Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III. Die Weltanschauung.

Wer auch nie etwas Anderes von Anzengruber gelesen hätte, als die Überschriften seiner Werke, müßte auf die Idee kommen, daß dieser Dichter nicht alles hienieden herrlich findet. Da giebt es Titel wie »Das Sündkind«, »Der Schandfleck«, »Böse Sprichwörter«, »Der G'wissenswurm«, »Der Fleck auf der Ehr'«, »Teufelsträume« und endlich den heikelsten von allen: »Gott verloren«. Und dieser erste Eindruck würde bei näherer Bekanntschaft mit Anzengrubers Leuten anfangs mehr und mehr verstärkt werden. Die führen bald versteckte Stichelreden gegen Götter und Götzen, bald offene Trutzreden wider Kirche und Vorsehung:

»Du machst mich nimmer katholisch« sagt die alte Burgerlies, »glaubst, ich bin dös über Nacht word'n, was ich bin? Da hab'n mehr Jahr d'ran g'arbeit, als Du auf der Welt bist. A Nacht hat's freilich fertig bracht, dö nämlich, wo Dein Mutter mit Eng zwa Kinder an meine Thür pocht hat, weils vom Meineidbauer vom G'höft g'jagt word'n is. Sixt, Vronerl, damals wie der Meineidbauer seine Hand hat zu Gott aufg'hob'n, nur daß ihm die g'studierten Leut seines Bruders Hab und Gut zusprechen, da is kein Donner vom Himmel g'fall'n, die Erd hat sich nit aufthan, mein Kind is in Not und Unehrn dag'standen und a so verstorb'n und der Meineidbauer is heuttags noch a reicher Mann. Seither war's fertig in mir! Dö Welt taugt mer nit, wo so was drin g'schehn kann. Seit damals heißen's mich gottlos

Wir kennen die ähnlichen Gedankengänge des Wurzelsepp, des Holzknechts in »Gott verloren«, des Einsam. Nicht anders läßt sich der resignierte Hauderer vernehmen, auf dessen »Heilandsbewußtsein« der Jugendfreund und die Geliebte sündigten: »'s Vertrauen af Gott und Welt war hin; weißt denn Du, was Eins mitmachen muß, bis mer Alles für a Dummheit anschaut?« Fortan hat er als »Unchrist« a bsunders Gebitt:

»Der Herrgott«, meint er, »mag wohl für die Reichen sein. Aber was versteht's ös, ös habt's nie g'hungert, nie Not und G'frier ausg'standen, eng nie krump und bucklet g'arbeit um nix und wieder nix, als daß sich's Elends anstückelt von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr. Was wißt's denn ös, wie denen is, dö ihnere besten Täg g'habt hab'n, wie's noch af alle Viere krochen sein und wie's af d' Füß und zu a bissel Verstand kämen, fallt ihnen 's Elend zentnerweis' auf'n Schädel, daß's dumm und damisch werden.«

Und nicht bloß auf den gemeinen Mann beschränkt der Dichter so polemische Gesinnungen. In der Fabel Die Spinnen und die Fliegen erzählt er, daß in einem halbverfallenen Schlößchen zahlreiche Spinnen an der Wand herbergen; sie sind dem Verhungern nahe, weil durch die papierverklebten Fenster nicht eine Fliege von außen hereinkommen kann; da zielt ein vorübergehender Knabe mit Kieseln nach den Fenstern: nun schwärmen Fliegen in Massen durch die Lücken. Zum Jubel der Spinnen, die sagen: »Gottes Gnade regierte sichtbarlich den Stein«. Zum Jammer der Opfer, die klagen, Satan habe die Scheiben mit selbsteigener Hand ausgebrochen:

»Das gilt von Fliegen und von Spinnen,
Die an Vernunft nicht überreich,
Doch sind wir klugen Menschen ihnen
Gottlob in keinem Punkte gleich.«

Noch verzweifelter ist das Nachtgesicht des vom Spleen geplagten Lord Knuddl, der über der Lektüre einer Beschreibung von Franklins letzter Nordpolfahrt entschläft, den Talisman eines indischen »Traummachers« unter dem Kopfpolster. Im Anfang war Nacht, arktische Nacht. Dann zuckt Nordlichtschein auf. Und die Erde war ein großes Schiff, die hohen Berge mit ihren dichten Wäldern waren die Masten und Segel; die Passagiere alle Menschen und noch keiner unter ihnen, der Land gesehen. Der Kapitän des Schiffes sucht mit heißem verlangenden Blick im unendlichen Äthermeer sein Ziel: er segelt aus »nach Gott«. »Nun«, sprach aufatmend der Lord, »dann segelt ihr diesen Weg nicht zum erstenmale. Wenn nicht alle Ahnungen und Offenbarungen, die dem Menschengeschlechte seit Anbeginn der Welt geworden sind, trügen, so wissen wir den Kurs.« »Ahnungen und Offenbarungen«, erwidert der Kapitän, »sind nur Versuche mit dem Senkblei. Wir fahren schon an die sechstausend Jahr und noch ist nichts in Sicht.« »Und keine Anzeichen?« »Keine. Aber das nächste Jahrtausend kann sie bringen, es wird sie bringen. Wir thun Jeder unsere Pflicht.« Edward wendet sich vom Kapitän zum Steuermann: »Wir segeln nach Gott aus.« »Ja, ohne Kurs und schon an die sechstausend Jahr.« »Und alle die, die über der Reise verstorben, alle die Gestorbenen, die Gewesenen?« »Die sind über Bord.« »Und all dieses Weh und dieses tiefe schmerzliche Sehnen und alle Arbeit, auch die sich an das Höchste setzte, verweht ohne Spur und ohne Dank; was uns im engen Schiffsraum begegnet, das allein ist unser Leben? Sei es! Aber sagt mir, kommt endlich ein Tag, ein großer, froher, heiliger Tag, wo das überlebende Geschlecht im Angesicht des Zieles selig Anker wirft?!« »Schöne Worte das,« sagte der Steuermann. »Habt Ihr die von ihm?« er blickte nach dem Kapitän. »Sechstausend Jahre sieht er nun schon die nämlichen Narren auf den nämlichen Bahnen mit uns lavieren, aber es hat ihn noch nicht klug gemacht und Ihr, Menschenkinder, vergeßt Ihr's denn, daß man Euch schon in der Schule gesagt hat: »Wir segeln im Kreise?« Im Kreise – – damit erwacht Lord Knuddl und erschießt sich mit dem Ausruf: »Über Bord.« –

Anzengruber kannte solche Stimmungen und blieb leben. Er zweifelte, aber er verzweifelte nicht. Noch ein anderes Gesicht schildert er uns, das ein Bramine an dem Tage hatte, da ihm die Engländer sechs Söhne getötet hatten:

»Über mich kam's, wie Gewittersturm. Ich sah im inneren Lichte die Erde vor mir liegen. Lebendig ward es rings, zwischen allen Stämmchen brach es hervor, wie Ameisengewimmel, endlos: Menschenwoge auf Menschenwoge. Und an was sie herankamen, das sogen sie ein, wie die Feuerzungen eines Waldbrandes, über dem Walde lohte es empor wie Feuerröte, rauchiger Brodem wehte herüber, Wehschrei und Stöhnen, Wutschrei und Jubel mischten sich in der Luft und endlos, endlos schoben sich die Massen heran und vorbei. Was sie in ihrem Drängen, Zerren und Stoßen und Stemmen bewegte, ich wußte es nicht. Ich sah Tausende wie Tiere in einem Knäuel vorüberpeitschen, andere aus tiefer Brust aufstöhnend vorwärts stürzen, still zogen andere dazwischen hin – alle einen Weg. Und da, da tauchte fern noch am Horizont ein steinernes Antlitz empor, keinem unserer Götterkolosse vergleichbar, das Gesicht eines Weibes, ernst, still, feierlich, mit gebogener Lippe, die Augen sahen groß und gewaltig in die Ferne, die Brauen waren leidenschaftslos gebogen, keine Falte auf der klaren Stirne, gewaltige Haarwellen und ein eherner Helm deckten das Ohr des gewaltigen Weibes und was unter ihr aufschrie vor Weh und Jammer, das mochte wohl nur wie der schwache Laut eines Neugeborenen zu ihr emporklingen. Und immer vorüber wälzten sich die Massen und das Götterantlitz stieg höher am Horizont, der Nacken ward sichtbar, ein erhobener Arm, halb weisend, halb befehlend vorgestreckt, vier Finger der Hand waren lässig gebogen, eine warnende Abwehr, als wollte sie deuten, an sie reiche nichts; dann erschien die Büste in Erz gekleidet – höher und höher tauchte das Götterbild auf, der linke Arm sank herab in die Falten des Unterkleides, in das zwei Finger kniffen, eine ruhig zuwartende Gebärde – und jetzt wurde auch der Wagen sichtbar, auf dem das Götterweib stand, die Flammen, die rings an Dörfern und Städten, an Hütten und Tempeln leckten, färbten das steinerne Bild, purpurn war der Saum ihres Kleides und im wirbelnden Rauche spielten sanftere Lichter hinan an die riesige Gestalt, röteten die Arme und das Antlitz und wie lebendig nahte ruckweise das Götterbild. Da war's, obwohl ich es vor mir sah, als läge es Jahrhunderte noch weg von mir und ich sah, wie es einen Hügel niederbog, wie der Wagen von selbst ins Rollen kam, wie unter seinen Rädern die Nächsten zuckend zermalmt wurden, wie aber andere die Hände freibekamen, wie sie über ihre Peiniger, ihre Quäler, ihre Treiber herfielen und ein entsetzliches Gericht hielten und wie in all dem Greuel still und gewaltig die Gottheit langsam den Plan herunterrollte, unaufhaltsam, gottgewollt.« »Näher noch kam's, wieder gings den Hügel aufwärts, ich sah, wie sie herandrängten an die Räder, wie manche in die Speichen griffen und wie ein Ruck sie zermalmte, wie andere an dem Rade schoben und wie sie das herumriß; Blut, Schweiß und Gehirn netzten die Radnaben des furchtbaren Wagens, der in der Furche von zermalmten Leibern unhörbar und erschreckend schnell herankam. Tiefer Schauer ergriff mich, ich taumelte und hielt mich an die Nächsten, die drängend und schiebend vorüberkamen. Wie heißt die Gottheit? fragte ich wirre … Freiheit! Fortschritt! – Das klang weich und mild. Ich taumelte an einen dritten und frug ihn das gleiche und er gab in germanischer Zunge Bescheid, das Wort klang ehern und es war, als wüchse eine Silbe aus der andern heraus: ENTWICKELUNG!«

»Entwickelung, ja so muß die Furchtbare heißen, der Geschlecht um Geschlecht in peinvollem Müssen oder sehnsuchtskrankem Wollen den Wagen dahinrollen muß bis zu ihrem Tempel. So muß sie heißen, die Gottheit, von der wir ahnen, daß sie allüberall, wo Wesen atmen, auch da oben auf den flimmernden Sternen mit blutigem Wagen ihre Spuren zieht, fort und fort, bis der Stern erlischt und seine Wesen verwehen und ihr Bild dann einsam inmitten der Trümmer einer Welt steht, entweder weit abseits am Wege oder im verlassenen Tempel, immer noch die Rechte weisend gehoben, stets bereit, wenn die tote Welt etwa zu neuem Leben aufleuchtet, den Wagen wieder ins Rollen zu bringen.«

Allein nicht nur als menschenzermalmendes Jaggernaut erscheint Anzengruber die Welt. Ihn (wie den Klausner in »Annerl, Hannerl und Sannerl«) überkommt in Weihestunden

»ein so stolz demütiges Gefühl von der Zusammengehörigkeit des menschlichen Geschlechtes und der Unausschließbarkeit des Einzelnen davon, daß ihm die Brust wieder weit ward; was längst vergangene Tage gebracht, das lag wie gestern, die Toten wurden wieder lebendig und von unnennbarer Sehnsucht erfaßt, träumte, an das Gewesene anknüpfend, der Greis von einem Glücke, wie es in solcher Mannigfaltigkeit, Beständigkeit und Echtheit in der Wirklichkeit nicht vorkam, gar nicht vorkommen konnte.«

Solche Dichterträume beglücken nicht bloß ihn allein. Am Grabe des alten Reindorfer durchschauert den Kaspar Engert »unklar, aber desto mächtiger, wie alles, was nicht in Worten auszusagen ist, den Mann aus dem Volke erfaßt, der Gedanke an einen Zusammenhang alles Lebendigen und Toten.« Daraus folgt, daß nicht vereinzelt, nicht für den Tag, vielmehr für die Gesamtheit, für die Dauer des Menschengeschlechtes jeder Eine seine Pflicht zu thun habe. So fremd, gleichgiltig oder feindlich der Denker dem bestimmten Dogma gegenüberstehen mag: von dieser Überzeugung läßt er nicht. Das äußert sich am unmittelbarsten in der Heftigkeit, mit der ein so selbständiger Kopf, eine so gelassene Natur, wie der Steinklopferhanns auffährt, als ihm der protzige Großbauer von Grundldorf das Wort zuschleudert: »Du, Landstreicher, Du, Du hast kein' Glauben!« Denn der Steinklopferhanns hat und hegt seine »extraige Offenbarung«, wie Anzengruber selbst. Und der erste Glaubensartikel beider lautet: Leiden, sittliches Leiden, geistiges Ringen, Selbstüberwindung, Entsagung läutert. Aus diesem Satze leitet er in einem Aphorismus (Werke, V. 345) eine der denkwürdigsten Folgerungen ab:

»Der Mensch wollte sein, wie ein Gott«, erzählt die Mythe und sie sagt die Wahrheit. Gegen das Leid des Lebens bäumte sich der Mensch auf und verlangte nach Allmacht, um es auszutilgen; wie aber käme ein Teilchen zur Macht ob Allem, wie meistert ein Sandkorn den Berg, ein Tropfe die Woge? Da fühlte er sich überlegen, indem er das Leid tragen lernte und nun fragte er: ›Kann Gott auch leiden?‹ Und wäre ihm die Frage nicht bejaht worden, er hätte keinen Gott mehr geglaubt.«

Wenn also individuelles Mißgeschick den Wurzelsepp, die Burgerlies, den Arbeiterführer im »Faustschlag« verbittert, so begreift sie Anzengruber wohl; so stellt er Schicksale wie die ihrigen den Machthabern als ihr Anwalt – nur nicht als ihresgleichen – vor Augen. Und nicht umsonst vermerkte er sich als eine Lieblingssentenz den orientalischen Spruch: »die Welt muß manchmal aufseufzen, wenn sie nicht ersticken soll.« Er selbst aber hob sich am liebsten über alle Wirren der Welthändel, über alle Zweifel der Welträtsel mit der selbstgefundenen Weisheit des Steinklopferhanns: »Mit'm Traurigsein richt mer nix: die Welt is a lustige Welt.« Er, der so oft als Schwarzseher verrufen ward – »das ist der Schütze auch, der Centrum trifft« – hat in schwerer Krankheit die Eingebung gehabt, die uns sein Steinklopferhanns verkündigt:

»Sollst versterbn, stirbst draußt; die grün Wiesen breit't Dir a weiche Tuchet unter und d' Sonn druckt Dir die Augen zu, Du schlafst ein und wirst nimmer munter, der Tod is nur a Bremsler, was kann Dir g'schehn? Mühselig hon ich mich fortg'schleppt aus der Hütt, bis dort h'nunter. So still war's dort und so warm in der Sonn' z'liegen – vorn die grün Wiesen, die blauen Berg und 's Thal wie in ein weißen Brautschleier, unten, und über All'm der lichte Himmel. Da is a tiefer Fried über mich kommen und es is mir durch die Seel zog'n, dös siehst schon noch a mal. Und dann, dann bin ich wie tot g'leg'n, ich weiß nit, wie lang. Und wie ich wieder munter werd', is die Sonn schon zum Untergeh'n, paar Stern sind dag'hängt, nah wie zum Greifen, tief im Thal hat der Schornstein g'raucht und die Schmieden unt' am Waldrand hat h'raufg'leucht wie a Feuerwurm; vor mir auf der Wies'n hab'n die Käfer und die Heupferd sich plagt und a Gschrill g'macht, daß ich schier hätt d'rüber lachen mögen – über mir im Gezweig sein die Vögel geflattert und über All's hin is a schöne linde Luft zog'n. Ich betracht' dös – und ruck' – und kann ohne B'schwer auf amal aufsteh'n und wie ich mich noch so streck' und in die Welt hineinschau, wie sie sich rührt und laut und lebig is um und um und wie d' Sonn und d' Stern runter und raufkäman, da wird mir auf einmal so verwogen, als wär ich von freien Stucken entstanden und inwendig so wohl, als wär's Sonnenlicht von vorhin in mein Körper verblieb'n und da kommts über mich, wie wenn Eins zum Andern red't: Es kann Dir nix g'scheh'n. Selbst die größt Marter zählt nimmer, wenns vorbei is. Es kann Dir nix g'scheh'n, Du g'hörst zu dem allen und dös All g'hört zu Dir! Es kann Dir nix g'scheh'n. Und dös war so lustig, daß ich 's all Andern rund herum zug'jauchzt hab': Es kann Dir nix g'scheh'n! Jujuju!«

So jubelnde Selbstbefreiung findet ein Bauernbursch, der Sohn einer Viehmagd, zu dem sich nie ein Vater gefunden; der in der Schule und in der Kirche zurückstehen, dafür aber bei der Stellung in die erste Reihe treten muß, als es gilt, für einen reichen Bauernburschen einen Ersatzmann zu schaffen. Vom Militär hat er fort müssen, weil ihn bei einem Manöver ein Roß zum Krüppel geschlagen. Seine Dörfler setzen ihn als Einsiedler und Bettler hinauf in den Steinbruch: – sein vollgerütteltes Maß von Leid und Unbill beschwert ihn aber nicht. Als Neusonntagskind weiß er sich Eins mit der Natur.

Humor und Beschaulichkeit, ein schmerzverklärter, lächelnder Pantheismus, der alle Lust und allen Gram aller Kreatur kennt und teilt, ist seiner, ist Anzengrubers Weisheit letzter Schluß. Als reifer Mann bekannte sich der Dichter zu Lieblingsgedanken, die schon der Jüngling verkündigt, hoffte er – genau so wie der Zwanzigjährige – »zu Gott, aber nicht zu dem alten Überall und Nirgends der Kirche, sondern zu dem, der in den Adern des Weltalls dem Blutstrom gleich, gesetzmäßig pulsiert und in dessen Hand ich mich willenlos ergebe und doch sein werde, wie ich bin.« Beide – der Steinklopferhanns und sein poetischer Schöpfer – leben und weben in der Natur. Doch nicht als Quietisten. Auch nicht als weltentrückte Philosophen, die des Menschen-Gewimmels zu ihren Füßen nicht achten, oder das Getriebe herablassend belächeln. Beide greifen tüchtig zu, um den Andern zu helfen: mit Rat und That – wenns Not thut, auch mit saftigen Prügeln. Der Steinklopferhanns bestellt dem Lehnerfranzl, der einer armen Witwe das Dasein mit unnützen Fasten und Bußübungen versäuern will, » Eins vom Teufel«: eine ausgiebige Tracht Schläge. Und Anzengruber selbst spart satirische Hiebe und wuchtige Keulenschläge nicht wider die »Kerle« in Staat und Kirche, die ihre Pflichten verkennen oder versäumen. Nicht ein Schlußkapitel, ein neues Buch müßte schreiben, wer da im Einzelnen allen ernsten Gedanken und galligen Hohnreden Anzengrubers über alle Halbschlächtigkeit der Gesellschaft, über alles Schiefe und Falsche in unseren Zuständen, über echte und Scheinmoral nachgehen wollte. Er lobt sich die Priester, die sich nur als »Herrgotts-Gnadenverwalter« ansehen; den Pfarrer »weit da draußen im Gewänd, den alten eisgrauen Mann, der erst mit der Welt fertig geworden, eh' er sich hat weihen lassen«. Aber er will nichts wissen »vom gemachten Christentum und ausgeklügelter Sittenlehr«; er hat kein Herz für die Allzuscharfen, die er gern in die Schule der Leiden und der Erfahrung schickt: so den Kaplan Sederl zum Pfarrer Reitler, so den Vater des Einsam zuerst zu dem sanftmütigen Kaplan und, als alles Begütigen nicht fruchtet, an die Bahre seines Opfers.

Ebenso hadert der Dichter mit der Obrigkeit, wo sie ihres Amtes schlecht oder gar nicht waltet:

»Wo es Pflichten zu erfüllen giebt, da weiß sie auf Meilen in der Runde die Armen und Ärmsten zu finden; ihre Rechte – es sind deren nicht viele, lehrt sie niemand suchen.«

Und er wahrte sein Dichter- und Menschenrecht, Fehlgriffe der Machthaber zu bekämpfen, in der Erklärung (des Nachlasses):

»Wenn es nicht gestattet wäre, gegen mißbrauchte Autorität aufzutreten, dann wären die erhabensten Vorgänge der Welt- und Menschengeschichte ein abscheulicher, verdammenswerter Irrtum gewesen und einen Irrtum giebt es überhaupt da nicht: denn es geschieht Alles nach Gesetzen. Daß diese Gesetze, unterlaufend, sie aber nicht aufhebend, der Irrtum des Einzelnen begleitet, ist richtig. Dieser letztere aber selbst entstammt Beweggründen, die wir entweder nicht sehen oder nicht sehen wollen.«

Doch nicht als Frondeur und Raisonneur: als schöpferischer, auf das Nutzbare bedachter Kopf hat er zeitlebens gewünscht und gesonnen, den Ärmsten Zu helfen, ihr Elend zu lindern. Die wirtschaftliche Not, die soziale Frage beschäftigte ihn nicht weniger als die Probleme der Gewissensfreiheit. Viel, sehr viel hatte er darum gegen die heutige Ordnung der Dinge einzuwenden. Öfter als einmal geschah es, daß er im Gespräch mit Rosegger über solche Mißstände plötzlich abbrach, vor sich hinstarrte, als wäre er versunken in eine Erscheinung und halbverständlich etwas von »Mord«, »Brand«, »nieder« und »empor« murmelte. »Aufhören S'!« rief ihn dabei Rosegger einmal an. Wie aus einem Traum richtete er sich auf und sagte: »Sie wollen's ja nicht anders. Bitten und Warnen hilft ja nicht! Da draußen auf der Au reiten sie beim Wettrennen die Pferde zu Tode, die Tausende gekostet, und fünfzig Schritt daneben stürzt sich von der Donaubrücke ein Weib mit einem Kind vor Hungersnot ins Wasser. Es ist – – Mir graust.« Es war in derartigen Aufwallungen »vielleicht nicht immer der richtige Nagel, auf den er hieb, allemal aber traf er ihn auf den Kopf«. Ähnliche Stimmungen beherrschen auch seinen liebsten Doppelgänger. Aller Hader für und wider die Unfehlbarkeit geht den Steinklopferhanns

»nix an. Sixt, wann ich so auf der Straßen bei dö Steinhaufen hock, da schleichen Dir 'n Tag über a Menge Leut vorbei, dö ausschau'n wie'n Tod seine Spion' und dö fast neidig auf mich 'rüberschau'n, wann ich so lustig d'raufklopf und sing – 's sein Tagwerker und Kleinhändler, die sich so in Elend mit Weib und Kind fortfretten; schau, Großbauer, wenn D' macherst, daß d' Straß, soweit durchs Land geht, a freundlich G'sicht kriegat, wann D' a G'schrift brächt'st, wo drin stund: dö Großen soll'n nit mehr jed' neu Steuerzuschlag von ihnern Achseln abischupfen dürfen, daß er den armen Leuten in's Mehlladel, in 'n Eierkorb und in's Schmalzhäfen fallt, sondern sie sollt'n ihn, wie er ihnen vermeint is, die's haben, auch alleinig trag'n: a, ja, Großbauer, da setz' ich Dir schon meine drei Kreuzel drunter, das verstund' ich Dir schon, aber was Du heut fürbracht hast, das mag recht gut g'meint sein, doch mich fecht's nix an und hast Du bisher 's ganze Pfund 'glaubt, werd'n Dich die paar Loth Zuwag a nit umbringen. Willst uns aber die Straßen säuberiger machen, da sein wir dir schon dabei … –«

Ideen und Mahnungen, die Anzengruber in dem Zeitgedicht an die Machthaber Nach blutigen Wochen mit dem Zornwort des Kehrreims: »Seid ihr denn blind?« in immer gewaltigerer Steigerung wiederholte. Hoffnungen und Wünsche, an deren Verwirklichung er optimistisch festhielt. Es ist ja seit hundert Jahren dem Bauern allgemach das Leben leichter und leichter gemacht worden: das berichtet das lehrreiche Lesestück: 's Moorhofers Traum mit überwältigender Komik. Der Streithansl hat im Wirtshaus der guten alten Zeit das Wort geredet. Da wird er nächtens an dieselbe Stelle geführt, wo heute sein Anwesen steht: aber

's ist der Moorhof und doch nicht der Moorhof. Auf der Hausung liegt ein feuergefährliches plumpes Strohdach. Das Ganze sah wie ein großer Schweinekoben aus: wo jetzt Wiese war, stand Wasser, gärte der Boden und trug Sumpfpflanzen. Und wie sich der Moorhofer gerade über solche liederliche Wirtschaft ärgern will, tritt ein Bauer aus dem Haus, zieht eine magere Mähre aus dem Stall und spannt sie vor einen Pflug. »Warum trocknet Ihr das Moor da nit aus?« »Han koan Zeit.« »Wär' nit schlecht, was habt Ihr denn anders zu thun, als zu arbeiten?« »Z'rowoten. Voreh kimmt 'n Gutsherrn's Ocka vor d'r mein'!« »Warum bessert Ihr Euer Haus nit aus?« »Han koa Geld, muß zehnten: Acker, Hand-, Fuß-, Stück-, Jagd- und Spann-Fronde, Kirchen- und weltlichen, großen und kleinen, Sack-, Blut-, und Rottzehnt.«

Die Pflugschar des Ackernden ist zu seicht; was er mühselig zu Stande bringt, richtet ihm die Jagd des Gutsbesitzers, der Wildschaden zu Grunde. Sein Weib krankt am Sumpffieber. Als einziges Heilmittel gönnt man ihr einen Fieberseg'n. Will seine Tochter heiraten, so muß das Recht der Brautnacht abgelöst werden. Niemand kann lesen und schreiben:

»Himmelherrgottsakrament! Ich siech schon, ös lebts nit nur, wie's Vieh, ös seids auch so dumm.« »Was«, greinte der Alte. »Gäht's d'r besser, sei fruh, oba begähr du 'gen mi nöt af, ich bin Dein Urahnl.«

In diesem Augenblick erhielt Moorhofer eine so wuchtige Ohrfeige, daß er davon erwachte. Er nimmt die unerwartete Maultasche, mit der sein Weib ihm das nächtliche Lärmen verleiden wollte, gern in den Kauf; denn er hat handgreiflich gelernt, daß die alte Zeit böser war, als die neue. Ist's aber dem Landmann im Lauf der Jahrzehnte geglückt, zu einem menschenwürdigen Dasein zu gelangen, so soll das nach dem Märchen (des Steinklopferhanns) von der Maschin mit der Zeit auch allen anderen Arbeitern beschieden sein:

»Ich schau nieder. Ist die ganze Welt wie verändert g'wesen, alles was man denken und sinnen kann, das nur möglich ist, es rührt der Mensch nit selber mit seine Händ d'ran, das haben Maschinen g'schaffen und an den Maschinen sind sie g'standen, die neuchen Leut', unverkrüppelt, unverkümmert, schön, groß und stark und hat ihnen die G'sundheit und die G'schicktheit aus dö Aug'n g'leucht', ist jeder wie ein König an der Maschin g'standen, die er g'meistert hat bis aufs letzte Radl. Und über die Welt war ein großer Arbeitstag mit lauter saubre lustige Arbeitsleut'. Und wie ich das siech, da hab ich mich in die Höh g'streckt und hab g'juchzt: ›Juche! Hitzt is's Brodkörbl nieder und das sein meine Leut, dö halten doch ein Puff aus und so steh'n s' mir an!‹«

Die praktische Verwirklichung solcher Wünsche erwartete er von der freien Forschung der Gegenwart. In einer Reihe von lehrhaften Schriften hatte er vor, in ihrem Sinn und ihrem Dienst die Ergebnisse seiner sittlichen und Naturbetrachtung niederzulegen. Eisgartel heißt ein Sammelheft des Nachlasses, das die Grundlinien seiner Ethik zieht. Die Käferschachtel wollte er ein anderes Büchlein betiteln, in dem ein humoristischer Menschenkenner das Staats- und Liebesleben von allerhand Ameisen, Borkenkäfern, Eintagsfliegen u. s. w. schildert, die sein Sohn aus dem Wald heimbringt und in der landschaftlichen Staffage von ein paar Kieselsteinen und Moosfleckchen in der Schachtel beherbergt. Schon aus den spärlichen Aufzeichnungen des Nachlasses ist zu ersehen, daß ihm dabei so etwas wie ein naturforschender Gulliver vorschwebte, der Leid und Freud der Menschenkinder elegisch und satirisch am Treiben der liliputanischen Tierwelt sich spiegeln läßt: – eine Vorahnung von J. V. Widmanns »Maikäfer-Komödie«. Ernsthafter im Ton sollten Briefe eines Unberufenen über Vielberufenes sein: Anzengrubers Auseinandersetzung mit dem modernen Spiritismus. Er hatte sich mit der einschlägigen Litteratur vertraut gemacht und jahrelang alle von achtenswerten Forschern gemeldeten Thatsachen vorurteilslos geprüft. Bei seinem großen Interesse für naturwissenschaftliche Probleme lag es ihm fern, vorschnell über so dunkel und geheimnisvoll auftauchende Erscheinungen abzusprechen. Zuguterletzt lehnte er jedoch alle diese sinnlich übersinnlichen Erscheinungen entschieden ab als Gaukeleien der von ihm sogenannten »hirnlosen Geister«. Desto herzlicher vertraute er den Fortschritten des Erfindergeistes als des berufenen kommenden Retters aus der Unnatur der heutigen wirtschaftlichen Schäden. Ein Elektroskop, den Fernblicker, prophezeite er seit Jahren. Er hielt es nur für eine Frage der Zeit, daß man Bilder werde telegraphieren können. Das Problem der Luftschifffahrt erklärte er nur insolange für unlösbar, als man mit Ballon und Korb arbeite, denn zwei Stücke lassen sich nicht gleichzeitig steuern; die rechte Hilfe versprach er sich also von der Rückkehr zur Konstruktion von Flügeln. Eine Alchymie als die Möglichkeit der Erzeugung von Metallen erschien ihm stets glaubwürdig. Er zweifelte nicht an der Zukunft der Farbenphotographie. Er plante eine neuartige Setzmaschine. Er horchte hoch auf bei jeder neuen Botschaft aus den Laboratorien von Pasteur und Koch. Er erwartete dauernde Verbesserung des Looses der Massen durch die Segnungen neuer technischer und physikalischer Funde. – Alle Zuversicht auf die wahren Wunder der Naturforschung unserer Tage verführte sein Denken indessen niemals zur Überhebung, verhärtete sein Fühlen niemals zur Selbstsucht. Je schmerzlicher Anzengruber der Hinfälligkeit unserer Existenz bewußt war, desto nachdrücklicher mahnte er zur wechselseitigen Schonung unserer Schwäche, zur Milde, zur Menschlichkeit.

Was ist es mit dem Leben
Doch für 'ne arge Not
Muß leiden und muß sterben
Zuletzt den bittern Tod.

Kam ich doch auf die Erden
Ganz ohne Wunsch und Will'
Ich weiß es nicht von wannen
Und kenn nicht Zweck noch Ziel.


Es tritt die bunten Auen
Nur einmal unser Fuß,
Für kurze Zeit nur tauschen
Wir Händedruck und Kuß.

Und was uns auch von Freuden
Und Leiden zugewandt
Das mehret und das mindert
Sich unter Menschenhand.

Drum lasset uns in Freundschaft
Einander recht verstehen
Die kurze Strecke Weges,
Die wir zusammengehen.

Diese schlichte Volksweise ergriff gleichgestimmte Gemüter in der Berliner humanistischen Gemeinde. Auf eine Zuschrift aus ihrem Kreise, daß sein Gedicht als Eingangsgesang bei ihren sonntäglichen Versammlungen gesungen würde, antwortete der Dichter: »Sie sprechen mich als Gesinnungsgenossen an. Wahrhaftig, jeder kann das, der humanitären Anschauungen huldigt, humanitäre Tendenzen verfolgt, humanitäres Wirken fördert. Daß all das vielfachen Mißverständnissen begegnet, besonders bei denen, welchen der Mensch mehr oder weniger bedeuten soll, als eben der Mensch, das ist allerdings sehr unangenehm, aber man muß sich darein schicken und man gewöhntes. Die Religion der Zukunft kann und wird keine andere sein, als die Humanität; daran wird sich nichts ändern lassen und mit dieser tröstlichen Aussicht und freundschaftlichem Gruße schließe ich«.

Zu solchen Endzielen strebt Anzengruber als Moralist und Menschenfreund. Wie er als Künstler nur der Wahrheit dient, will er auch im Leben seine Künstlerträume zur Wahrheit werden sehen: »das is wie mit dö vergoldten Nuß dort am Christbaum gegen d' g'wöhnlichen: mehr wie Kern kann a in keiner drinstecken«. Aus Haß und Streit will er die Menschen zu Frieden und Freuden führen, wie er das in einem der einfachsten und schönsten seiner Gedichte, im Weihnachtslied von »Heimg'funden«, in Worte und Weisen gefaßt hat, die mir ebenso volkstümlich und ebenso ergreifend scheinen, wie Valentins Hobellied im »Verschwender«:

Wenn alle Wochen Weihnacht wär'
Mit all dem Jubelbraus,
Da hätt mer stets die Taschen leer,
Es haltets Niemand aus;
Es bringt von Freud, sowie vom Leid
Das Übermaß Gefahr
Und Weihnachtszeit – und Weihnachtszeit
Taugt einmal nur im Jahr!

Da freut sich Alt und freut sich Jung
Selbst Leut mit weißen Haaren,
Sie schwelg'n in der Erinnerung:
»Wie froh wir Kinder waren.«
Da wird die Brust einem Jeden weit,
Daß Kein'm er wehthun möcht;
Zur Weihnachtszeit, zur Weihnachtszeit,
Behalt das Herz sein Recht.

Wenn Ein' der Kummer auch bedrückt
So soll er nit verzag'n,
Das, was zum Höchsten uns beglückt
Verlauft ja in paar Tag'n.
So kann sich ihm, wenn er das Leid
Auch zähl'n thut nach Jahr'n –
Sein Weihnachtszeit – sein Weihnachtszeit
Mit einmal offenbaren.

Und auf den Engelgruß aus Höh'n,
Der Frieden uns verheißt
Hat eine Hoffnung groß und schön
Gebaut des Menschen Geist:
Daß einst sich aller Haß und Streit
Von dieser Welt verliert
Und Eine große Weihnachtszeit
Für alle Menschen wird.

 


Wien, Cottage, 1. IX. – 14. X. 1890.
Neu durchgesehen Pfingsten 1897.


 << zurück weiter >>