachbar, der Propst, ein tüchtiger, praktischer Mann, übernahm die Leitung. Das Zerstörungswerk mußte sofort beginnen, um Geld zu schaffen; Mutter und Sohn wollten es nicht sehen.

Sie kamen nach England wie zwei Flüchtlinge, die nach langen, schweren Prüfungen um ihrer Liebe willen eine neue Heimat, ein neues Vaterland suchten. Untrennbar und unpraktisch lebten sie in dem fremden Gewimmel und wurden dadurch womöglich noch enger aneinander geknüpft. Er war damals zwölf Jahre alt.

Und doch – bald darauf hatten sie ihren ersten Streit.

Er war in die Schule gekommen, hatte Kameraden und ein starkes Bedürfnis, sich hervorzuthun. Er war sehr lang und schwächlich, wollte aber auch gern stark sein. Er legte sich auf Sport, zeichnete sich aber darin nicht aus. Dagegen wußte er, dank seiner Mutter, mehr als die Kameraden, und es glückte ihm, sich damit interessant zu machen. Die Stellung, die er damit errang, mußte aufrecht erhalten werden. Aber nichts machte so viel Eindruck, als wenn er von Norwegen und den Thaten seines Vaters fabelte. Er sagte mehr darüber, als er verantworten konnte; das war nicht allein seine Schuld; er konnte wohl Englisch, beherrschte aber nicht die Zwischenfarben der Sprache; er brauchte die starken Worte, die immer bei der Hand sind. Es war wahr, daß sein Vater ihm zwanzig Gewehre, ein großes Segelboot und mehrere kleine hinterlassen hatte; aber wie ausgezeichnet waren nun nicht alle diese Gewehre und Boote geworden! Er wollte wie sein Vater nach dem Nordpol gehen und Eisbären schießen, ja, lud sie ein, ihn zu begleiten. Innerhalb dieser großen Linie gab er mehr, als er selbst wußte; aber trotzdem nicht genug; denn es gehörte eine große Portion dazu, sie jeden Tag zu sättigen. Er mußte geradezu studieren, um es im Gange zu erhalten. So kam es, daß er eines Abends in Gesellschaft der Kameraden zum Barbier hinunter ging und ohne weiteres ihn sein ganzes Haar abschneiden ließ. Das mußte doch wahrhaftig eine Zeitlang ausreichen! Das Haar war Gegenstand des Gelächters geworden, es störte ihn in all seinen Spielen, er haßte es. Nach der Erzählung von Absalons Aufruhr und Bestrafung durch das Haar war es ihm auch im geheimen ein Schreckbild geworden. Aber nie vorher war es ihm eingefallen, zu einem Barbier zu gehen und es völlig abschneiden zu lassen. Die Kameraden waren auch ganz entsetzt, der Barbier meinte, das sei Vandalismus; Raphael fühlte schreckliche Stiche im Magen; aber gerade daß es so entsetzlich gefunden wurde, das machte ihm Mut; nun sollten sie sehen, was er sich getraute. Dem Barbier konnte es natürlich nicht einfallen, daß das ohne Wissen der Mutter geschah; aber da er unter der Pension wohnte und vom ersten Tage an das Haar der Mutter und des Sohnes bewundert hatte, so erlaubte er sich, Einwände zu erheben. Dabei wurden die Stiche, die Raphael im Magen fühlte, immer schlimmer. Aber er mußte ja jetzt obenauf sein. »Nur weg damit,« sagte er und saß unruhig auf dem Stuhle. »Ich habe niemals schöneres Haar gesehen,« sagte der Barbier bescheiden, indem er die Schere nahm, aber zweifelhaft stehen blieb. Raphael sah, daß die Kameraden gespannt waren . . . »Nur weg damit!« wiederholte er gleichgültig.

Der Barbier schnitt dann so, daß sich das Haar in seiner Hand sammelte und ordnete, und legte es vorsichtig in Papier. Die Knaben folgten jedem Schnitt mit den Augen, Raphael mit den Ohren; in den Spiegel sah er nicht.

Der Barbier war fertig, bürstete Raphael ab und wollte ihm das Haar geben. »Was soll ich damit?« Er bürstete sich etwas die Knie und Arme, bezahlte und ging in Begleitung seiner Kameraden; aber eigentlich Bewunderung zeigten sie nicht.

Beim Gehen hatte er sich ganz flüchtig im Spiegel gesehen und kam sich gräßlich vor. Er hätte gern alles gegeben, was er besaß (es war nicht viel), und hätte gern alle möglichen Qualen über sich ergehen lassen – wenn er nur sein Haar wieder gehabt hätte. Die verwunderten Augen der Mutter erschienen ihm in allen Nuancen, seine eigene Jämmerlichkeit tanzte um ihn, seine Eitelkeit höhnte ihn – das Ende war, daß er sich die Treppen hinauf in sein Zimmer schlich und sich ohne Abendbrot niederlegte.

Die Mutter erwartete ihn vergebens, und als sie eine Andeutung hörte, er wäre vielleicht zu Hause, da ging sie hinauf. Er hörte ihre Tritte auf der Treppe, vernahm, wie sie an der Thür war. Als sie eintrat, lag er mit dem Kopf unter der Decke. Sie zog sie weg . . . und als er nun einen Schimmer ihres Entsetzens sah, wurde er selbst so verzweifelt, daß die Thränen, die sich in ihm angesammelt, nicht hervorbrachen. Bleich, starr vor Schreck stand sie da. Sie glaubte nämlich zuerst, irgend jemand hätte es ihm aus Bosheit angethan. Als sie aber kein Wort der Erklärung aus ihm herausbekommen konnte, da merkte sie Unrat. Er fühlte, daß sie auf eine Erklärung, eine Entschuldigung, eine Bitte um Verzeihung wartete; er konnte mit dem besten Willen kein Wort hervorbringen. Was wollte er auch sagen, er verstand es selber nicht. Aber jetzt brach er in furchtbares, qualvolles Weinen aus; er krümmte sich zusammen, indem er die Hände um den Kopf spannte, der voller stechender Stoppeln war, er heulte. Als er wieder aufsah, war sie weg.

Ein Kind schläft nach dem Schlimmsten ein. Als er am nächsten Morgen mit den demütigsten Vorsätzen in größter Beschämung hinunter kam, war seine Mutter im Bett geblieben; ihr war nicht wohl; denn sie hatte keinen Augenblick geschlafen! Das mußte er alles hören, bevor er zu ihr hinein ging. Furchtsam öffnete er. Da lag sie elend. Und sein Haar lag auf dem Toilettentisch in einem weißseidenen Tuche, geordnet und gekämmt. Sie selber lag in ihren Spitzen mit gefalteten Händen; große Thränen flossen.

Er war gekommen, um sich über sie zu werfen und sie tausendmal um Vergebung zu bitten; aber etwas sagte ihm sofort, das solle er nicht oder das dürfe er nicht; sie lag wie in Wolken, weit, weit weg. Etwas zugleich Gekränktes und Heiliges hielt sie an einer anderen Statt fest; sie war rührend und erhaben. Er wandte sich still nach der Thür und ging in die Schule.

Sie lag diesen und den nächsten Tag und ließ ihm durch das Mädchen sagen, sie wolle allein sein. – Sie war daran gewöhnt, den Kummer so zu nehmen, und daß er sich gegen sie erheben konnte, das war der größte Kummer ihres Lebens. Er kam auch über sie wie ein Wolkenbruch bei hellem Sonnenschein. Jetzt meinte sie sein Schicksal –und damit ihr eigenes zu ahnen! Die ganze Schuld suchte sie in seinem unglückseligen Erbe vom Vater; sie hatte keinen Begriff davon, daß das unaufhörliche künstlerische Herumpfuschen an ihm und allzuviel intellektuelle Dressur vielleicht die Lust zur Unabhängigkeit in ihm geweckt hatten.

Die ersten Male, wo sie ihn mit dem nackten Kopfe wieder sah, der mehr und mehr die Form des väterlichen bekam, floßen ihre Thränen still. Wenn er dann zu ihr kommen wollte, hob sie ihre feine Hand gegen ihn; er solle nicht. Auch sprach sie nicht mit ihm. Wenn er sprach, sah sie ihn bloß an, bis er in Thränen ausbrach. Denn er litt, was nur einmal gelitten werden kann, wenn die Reue des Kindes neu und deshalb grenzenlos ist. Und wenn sein Verlangen nach Liebe die erste Enttäuschung erfährt.

Als sie ihn aber am fünften Tage auf der Treppe traf – sie kam von oben, er von unten – da blieb sie erschreckt über sein Aussehen stehen. Bleich, mager, scheu war er; daß das Haar weg war, machte es schlimmer, als es vielleicht war.

Fremd und arm blieb auch er stehen mit trostlosen Augen . . . da füllten sich die ihren, da streckte sie den Arm aus! Er lag wieder in seinem Paradies, aber sie weinten beide, als müßten sie durch ein ganzes Meer, bevor sie miteinander reden konnten.

»Erzähle mir nun!« flüsterte sie. – In ihrem Zimmer hatten sie sich die ersten zärtlichen Worte gesagt und sich immer und immer wieder geküßt. »Wie konnte das geschehen, Raphael?« flüsterte, sie wieder, ihren Kopf neben dem seinen, sie wollte ihn währenddem nicht ansehen. »Mutter,« antwortete er, »es ist doch schlimmer, daß sie zu Hause in Helleberge den Wald schlagen –«

Sie hob den Kopf und sah ihn an. Sie hatte Hut und Handschuhe abgenommen, zog sie aber jetzt schnell wieder an. »Du, Raphael,« sagte sie. »wollen wir in den Park spazieren gehen? Unter die hohen, alten Bäume, wir beiden?« Sie hatte seine Antwort genial gefunden. – –

Aber seit diesem Erlebnis war ihr England und namentlich seine Kameraden zuwider. Sie fand manche Vorwände, um ihn außerhalb der Schulzeit von ihnen fern zu halten. Das fiel ihr leicht; denn teils ging sie seine Aufgaben mit ihm durch, teils besuchten sie zusammen alle Fabriken und alle mechanischen oder chemisch-physikalischen Einrichtungen in der Umgegend; sie liebte eigene Anschauung und erweckte auch in ihm Lust dazu; Fabriken, die sonst nicht gern Fremden geöffnet wurden – eine hübsche feine Dame mit einem schönen Knaben an der Hand, »die doch nichts vom Ganzen verstanden,« bekamen fast alles zu sehen, was sie wollten. Schwierigkeiten suchte sie durch direkte Bitten bei den Vorgesetzten zu überwinden, und es mißglückte ihr selten. Wenn sie etwas nicht verstand, gab sie sich unglaubliche Mühe und suchte Hilfe. Eine neue Aufgabe war es dann, es Raphael zu erklären, die genußreichste, die sie kannte.

Sie hatte Anlage und Lust dazu, aber für einen dreizehnjährigen Knaben, den es von Kameraden und Spielen fern hält, wurde es bald eine Plage. Kaum bemerkte sie das, so war sie entschlossen; sie verließen England und reisten nach Frankreich. In der neuen Sprache fiel er ihr wieder völlig anheim, sie teilte ihn mit niemand. Sie ließen sich in Calais nieder. An einem der ersten Tage schnitt sie sich das Haar ab. Sie glaubte, es würde auf ihn Eindruck machen, daß sie ihm gleichen und Knabe wie er sein wollte, wo er ihr nicht gleichen wollte. Sie kaufte einen neuen flotten Hut und komponierte eine neue elegante Toilette; denn mit dem Haar mußte alles geändert werden. Als sie aber vor ihrem Sohne wie ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen stand, lustig, fast übermütig, da erschrak er nur. Ja, es dauerte eine Zeitlang, bevor er sich darüber klar werden konnte, was das war! So lange er zurückdenken konnte, waren die Augen seiner Mutter von einem Gesicht mit einer Krone eingerahmt gewesen, alles festlicher, schöner. »Mutter,« sagte er, »wo bist du geblieben?«

Sie erbleichte, verstummte, stotterte, daß es so bequemer wäre, daß rotes Haar nicht gut aussieht, wenn es anfängt, die Farbe zu wechseln – und ging in ihr Zimmer.

Da saß sie mit ihrem Haar vor sich und dem seinen daneben; sie weinte. »Mutter, wo bist du geblieben?« Sie konnte antworten: »Raphael, wo bist du geblieben?« – –

Sie war mit ihm überall. Zwei schöne, stilvoll gekleidete Menschen können in Frankreich immer sicher sein, daß sie bemerkt werden, was ihr wohl gefiel. Auf all diesen Ausflügen sprach sie französisch. Er bat sie so dringend, doch wenigstens hier und da etwas zu sprechen, was er verstand. Nein, daraus wurde nichts. Wieder ging's mit ihm in alle möglichen und unmöglichen Fabriken. So unpraktisch und reserviert sie sonst auch war, um sich den Zugang zu einem Dampfofen zu öffnen, war sie voll List und Koketterie. Sonst so besorgt um ihre Toilette – wenn nur Raphael mechanische Kenntnisse erntete, so kam sie gern beschmutzt und berußt wieder heraus. Schlechter Luft wich sie aus wie der Cholera – aber Raphaels wegen ging sie im Gestank von Schwefelsäure wie in Ozon. »Eigene Anschauung, Raphael, ist das Leben; das andere ist der Schatten davon.« Oder: »Eigene Anschauung, Raphael, ist Speise und Trank; das andere ist –Litteratur.«

Er war nicht ganz gleicher Meinung. Er meinte, Notredame de Paris, wovon er täglich weggewiesen wurde, wäre die köstlichste Mahlzeit, die er je genossen; aber aus Mazel & fils' Fabrik heraus stänke Totengeruch. Seine Lektüre . . . sie hatte ihn selber der Sprache wegen eingeführt und ihm selber geholfen . . . jetzt wurde sie eifersüchtig darauf. Er konnte sie nicht dazu bewegen, ihm ein neues Buch anzuschaffen.

Aber er bekam es trotzdem.

Sie waren mehrere Monate dort gewesen, er hatte Lehrer und fing an sich zurecht zu finden – da kam in die Pension eine Witwe von einer der Kolonien und brachte eine dreizehnjährige Tochter mit. Kaum waren die Ankömmlinge zweimal bei den Mahlzeiten erschienen, so versuchte der junge Herr der jungen Dame die Cour zu machen. Das wurde vom ersten Augenblick an sehr gut aufgenommen. Bald amüsierten sich alle in der Pension, daß er die Sprache fließend sprechen lernte, ja zuweilen mit eleganter Wortwahl.

Sie lehrte ihn das ohne Spur von Grammatik, in Anmut, Munterkeit und Geplauder. Ein paar treuherzige Augen und eine junge Stimme waren genug. Und von ihr bekam er heimlich einen Roman um den anderen. Denn heimlich mußte es geschehen. Heimlich hatte Lucie sie in die Hand bekommen, heimlich steckte sie sie ihm zu, heimlich wurden sie gelesen, heimlich kamen sie wieder weg. Beim Unterricht schien er etwas zerstreut; aber sonst verriet nichts seine literarischen Ausflüge; so außerordentlich waren sie ja auch nicht. Frau Kaas sah die Courmacherei ihres Sohnes und lächelte mit den anderen über seine Fortschritte im Französischen; gegen diesen Umgang, an dem sie selber bis zu einem gewissen Grade teilnahm, hatte sie weniger als gegen den in England, von dem sie ganz ausgeschlossen war. Sie nahm öfter Mutter und Tochter auf kleinere Ausflüge mit und hatte ihre Freude daran.

Aber die Romanlektüre, die die beiden heimlich betrieben, zeitigte mit der Zeit merkwürdige Gespräche; sie sprachen über Liebe mit der tiefen Erfahrung, die ihrem Alter eigen ist; noch sicherer urteilten sie darüber, wie eine Ehe sein sollte. Hierbei sagten sie sich vieles, woran sie sich freuten, ja wobei sie zitterten. Als sie sich daran gewöhnt hatten, durch andere von sich selber zu reden, in fremden ihre eigenen Gefühle zu charakterisieren, da fiel es ihnen leicht, das Spiel weiter gehen zu lassen, wenn mehrere anwesend waren. Bevor sie selbst daran dachten, waren sie auf diese Weise mitten drin in einer symbolischen Sprache. Frau Kaas wurde eines Abends darauf aufmerksam, daß das Wort »Rose« in weiterer Ausdehnung gebraucht wurde, als es bei einer Rose möglich war. Gleichzeitig sah sie in ihren Augen das schmachtende Vergnügen Da unterbrach sie mit der Frage: »Was meint ihr mit der Rose. Kinder?«

Wenn jemand in eine Rosenhecke gespäht hätte, wo sie zusammen saßen und sich küßten – was sie niemals gethan hatten! – sie hätten nicht ärger erröten können. –

– Tags darauf hatte Frau Kaas ein neues Logis gefunden, weit weg vom Quai, wo sie jetzt wohnten.

Raphael hatte viel darunter gelitten, daß er von England losgerissen wurde, als er eben von der hohen Leiter herunter geklettert war und sich einfach neben seine Kameraden gesetzt hatte. Aber auf seinen Kummer war nicht die geringste Rücksicht genommen worden. Die bisherige absolute Absperrung von Büchern, die er liebte, war auch beschwerlich gewesen. Aber bislang war er ja in dem fremden Lande und der fremden Sprache hilflos auf sie angewiesen gewesen. Jetzt empörte er sich offenkundig. Er ging ohne weiteres in das Hotel zurück, suchte Frau Mery und ihre Tochter auf, als ob nichts geschehen wäre. Das that er jeden Tag, sobald er mit seinen Arbeiten fertig war. Lucie selber wurde nun sein Roman; ihr widmete er alle seine freie Zeit.

Und mehr als das – denn es ging nicht länger an, sich bei der Mutter zu treffen – sie hatten Stelldichein auf dem Quai! Zuweilen kam anstandshalber ein Mädchen mit, zuweilen hielt es sich in der Entfernung. Bald waren sie an Bord von norwegischen Schiffen, bald segelten sie umher, bald gingen sie unter einige große Bäume. Wenn er sie in ihrem kurzen Kleid aus der Thür treten sah, ihre lebhaften Bewegungen bemerkte und schon aus weiter Entfernung einen munteren Gruß mit Sonnenschirm oder Hut oder mit Blumen bekam, dann war's, als ob die Quais, die Schiffe, die Ballen, die Tonnen, die Luft, der Lärm, der Trubel – als ob alles spielte und sang:

Enfant! si jétais roi, je donnerais l'empire
Et mon char et mon sceptre et mon peuple à genoux!

und er lief ihr entgegen. Niemals wagte er mehr, als ihre beiden kleinen braunen Hände zu ergreifen, und niemals mehr zu sagen als: »Sie sind sehr süß; sie sind sehr, sehr gut!« – und sie kam niemals weiter als dazu, ihn anzusehen, mit ihm zu gehen, ihn anzulachen und zu sagen: »Sie sind nicht wie die anderen!« – Welche Lebenserfahrung dieses dreizehnjährige Mädchen hatte, daß sie ein so großes Wort aussprechen konnte, das weiß der Herrgott allein und sie. Er fragte nicht danach; dazu war er viel zu fest davon überzeugt, daß es wahr war.

Sie lehrte ihn französisch, wie wenn zwei Vögel sich aus dem Schnabel fressen, oder wie der, der aus einer Quelle trinkt, sich darin zugleich spiegelt. –

Eines Tages, als Mutter und Sohn zusammen frühstückten, sagte sie ruhig zu ihm: »Ich hatte von einer ausgezeichneten Vorbereitungsschule für technische Studien in Rouen gehört. So schrieb ich denn dahin, und hier ist die Antwort; mir gefällt sie in jeder Hinsicht; dir gewiß auch, wenn du sie liest. Ich denke, wir reisen dorthin. Was meinst du dazu?«

Er wurde erst rot, dann bleich, – legte dann sein Brot weg und seine Serviette, stand auf und ging.

Im Verlauf des Tages fragte sie ihn wieder, ob er nicht den Brief aus Rouen lesen wolle. Er verließ sie ohne zu antworten. Später, gerade als sich die Stunde näherte, wo er Lucie am Quai treffen sollte, sagte sie und diesmal bestimmt, daß sie in etwa einer Stunde reisen würden, sie hätte gepackt. Noch während sie da standen, kam der Diener, um die Sachen zu holen. Da fühlte er, wie gut er begreifen konnte, daß sein Vater sie geschlagen hatte.

In dem Wagen, der sie nach der Eisenbahn fuhr, war ein Schmerz so groß, daß sie ihn, meinte er, ebensogut mit einem Messer hätte stechen können. Im Bahncoupé sah er nicht nach ihr hin.

In den ersten Tagen in Rouen antwortete er nicht, fragte er nicht; – er hatte ihre eigene Taktik angenommen. Er führte sie mit einer Genauigkeit durch, von der er selber keine Ahnung hatte. Lange schon hatte er einen kritischen Maßstab an sie gelegt; nun machte sich die Kritik an all ihre Thaten und Worte; ihr Wesen wurde vom Geiste der Anklage durchforscht, ihre gemeinsame Vergangenheit wurde aufgegraben und verwandelt. Die gebeugte Gestalt des Vaters in dem Holzstuhl auf dem haarlosen Fell, in Schmutz und Gestank, – jetzt erhob sie sich gegen sie hier in den reich ausgestatteten, gelüfteten, oft parfümierten Zimmern! Von dem Augenblicke an, als er an der Leiche seines Vaters gestanden, hatte Raphael das Gefühl gehabt, daß dem alten Mann unrecht gethan worden wäre. Er selbst war dazu verführt worden, seinen Vater zu vernachlässigen, ihm auszuweichen, seine Gebote zu umgehen. Früher hatte er die Schuld auf die Leute des Gutes verteilt; jetzt schrieb er alles auf die Rechnung der Mutter. Sein Vater hatte sie ja angebetet, und die Anbetung war zu wildem, selbstverzehrendem Hasse geworden. Was war geschehen? Er wußte es nicht. Aber daß die Mutter imstande war, aus einem Halbtoten Funken zu schlagen – das fühlte er. Er sah, wie Lucie mit Blumen gesprungen kam, wie sie den ganzen Weg entlang mit ihren funkelnden Augen nach ihm ausschaute – immer weiter und weiter, und dann still stand. Er konnte nicht ohne Thränen daran denken – und wie er da haßte!

Aber Kind ist Kind – ans Leben ging es nicht. Da der Ort neu und historisch merkwürdig war, da der Unterricht anfing und sie immer dabei war, ging es vorüber. Aber die Spannung war da; und zwar auf beiden Seiten. Die Kritik die in England begonnen hatte, verließ ihn nicht mehr. –

– In den Studien führten sie ein fruchtbares Zusammenleben; er war ihr Schüler gewesen und endete als ihr Lehrer; sie wollte ihn begleiten, und diese Begleitung wurde ihm durch ihre fast kleinliche Genauigkeit und ihre einsichtsvollen Fragen zur Hölle.

Außerhalb der Studien hatten sie auch gute Stunden; aber eins wußte so gut wie das andere, daß bei aller ihrer Unterhaltung etwas außerhalb war, was nie wieder hinein kam.

Vertrugen sie sich, so sah er ihre guten Seiten und ihr aufopferungsvolles Leben; vertrugen sie sich nicht, so sah er das Gegenteil. Vertrugen sie sich, so erfüllte er ihr in der Regel jeden Wunsch; er war im Lande der Höflichkeit und in ihrer Lehre; – war er mit ihr uneinig, so that er das Ärgste, was ihm einfallen konnte. Er ging früh mit schlimmen Kameraden und schweifte zu früh aus. Er war der Sohn das Aufruhrs.

Hinterher hatte er entsetzliche Gewissensbisse. Sie sah es und wollte, daß er merkte, wie sie ihn durchschaute. »Ich merke eine fremde Atmosphäre hier – Pfui! Jemand hat seine Atmosphäre mit deiner gemischt – pfui!« – und dann spritzte sie Parfüm auf ihn. Er glühte wie eine Georgine und hätte vor Scham und Elend gern seinen Kopf im Kamin verborgen. Machte er aber den geringsten Versuch, zu sprechen, so wurde sie steif wie ein Stock, streckte ihre schmale Hand aus; »Taisez-vous! Des égards, s'il vous plaît!« Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, daß sie, so kecke Erzählungen sie auch einmal geschrieben hatte, im Leben ohne Erfahrung war; sie besaß gar nicht die Form für eine solche Vertraulichkeit.

So kam es. daß sie, die einst über sein ganzes Leben und jeden seiner Gedanken verfügen wollte, die ihn mit niemand, nicht einmal mit einem Buche teilen wollte – daß sie nach und nach dazu überging, zu nichts anderem in ihm als zu seinen Studien ein Verhältnis haben zu wollen.

Die französische Sprache eignet sich vorzüglich zur Rücksichtnahme und Diplomatie des Abstandes; daran hielten sie sich; ja vielleicht hatte sie ihnen im Grunde zu dieser Form des Zusammenlebens verholfen; sie gab weniger Zusammenstöße und war wohlfeiler. Sobald das geringste im Wege war, hieß es: »Monsieur, mon fils!« oder kurz und bündig: »Monsieur!« – »Madame, ma mère« oder kurz und bündig: »Madame«

Er sah aus, als sollte er krank werden. Sein schneller Wuchs und die Studien, in denen sie ihn warm hielt, ließen nicht zu, daß er noch außerdem seine Kraft vergeudete.

Aber da geschah etwas!

Eines Tages stand er, neunzehn Jahre alt, in einer französischen Chemikalienfabrik und sah, wie die Hälfte der Triebkraft erspart werden konnte. Es schlug in ihm ein wie ein Blitz. Der Sohn des Besitzers war sein Studienfreund, er hatte ihn eingeführt – ihm vertraute er es an.

Mit fieberhaftem Eifer arbeiteten sie zusammen den Plan zur Ersparnis aus – bis ins kleinste Detail; er war sehr weitläufig, da auch der Betrieb es war. Der Vorschlag wurde wieder vom Besitzer, seinem Sohn und ihren Ratgebern gemeinsam studiert, und man beschloß ihn zu versuchen.

Es glückte vollkommen; weniger als die halbe Triebkraft genügte!

Als alles fertig war, war er nicht da; er war in einer Grube. Seine Mutter war nicht mit; sie begleitete ihn niemals in eine Grube. Kaum war er nach Hause gekommen, da eilte er mit ihr nach der Fabrik, um sein Werk zu sehen. Sie sahen es, erröteten beide über die ehrerbietigen Grüße der Arbeiter. Sie wurden ganz bewegt, als der Besitzer gerufen wurde und sie seine stürmische Freude sahen und hörten. Der Champagner floß für sie zusammen mit starken Worten der Anerkennung. Der Mutter wurde ein prachtvolles Bouquet überreicht.

Betäubt von den Worten und dem Wein, stolz auf die Ernennung zum Genie, schritt er mit seiner Mutter am Arme heim. Er hatte das Gefühl, als wäre er auf der einen – die ganze Welt auf der anderen Seite. Seine Mutter ging mit den Blumen und war glückselig.

Raphael trug einen neuen Überzieher – so recht einen nach seinem Geschmack, sehr lang und mit seidenen Aufschlägen; er freute sich darin. Es war ein heller Wintertag, die Sonne glänzte auf der Seide und glänzte auf noch mehr. »Kein Flecken am Himmel, Mutter!« sagte er. »Und auch keiner auf deinem neuen Überzieher,« fügte sie hinzu; – auf dem alten waren nämlich eine Menge gewesen, und sie hatten ihre Geschichte gehabt. Er war zu groß, um jetzt beleidigt zu werden, auch zu fröhlich. Sie hörte ihn für sich summen; es war die norwegische Nationalhymne. Sie kamen in die Stadt zurück wie aus Elysium; alle Vorübergehenden sahen sie an; die Leute ahnen das Glück. Raphael war auch einen Kopf größer als die meisten und von hellerem Teint, führte eine elegante Mutter mit den Blumen in raschem Gang und sah von einer sonnenbeschienenen Anhöhe mit einem Lichtkranz um den Kopf über den Boulevard.

»Es giebt Tage, an denen man sich wie neugeboren fühlt,« sagte er. »Es giebt Tage, an denen man so viel zunimmt,« sagte sie. Er drückte ihren Arm.

Sie kamen heim, legten ab, sahen sich an. Die Entwürfe zu dem, was sie jetzt ausgeführt gesehen hatten, lagen da, auch einzelne Zeichnungen. Sie nahm sie und wickelte sie zu einem Stabe zusammen. »Raphael!« sagte sie und richtete sich halb lachend, halb zitternd auf: »Knie nieder, ich will dir den Ritterschlag geben!« Er fand es nicht unnatürlich; er that es, »Noblesse oblige!« sagte sie und berührte mit der Rolle seinen Kopf.

Dann aber ließ sie sie schluchzend fallen; er mußte aufstehen und sie festhalten! –

Am Abend hatte Raphael mit seinen Kameraden ein munteres Gelage und wurde wild gefeiert. In der Nacht aber lag er in seinem Bett in kompletter Mutlosigkeit. Im Grunde genommen konnte ja das Ganze ein Zufall sein! Er hatte ja so viel gesehen, hatte so viele Kenntnisse; dann war es seine Erfindung. – Aber was? Er war gewiß kein Genie; das mußte eine Übertreibung sein. Ließ sich ein Genie denken ohne Siegesgewißheit? Immer eine Spannung, die die Hingabe verdarb. Immer ein schlechtes Gewissen, ein entsetzlich, abscheulich schlechtes Gewissen. Diese unausrottbare Angst – war sie ein Vorbote? Ging sie auf die Zukunft? – –

Ein halbes Jahr später sammelten sich alle seine zerstreuten Studien um die Elektrizität, – und dies führte sie später nach München.

Unter diesen Studien kam es ganz von selber, daß er anfing zu schreiben. Die Studierenden hatten einen Verein, und hier mußte er etwas leisten. Aber was er schrieb, war so eigentümlich, daß man ihn aufforderte, es dem Professor zu zeigen, und dieser ermunterte ihn sehr. Der Professor brachte auch seinen ersten Aufsatz zum Druck. Eine norwegische technische Zeitschrift nahm einen seiner späteren Aufsätze an, und dies wurde der äußere Anlaß dazu, daß seine Gedanken sich wieder um Norwegen sammelten.

Norwegen war ihm das verheißene Land der Elektrizität, mit seinen unzähligen Wasserfällen kann die ganze Welt versorgt werden! Er sah das Land in der Winternacht liegen, von elektrischem Glanz umglüht, er sah es auch als eine Weltfabrik mit Schiffen vor sich. Nun hatte er doch eine Aufgabe, die eine Heimreise lohnte.

Seine Mutter teilte seine Vaterlandsliebe nicht und hatte nicht das Bedürfnis, in Norwegen zu leben. Aber das Geld, das sie zu seiner Ausbildung gespart hatte, war längst aufgebraucht, das Gut hatte seinen Teil verschlungen. Ertrag gab das Gut nicht; es war ja im wesentlichen Waldbesitz, und der Wald war minderjährig.

Also nach Hause! Ein paar Jahre auf Helleberge allein sein, das war gerade das, was er wünschte.

Aber jedesmal, wenn der festgesetzte Abreisetermin herankam, war etwas im Wege.

Zuerst war er gerade mit einer kleinen Erfindung beschäftigt, für die er ein Patent haben wollte. Bisher hatte er nur Ideen entworfen, die andere ausgenutzt hatten; jetzt sollte es anders werden. Die Erfindung wurde patentiert, und das Patent einem Agenten zum Verkauf übertragen. Aber noch reisten sie nicht – was war im Wege? Eine Erfindung mit neuem Patent, leichter verkäuflich als das erste, das leider nicht ging. Auch dieses Patent wurde angenommen, auch dieses kostete Geld und wurde zum Verkauf übergeben. Konnte er jetzt nicht reisen? Ja, das könnte er wohl.

Aber Frau Kaas merkte bald, daß es nicht Ernst war. Da nahm sie einen jungen Verwandten zu Hilfe, Hans Raon – er war Ingenieur wie die meisten Raone. Hans Raon gefiel Raphael ausgezeichnet, weil er selber von Temperament ein Raon war, was er nicht gewußt hatte; es war eine ganze Entdeckung. Er hatte geglaubt, die Raone wären wie seine Mutter, hörte aber nun, daß gerade sie eine Ausnahme war.

Zu Hans Raon sagte Frau Kaas gerade heraus, nun müßten sie reisen! Der Tag war auf den letzten Mai festgesetzt, und das sollte er erzählen; denn Frau Kaas meinte, es würde die Abreise beschleunigen, wenn der Termin allgemein bekannt wäre.

Hans Raon erzählte die Neuigkeit allen, teils weil es sein Fach war, teils weil er wollte, daß etwas geschehe, daß z. B. ein Abschiedsgelage veranstaltet würde, das seinesgleichen suchte.

Ein Abschiedskommers kam auch wirklich unter allgemeiner Beteiligung zustande und endete damit, daß die ganze Gesellschaft in geordnetem Zuge den Ehrengast bis an seine Wohnung begleitete. Hierbei stießen sie mit einer Anzahl von Offizieren zusammen, die auf gleiche Weise heimzogen; bald hätte es Streit gegeben; aber sie versöhnten sich, und die Ingenieure riefen Hoch für die Offiziere, die Offiziere für die Ingenieure. Tags darauf stand die ganze Geschichte von den beiden Gesellschaften und ihrem Zusammenstoß in allen Zeitungen.

Dies zog Folgen nach sich, die Frau Kaas sich nicht hatte träumen lassen.

Zuerst eine sehr behagliche. Der Professor, der Raphaels ersten Versuch zum Druck gebracht hatte, hielt mit seiner Familie in einem Wagen vor Frau Kaas' Wohnung; er stieg die Treppe herauf und fragte, ob sie nicht in ihrer Gesellschaft noch einmal die Sehenswürdigkeiten der Umgegend in Augenschein nehmen wolle. Sie fühlte sich geschmeichelt und fuhr mit ihnen. Unterwegs sprachen sie ja nur von Raphael. Teils von seiner Person, er war ja der Liebling aller Damen, teils von der Zukunft, der er entgegenging; der Professor meinte, er habe nie einen begabteren Schüler gehabt. Frau Kaas saß da mit einem ausgezeichneten Doppelfernglas; so oft sie bewegt wurde, setzte sie es vor die Augen, und ihre Lobeserhebungen flossen über die Architektur und die Landschaft wie Sonnenschein. Die kleine Gesellschaft speiste zusammen und fuhr am Nachmittag wieder heim.

Als Frau Kaas ihr Zimmer betrat, empfing sie starker Blumenduft. Einige von ihren Bekannten, die den Termin ihrer Abreise vorher nicht gewußt hatten, wollten beide auch feiern. Im übrigen hätte es den ganzen Vormittag geklingelt, erzählte das Mädchen.

Kurz darauf kamen Raphael, Hans Raon und ein paar Familien; sie wollten zusammen zu Abend essen. Der Verkauf des letzten Patents schien zu glücken; man mußte die Begebenheit im voraus feiern! Frau Kaas war in ausgezeichneter Laune, als sie ausgingen. Draußen war der Frühjahrsabend so herrlich, daß er in ländlicher Luft genossen werden mußte – also weit weg aus der Stadt!

Sie aßen im Freien; um sie herum eine Masse Menschen. Die Musik spielte, man war heiter, nach Einbruch der Dämmerung herrschte eine weiche, wogende Stimmung. Als die Lampen angezündet waren, hatten sie auf der einen Seite den Lichtglanz über einer großen Stadt, auf der anderen Halbdunkel mit funkelnden Punkten – und das wurde in den Abschiedsreden bildlich angedeutet.

Da strichen ein paar Damen langsam an Raphaels Stuhl vorbei. Frau Kaas saß ihm gegenüber und sah es; er nicht. Ein Stück weiter standen sie still und warteten, aber ohne daß sie beachtet wurden. Dann wieder zurück, dicht an seinem Stuhl vorbei, langsam. Wiederum vergebens.

Das verstimmte Frau Kaas. Ihr Schweigen lag wie ein leichter Schleier über der Gesellschaft; sie brachen auf.

Am nächsten Vormittag – Raphael war wieder des Patentes wegen unterwegs – klingelte es; das Mädchen kam mit einer Rechnung, die schon gestern präsentiert worden war. Die Rechnung kam von einem größeren Restaurateur und war durchaus nicht klein. Frau Kaas hatte keine Ahnung davon, daß Raphael etwas schuldete – und noch dazu einem Restaurateur! Sie ließ antworten, ihr Sohn sei mündig und sie nicht sein Kassierer. Es klingelte wieder, und das Mädchen kam mit einer neuen Rechnung, die ebenfalls schon gestern präsentiert war; sie kam von einem bekannten Weinhändler; auch sie war nicht klein. Es klingelte, und es war eine Blumenrechnung, eine beträchtliche Summe. Auch diese war schon gestern dagewesen. Frau Kaas las sie einmal, zweimal, dreimal, viermal; es wollte ihr nicht in den Kopf, daß Raphael für Blumen schuldete – wozu hatte er sie gebraucht? Es klingelte, es kam eine Rechnung von einem Goldschmied. Jetzt wurde Frau Kaas von dem Klingeln und den Rechnungen so nervös, daß sie die Flucht ergriff. Hier lag also der Grund, daß Raphael nicht abreisen wollte; er hing fest! Deshalb diese Eile mit dem Verkauf des Patentes; er wollte sich loskaufen.

Kaum hatte sie die Hausthür hinter sich, als eine kleine, bescheidene alte Dame an sie herantrat und furchtsam fragte, ob sie vielleicht Frau von Kaas wäre? Auch eine Rechnung, dachte Frau Kaas und nahm die Dame in Augenschein. Sie war mager, eine geplünderte Rosenhecke mit ein paar letzten, welken Blüten; sie schien arm und unerfahren in allem außer der Demut.

»Was wollen Sie von mir?« fragte Frau Kaas teilnahmsvoll, bereit, diese Arme sofort zu bezahlen, wie viel es auch wäre. Die Kleine bat tausendmal um Verzeihung; aber sie wäre eine Beamtenwitwe und hätte in der Zeitung gelesen, daß der junge Herr von Kaas abreisen wollte, und darüber wären sie und ihre Tochter so verzweifelt, daß sie beschlossen hätte, zu Frau von Kaas zu gehen, als zu der einzigen, die – – – hier fing sie an zu weinen.

»Was will Ihre Tochter von mir?« fragte Frau Kaas in etwas weniger mildem Tone. »Auch tausendmal um Verzeihung, gnädige Frau!« – ihre Tochter wäre mit Hofrat von Rathen verheiratet – »seiner großen Schönheit wegen;« ach, sie wäre so unglücklich, denn Hofrat von Rathen trinke und sei brutal. Auf einem Künstlerfest hätte Herr von Kaas sie getroffen – »und dann wissen Sie, zwei so junge, reizende Leute –« Sie sah zu Frau Kaas auf wie aus einem Kellerfenster in Regenwetter.

Aber Frau Kaas hatte ihre ganze schroffe Haltung wieder angenommen; hoch oben aus der zweiten Etage hörte die kleine Arme: »Was will Ihre Tochter von meinem Sohne?« – »Tausendmal um Verzeihung!« aber sie wären auf den Gedanken gekommen, daß ihre Tochter mit nach Norwegen reisen könnte. Norwegen wäre ja ein so freies Land – »und die zwei jungen Leute haben sich so gern!« – »Hat er ihr etwas versprochen?« fragte Frau Kaas kalt. »Nein, nein nein!« klang es erschrocken, »nein, nein, nein!« Mutter und Tochter wären heute darauf verfallen, als sie in der Zeitung lasen, daß der junge Herr von Kaas reisen sollte. Herr Gott im Himmel, wenn ihre Tochter auf einmal all ihre Leiden los werden könnte! Frau von Kaas könnte sich gar nicht vorstellen, was für eine treue Seele ihre Tochter wäre, welche zärtliche Gattin . . .

Frau Kaas eilte auf den anderen Fußsteig hinüber, nicht gerade wie jemand, der seinem Hute nachläuft; aber die kleine Dame, die wieder mit gefalteten Händen und furchtsamen Augen im Schatten stand, glaubte, sie wäre schneller als die Hoffnung der Armen. –

Auf dem anderen Fußsteig stand ein junges, hübsches Blumenmädchen und wartete auf die elegante Dame, die hinüber eilte: »Bitte, gnädige Frau! –« Noch eine! dachte das gejagte Menschenkind, sie sah sich nach einer Rettung um, schnell, schnell eilte sie die Straße hinauf – als eine andere Dame gerade vor ihr auftauchte und die Augen merkwürdig fest auf Frau Kaas richtete. Da rettete sie sich in eine Droschke. »Wohin?« fragte der Kutscher, er sah ihre Eile. Daran hatte sie nicht gedacht, aber resolut antwortete sie. »Bavaria!« Sie hatte sich wirklich mit dem Gedanken getragen, vor ihrer Abreise noch einmal von dem hohen Haupte der Bavaria aus die Stadt und die Umgegend zu betrachten. Draußen waren viele Menschen; aber die Reihe hinaufzusteigen kam schnell an Frau Kaas. und als sie gerade den Kopf des Riesenweibes erreicht hatte und hinaus sehen wollte, hörte sie hinter sich eine Dame flüstern: »Das ist seine Mutter!« Vielleicht waren im Kopf der Bavaria noch mehr Mütter als Frau Kaas; aber sie raffte ihre Kleider zusammen und eilte schnell hinunter. –

Raphael kam nach Hause, um seine Mutter zum Mittagsessen abzuholen. Er war in strahlender Laune, er hatte sein Patent verkauft. Aber seine Mutter fand er in der äußersten Sofaecke mit dem Doppelfernglas in der Hand. Als er sie anredete, antwortete sie nicht, aber richtete das Fernglas auf ihn, die kleinen Gläser nach außen, die großen an ihren Augen; sie wollte ihn so weit wie möglich von sich weg haben. – –


 


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