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I. Der Mann.

FFührende Geister sind es, die dem Einzelnen und der Gesamtheit die rechten Wege weisen zur niemals rastenden, niemals vollendeten Erziehung des Menschengeschlechtes. Auf ihre Lippen drängt sich, was die Herzen von Millionen beengt; ihrem Auge wird durchsichtig, was mit rätselvollem Dunkel die Blicke der Massen umschleiert; ihr prophetisches Gemüt findet Worte der Erlösung, nach welchen ganze Geschlechter ahnungsvoll und vergeblich geforscht haben. Sie deuten die Vergangenheit, sie bereiten künftiger Entwickelung die Bahn, sie legen den Lebensnerv ihrer Zeit bloß und treffen damit den Lebensnerv Aller und für alle Zeit. Sie sind die Vordenker und Vorkämpfer, die Tröster und Wohlthäter von Mit- und Nachwelt: geborene Beichtiger tiefverschwiegener Herzensgeheimnisse, geborene Ankläger der Unverantwortlichen, geborene Anwälte der von allen anderen Preisgegebenen. Sie wollen das Recht und wehren dem Unrecht. Sie dringen durch den Schein in den Kern der Dinge und verkünden, was immer neu gesagt werden muß, wenn es auch nie gern gehört wird: daß Staat und Kirche, Welt und Kunst keinen Augenblick stillstehen, daß Krankes und Entartetes dem Gesunden und frisch Aufblühenden zu weichen hat. Sie verjüngen die alternde Überlieferung mit neuer, mühsam eroberter Erkenntnis und sie schöpfen Zuversicht und Arbeitslust aus uralten, unversieglichen Quellen: aus der lautersten Liebe zur Wahrheit, aus der reinsten Hingebung für die Menschheit. Nicht nach dem eigenen Vorteil, nur nach dem allgemeinen Besten geht ihr Trachten: sie beirrt der Mißerfolg des Tages sowenig, wie dauernde Gleichgiltigkeit oder heftiger Widerspruch der Zeitgenossen: denn sie thun nur, was sie selbst, dem Gebot ihrer innersten Natur getreu, vollenden müssen, nicht, was die anderen von ihnen begehren. Sie stützt und stärkt das Bewußtsein, daß, was heute als Irrlehre und Narrheit bestritten ist, morgen Brot des Lebens und Schulweisheit sein wird. Geschmäht oder umjubelt, verstanden oder verlassen gehorchen sie in der leibhaftigen, wie in der geistigen Welt keiner anderen Stimme, als der ihrer Überzeugung. Sie wissen, daß nicht immer seine Zeit gewinnt, wer ganze Zeitalter zu beherrschen bestimmt ist. Und wie auch Verkennung oder Verfolgung den einzelnen verbittert, daß er als Gebannter, als Märtyrer schärfer urteilt, härter wird, als da er, ein Schwärmer, begonnen: von dem selbstgewählten Leidensweg weicht er nicht: seine Trutzwahrheit bleibt darum nicht weniger Wahrheit: ein Blutzeuge gilt zwiefach als Zeuge. Und so verschieden nach Ort und Zeit, nach Anlagen und Aufgaben solche Naturen auch sein mögen: ob sie ihrem Geschlecht nur um einen Schritt, wie Hebel, um einen Tagemarsch, wie Hutten und Rousseau, oder um eine Weltreise voran sind, wie Spinoza und Kolumbus, Shakespeare und Goethe: gemeinsam ist ihnen der großartige Freimut, mit dem sie ihr geheimstes Gedanken- und Phantasieleben offenbaren. Im Vollgefühl ihrer Sendung legen sie alle, Zorn- und Weichmütige, Dichter und Grübler, Glaubensboten und Himmelsstürmer, Heerführer und Volksmänner, Gesetzgeber und Freiheitskämpfer, Priester und Ketzer, Seher und Zweifler, Zeugnis für den Wahrheitssinn und Wahrheitsmut des Menschengeistes; geben sie Kunde von allen Wonnen und Schmerzen, von Grenzen und Gipfeln der Menschheit. So wirkt jeder auf seine Weise, in seinem Kreise der Gottheit lebendiges Kleid. So sind sie alle, wie der »Pfarrer von Kirchfeld« den Wittenberger Mönch und Calvin nennt, vorwärts drängende Gestalten.

Nur selten blüht ihnen das Glück, daß ihr Wort, sowie es laut wird, Gehör und Glauben, ihr Werk, gleich, wie es sich zeigt, Freunde und Helfer findet; noch seltener hält das Vertrauen, der Anteil der Menge ihr Leben lang stetig bei ihnen aus. Selbst in patriarchalischen Zuständen ist es dem Völkerhirten und Religionsstifter kaum jemals vergönnt, seine Absichten in vollem Einklang mit den Seinigen ohne Trübung und Hemmung zu verwirklichen. In unseren Zeitläuften wachsen die Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten für die Neuerer in das Ungemessene: ihr Unternehmen wird desto kühner, je gewaltigere Leistungen die Vergangenheit hervorgebracht, je bedeutenderen Vormännern sie gegenüberstehen. Der Wagemut, mit dem sie ohne Schonung für alte, durch Erinnerung und Gewohnheit geheiligte Urväterweisheit ihrem Daimonion, dem übermächtigen Schöpfertrieb, gehorchen, wird mehr als einmal als Frevelmut verschrieen. Auch würdige, edelgesinnte Parteigänger der welterhaltenden Kräfte des Beharrens stemmen sich wider sie: ihnen will es nicht ein, daß der Gegenwart größere Dichter, als Homer, Cervantes und Goethe, größere Politiker als Cromwell und Stein, größere Volksmänner als Luther und Washington erstehen können und sie haben Recht. Übertroffen werden solche Meister und Bildner aller Zeiten nun und niemals: nicht zum Wettkampf, nur zur Nachfolge fordern sie heraus.

Gleichwohl bedarf jedes neu aufsteigende Geschlecht neuer Menschen, die an neue Aufgaben herantreten mit dem Jubelruf der Vroni im »Meineidbauer«: »aus is und vorbei is, da sein neue Leut' und die Welt fangt erst an.« Jeder Tag braucht seinen eigenen Dienst, jedes Zeitalter seine eigenen, führenden Geister, wie jeder, auch der Jüngst- und Niedrigstgeborene der eigenen Lunge zum Atmen, des eigenen Herzschlags zum Dasein nicht entraten kann. Je reicher ein Volk an selbstständigen Köpfen, die ihr Bestes selbstlos einsetzen für das allgemeine Beste, desto gesunder wird es gedeihen; je unabhängiger von lästigen Vorurteilen der Sinn des Einzelnen sich entfaltet, zu desto kühneren Flügen wird er ausgreifen; je mehr er die Schöpfungen seiner Vorgänger kennt, liebt und ehrt, desto weniger wird er sich nur zu ihrem Nachahmer hergeben. Die wirkliche Welt fordert Wehrdienst, nicht blos Gräberkultus und Museumswache. Deshalb fällt der schönste Kranz dem Erleuchteten zu, der mit Thaten und Botschaften kommt, die vor ihm nicht geahnt wurden; dem Wundermann, dessen geschichtliche oder künstlerische Ahnenreihe mit ihm selbst anhebt; dem Genius, der in gährender, kranker Zeit unversehens, wie der Heiland über die Schwelle der Zimmermannshütte, hinaustritt mit heiterer Gelassenheit in das wüste Getümmel von Markt und Synagoge: Einer gegen Alle, im unvermeidlichen Zusammenstoß mit dem Unverstand und bösen Willen der Mehrheit getragen, ja unüberwindlich durch sein reines Herz, seine milde Selbstsicherheit, seinen anspruchslosen Opfermut. Keine andere Bedeutung kommt einer Zeit in der Entwickelung des Menschengeschlechtes zu, als die Stellung, welche ihre Führer im Reich der Geister behaupten; kein dauernder Wert wohnt ihr inne, als wenn und soweit sie das überlieferte Vermächtnis durch unverlierbare Ideen und Heilswahrheiten vermehrt. Dieser Erkenntnis hat sich selbst unsere, von nationalen und wirtschaftlichen Gegensätzen wild aufgeregte Gegenwart nicht völlig entäußert. Zerfahren und unklar, mißvergnügt und zuchtlos, glaubens- und freudenleer wird sie gescholten: Legion ist die Zahl der Ankläger ihrer Schäden und Schwächen und nicht durch Triumphlieder, wie wir's so herrlich weit gebracht, hat die Litteratur unserer Tage sich versündigt. Nur aus solcher Kritik und Selbstkritik erwuchs aber auch, mit vielem Häßlichen und Vergänglichen, die eigentliche sittliche und künstlerische, politische und soldatische Größe unseres Zeitalters. Es kennt keine dringendere, zwingendere Pflicht, als der Wirklichkeit der Dinge auf den Grund zu gehen: in der Staatskunst Bismarcks, wie in der Forscherkunst Darwins, in der Kriegskunst Moltkes, wie in der Dichtkunst Gottfried Kellers und Ludwig Anzengrubers. In diesem Erfassen des Leibhaftigen erblicken jedoch diese Großen, was übertreibende Schwarmgeister stets übersehen, nur ihre erste, nicht ihre einzige Aufgabe: sie stiegen in die Tiefe, um das Fundament eines Baues zu legen, den sie hoch in die freie Himmelsluft emporführen wollten. Je genauer sie diese Erdenwelt betrachtet und geprüft hatten, desto weniger gerieten sie in Gefahr, die Schranken menschlicher Art und Kunst zu überspringen; die feine Grenzlinie, bei welcher das Neue und Große in das Unerhörte und Kolossalische umschlägt, haben sie nie aus dem Auge verloren. Den Politiker hat die notwendige Zersetzung unhaltbarer Staatengebilde weder zur Universalmonarchie, noch zur Chaosmacherei verführt; den Ergründer weitgreifender Naturgesetze seine Entdeckung statt zu voreiligem Systemspinnen zu noch gewissenhafterer Beobachtung des Einzel- und Kleinlebens angespornt; den Feldherrn das Bewußtsein militärischer Vorherrschaft statt zu kecken Eroberungszügen zu erneuter Verstärkung der eigenen Heeresmacht bestimmt; die beiden Dichter endlich haben wohl keine andere Muse anerkannt, als die Natur: darunter verstanden sie aber nur die menschliche Natur mit all ihren Fähigkeiten idealen und phantasievollen Aufschwungs, weder die Ausartung in das Un- und Übermenschliche, noch die Verzerrungen der tierischen und der Unnatur. Bismarck und Moltke gerieten nicht auf die Abwege des ersten Napoleon; Darwin zählt sowenig zu den Naturphilosophen, wie zu den Materialisten; Keller und Anzengruber stehen außerhalb des Bereiches irgend einer Schule; sie sind weder Symboliker, noch Naturalisten; sie folgen keinem fremden Fähnlein und pflanzen kein eigenes auf, um Freiwillige anzulocken oder Rekruten zu werben. Mit festen, markigen Knochen stehen sie auf der wohlgegründeten Erde: am liebsten auf dem Mutterboden ihrer engsten Heimat. Beide erzählen sie scheinbar zunächst nur von ihren Landsleuten für ihre Landsleute und doch wurden und werden Beide verstanden von allen empfänglichen Seelen: denn wer den Menschen seiner Tage und seiner Gegend so tief in das Herz geschaut, wie der Seldwyler und Kirchfelder, der kennt und bewegt die Menschen allerzeit und allerorten. Von der geheimsten Sehnsucht und dem tiefsten Zwiespalt, von verwegenem Weltspott und sieghafter Entsagung, von allem, was jauchzend und schluchzend im Gemüt des Volkes nach Ausdruck ringt, werden kommende Jahrhunderte aus den Schöpfungen dieser Dichter mehr erfahren, als aus Urkunden und Geschichtsbüchern. Und schwerlich wird in absehbarer Zeit die menschliche Natur sich so rasch und stark ändern, daß die Kinder einer fernen Zukunft nicht zugleich auch ihr eigenstes Wesen in den Schweizern des Zürchers, in den Bauern und Kleinbürgern des Wieners wiedererkennen sollten. Andere Kleider, andere Sitten, andere Götter, andere Reiche haben die Menschen, als in den Tagen, da Plato das Gastmahl, Sophokles die Antigone, Aristophanes die Vögel schrieb: die Grundwahrheiten ihrer Weltanschauung sind heute aufrecht, wie dazumal: »die unbegreiflich hohen Werke sind herrlich, wie am ersten Tag.«

Wird solche Dauer irgendeiner poetischen Schöpfung unserer Zeit beschieden sein und ist es nicht geradezu vermessen, in solchem Zusammenhange und wäre es im größten Abstand und mit allen erdenklichen Vorbehalten, Anzengruber auch nur zu nennend einen Mann, der zeitlebens keine hohe Schule besucht, der kaum jemals einen untadeligen, kunstgerechten, hochdeutschen Vers zu Stande gebracht, einen Dramatiker, der nur in der fragwürdigen Form des mundartlichen Volksschauspiels in Betracht kommt?

Splitterrichter, die uns mit so heiklen Fragen antreten, sind gestrenger und engherziger, als Goethe, der in den »Sprüchen in Prosa« gemeint hat: »Die sogenannten Naturdichter sind frisch und neu aufgeforderte, aus einer überbildeten, stockenden, manierirten Kunstepoche zurückgewiesene Talente. Dem Platten können sie nicht ausweichen; man kann sie daher als rückschreitend ansehen: sie sind aber regenerierend und veranlassen neue Vorschritte«. Dies allgemeine Urteil wird wohl auch gelten lassen müssen, wer im Besonderen noch so gering von Anzengruber und der Gattung des »Volksstückes« denkt, das er, wie Keiner vor und nach ihm, zu einer vollendeten Kunstform erhob. In Zeiten, in welchen die Tragödie und Komödie hohen Stils, von marklosen Epigonen unzulänglich gepflegt, verkümmerte und entartete, bediente sich dieses Kind des Volkes der überlieferten, untergeordneten Spielarten des Wiener Volksschauspiels – des Lebens- und Charakterbildes, der Posse, des Bauernstückes – um Werke zu schaffen, in welchen Gehalt und Gestalt einander so vollständig durchdringen, wie im sokratischen Ideale Leib und Seele. Mit genialem Griffe verstand er, was den akademisch feingebildeten Schuldichtern der Zeit durchaus versagt blieb, das Leben der Gegenwart zu packen und auf die Bühne zu stellen: nicht in vergänglichen Alltags-Erscheinungen, sondern in seinen ewiggiltigen, an die letzten und höchsten Fragen rührenden Gegensätzen. Eine jahrhundertalte, an Verdiensten und Erfolgen reiche Entwickelung des deutschen Volksschauspiels auf dem triebkräftigen Wiener Boden gipfelt also in seiner dramatischen Formgebung: in seinen dichterischen Vorwürfen gipfelt aber eine jahrhundertalte Entwickelung religiöser und politischer Leidensgeschichte Österreichs.

Die Glaubenskämpfe der Reformation waren es, die in ihren traurigen Nachwirkungen die Kinder der einst so liederfrohen Ostmark, die Nachfahren großer Minnesänger und der namenlosen Meister der Lieder von Gudrun und den Nibelungen ausschlossen von jedem Anteil an der Blütezeit unserer klassischen Dichtung. Erst mit Kaiser Josef oder vielmehr mit der sagenhaften Verherrlichung seines Wesens und Waltens trat hier ein Umschwung ein: in seinem Todesjahr wurde Ferdinand Raimund, ein Jahr hernach Franz Grillparzer geboren. Was fortan bis zur Märzrevolution im Dichterkreise Deutschösterreichs zu dauernder Bedeutung gelangte, das erwuchs aus dem Nährboden des Josefinismus, aus einer Weltanschauung, welcher das Vermächtnis Kaiser Josefs doppelt verklärt erschien angesichts des Jesuitismus des XVII., angesichts des Metternichschen Systems des XIX. Jahrhunderts. Der Märtyrer des aufgeklärten Absolutismus galt als Inbegriff aller Tugenden, welche den Idealmenschen, als Inbegriff aller Gaben, welche den Idealherrscher ausmachten. Hilfreich, den Ärmsten zugänglich, trotz oder wegen aller Stärkung der Staatsgewalt unerbittlich gegen jeden Übergriff weltlicher Herrschaft, bei aller Frömmigkeit scharf abwehrend gegen jeden Mißbrauch der geistlichen Macht, die Vorsehung der Bedrängten, der Schöpfer der Duldung, der Schätzer der Menschheit, der Erlöser der Leibeigenen, schroff gegen die Hoffart der Herren, leutselig gegen die Niedrigen, also – als echter »Volkskaiser« lebte er im Gedächtnis der Menge fort. Die Legende sah von seinen menschlichen Gebrechen und politischen Irrtümern ab: sie steigerte ihn zum makellosen Heros empor, zum Hort der freien Forschung, zum Vater des Vaterlands, zum »weisen Josef«, zum »Frühlingsboten seines Volkes«, »voll von Kraft und Mark und Klang so im Bilde von Metalle, wie dein Leben all' entlang:« der Lichtglanz, der von seinem Namen ausging, wuchs in demselben Maß, als die harte Wirklichkeit der Dinge sich umdunkelte.

»Der Despotismus hat mein Leben, wenigstens mein literarisches, zerstört«: heißt es in Grillparzers »Erinnerungen aus dem Jahre 1848«. Und keinen mächtigeren Ausdruck wußte dieser edle Patriot, ein Schwarzgelber durch und durch, seinem Schmerz über die Verblendung der Machthaber zu geben, als in den gewaltigen Zeit- und Zorngedichten, in welchen Kaiser Josef »mit der Weltgeschichte Demantwage ob seinen Enkeln zu Gericht geht«. Nochmals wurde, nach dem großartigen Aufschwung der Freiheitskriege, ein Menschenalter hindurch, jede Beziehung zur deutschen Bildung gehindert, jede selbständige Regung als Auflehnung verdächtigt, jede unbefangene Meinungsäußerung verboten, jedes freiwillige Eintreten für des Vaterlandes Ehre und Größe als Frevel gestraft. Ein so geist- und liebloses Regiment mußte dem Josefinismus todfeind sein: »Ich bin Euch nur noch der metallne Reiter«, so ruft der Volkskaiser bei Grillparzer in wildem Hohne, »aufs Höchste gut zu schmücken Euren Platz. Was ich geschaffen, habt Ihr ausgereutet, was ich gethan, es liegt durch Euch in Staub. Mir war der Mensch nicht Zuthat seiner Röcke, als Kinder, Brüder liebt' ich Alle gleich, Ihr teilt die Schar in Schafe und in Böcke und mit den Böcken nur erfreut Ihr Euch.« Mir war der Glaube Eins, wie Mensch, wie Recht, wie Gott: Ihr setzt der überirdisch unerklärten Neigung ein selbstgemachtes rohes Ziel: Ihr »entfaltet wieder sie, die schwarze Fahne, die meine fromme Mutter schon verhüllt.« Staat und Volk, Kirche und Heer treibt Ihr einem Verhängnis entgegen, in dem Eure Mißwirtschaft jählings in Schmach zusammenbrechen wird und aus dem nur der josefinische Geist, die Rückkehr »des toten Kaisers ans Licht« Österreich retten kann. Mit Prophetengrimm hat Grillparzer vor »Kaiser Josefs Denkmal« die Schrecken des kommenden Strafgerichts geweissagt: mit Seherblick der größte Dichter Altösterreichs schon 1842 die Entwickelung der Dinge, wie sie der damals noch in der Wiege liegende größte Dramatiker Neuösterreichs miterleben sollte, auf Jahrzehnte hinaus geoffenbart.

Als Ludwig Anzengruber 1839 zur Welt kam, herrschte Metternich als allmächtiger Staatskanzler; die Zensur drangsalierte jedes ehrliche Talent; Lenau und Anastasius Grün mußten ihre Bücher jenseits der schwarzgelben Pfähle drucken lassen; die großen Anläufe, welche Kaiser Josef genommen, die Bauern zu befreien, die Standes- und Religionsunterschiede auszugleichen, weder ein Vorrecht noch ein Unrecht der Geburt gelten zu lassen, lebten nur in dem Andenken der Massen fort. Zehn Jahre alt war das Kind, als die Wetter der Märztage den »Don Quixote der Legitimität« aus Wien vertrieben und Österreich in den Grundfesten erschütterten. Mit sehenden Augen hat der Kleine die Bewegung in Wien mitgemacht: in ihrem herrlichen Aufsteigen, in ihrem schmählichen Niedergang. In Anzengrubers Werdezeit fiel dann das Rachewerk der »Gutgesinnten«: der Abschluß des Konkordates, das dem Klerus in Schule und Familie eine Macht einräumte, die er weder unter Kaiser Franz, noch unter Kaiser Ferdinand jemals begehrt, geschweige besessen hatte; der Gesinnungswechsel des Ministers Bach, die Angeberei der Streber, die Wohldienerei der Severinusbrüder, die Mißwirtschaft der Beamten, die Günstlingswirtschaft im Heere: Thaten und Erscheinungen, denen auf den Schlachtfeldern von Solferino und in den Gerichtsverhandlungen des Prozesses Richter das weltgeschichtliche Urteil gesprochen wurde. Als Zwanzigjähriger erlebte unser Dichter den Säkulartag Schillers, der in Österreich mit Recht als Jubelfeier des Schutzheiligen der Freiheit, wie der Anbruch einer besseren Zeit, begangen wurde. Ein Jahr hernach wurde eine Verfassung gegeben, die 1865 wieder aufgehoben wurde durch das Sistierungsministerium, das Österreich – nach einem Wort von Marie Ebner – abermals an den Abgrund brachte. Das Jahr Sechsundsechzig kam und mit ihm die politische Scheidung von Deutschland. Erst in der Schule dieser Prüfungen reifte die Einsicht, auf welchen Wegen für Österreich Verjüngung und Neubelebung zu holen sei. Die Verfassung wurde wieder hergestellt: Bürgerlichen die Leitung der Staatsgeschäfte anvertraut. Ein jahrelanger Ansturm der ersten und edelsten Männer Deutschösterreichs gegen das Konkordat begann, bei welchem überzeugte Katholiken, wie Mühlfeld und Graf Anton Auersperg, Schulter an Schulter standen mit Andersgläubigen und Freidenkern. In das Jahr der Aufhebung dieses unseligen Vertrages fällt die erste Aufführung des »Pfarrers von Kirchfeld«. Der österreichische Reichskanzler erklärte das Konkordat für hinfällig in denselben Tagen, in welchen das Dogma der Unfehlbarkeit verkündigt, die Einigung Deutschlands und Italiens vollendet ward. All diese Ereignisse hat der junge Anzengruber mit wachen Sinnen an sich vorüberziehen lassen. Die Tagesgespräche, Zeitungsfehden und Redeschlachten für und wider die Beseitigung der geistlichen Vormacht fanden ihren Widerhall auf den armseligen Provinzbühnen, an welchen er, unerkannt und sehr gering, Knechtsdienste leistete: in den illustrierten Witzblättern, bei denen er um armseligen Zeilenlohn frohnte.

Der großen Abrechnung zwischen starrer Gebundenheit und freier Menschlichkeit gilt Anzengrubers erstes Volksstück: der Klärung der ewigen Probleme nach dem Warum aller irdischen und göttlichen Dinge waren seine letzten Gedanken zugekehrt. Düsterer, als zu Anbeginn seines Wirkens, hat er am Ende seiner Tage mit den Rätseln des Daseins sich auseinandergesetzt. Ein Geist des Zweifels, der bei keiner herkömmlichen Beschwichtigung Halt machte, hieß ihn, unverzagt so weit zu gehen, als sein Scharfsinn ihn nur immer führte; trieb ihn, allen Widersprüchen, Ungerechtigkeiten und Unbegreiflichkeiten dieser Weltordnung gegenüber sich niemals mit bequemer Selbsttäuschung zu bescheiden. Wer die hunderte von Bleistiftnotizen seines Nachlasses durchstöbert, in welchen er, wie im Selbstgespräch, die verworrensten Schicksale und Probleme kasuistisch erörtert, glaubt anfangs eher in das Gedanken-Chaos eines skeptischen Philosophen und Sozialpolitikers, als in die Werkstatt eines Dichters zu treten. Je tiefer man sich aber in die Ideenwelt Anzengrubers einarbeitet, desto lichter steigen die Leitsterne seines Lebens und Schaffens auf. In Staat und Kirche strebt er für die Gesamtheit keine anderen Ziele an, als die Verwirklichung der Wünsche des Josefinismus, die Erfüllung der Verheißungen des Zeitalters der Humanität.

Er selbst bekennt sich zu der Heilslehre der Liebe. Sein Herz gehört Jedem, der Trost braucht oder spendet. Sein Dank begleitet die Männer der Kirche, die ihres hohen, schweren Amtes in Werken des Friedens und der Barmherzigkeit geduldig und sanftmütig walten. Darum ehrt er nicht etwa nur Priester nach dem Ebenbild des Pfarrers von Kirchfeld, sondern alle, die mit Nachsicht, Selbstbescheidung und Milde der leibhaftigen, wie der Herzensnot ihrer Schutzbefohlenen sich annehmen; in solcher Gesinnung ist Anzengruber, der gestaltenreichste Maler des österreichischen Landvolkes, auch der liebevolle Portraitist zahlreicher, trefflicher Landgeistlicher geworden. Nicht dem Klosterbruder Bonafides, nur dem Patriarchen tritt er entgegen; nicht den Segnungen der Religion, nur jedem Verkennen und Verfälschen ihres ursprünglichen Berufes: der Werkheiligkeit, der Gleißnerei, der Profanierung des Göttlichen zu irdischen Zwecken. Nicht der echten Frömmigkeit, nur der Frömmelei begegnet Anzengruber als Widersacher. Seine »fromme Kathrin« und ihre Tugenden einer wahren Heiligen vergegenwärtigt er mit derselben Treue, wie den heuchlerischen Meineidbauer, die freimäulige Burgerlies und den freigläubigen Steinklopferhanns. Als echter Dichter lebt er sich in Sinn und Wesen all seiner Gestalten ein, befähigt, alle gleicherweise zu begreifen und zu verlebendigen. Besondere Vorliebe offenbart er für die Dulder: seine wärmsten Töne findet er für die Verwahrlosten und Verwilderten, die Verhetzten und Verstoßenen, die Verfolgten und Verkommenen: seine ganze Kraft setzt er an seine »Leidensgestalten aus dem Volk«, wie den Wurzelsepp und den Steinklopferhanns. Beide, schon im Leben durch ein Reinigungsfeuer geläutert, beide, der tragisch angelegte Dorfketzer, wie der heitere Weltweise von Zwentdorf Urheber und Sinnbilder des außerordentlichen Umschwungs, den die Volksbühne unserem Dichter dankt. Nicht mehr der leichtfertige, gedankenlos heitere oder tölpelhaft verschmitzte Hanswurst: eine ganze, große Charaktergestalt steht fortan im Mittelpunkt des Volksschauspiels. Und demgemäß ist es auch nicht mehr, wie in Raimunds zauberhafter Welt, die Führung übernatürlicher Gewalten, Feensegen und Hexenspuk, sondern einzig und allein Schuld und Sühne, die eigene Natur, die eigene That, welche in Anzengrubers entzauberter Welt das Schicksal seiner Leute bedingen und bestimmen. Sie sind, was sie sein müssen: ihr Los wächst aus dem Kern ihres Wesens empor, wie ein Baum aus seinem Urkeim. Und da »das Leben seine eigene Sprache bei ihm führt«, da er, um mit den Leuten zu reden, sich auch gewöhnen mußte, zu reden, wie sie redeten, sie reden zu lassen, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, hielt er die Mundart für genau so unerläßlich, wie die Bauerntracht; seine Gestalten sind ohne Dialekt sowenig zu denken, wie ein Gemsjäger im Frack. All das, so wichtig es auch ist, erschöpft noch nicht die Bedeutung seiner Neuerung. Älpler und Dörfler wurden vor Anzengruber auf die Bühne gebracht; äußerlich mitangeregt sind seine Bauernstücke durch eine voraufgehende große erzählende, die Litteratur der Dorfgeschichten. Was ihn nun auf unserem Theater, wie in unserer Litteratur zu einer so einzigen Erscheinung macht, ist, daß er, der Raufteufel und Tanzfreuden, Kirchweih und Kirchgang, kurz das Alltagstreiben und Beiwerk so gut gekannt und gemalt hat, wie Einer, in der Geschichte dessen, was ich kurz das »Volksgefühl« nennen möchte, vielleicht noch eine höhere Stelle einnimmt, als Rousseau in der Entwickelungsgeschichte des landschaftlichen Naturgefühls. Er hat die herkömmlichen Volkscharaktere unserer Bühne geschieden, vertieft, verinnerlicht; er hat reichste Vielgestaltigkeit an die Stelle vermeintlicher Einförmigkeit, Persönlichkeiten, auf das schärfste auseinandergehaltene Physiognomien an die Stelle von Masken und Spielfächern gesetzt. Er hat weiter gewagt und verstanden, zu zeigen, daß die Bauernwelt geistige Ausnahmsmenschen hervorbringt, die als wohlgeschulte, wenn auch nicht schulmäßige Denker den meisten Zünftigen überlegen sind; er war der Überzeugung, daß im Volk kein Trieb tiefer wurzelt, als der Drang nach Erkenntnis des echten Sitten- und Glaubensgesetzes; daß nirgends mehr als in diesem Kreise vom dunkelsten aller Weltteile zu erforschen bleibt: denn das war und ist doch das menschliche Herz und der menschliche Geist. Wenn aber Klüglinge nörgelnd an ihn herantraten mit dem Bedenken, ob so tiefgehende Zweifel und Gemütskämpfe der ländlichen Welt angemessen seien, so hatte er wahrlich nicht Not, mit Hamlet zu erwidern: »das Zeitalter wird so spitzfindig, daß der Bauer dem Hofmann auf die Fersen tritt«. Er, der selbst als Denker und Dichter aus der Masse hervorgegangen, ganz selbständig auf solche Gedanken und Vorwürfe gekommen war, hatte die Antwort vorweggenommen in der Erklärung, die – – in dem Dialektgedicht » D' Hauptsach'« – ein Herrgottschnitzer einem neugierigen Knäblein für die Eigenart und Treffsicherheit seiner Kunst und damit für das Unbewußte und Geheimnisvolle in dem schöpferischen Walten der Volksnatur überhaupt giebt:

»Jo, Bübal,« sagt er, »schau, af Ehr'
Do will halt koan Ausdeutschen gehn,
Denn wann ich d' Sach' so recht erklär'
Dann is s' glei gor nit zun verstehn.

I konn mi net z' behaupta trau'n
Daß 's eppa meine Augna soan
Dö anderscht in die Welt h'nein schau'n
Als wie sie 's bei dö mehrern thoan.

I woaß nit, wann ich 'an Schnitzer führ'
Is's d' Hand, dö alles da verricht't
Is's was, was ich im Herz verspür'
Is's was, was sich mei Kopf ausdicht't?

Woher mir's kimmt, bei meiner Seel'
Ich rat's nit, wurd ich noch so olt
Ob's oaner hernimmt, wo d'r wöll
Nur haben, haben muß er's holt.

Daß und in welchem Ausmaß Anzengruber diese »Hauptsach' g'habt«, verkünden heute die zehn Bände seiner Gesammelten Werke (Stuttgart, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger, 1890) Zweite Auflage 1892; dritte Auflage 1897. am unmittelbarsten. Diese Gesamtausgabe wurde erst nach dem Tode des Dichters veröffentlicht, zu einer Zeit, da der Plan dieser Sammlung von Biographieen, wie das Erscheinen des vorliegenden Bandes, längst beschlossene Sache war. Der ganze Reichtum von dramatischen und erzählenden Werken Anzengrubers, der jetzt aller Welt zugänglich ist, war dazumal da und dort verstreut, verzettelt, verborgen; die überragende Stellung, welche dem Dichter als größten Volksdramatiker Deutschlands gebührt, dazumal noch weniger als heute allgemein anerkannt. In den vielen wohlgemeinten und unverständigen, prahlerischen und bescheidenen Vorschlägen, die in den Achtzigerjahren für die Neubelebung oder Neubegründung der deutschen Volksbühne auftauchten, wurde Anzengrubers Verdienst selten bestritten, noch seltener anerkannt, zumeist aber verschwiegen. Von der Vielseitigkeit seines Schaffens und der Eigentümlichkeit seiner Weltanschauung hatten bis dahin selbst die Freunde seines Talentes nur ausnahmsweise eine volle Vorstellung sich verschafft, sich verschaffen können. Im Einvernehmen mit dem (früheren) Verleger, Herrn Dr. Ehlermann, beschloß ich deshalb, in die erste Reihe der »Führenden Geister« von lebenden Dichtern außer Gottfried Keller nur noch den Dichter des »Pfarrers von Kirchfeld« aufzunehmen. Die erste der gedruckten Ladungen, in welchen Beratern und Mitarbeitern Plan und Zweck des neuen Unternehmens auseinandergesetzt wurde, ging anfangs Juni 1889 an Ludwig Anzengruber, nach Bad Hall, wo er als Kurgast weilte. Damals sollte die Schrift in seinem bescheidenen Sinne zunächst nur der sachlichen Bedeutung seiner Dichtungen für die Volksbühne gerecht werden: einer einläßlichen Erörterung seiner persönlichen Schicksale hätte ich mich begeben, schon im Hinblick darauf, daß ich hoffen durfte, Anzengruber zur Aufzeichnung seines »Lebensläufels in Genrebildern« zu vermögen. Der jähe Tod des Fünfzigjährigen hat uns, wie um die Ausführung so vieler anderer seiner Pläne, auch um dieses Selbstportrait gebracht, das so einzig gewesen wäre, wie das Urbild. Daß es für diesen Verlust keinen Ersatz giebt, kann von keinem anderen schmerzlicher empfunden werden, als von dem Biographen Anzengrubers. Die fürsorgliche Güte, mit welcher das Anzengruber-Kuratorium mir vollen Einblick in die Familien- und Nachlaßpapiere des Dichters gewährte, die hilfreiche Förderung, welche Anzengrubers Freunde dieser Arbeit zugute kommen ließen, machten es mir indessen zur Pflicht, die Lebensgeschichte ausführlicher zu behandeln, als dies ursprünglich beabsichtigt war. Als Entschuldigung für ihre Lücken und Mängel mag gelten, daß Anzengrubers Leben und Wirken hier zum ersten-, bei der Bedeutung seiner Art und Kunst jedoch sicherlich nicht zum letztenmale in einem selbständigen Buche geschildert werden wird. Manche Rücksichten auf Lebende haben mir mitunter beredtes Schweigen, niemals aber irgendwelche Schönfärberei zu Gunsten des Toten geboten: denn nicht umsonst hat herzliche Liebe durchweg die Hand geführt: Liebe zu dem seltenen Manne, der in Kunst und Leben die Wahrhaftigkeit selbst war und deshalb auch in seiner Lebensbeschreibung keinen anderen Maßstab verträgt, als unbefangene Aufrichtigkeit. Je treuer man Anzengrubers Züge erfaßt, je gewissenhafter man sie wiedergiebt, desto größer und gewinnender wird er erscheinen.

Auf die kürzeste Formel gebracht hat er seine Geschichte in einem Blättchen, das ich in seinem Schriftenkasten fand:

»Ein angeerbtes Talent, durch Zufälle vor dem Verkommen bewahrt, auf gar eigenem Wege frei entfaltet und selbstgebildet. Indem sich mir also früh ohne Wahl und Leitung – wenn auch unbewußt – die gesamte Geistesthätigkeit als eine Einheit darstellte, so kannte ich auch nur Vorbilder, aber kein Vorbild, keine Schule, sondern nur Lehrer, kein Anlehnen, sondern nur ein frohes, freies Nachstreben und darin liegt wohl, was mir jetzt zugute kommt, meine Originalität.«

Wir wollen versuchen, diesen Grundtext durch die Erzählung der äußeren und inneren Erlebnisse Anzengrubers zu erläutern.

Der Vater.

Ludwig Anzengruber wurde am 29. November 1839 zu Wien geboren; seine Wiege stand in dem – 1897 mit einer Gedenktafel geschmückten – Dreilauferhause in der Alservorstadt, das mit seiner altväterischen, dreistöckigen Hauptfront und den weitläuftigen Hintergebäuden im Wesentlichen unverändert, heute wie dazumal eine Straßenkreuzung in der Nähe der Hernalser Linie beherrscht. Als der erste und einzige Sohn seiner Eltern, die sich am 13. Februar 1838 vermählt hatten, erblickte unser Dichter »das Licht der Welt, wenn man«, nach seiner eigenen scherzhaften Bemerkung, »so sagen kann, so man nachts geboren wird; weiß mich auch gar nicht mehr auf dieses für mich sehr folgenreiche Ereignis zu erinnern.« Am Tag nach seiner Geburt wurde er getauft: das Kirchenbuch nennt als Patin die Apothekers-Witwe Katharina Moser, dieselbe Frau, welche schon im Taufschein von Anzengrubers Mutter auch als deren Gevatterin erscheint: als Vater Johann Anzengruber, eines Bauern in Weng und der Anna Maria geb. Anzengruber ehelicher Sohn: als Mutter Maria, geb. Herbich, von Wien gebürtig, des Herrn Kaspar Herbich, Apotheker-Subjectens, und der Barbara geb. Widtmann eheliche Tochter. Väterlicherseits führt der Stammbaum unseres Dichters also auf oberösterreichische Bauern zurück, mütterlicherseits auf Wiener Bürger, deren Vorfahren sich noch Herwig schrieben und aus dem Reich, wie Ludwig Anzengruber glaubte, aus Schwaben, in die Kaiserstadt eingewandert sein sollen. Der Enkel von Landleuten und Kleinbauern fühlte sich aber vor allem als Sohn künstlerisch begabter Eltern:

Ein Dichter war der Vater mein,
Er machte nie aus Sang Gewerbe;
Ein Dichter hoff' auch ich zu sein
Und das ist meines Vaters Erbe –

heißt es in einem Strophenlied des neunzehnjährigen namenlosen Ludwig und nach dem durchschlagenden Erfolg des »Pfarrers von Kirchfeld« bittet er – in der »nachgeholten Tagebücherei: Bis zum Fertigwerden« – »als Beweis für seines Vaters Talent den nachgelassenen, lebenden Kommentar zu nehmen, der er selbst sei.« Eine starke, aber auch die einzige Beglaubigung des poetischen Berufes von Johann Anzengruber bei der Nachwelt: denn 1844 wurde er, nicht ganz 34 Jahre alt, seiner idealen Frau und dem unmündigen Söhnlein entrissen: ein vormärzlicher Dichter, der zeitlebens kaum einen seiner Verse gedruckt, kaum eines seiner Stücke aufgeführt sah: einer der Stillen im Lande, die unbeirrt von der Not des Alltags, ungebeugt durch den Druck des Metternichschen Systems nur dem Gott im eigenen Busen folgten. Die Wenigen, welche dem bescheidenen kränkelnden Manne im Leben näher treten durften, rühmen ihn als ganzen Charakter. »Wir verloren in ihm (so schrieb Andreas Schumacher, dazumal ein Wortführer der Wiener Kritik, gleich nach seinem Tode) einen Begabten, dessen Gesinnung und Genius den Seinen – wohl der Kunst überhaupt förderlich gewesen wäre. Es klingt unglaublich (so fährt unser Gewährsmann naiv fort), daß es einem Talente in unseren Tagen noch an Anerkennung fehlen kann: Dieser aber starb, ohne daß seinem Genius je eine Blume der Freude in den Weg gestreut worden wäre.« Unbeschadet dieses durchaus im Stil der Zeit gehaltenen Lobspruches und seines Waiblingerschen Mottos: »Dein wird noch Mancher nassen Blicks gedenken« wäre Johann Anzengruber wohl für immer verschollen geblieben. Denn die mageren, aus Schumachers Aufsatz geschöpften Angaben in Wurzbachs biographischem Lexikon hätten auch den gewissenhaftesten Litteraturforscher schwerlich angeregt, den handschriftlich im Familienbesitz erhaltenen Werken Johann Anzengrubers nachzugehen: – wäre diesem nicht in seinem Sohn ein Schüler erstanden, der nach seinem eigenen Bekenntnis als aufstrebender Autodidakt »keine Muster hatte, als Schiller und Shakespeare, seines Vaters Arbeiten, etliche Stücke Grillparzers und anderer Autoren.« Solche Anerkennung aus solchem Munde wiegt schwer. Freilich hätte bei dieser Nebeneinanderstellung kindliche Pietät unbewußt unseres Dichters Scharfblick trüben, sein sonst so unbestechliches Urteil trügen können. Allein Johann Anzengruber war, wie mir wiederholte, unbefangene Durchsicht seiner Manuskripte bewies, in Wahrheit ein geborener Dramatiker. Und hat auch seine späte Entwickelung wie sein vorzeitiger Heimgang die volle Entfaltung seiner Fähigkeiten, die Ausbildung seiner Technik gehemmt: unsere Achtung erringen, unseren Anteil verdienen seine bis zum letzten Federstrich ausgeführten, von der Censur mit dem » Imprimatur für das Ausland« versehenen Jambentragödien fast durchweg. Hier dilettiert keiner der ungezählten, vormärzlichen Kanzleidichter, die überreiche Mußestunden in und außerhalb ihrer Amtsstube mit schöngeistigem Zeitvertreib vertändelten: hier versucht sich ein kraftvoller, hochsinniger Geist an den ewigen Aufgaben des Tragikers. Wenn er sein Ziel nicht immer, nicht überall im ersten Anlauf erreicht, hat das keinen anderen Grund, als weil er es zu fern, zu hoch absteckte. Daß und wie der oberösterreichische Kleinhäusler-Sohn sich überhaupt an solche Aufgaben und Probleme heranwagte, bleibt ein Phänomen, das wir nur hinnehmen, nicht erklären können. Wußte doch Ludwig Anzengruber von seines Vaters äußeren Lebensumständen nicht viel mehr, als was Tauf-, Trau- und Totenschein mitteilen.

Johann Nepomuk Anzengruber, geboren am 21. März 1810 zu Weng, Pfarre Hofkirchen an der Trattnach, stammt aus einer Gegend, deren Bauernstand in der deutschen Dichtung und Geschichte von altersher bedeutsam gewesen. In diesen Landstrich verlegte der große Erzähler der ersten gewaltigen deutschen Dorfgeschichte, Werinher der Gärtner, den Schauplatz des Meier Helmbrecht; nicht allzuweit vom Obermayrhofgut, dem Anwesen von Johann Anzengrubers Leuten, ist Sankt Agatha und der Fadingerhof, der die Wiege des Führers im großen österreichischen Bauernkriege gewesen und ganz in der Nähe ist auch Piesenham, das Heimatdorf des »Franzel von Piesenham«, des Meisters der oberösterreichischen Dialektdichtung: Franz Stelzhamer. Der Name Anzengruber, der gleich demjenigen Grillparzers zu allerhand Deutungen und Mißdeutungen Anlaß gegeben, ist, wie dieser, von einem Ortsnamen herzuleiten (vermutlich von dem Gehöft Anzengrub, das mit den als Standharting bezeichneten drei Einzelhäusern eine eigene Katastralgemeinde der Ortsgemeinde Pram, Gerichtsbezirk Haag, politischer Bezirk Ried, bildet und nach gütigen, sachkundigen Untersuchungen, für welche ich Herrn Dr. Richard Müller dankbar verpflichtet bleibe, wohl als ursprünglicher Stammsitz unseres Bauerngeschlechtes in Betracht kommt). Wie und in welcher Eigenschaft Johann Anzengruber seine Kinder- und Knabenjahre hingebracht, wissen wir nicht. Seine Jugendgedichte offenbaren nirgends Heimaterinnerungen: das erste uns erhaltene Gedicht des Neunzehnjährigen ist ein von Schillerschen Dithyrambenklängen erfülltes Gebet

An Apollo.

Mächtiger Vater
Der Musen, Beherrscher
Des Helikons!
Träufle von Deiner geheiligten Quelle
Mir in die brennende, lechzende Seele
Nur einen Tropfen des göttlichen Borns.
Schon schwinden die Nebel,
Schon steigen Gedanken
Hoch über der Menschheit
Zertrümmerte Schranken.

Siehe, da lieg' ich
Sterbliches Würmchen
Vater, vor Dir!
Löse die Fesseln der lallenden Zunge
Flügle den Geist mir mit göttlichem Schwunge
Daß ich hinanschweb', Olympos, zu Dir!
Es fallen die Fesseln
Der Zunge, schon klingen
Die goldenen Saiten
Von himmlischen Dingen.

Laß' mich ihn schauen
Der Olympos Bewohner
Ewigen Sitz!
Laß' mich den Gang des Geschickes belauschen,
Wo die Gewässer des Kocytus rauschen
Wo der Kronid' schwingt den tötenden Blitz!
O Götter, wie ist mir –
Allmächtiger Glauben! –
Schon sind sie verschwunden
Die Fesseln von Staube.

In unbeholfenen, an Denis, häufiger aber an Schiller sich anlehnenden Rhythmen und Wortfügungen besingt er dann Minne und Hoffnung, Freundschaft und Vaterlandsliebe, Erdenfreuden und Jenseits; er giebt Elegieen auf Napoleons Grab, des Dichters Los etc. Die meisten dieser in einem Heft » Poetische Kleinigkeiten« gesammelten Verse stammen aus dem Ende der Dreißigerjahre: die ersten lyrischen Versuche unseres Dichters reichen sogar noch in seine Studentenzeit zurück. In dem vergilbten Liederbüchlein Johann Anzengrubers finde ich wenigstens einen »Nachruf in die Ewigkeit für meinen lieben verstorbenen Philosophieprofessor Maurus Berndl (10. Januar 1832)« und eine »Cantate zum Namensfest des Hr. Ignaz Thaner, Dr. theol. et phil., Studiendirektor am Lyceum zu Salzburg (30. Juli 1832).« Wann und wie Johann Anzengruber an diese Schule kam, ob als Stipendist oder, wie sein Sohn vermutete, als Sängerknabe, konnte ich auch bei der Direktion und dem Archiv des Salzburger Gymnasiums nicht mehr ermitteln. Gewiß ist nur, daß sich Johann Anzengruber Mitte der Dreißigerjahre nach Wien wandte: hier fand er in einem kleinen Ämtchen als »Ingrossist bei der Gefällen- und Domänen-Hofbuchhaltung« eine bescheidene Stellung, unter seinen engeren Amtsgenossen poetisch angeregte Kameraden, wie Lipka, vor allem aber in Maria Herbich, die er in Gesellschaft ihrer Base zuerst im Schwarzenberggarten sah, eine Lebensgefährtin, wie sie selbstloser und aufopfernder kein Mann, verständnisvoller, dem Edelsten zugänglicher kein Künstler wünschen kann. In den wenigen Jahren dieser glücklichen (in der Alserkirche eingesegneten) Ehe schrieb Johann Anzengruber eine Reihe von Stücken: ein Trauerspiel in zwei Aufzügen Sophonisbe (mehr Rede-Akt als Drama); ein Schauspiel » Das Orakel« (Motive aus dem Leben des Dionys von Syrakus, unter dem sichtbaren Einfluß von Shakespeares »Wintermärchen« und Calderons »Leben ein Traum« frei ausgestaltet). Ein Trauerspiel » Vaterland und Liebe«, eine selbständige Umbildung der geschichtlichen Überlieferung von der Ermordung des Dogen Vitale und des neuen Dogen Ziani Vermählung mit der Adria, auf daß sie Venedig unterthan sei, wie das Weib dem Manne: eine historische Tragödie aus Schillers Schule, die in ihrer mächtig vorwärtsstürmenden Handlung die Naturanlage des Autors offenbart, mit gewaltigen, wohl auch gewalttätigen, Mitteln dramatische Spannungen und gewitterhafte Entladungen herbeizuführen. Mit erstaunlicher Kraft bewältigt er Volksmassen; feurig und glaubhaft vergegenwärtigt er den unbändigen Charakter des Fischers Da Ponte, den Mörder des Dogen. In der Sprache stören da und dort Austriacismen: auch der Sinn für Wohllaut und Musik des Verses ist nicht geübt oder nicht vorhanden; in Motiven und Zwischenspielen äußert sich mehr als einmal die Unsicherheit des Anfängers, der sich lieber an opernhafte Muster und Vorgänger, als an die eigene Eingebung hält. Trotz alledem wirkt »Vaterland und Liebe« wie die Schöpfung eines echten Dramatikers, der noch Bedeutsameres, Gelungeneres in » Berthold Schwarz« zu Stande bringen sollte.

Wie eine Vorahnung der Vorwürfe Ludwig Anzengrubers gemutet das Grundmotiv dieses – 1891 in Weichelts deutschösterreichischer Nationalbibliothek gedruckten – Trauerspieles. Johann Anzengruber stellt seinen Helden nicht als Mönch, sondern als genialen Naturforscher hin, der vom Aberwitz seiner Zeit als Zauberer verfolgt wird, solang er als Arzt den Leidenden mit neuen Künsten helfen will. Der Brotneid seiner Gegner vertreibt ihn aus seiner Vaterstadt Freiburg. Doch auch aus Ulm und Rottweil muß er, als Hexenmeister an Leib und Leben bedroht, fliehen. In Straßburg entrinnt er dem Scheiterhaufen nur durch die Habsucht des Kerkermeisters, der wähnt, ihm das Geheimnis der Goldmacherkunst abzulisten. Heimweh treibt ihn nach Freiburg zurück. Als dort seine ahnungslose Mutter beim Heimgang aus dem Münster plötzlich des Geächteten ansichtig wird, hält sie ihn für seinen Geist und bricht ohnmächtig zusammen. Der Apotheker erklärt die Bewußtlose für tot: Berthold ruft sie aber wieder ins Leben zurück. Dabei wird der verhaßte Retter erkannt, ins Gefängnis geworfen und auf falsche Anklagen hin neuerdings zum Feuertod verdammt. Bertholds Vater, ein Waffenschmied, schlägt dem meineidigen Zeugen Apotheker, der Berthold des Bundes mit dem Satan beschuldigt, die Hand ab und büßt seine zornige Aufwallung mit dem Verlust der Freiheit. Im Kerker bringt der Zufall Berthold, dessen ärztliche Kunst der Schließer anruft, bei der Mischung heilkräftiger Stoffe auf die Entdeckung des Schießpulvers. Das Wundermittel soll ihm den Weg zur Freiheit bahnen: der Plan gelingt: er sprengt das Turmgewölbe in die Luft: dabei wird aber die außen ängstlich harrende Mutter Bertholds von den einstürzenden Mauern erschlagen. Er ist unfreiwillig zum Muttermörder geworden und damit vollzieht sich in Berthold Schwarz genau dieselbe Wandlung, wie im Gärbersepp des »Pfarrers von Kirchfeld«, den sein persönliches, nur durch die Unduldsamkeit seiner Nebenmenschen verschuldetes Mißgeschick zum Menschenhasser macht. Wie der Wurzelsepp, will auch Berthold Schwarz Böses mit Bösem heimzahlen: er, der vordem in edler Schwärmerei nur auf »der Menschheit Frommen« bedacht war, will nun »Blitz und Donner zaubern« auf seine Peiniger. Er zieht nach Metz zum Reichstag, auf dem Kaiser Karl IV. die goldene Bulle verkündigt. Die Reichsstädte lehnen sich gegen die neue Satzung auf und da nun die Niederwerfung der Empörer Eberhard dem Greiner aufgetragen wird, tritt der Geächtete mit seiner Entdeckung vor den Kaiser hin und alsobald nimmt der Fürst nicht bloß den Bann von ihm: er schlägt ihn zum Ritter und ernennt ihn zum Kriegsmaschinenmeister. Zügellos waltet Berthold nun des Rachewerkes: am wildesten wider die Urheber seines Jammers: er vergilt Rottweil und Straßburg die einstige Verfolgung mit Verheerung und Zerstörung. Aber immer friedloser wird seine Seele; Selbstanklagen martern ihn. Ein holdes Weib, das er im Getümmel einer Feldschlacht vor Ulm rettet, bewegt sein Herz; als aber die Redliche, die seine Neigung erwidert, vernimmt, wer sie aus der Gefahr befreit, flieht sie vor ihm, als vor dem Erzfeind des Vaterlandes, ja der Menschheit. Und immer furchtbarer kehren sich die eigenen Waffen gegen ihn. Sein liebster Jugendfreund, Günther, der Bräutigam seiner Schwester Lisbertha, gegen dessen Mahnreden zur Einkehr er sich vergebens verhärtet, fällt als Opfer von Bertholds Wurfgeschossen und dies neue Unheil bringt Lisbertha um den Verstand. »Die Mutter tot, die Schwester verrückt, der Vater im Kerker, der Freund zerschmettert, stürzt nicht der Weltbau über mir zusammen?« fragt der Verzweifelnde. Als Ehrendank, auch für diese Mirakel seiner Kunst, schickt ihm der Feldhauptmann aber die goldene Gnadenkette und ein gutes Schwert. Gebrochen und reumütig rückt er weiter vor, Freiburg zu: seine Racheglut ist erstickt: er will nur mehr der Soldateska wehren. Als er aber dem Sengen Einhalt thun will, wenden sich die beutegierigen Kriegshauptleute gegen ihn. Seine gütlichen Vergleichs-Vorschläge machen sie durch tückisches Ränkespiel zunichte: Bertholds Vater, den die geängstigten Bürger im Triumph aus seinem Gefängnis holen und als Friedensboten in das Heerlager schicken, wird niedergeschossen, wie er aus dem Stadtthor tritt: Berthold, der als Büßer in die Wildnis fliehen will, von den Rottenmeistern um neuen Feuerstaub bestürmt und, da er sich weigert, mit Haft und Hinrichtung bedroht. Kein anderer Ausweg bleibt ihm vor den Dämonen in ihm und um ihn, als der letzte: er tritt mit brennender Fackel in seine Pulverkammer und endet als Feuerwerker, der mit der eigenen Mine in die Luft fährt.

Die bewegte, straff geführte Handlung bekundet, trotz einzelner Unbeholfenheiten, richtiges Studium der richtigen Meister: die Monologe und Wechselreden der Hauptgestalten stehen zumeist unter Schillers Stern. Ureigen ist Johann Anzengruber aber die Charakteristik des Helden, an dem mehr gesündigt ward, als er selbst sündigt. Aus dem untilgbaren Zwiespalt zwischen schrankenlos vorandrängendem Forschertrieb und den Mächten des Herkommens erwächst ihm Leid und Schuld. Mit feuriger Beredsamkeit verhöhnt Berthold eine Welt, die ihn erhöht, weil er sie züchtigt, während sie nur Ketten und Scheiterhaufen für ihn bereit hatte, solang er auf ihr Heil bedacht war. Mit starker Hand zeichnet Johann Anzengruber auch den Ausgang unseres Helden: Schwarz' Selbsterkenntnis, daß er an dem ewigen Sittengesetz, dem Gebot der Menschenliebe, sich versündigt und selbst der milde Gedanke bleibt seiner Einkehr nicht fremd, daß ihm alles Übel weniger aus Böswilligkeit, als aus Unverstand zugefügt worden. Als Redner der ausgleichenden Gerechtigkeit führt endlich – wohl auch im Sinne des Dichters selbst – Bertholds Vater, Meister Schwarz, seine Sache in einer (bezeichnender Weise von der Censur getilgten) Rede an die Bürger von Freiburg:

Blind, wie ihr ihn verbannt, zum Tod verurteilt,
Blind, seh' ich, seid ihr stets, ahnt nicht das Streben,
Das meinen Sohn zu besserm Ziel beseelt
Als nur zur Strafe der bethörten Welt!
Glaubt ihr, er hätte mit des Geistes Kraft
Den mächt'gen Donnerkeil herabbeschworen,
Um euch, die armen Kröten, zu zerschmettern?
Wohl zitterten mit Recht die blinden Thoren,
Die aufgestachelt seines Zornes Wucht!
Doch wie der Blitz, den er vom Wolkenthron
Herabgeholt, die Eichen nur zerschmettert,
Das niedre Strauchwerk aber kaum berührt,
So seid ihr viel zu klein, daß er um euch
Dies Wunder aller Zeiten aufgedeckt!
Verherrlichen wollt' er des Menschen Geist,
Die alte Nacht des Wahnes wollt' er lichten,
Und Bosheit, Wut, mit einem Schlag vernichten!
Zur Straf' euch nur? Ei ja, weil ihr's verdient;
Doch euch zur Schand' und ewigen Beschämung
Sollt ihr und eure Kinder ihn verehren!
Der hehren Richterin Gerechtigkeit,
Wenn mächt'ge Frevler ihren Ausspruch höhnen,
Stellt er den starken Wolkensohn zur Seit',
Dem Bürger, kämpfend für die ew'gen Rechte,
Für Freiheit und fürs teure Vaterland
Giebt er den mächt'gen Donner in die Hand;
Und wenn Jahrhunderte hinabgeschwunden
Und auferstanden eine bess're Zeit,
Die Wolken dieser Geistesnacht zerstreut,
Und alle Welt vom Aberwitz entbunden,
Dann erst wird Bertholds Waffe auf der Wage
Der heiligen Gerechtigkeit entscheiden,
Zerschmettern wird sie mit allmächt'gem Streich
Der Knechtschaft und des Frevels schnödes Reich
Und Tage bringen voll der schönsten Freuden.
Da wird kein Wahnsinn mehr den Sohn verkennen
Und hochbegeistert wird ihn jeder nennen.

Nicht jede Wendung in dieser und so mancher anderen rhetorisch überschwänglichen Parabase hält strenger Prüfung so sicher Stand, wie der Grundgedanke des Stückes und die Charakter-Entwickelung von Berthold Schwarz: neben Halms ›Adept‹, diesem Helden siegreicher Alchymie, behauptet sich die Hauptgestalt Johann Anzengrubers mit allen Ehren. Bei Lebzeiten des Dichters wurde das Drama ein einzigesmal, am 19. Dezember 1840, als »neue große Spektakel-Komödie« zum Vorteil des Schauspielers Wilhelm Grau in Ofen aufgeführt, zum großen Mißvergnügen des Dichters und seiner Freunde. Der ziemlich marktschreierische Theaterzettel verleiht dem Autor – Johann von Anzengruber – ohne jedes Recht das Adelsprädikat und versichert, wir wissen nicht, ob mit besserem Recht, »das große historische Schaugemälde« sei »bei Anwesenheit des Dichters in Szene gesetzt worden«; die Hauptsache scheint die Feuerwerkskunst des Herrn Veltée und »die allgemeine große Explosion zum Schlusse« gewesen zu sein. Im Übrigen »ließ man das Trauerspiel teilweise – ›in gefälliger Kürzung und bühnengerechter Umarbeitung‹ als Knall- und Effektstück ins Leben treten und dieses teilweise Inslebentreten war erst der rechte Schritt aus dem Leben«: so berichtet ein Zeitgenosse. Gleichwohl hat dieser Mißerfolg Johann Anzengruber nicht gehindert, 1842 eine neue fünfaktige Tragödie aus der Gothenzeit: Theodat (ein Doppelgänger des Demetrius) zu dichten. Und aus freien Stücken nahmen sich hilfreiche Schützer wohlwollend des schüchternen Dramatikers an. Der Hofschauspieler Lucas und der Kritiker Weidmann wollten im Verein mit dem berühmten Opernsänger Haizinger die Aufführung des Trauerspiels »Vaterland und Liebe« auf der großherzoglichen Bühne in Karlsruhe ermöglichen. Und eine im vormärzlichen Wien vielgenannte Kunstfreundin, Baronin Mink, führte ihn bei dem Dichter ein, zu dessen Preis er an dessen 50. Geburtstag aus tiefstem Herzen kommende Jubeltöne angeschlagen in Versen, die er im Album der ›Concordia‹ schlicht und ausdrucksvoll betitelte: »An unsern Grillparzer«. Als Familienreliquie hielt Ludwig Anzengruber bis an sein Lebensende das folgende Billet der Gönnerin seines Vaters in Ehren: »Ich habe mit Herrn von Grillparzer von Ihrem ausgezeichneten Talent gesprochen und Sie ihm bestens anempfohlen. Er erwartet Sie mit Vergnügen und wünscht Ihre Werke zu lesen, bringen Sie ihm Ziani und vorzüglich Berthold Schwarz; im Archive der Hofkammer ist er täglich zu treffen, säumen Sie nicht hinzugehen; es ist einer von den warmen Menschen, die für fremdes Schicksal sich willig hingeben und junge Talente gern unterstützen. In Eile Ihre ergebenste Mink.« Johann Anzengruber machte, kurz vor seinem Ende, Grillparzer seinen Besuch, der weiter kein Nachspiel hatte. Die letzte Künstler-Freude seines Lebens bereitete Baronin Mink aber Johann Anzengruber dadurch, daß sie Andreas Schumacher von seinen Schöpfungen sprach und ihm die Zusage abnahm, in der Öffentlichkeit für ihn einzutreten. Herzliche Worte der Anerkennung aus dem Munde dieses Kritikers, der späterhin auch Ludwig Anzengrubers Vormund werden sollte, thaten dem Hinsiechenden wohl: als aber Schumacher seinen lang vertagten Aufsatz in Schmidls österr. Blättern für Litteratur und Kunst veröffentlichte, trug er die Überschrift »Erinnerung an einen Heimgegangenen«.

Johann Anzengruber ward noch vorzeitiger, als sein Sohn, mitten aus der Bahn gerissen. Wie viel er in gereiftem Alter, bei gereifterer Einsicht noch hätte leisten können, wie viel Ludwig Anzengruber unbewußt von ihm übernommen, überkommen, wer vermöchte es zu sagen? Auf den ersten Blick fallen mehr die Verschiedenheiten, als die Ähnlichkeiten ihres Wesens in das Auge. Der Vater, das Kind des Landes, strebt durchweg klassischen, akademischen Mustern nach, während der Sohn, ein eingefleischter Wiener, sich nirgends besser in seinem Element fühlt, als auf selbstgesuchten, steilen Höhenwegen, in der Weltabgeschiedenheit des Wurzelsepp und Einsam, in der Almhütte der fröhlichen Doppelselbstmörder, in der Einschicht des Steinklopferhanns. Der Dörfler Johann Anzengruber ringt unablässig nach sicherer Beherrschung der Schriftsprache, der Großstädter Ludwig Anzengruber dankt seine wirksamsten Treffer der wohlabgewogenen, wohlabgestuften Benutzung der Mundart als Kunstmittel.

Gemeinsam ist Beiden dagegen die mutige, markige Behandlung des Tragischen, die beherzte, körnige Komik. Nicht in den Tragödien, wohl aber in Gelegenheitsgedichten Johann Anzengrubers kommt sein Mutterwitz, seine anspruchslose Laune erquicklich zum Durchbruch. So in der selbstparodierenden Vorrede zu den eigenen, dramatischen Versuchen:

Wer nicht auf Pindus Höhen
Mit Schild und Panzer angethan
Wie mit des Sturmwinds Wehen
Ein Heros wandeln kann
Der soll, kann er die Lust nicht kirren
In seiner Stub' herumturnieren.

So in dem munteren, genrehaft lebendigen Poem »auf den Tod eines Buchhalteristen«, der aus des Lebens Rechenstand entwichen; der Rötel entfiel der Hand, die für immer ausgestrichen; das Auge, ehedem im Register Mängel über Mängel suchend, ist blind und starr; die steifen Arme werden nimmermehr nach Feder, Lineal, Scheere und Fascikeln greifen; die Füße, die sonst ruhelos die Leiter auf- und niederkletterten, sind für ewig quiesciert: vom offenen Hauptbuch, vom halbfertigen Rapport »rief der strenge Revident ihn fort, hat ihn der Vernichtungsstrich getroffen.« So, unbeschadet der sonstigen Religiosität Johann Anzengrubers, in dem bezeichnenden Scherzgedicht:

Der brave Priester.

Der Priester, der nebst dem Brevier
Auch Heunens Lieder liest
Und neben seinem Märzenbier
Die Pfarrersköchin küßt
Der ist ein Belletrist. –
Der nur von Lieb mit Mädchen spricht
Mit Vetteln nur von Gott
Und von Voltairens wahrem Licht
Mit Männern nach der Mod'
Der ist ein halber Gott.

Bei aller Enge seiner kleinbürgerlichen Beamten-Verhältnisse hatte unser Autor den Blick so frei und offen auf die schwankhaften Vorgänge in seiner nächsten Umgebung gerichtet, wie auf die Haupt- und Staatsactionen der Welthistorien, wie auf die widerwärtigen Mißstände seiner Zeit: ›Arm und Reich‹ betitelt er ein scharfes Trutzgedicht, in welchem er in schwachen Versen und in starken Gesinnungen die ausgleichende Gerechtigkeit nur vom Jenseits erwartet:

Dorten wird der Unterdrückte
Hier so lang der Bosheit Spiel
Dorten wird er der Beglückte
Fliegend nach dem ew'gen Ziel.

Dort ist er nicht mehr verloren,
Wenn er selbst der Majestät
Allerdurchlauchtigsten Ohren
Bitt're Wahrheiten gesteht.

Von Spionen, von »Vertrauten«
Ist dort oben keine Spur,
Keine Pfaffen, keine Mauthen,
Keine gallichte Censur.

O wie wird sie einst erzittern
Diese feige Sklavenbrut,
Wenn sie leer von ird'schen Flittern
Aufgeh'n sieht der Wahrheit Glut.

Seine Ideen führten ihn weiter und sicherer, als die karge Schul- und Kunstweisheit, die ihm auf dem Salzburger Lyceum und hernach von den damaligen Hütern der österreichischen Gedankenfreiheit zugemessen wurde. Denn je stärker der Druck von oben war, desto thatkräftiger rüsteten selbständige Köpfe zur Gegenwehr in rein geistigem Kampfe. Ein so strenger Richter des vormärzlichen Österreich, wie Anton Springer, mußte deshalb auch mit verdienter Anerkennung der Autodidakten gedenken, die, den widrigsten Verhältnissen zum Trotz, nur aus eigener Kraft Wissenschaft und Dichtung an der Donau zu Ehren brachten. Und F. Th. Vischer erzählt in seinem »Lebensgang«, wie er bei seiner ersten Fahrt nach Wien per Stellwagen, sehr gewarnt, nicht zu politisieren, unversehens von einem mitfahrenden Lieutenant mit der ex abrupto vorgebrachten Bemerkung überrascht wurde: »Gelt Sie, der Börne is a Mordkerl!« Die Briefe aus Paris und noch ganz andere verbotene Bücher waren damals in nicht gar wenig Klosterbibliotheken: die ganze Vorhölle, Strauß, Ruge, Saint-Simon fanden ihre Wortführer und Gönner in gebildeten und hochadeligen Kreisen. Viel Unkraut, doch auch viel Flugsamen kam dazumal über die Grenze. Es war ein vielfach unklares, nicht immer zielbewußtes Geschlecht, dessen reine Absichten und edle Bestrebungen gleichwohl leichter bespöttelt, als verwirklicht werden. So zäh und träge der Landregen niederströmte, der endlich Hochflut und Dammbrüche bringen mußte: in stillen Waldwinkeln gedieh doch dort und da in gesundem Wachstum eine herzerquickende Flora: die deutschösterreichische Kunst des Vormärz, die Grillparzer und Raimund, Schwind und Schubert, Schreyvogel und Fallmerayer sind aus der deutschen Bildungsgeschichte nicht wegzudenken. Neben diesen Chorführern soll auch derjenigen nicht vergessen werden, die strebend sich bemühten. Nicht der letzte unter ihnen ist der Mann, dessen wir ehren- und liebevoll gedenken wollten, auch wenn wir seinen Sohn nicht als den ersten Dramatiker Neu-Österreichs hochhalten würden.


Kindheit und Lehrjahre.

Der Tod des Hausvaters beraubte den fünfjährigen Ludwig des Erziehers, die Mutter des Lebensgefährten, Beide des Ernährers: außer einem Stoß lyrischer und dramatischer Manuskripte hinterließ Johann Anzengruber seiner Wittwe nur eine armselige Staatspension jährlicher 166 Fl. 40 Kreuzer C. M. Der Knabe hatte gar wenig Erinnerungen an ihn: »es fiel wohl in ein Jahr, daß mir ein freundlicher Mann ein ›Kirschenstangl‹ reichte und daß derselbe mir später von einem ›Heiligenstritz‹ abschnitt und mit Honig bestrich. Dieser Mann war mein Vater. Auf einmal war ich mit meiner Mutter allein. Ein Vetter sagte, der Vater wäre verreist. Ich sagte zornig, er sei tot. So liebte ich die Wahrheit und Trostes bedurfte ich keinen«. Stand ihm der Vater doch deutlich vor Augen, wie er den Dreijährigen auf den Arm gehoben und geküßt hatte mit den Worten: »sei brav.« Fortan leitete die Mutter den Knaben, der ihrer Treue und Festigkeit späterhin in seinen Werken mehr als ein Denkmal setzte, ja alles Tüchtige, was er in seinem Leben zustande gebracht, als ihr Denkmal betrachtete. Wer immer der bedeutenden Frau näher getreten, rühmt ihre außerordentlichen Geistesgaben nicht minder als ihre Herzensbildung und Charakterfestigkeit. In ihren Mädchenjahren hatte sie, ohne im Entferntesten ein Blaustrumpf zu sein, gesucht, lateinisch und griechisch zu lernen, um die Klassiker in der Ursprache lesen zu können. Feingemalte (seither von Hofrat v. Holzinger dem Wiener städtischen Museum gewidmete) Blumenstücke von ihrer Hand hingen bis in die letzte Lebenszeit Anzengrubers als liebstes Familienerbe in seiner guten Stube. Und als vollen Beweis rückhaltlosen Vertrauens empfanden es die wenigen, allernächsten Freunde, wenn ihnen Anzengruber ohne viel Worte das Bild der Heimgegangenen schenkte. Diese Pietät war um so bezeichnender, als die Mutter selbst nach der Versicherung des Sohnes niemals Totenkult mit ihrem Gatten trieb; dennoch verstand sie es, das Andenken des Verewigten frischlebendig zu erhalten, als Vorbild der Nacheiferung aufzustellen. Sie, die in kleinen, doch nicht gerade drückenden Verhältnissen aufgewachsen war, bewahrte in einem immer engeren, bedrängteren Hausstand Gelassenheit und Milde, Haltung und Hoffnung. Sicher lenkte sie den Knaben, indem sie ihn scheinbar gewähren ließ: zeitlebens »die trauteste Gefährtin seines Strebens und Schaffens«, seine Ratgeberin, seine »Muse«: bis über ihren vom Sohne nie verwundenen Tod hinaus die Stimme seines Gewissens. An ihrem Grabe »gelobte er seine Ehre zu wahren und so zu leben, gleich als wäre sie noch zur Stunde auf Erden und gälte es ihr Freude zu machen.«

Dank dieser herrlichen Frau war dem Kleinen trotz aller äußeren Dürftigkeit eine liebevoll gehegte, an inneren Erlebnissen reiche Kindheit beschieden. Aus dieser »idealen Zeit« hat uns der Dichter selbst ein paar bezeichnende Züge aufbehalten. Das phantasievolle Kind wandelte in Gedanken sein Zimmer in einen Garten um; es teilte den Fußboden in Beete ein und verlegte in die Mitte des Gemaches einen unerschöpflichen Brunnen; dabei arbeitete seine Einbildungskraft aber so lebhaft mit, daß es vor Schmerz aufschreien konnte, wenn man seine Lilien oder Rosen zertrat, oder vor Schreck, wenn ein lieber Angehöriger in den trockenen Brunnen fiel. Bei einer Natur dieser Art ist es nicht auffallend, daß der Junge dichtete, Stücke dichtete, noch bevor er schreiben konnte: als Vorwurf für seine Stegreifkomödien wählte er allerhand Märchen, als schauspielerische Kollegin die – Köchin. Der »Blaubart« zumal wurde von Beiden sehr ernsthaft tragiert; der Schluß wich bei dem Erstlingsstück des kleinen Anzengruber erheblich von der Sage ab: »ich kannte noch keine Beziehungen zu dem schönen Geschlecht; ich hatte noch nicht so viel Unsittlichkeit, um mich auf einen sittlichen Standpunkt aufschwingen zu können. Die Magd öffnete den Schrank, der das Zimmer mit der gemordeten Frau vorstellte und ich überraschte sie dabei und markierte ihre Tötung. Ein Akt poetischer Gerechtigkeit, für mich – bestrafte Neugier!« Wehe der Köchin, wenn sie ihren Schreckensschrei nicht richtig markerschütternd brachte! Da setzte sie der jugendliche Dramaturg auf einen Stuhl und belastete sie zur Strafe mit schweren Folianten; er selbst aber schonte seine Stimmmittel sowenig, daß eines Abends die Hausleute erschrocken herbeistürzten in der Meinung, es sei ein Unglück geschehen. Als die harmlose Ursache des wilden Tobens bekannt wurde, hielten die Meisten den Jungen für nicht ganz richtig im Kopf, doch fehlte es auch nicht an Solchen, die ihm eine schauspielerische Laufbahn prophezeiten. – In die früheste Kindheit Anzengrubers fällt auch das erste Auftreten des »Todbereitschafts-Gedankens«: in einem Döblinger Garten naschte der Knirps von den Schoten des Goldregens; das Übelbefinden, das ihn darauf befiel, hielt der Kleine für den Tod; gefaßt und still streckte er sich auf den Rasen aus: – in Stimmungen, die späterhin den Mann mehr als einmal heimsuchen und in einer seiner mächtigsten, dichterischen Offenbarungen, im Bekenntnis des Steinklopferhanns, ihre Verklärung finden sollten.

Der Landaufenthalt in Döbling war die letzte Erholung, welche die Witwe Anzengruber sich und dem Verwaisten gönnen durfte; immer härter trat Not und Sorge an sie heran; sie mußte die Wohnung im Dreilauferhause aufgeben. Zunächst übersiedelte sie (wie ihr Sohn in seinen Mannesjahren sorgsam aufgezeichnet hat) in die »Florianigasse vis à vis der Kaserne«; dann von der Josefstadt in die Marien- (heute Danhauser)gasse, hernach in die Mayerhofgasse auf der Wieden. Vom Jahre 1847 ab besuchte der Knabe die Volksschule »bei den Paulanern«; die Fortgangszeugnisse vermerken in Lesen und Schreiben die Note: sehr gut; im Katechismus und Rechnen: gut. Die Mußestunden verspielte er am liebsten auf dem dazumal unverbauten Anger vor der Favoritenlinie – selbst das Arsenal existierte zu jener Zeit noch nicht. Im Prater, im »Universum«, im Laaer- und Wienerwald wurden frohe Sonntage verlebt. Ein besonderer Festtag aber war es, wenn die Großmutter, eine Siebzigerin, den Enkel mit nach Sievering nahm. Die Alte ging, trotz ihrer kranken Lunge, immer zu Fuß, zuerst in die Kirche, dann »um Wein«, zuletzt zum Agnes-Brünndel und auf die Jägerwiese. Der kleine Ludwig wollte seiner Großmutter die richtigen Lotterie-Nummern mittels einer Gleichung allen Ernstes herausrechnen. Die Wackere, die gewiß so mancher kernhaften Frauengestalt in den Wiener Volksstücken des Enkels, der Mutter Hammer in »Heimg'funden«, der Gärtnersfrau Schön im »Vierten Gebot« herbe und weiche Humore geliehen, wollte aber von dieser neumodischen Weisheit nichts hören, sondern hielt sich lieber an die Zahlen-Orakel des »Brünndels«. Zum Lohn für den Eifer des Enkels erzählte sie ihm aber, was sie wußte: am liebsten von der Zubereitung der »Schlangensuppen« durch den Großvater Apotheker. Ein gewinnendes Bild dieses Großmütterchens danken wir seinem Jugendfreunde und nachmaligen Schwager Franz Lipka:

Wäre Barbara Herbich noch unter uns, wie sie in meiner Erinnerung noch so frisch fortlebt, die Welt könnte sich um ein harmlos edles Wesen reicher schätzen. Des Vormittags waltete sie, eine vorzügliche Köchin, ihres Amtes, Nachmittags saß sie strickend auf dem Sofa, neben sich das grünseidene Täschchen mit Sacktuch, Nähzeug und ähnlichen Utensilien, uns Märchen oder Erlebnisse aus alten, gar alten Zeiten erzählend. Und wie konnte sie erzählen! Gleich als läse sie aus einem reizenden Buche so recht anheimelnde Kindergeschichten vor.

Aufregendere und nicht weniger nachhaltige Eindrücke brachte dem Kleinen das Jahr Achtundvierzig: »eine laue, keimweckende Luft wehte ihn an, da er in den Märztagen von der inneren Burg auf den Ballplatz einbog«. Die Freudentage des Völkerfrühlings, der allgemeine Jubel, der Aufmarsch der akademischen Legion, die Fackelzüge gefielen dem Neunjährigen ungemein. Doch nicht allein zu den Festen stellte er sich als neugieriger Zuschauer ein; er sah dem Barrikadenbau zu und folgte mit anderen Knaben der schwarzrotgoldenen Fahne, die ein Kamerad ihnen vorantrug: Kugeln pfiffen an ihnen vorbei und es fehlte nicht viel, daß sie ihr Schreien und Fahnenschwenken, einen thörichten Jugendstreich, mit Leib und Leben hätten büßen müssen. Die Belagerung von Wien, das Bombardement, der jähe Umschlag von steter Bewegung und wildem Lärm in allgemeine Ruhe und erzwungenes Stillschweigen beschäftigten den nachdenklichen Sinn des Kleinen; die Barrikaden waren wieder sachte bei Seite geschafft worden; die schwarzrotgoldenen Fahnen verschwanden: »es war mir sonderbar. Ich mußte mir sagen, die Großen wissen nicht, was sie wollen – sie richten an der Welt – ist denn die«, so fragte er echt anzengruberisch, »nicht fix und fertig?«

Die Niederwerfung des Aufstandes führte wieder geordnete Schulzustände herbei und nun begann »ein Leben voll Sonnenschein, voll stillen Wachstums von innen und außen«: 1850 besuchte der Knabe noch die Volksschule, 1851-53 die (Wiedener Piaristen-)Unterrealschule, 1854 die erste Klasse der Oberrealschule auf der Landstraße. Seine Zeugnisse werden zusehends schlechter; er fand nicht die rechte Aufmerksamkeit oder die nötige Nachhilfe. Daheim aber stiegen ihm neue Welten auf. Er hatte auf dem Boden eine Bücherkiste seines Vaters aufgestöbert und damit kamen Zeiten, wo er sich »zurückträumte in eine ferne Vergangenheit, ganz gegenwärtig in derselben«; so war er mit dem jungen Anacharsis in »den Tempeln der Götter, bei ihren Festen so gegenwärtig, wie man das nur als halbes Kind kann«. In die Geschichte führten ihn dieselben Männer ein, welche für die Jugendlektüre Grillparzers von Bedeutung geworden: Guthrie und Grey. Ab und zu fiel dem wahllos alles Hinunterschlingenden wohl auch ein groteskes Werk in die Hände: so zumal ein altes Buch auf schrecklichem Papier mit fürchterlichen Lettern gedruckt: »die Welt aus Seelen. In diesem hatten alle niederen Organismen, ich entsinne mich nicht mehr ob das ›brennende Verlangen‹ oder ›die passive Erwartung‹ von den höheren aufgenommen d. i. gefressen zu werden. Alle Welt war so appetitlich für den Menschen, eine wahre Küchenphilosophie. Der Autor ermunterte mit seiner atomistischen Weltanschauung die Fresser zum Genuß und tröstete die, welche gefressen wurden oder wenigstens weiche Gemüter über deren Los. Denn die Aufnahme niederer Organismen in die höheren auf dem nicht ungewöhnlichen Wege der Kauung und Verdauung war ein großer Schritt zur Vollendung der ersteren, nicht unangenehm für die letzteren. Ich hatte einen vortrefflichen Magen und hielt den Autor für den größten Weisen.« So absonderliche Gäste wirkten als ergötzliche Kontrastfiguren in der auserlesenen Gesellschaft der Büchersammlung von Johann Anzengruber: »mit lebendiger Anschauung ihres Volumens, ihrer Größe, ihres Einbandes, wie Individuen« blieben dem Sohn Anzengruber diese besten Freunde seiner Jugend in dauernder Erinnerung: Shakespeare, Schiller, Lessings Dramaturgie, die Poetik des Aristoteles, Swifts Gulliver, Napoleon auf Sankt Helena, A. W. Schlegels Vorlesungen, nicht zum wenigsten aber Wielands Übersetzung des Lucian von Samosata. Seine vorzeitige Bekanntschaft mit dem alten Ironiker führte zu einem drolligen Auftritt mit seinem Religionslehrer: »als sich unser Katechet zweiter Klasse Realschule was darauf zugute that, daß die vernünftigen Heiden ihrer Götter gespottet und ihn als Zeugen anführte, war ich so kindlich naiv zu bekennen, ich hätte diesen heidnischen Ketzer gelesen. Der Mann machte ein sehr bedenkliches Gesicht.« Überschätzen wollen wir darum keineswegs den Einfluß der »Göttergespräche« auf den jungen Anzengruber; man darf nie vergessen, so heißt es in einer Aufzeichnung seines Nachlasses, »daß kein Kind, sei es ein gutes oder ein sogenannt' verderbliches Buch lesen kann, wie es ein Erwachsener liest. Was die Religiosität anlangt, so machte ich die Erfahrung, daß ich, wohl der belesenste Junge in der Klasse, mich ebenso verhielt, wie meine Kollegen, wir ließen, ohne uns Gedanken zu machen, den betreffenden Unterricht samt allen Zeremonien und Gebräuchen über uns ergehen. Der Rückschlag kam später: die Not lehrt nicht immer beten, zudem, wo sie umsonst betet.« Zu dieser Erkenntnis sollte der Dichter aus eigener Erfahrung gelangen: Schritt für Schritt, Jahr um Jahr verschlimmerte sich die Lage der armen Witwe. In der ersten Zeit nach dem Tod des Vaters war der Mangel noch nicht so fühlbar an sie herangetreten. Großmutter Herbich bescheerte dem Enkel nicht nur Ausflüge, sie nahm ihn und Lipka wiederholt mit in das Josefstädter Theater und die Hernalser Arena. Anderemale waren ihm noch edlere Eindrücke beschieden; gern erzählte er, wie ihn seine Mutter zu einer Gastvorstellung der Jenny Lind führte, deren Namen er als echtes Wiener Kind in »die schöni Lind« verdrehte; sie hatte, vielleicht durch Schumacher, sehr gute Plätze in den ersten Reihen bekommen. Als die Sängerin auftrat und des Knaben ansichtig wurde, dessen auffallend schönen Kopf eine Fülle lichter Locken umwallte, hielt sie einen Augenblick inne und nickte dem Kleinen freundlich zu. Froh und genügsam lebte der kleine Ludwig dahin: »niemals schmeckte es mir besser, als in den Tagen, da Schmalhans Küchenmeister war, ich es aber noch nicht merkte.« Als reifer Künstler wollte er in einem Genrebild die Stimmung seligen Behagens festhalten, die ihn überkam, wenn ihn die Mutter zu Bries und grünen Erbsen oder zu einem Schöpsenbraten mit kleinen Gurken in einen Gasthausgarten der Vorstadt führte und der Wirt, das altväterische Samtkäppchen auf dem Kopfe, sie freundlich bewillkommte. »Geheimnisreich, glückverheißend lag alles vor seiner Seele in jener Zeit des Hoffens, des immer von neuem Überraschtseins.« Und an gemütlichen Beziehungen zu Nachbarskindern und Schulkameraden fehlte es nicht. Belvedere und Schwarzenberggarten besuchte er fast täglich mit Franz Lipka, die Sonntage verbrachten die beiden zur Sommerszeit gern im Laaer Wald; »da war jedes Gebüsch, jeder Baum mit Nymphen und Elfen und was nur jugendliche Phantasie erschaffen konnte, belebt.« Im langjährigen geselligen Verkehr mit befreundeten Beamten- und Bürgersfamilien (Wallner, Hofmann, Kammeritsch) war er »im Geiste der Reihe nach der Gatte all seiner Jugendgespielinnen: also ein ungefährlicher Junge: der der aller Liebhaber sein will, ist schon zu fürchten«: sein ganzes Wesen neigte zur Verträumtheit, »zur Idylle: den Kampf warf erst das Elend hinein.«

Im Jahr 1854 starb die Großmutter. Bleich und verstört stürzte am Montag, 31. Juli, der Knabe zu Lipka, bot keinen Gruß, stammelte nur zitternd die Todesnachricht hervor und ging wieder so hastig, als er gekommen war. »Die Zeit heilt die Wunde«, so schrieb Anzengruber achtzehn Jahre hernach in einem Trostbrief an Rosegger, den ein ähnlicher Verlust betroffen:

»Lassen Sie es Frühling und wieder Frühling werden und unsere Toten feiern in unseren Herzen ihre Auferstehung. In freundlichem Gedenken, ihre kleinen Schwächen ganz aus dem lieben Bilde hinweggetilgt, stehen sie vor uns! Im Frühlingssonnenschein schwebt ihr Bild mit allen Kindheitserinnerungen über der Haide, im Sommer biegt es aus den wogenden Ähren, plötzlich steht es am Rain und lächelt uns zu – im Herbste geht es mit raschelnden Tritten neben uns durch das fallende Laub und es will uns gar wehmütig werden – aber wenn es Winter wird, zu Allerseelen, da tritt es gar in unser Stübchen: »Grüß Gott, lieb Kind«. »Grüß Gott, lieb Mütterlein.« Unsere Toten sind nicht tot, so lange wir leben, und sterben wir, da nehmen wir sie nur mit uns aus einer Welt, die sie nun nimmermehr verstände. Für unsere heißen Thränen und bitteren Schmerzen tauschen wir nur Wehmut und Sehnsucht ein: diese beiden sind die Geburtswehen unserer Welt, durch die sie edlerer Geschöpfe genesen will. Zu dieser sanften stillen Welt, die ahnungsvoll wie sternenhelle Winternacht uns auf der Seele liegt … leiht ihr uns den Schlüssel, ihr lieben Gestorbenen. – – Ich hatte ein Großmütterlein, das vor vielen Jahren starb. Ich hatte es recht lieb, darum schreib' ich so.«

Mit so tiefen Zügen hatte sich die Alte in das Gedächtnis des Enkels eingegraben: obwohl oder weil auch mit ihrem Andenken die Tochter sowenig Totenkult trieb wie mit dem des Gatten. Ja, in ihrer tiefsten Trauer vergaß sie ihre Pflichten als Erzieherin nicht: sie befahl ihrem Ludwig in das mondbeleuchtete Sterbezimmer zu gehen und das Fenster zu schließen; der fürchtete sich aber dazumal sowenig als späterhin, wie er diese Geschichte sarkastisch schloß, – vor Gespenstern.

Die Krankheit und das Begräbnis der Greisin hatten die letzten Notpfennige aufgezehrt und da aus dem kargen Witwengehalt der Lebensunterhalt der Beiden schlechterdings nicht zu bestreiten war, begann die Mutter Anzengruber eine »Pfaidlerei« im Schmardahofe, Favoritenstraße; der Sohn aber mußte aus der Schule in ein Geschäft. Auf den Rat Schumachers trat er als Praktikant bei dem Buchhändler Sallmayer ein. Der Prinzipal Ludwig Anzengrubers muß, nach dessen Mitteilungen, ein wunderlicher Kauz, ein philosophischer Lebemann gewesen sein, dessen einzige Weisheit Genuß und Bequemlichkeit war. Noch seltsamer als der Chef muß aber, wiederum nach seinen eigenen Bekenntnissen, der neue Lehrling sich benommen haben; ungeheißen rührte er keinen Finger; ihm war »weniger um das Verkaufen, immer nur um das Lesen« zu thun. Die einzige Fertigkeit, die er aus dieser Praktikantenzeit in sein späteres Leben mitnahm, war eine bis in seine letzten Tage schalkhaft geübte Virtuosität, nette Bücher-Pakete zu machen. Drei Jahre lang (1856-58) hielten Sallmayer und Anzengruber mit einander aus. In den Abendstunden des Winters 1857/58 besuchte der Praktikant die Handelsschule von Legat, die ihm ein glänzendes Zeugnis der Kenntnis der französischen Sprache ausstellte, das wohl mehr der Nachsicht der Examinatoren als der Wirklichkeit entsprach. Mit ganz anderem Eifer las und lebte sich der Jüngling dagegen in das Reich der Kunst ein. Er ließ kein Buch unangeblättert: mit besonderer Vorliebe versenkte er sich in Maler-Biographieen: »traum- und thathaft« lebte er in Gedanken zumal das Leben des Größten der uomini singolari der Renaissance, das Dasein von Lionardo da Vinci, nach. Er glaubte sich eine Weile zum bildenden Künstler berufen: als der Sohn einer Mutter, die in ihren Mädchenjahren eine begabte Blumenmalerin gewesen. Jeden freien Tag verbrachte er im Belvedere, vor den Gemälden der Besten von der Sehnsucht erfüllt, es ihnen gleichzuthun. Ohne Anleitung, ohne Lehrer versuchte er es, sich auszubilden: er kaufte sich kurzweg Kupferplatten und Radiernadel, im Glauben, daß er sich die erforderlichen Handgriffe als Autodidakt aneignen könne.

Immer stärker äußerten sich aber auch schauspielerische und dichterische Neigungen. Wiederholt hat er mir erzählt, welchen gewaltigen Eindruck Heinrich Anschütz als Musikus Miller auf ihn geübt. Wie eine Erweckung traf ihn Dessoirs Darstellung des Narziß. Im Theater in der Leopoldstadt sah er Nestroy, dergestalt angeregt von dem Darsteller und seinem Stück, daß er bald darauf Schumacher eine Posse zur Prüfung übergab, die durchweg Art und Unart des satirischen Dramatikers festhielt. Besonders angemutet fühlte er sich aber im Theater an der Wien von den Bauernstücken von Prüller (»Toni und sein Burgei«, »die Klosterbäuerin«, »der Schmied vom Achensee« etc.) Wenn dann jüngere, kühlere Freunde nicht begreifen wollten, daß er auf der Höhe seiner Meisterschaft dieser biederen, handfesten Volksschauspiele mit ihren höllenschwarzen Bösewichtern und himmelblauen Tugendhelden überhaupt noch ernstlich Erwähnung that, dann war er wohl im Stande, statt jeder gesprochenen Entgegnung die Lieder nach den Prummerschen Weisen anzustimmen, mit welchen Rott – nachmals der erste Darsteller des Meineidbauer in Wien – als Toni dereinst sein junges Herz entzückt hatte. Immer stürmischer wurde sein Verlangen, sich selbst auf die Bretter zu wagen. Mit anderen Kameraden versuchte er sich auf der vielberufenen Liebhaberbühne des Meidlinger Theaters und beschrieb seine erste Begegnung mit dem drolligen Kauz von Direktor, einem sicheren Groll, im Ton des humoristischen Romans in einem (handschriftlich durch Lipka aufbehaltenen) Sedezheft » Unterm Mond. Eine Sammlung von Satiren, Gedichten, prosaischen Aufsätzen und Aphorismen von LANZ (offenbar: L. Anz[engruber]) Mai 1860.« Groll begehrte in feierlichem Hanswurstton von dem Minderjährigen einen Revers der Mutter, in dem sich dieselbe »vollkommen damit einverstanden erklärte, daß ihr Sohn Ludwig an dem zu Meidling befindlichen Theater des Herrn Ludwig Groll sich zum Schauspieler bildet, sowie sie für die Subsistenz desselben sorgen wird, bis er ein festes Engagement anzutreten imstande sein wird.« Mit der »Ausbildung zum Schauspieler« sah es indessen bei Herrn Groll recht windig aus. Der Mann konnte anderen nicht zeigen, was er selbst nicht besaß und verstand. Desto genauer nahm er es mit der »Sicherung der Subsistenzmittel« – vor allem für sich selbst. Keines der zwanzig Röllchen, die der Jüngling in dem von ihm selbst als »Harfenisten-Bühne« verspotteten Theatrum Meidlingianum zugeteilt erhielt – vom Fiaker Mischauf in den »Modethorheiten«, unterschiedlichen Dienern, Bauern, Räubern, Juden, Sesselträgern, Tafeldeckern, Köchen, Werbern etc. bis zum Reitknecht Sam in der Waisen aus Lowood – hatte einen anderen Zweck, als die Überwälzung der Kosten für die Ausstaffierung (Bärte, Schnallenschuhe, schwarze Strümpfe etc.) vom Direktor Groll auf den strebsamen Anfänger, Herrn Lanz, der seine Erlebnisse sofort parodistisch dramatisierte. In einem »dramatischen Mixedpickle« läßt Lanzius – »ein Andern sein Narr«, wie er sich in richtiger Selbsterkenntnis im Personenverzeichnis nannte – alle Charaktere, die er in Meidling darzustellen hatte, auftreten. Und nicht nur in Wechselreden, auch in spassigen Bleistift-Karrikaturen stellt das Heft »Unterm Mond« Anzengrubers 20 im Meidlinger Theater gegebene Rollen vor uns hin. Geistergleich tauchen ihre Gestalten vor dem im Sorgenstuhl sitzenden Lanzius hin. »Mischauf, ich kenne Dich, mein holder Junge«, so ruft er dem Fiaker zu. »Du bist mein erster theatralischer Versuch, leb' wohl!« »Fehding! Du mein zweiter bist teurer, als der erste mir. Hausschuhe, sonst ein Luxusartikel mir, gekauft 1 fl. 40 Krz., entfleuch.« »Ha, Stachlow, Du teuerster mit ausgeliehenem Bart, Du 50 Kreuzer-Räuber, vergeh!« »François, Du schweigsamer Domestique, den ganzen Abend sprachst Du sieben Worte!! verstumm auf ewig!« »Vogt von Worms, in schwarzer Kleidung, weißt Du, was Deine schwarzen Strümpfe kosten an barem, was an Müh Deine Schuh-Zierraten, zieh dahin!« »Schmul, ich weiß mich leider Deiner zu erinnern, an Deinem Bart wog Spagat und Draht vier Pfund.« In diesem schnurrigen Ton geht's fort bis zu den Schluß-Knittelversen:

Werber, der Groll gab Dich mir o Werber
Ich sag voll Groll dafür verderb er
Und Du auch … Patzer, Pereles, Sesseltrager
Dies sind die letzten
Die weder mich noch's Publikum ergetzten
Fort!
Wie hab' ich ohne Lohn mit Euch mich plagen müssen
So muß man mondenlang 'ne dumme Stunde büssen.

Nicht viel wehr als bei Herrn Groll war von dem Gesangskomiker Karl Treumann zu holen, der Anzengruber ein paar Stunden gab. Wollte er vorwärts kommen, so mußte er sich selbst helfen. Große Entwürfe, kühne Hoffnungen erfüllten ihn. Er setzte sich vor, zugleich als Schauspieler und als Dichter, seine Kraft zu erproben. Seine gute Mutter widerstrebte ihm um so weniger, als er, nachdem ihn Sallmayer verabschiedet, nirgends eine Stellung fand und – vom 25. August bis 18. Oktober 1859 – im Wiedener Spital einen Typhus überstand, der ihn, – diesmal ernstlicher, als der Zwischenfall mit den Schoten des Goldregens in seiner Kinderzeit – mit dem Gedanken an Freund Hein vertraut werden ließ. Seine Krankengeschichte erzählte der Zwanzigjährige vom 15. bis 18. September 1859 dem getreuen Franz Lipka in einem mit Bleistift geschriebenen bogenstarken »Strafsendschreiben«, in dem er dringend neue Lektüre – statt von der Velde und der »sehr interessanten Eroberung von Mexiko« – vor allem Wanders »Abc der Verslehre« verlangt und sodann fortfährt:

Am 25. August, meinem Namenstage, nachmittags 2 Uhr, ließ ich mich von meiner Mutter in das Spital führen. (Eine erhebende Feier des Namensfestes!) In der Kanzlei hieß es »wer?« »was?« Geburtsort u. dergl. m.; dies auf einen Zettel notiert, dieser dem sog. Krankenführer übergeben und vorwärts gings hinauf 2. Stock Thür 15. Dort wiesen mir die Schwestern, so heißen hier die Krankenwärterinnen, weil sie zu einem geistlichen Orden gehören, ein Bett an; ich mußte alles was mir eigentümlich an Gewändern ausziehen und wurde dafür mit Hemd und Gattien bedacht (keine Socken!). Da lag ich nun, es begannen meine Leiden, erstens kam zur Nachmittagsvisite gleich ein Doktor, der mich als neuen Ankömmling abpuffte und klopfte und kurz untersuchte und mir die Medizin versprach. Bald darauf bekam ich zum Genuß eine klare lautre fade matte Suppe, dann ein langmächtiges Abendgebet mit lauretanischer Litanei, dann Schlaf, so endete der erste Tag meines Spitallebens. (Die verdammte lautre Suppe mußte ich trotz zunehmendem Appetit durch mehr als 14 Tage (ich bekam sie Früh, Mittags und Abends) allein nehmen, jetzt bin ich wohl darüber hinaus, bekomme eingekochte Suppe, aber was heißt das? da mein Appetit einstweilen zum Riesenhunger geworden. Und glaubst Du, die Doktoren geben mir etwas? – O nein! – Die Langeweile ist besiegt, aber ein mächtigerer Feind, der Hunger, setzt mir so arg zu, daß ich z. B. gestern die halbe Nacht vor Hunger kein Auge zuthun konnte. (Bedauere mich, Franz!) Den zweiten Tag, als ich Vormittag etwas schlummerte, weckt mich ein nahes Gemurmel, ich erblicke neben mir im Gespräch mit der Schwester eine hohe schwarze Gestalt.« »Es war ein Priester, der mir, mir, dem gläubigen Heruler, austrug, mich für Nachmittag zur Beichte vorzubereiten« … »Täglich wie gesagt, wird dreimal gegessen, was billiger als daß auch täglich dreimal oder halt viermal gebetet werde. 1. Früh. 2. Vor 3. Nach dem Essen (Ironie bei mir). 4. Abends. Früh heißts heute um ½6, Morgen einmal um 5 und übermorgen zur Abwechslung um 4 Uhr aufstehen. Dafür darf sich aber auch ein ehrlicher Christenmensch, der erst um 9 oder ½10 schlafen ging, gewohnt bei Licht zu arbeiten, um ½7 oder 7 zur Ruhe begeben. Dann Nachts diese Lungenkranken, die einem den Schlaf weghusten, die Sterbenden, die dann in ihre Bettleintücher gehüllt, sobald sie tot sind, per Trag' von zwei Kerlen weggeschleppt werden (seit ich hier bin, sind vier gestorben), die letzten Ölungen, alles dies giebt mir den Wunsch ins Herz: »Wäre ich nur bald aus diesem Hungerthurme heraus.« Dazu wolle mir Gott verhelfen. Was das Zimmer anbelangt, in welchem ich liege, so ist es ein freundlich lichtes Lokal, 4° breit, 16° lang, mit 28 Betten, alle nummeriert, ich liege auf Nr. 13; aber mir ist meine, wenn auch beschränkte Kammer und mein jedenfalls bequemeres Bett lieber. Denn diese Krankenbetten haben nur Strohsack, statt Matratze einen Fetzen darüber und Roßhaarpolster. Doch ich schrieb jetzt genug über das Spital, vielleicht auch zuviel für Dich.«

Als der Genesene ein Engagement bei dem Theater in Wiener-Neustadt mit einem Monatsgehalt von 25 Gulden fand, hielt es die wackere Frau für selbstverständliche Pflicht, dem Sohn als Hauswirtin zur Seite zu bleiben. Bevor wir den Beiden aber in die Fremde und in alle Fährlichkeiten ihrer Wanderjahre folgen, wollen wir uns eine Weile in der Gedankenwelt des jungen Poeten heimisch machen.


»Chaos«: Gedichte aus der Werdezeit.

Verse sind die ersten uns aufbehaltenen Talentproben aus Anzengrubers Jugendzeit. In ein kleines Heft auf grobes Schreibpapier hat er 1867 eine Auswahl seiner ersten Lyrica eingetragen: mit sorgsam, fast zierlich nachgebildeten gotischen Buchstaben hat er auf das Titelblatt gesetzt »Gedichte von?« und darunter mit der Feder Fackel und Narrenszepter gezeichnet, die ein Lorbeerkranz zusammenhält. In reiferen Jahren änderte er die Überschrift in » Chaos. Aufbehaltene Gedichte aus meiner Werdezeit«. Dauernder Kunstwert wohnt diesen Versuchen nicht inne. Der Gesetze der Form war er damals nicht kundig, wie er derselben auch späterhin im hochdeutschen Vers nicht immer Herr ward. Für sein Geistesleben dagegen sind diese »Gedichte der ersten Periode (1859-63)«, wie sie der Jüngling mit Schiller'schem Ausdruck selbst bezeichnete, von hoher Bedeutung. In Vorzügen und Schwächen weisen sie auf Züge, welche seiner späteren Art entsprechen. Trotz aller Härten in Vers und Reim, trotz des fühlbaren Mangels an rhythmischem Sinn und innerlicher Musik der Sprache gewinnt uns der Dichter durch die Größe seiner Gedanken, durch sociale, grüblerische und humoristische Wendungen von überraschender Schlagkraft. Am Eingang steht » Das Lied vom Leiden«. Zum erstenmale klingt hier ein Leitmotiv an, das Anzengrubers Denken und Dichten durchwaltet: daß ethisches Leiden den Einzelnen wie die Gesamtheit läutert. »Ein tief Gemüt bestimmt sich selbst zum Leid«, heißt es in einer fragmentarischen Aufzeichnung von Ferdinand Raimund. Das allgewaltige Leid, so sang der junge Anzengruber, der es, nach seinem eigenen Worte, damals schon nicht blos vom Hörensagen kannte, wohnt in Palast und Hütte. Es trifft Jeden und schont Keinen. Wollte es selbst an irgendwem vorbei, er riefe es selbst in sein Haus, »die Flamm' sich zündend, die ihn brennt«.

So bliebe denn nicht Einer frei
Geht leidlos Keiner in die Gruft
Wenn Du ihn läßt, er Dich nicht ruft?
O, daß nicht Einer leidlos sei,
Dem zeigst Du groß in trüber Zeit
Als Schmerz Dich über Andrer Leid
O Du Leid!

Ja Leid, Du allgewalt'ge Macht,
Der Mensch bleibt stets von Dir bedroht
Von Schmerz, von Neid, von Sorg', von Not.
Das Menschenherz aus seiner Nacht
Erweckst Du, machst es groß und weit
So hat sein Gutes auch das Leid
Ja, das Leid.

Der Poet, der mit solchen Tönen einsetzt, trällert keine lustigen Liebesweisen. »Präludierend« meint er nur: »Liebe ist ein altes Thema, ist so alt, als wie die Welt und sie wird so lange leben, als sich diese aufrechthält.« Heißer, als Sehnsucht nach Frauengunst lodert das heilige Feuer in ihm: er will sich als würdiger Sohn seines Vaters als Dichter bewähren; er ringt nach dem Kranz der Künstlerschaft, er besingt »Meister Inspirazione«. – Wenn der Jüngling die Baumgänge des Belvedere durchschreitet, regt sich der Wunsch in ihm, in Worten und Tönen, als Maler und Bildhauer, mit der Allseitigkeit Lionardos, dem Schönen zu dienen. Und wenn die Unzulänglichkeit der eigenen Begabung solchen Überschwang auch rasch dämpft: kleinmütige Verzagtheit hindert ihn nicht, weiterzustreben. Und wie in seinen Empfindungen offenbart sich auch in seinen Betrachtungen der große Sinn, den lebhafter als das eigene Ich die Aufgaben der Zeit, das Wohl der Menschheit, die Rätsel der Welt beschäftigen. »Senfkörner der Weisheit« streut er aus: er mahnt die Menschen ganz aus sich heraus- oder ganz in sich hineinzugehen. Alle Philosophie sei unfruchtbar: ihre einzige Wahrheit laute: jede Philosophie sei – Dichterei. Eine Sonnenuhr, die als Stundenzeiger nur für die Dauer des Tages dient, führt ihn auf immer tiefere, kosmische Grübeleien und zuletzt zur Frage des Weltuntergangs. »Wer mißt der Erde Schatten in dem Raume und dieses Riesenkegels Zifferfall, wer scheucht der Sterne Seelen aus dem Traume und nennt die Sonnenstunde uns im All?« Was nützt die Sonnenuhr? wie der Tag selbst leistet sie nur der Nacht Heroldsdienste und wie die Sonnenuhr werden einst auch der Mensch, die Menschheit, die Erden und die Sonnen vom heitern Tag verlassen werden:

In jenes Uranfanges Nebelferne
Hat sich das Sein aus düstrer Nacht gekämpfet
Und jene ersten Nächte hatten Sterne,
Die Sonnen waren, die das Düster dämpfet.
Schon seh' ich von der Zeit rastloser Hippe
Das Sein, den Menschen in die Nacht begraben,
Und seufzend haucht die Frag' von banger Lippe
Ob auch die letzten Nächte ihre Sterne haben?

Aus solchen Zweifelsqualen, aus allen Gegensätzen, die das Leben so widerspruchsvoll gestalten »wie Lavaglut und Nordens Schnee«, giebt's keinen anderen Ausweg, als die Selbstbescheidung:

Es muß was zwischen Grab und Wiege
Vergessen und verjubelt sein,
Vergessen mußt du all dein Sehnen,
Das nach dem Eden drängt zurück,
Dein Leid mußt du verjubeln können,
Das ist des Daseins ganzes Glück.

Ein Narr ist, wer der Natur das Geheimnis des Lebens abfragen will. Jeder lebt es, keiner deutet es: das Tier, der Mensch, die Geisterwelt lassen den Forscher im Stich, der endlich verzweifelnd das Universum beschwört:

»Ich schrei zu dir, du All, o, sage
Du Antwort mir auf meine Frage,
O, sage du mir, was ist Leben?
Du sollst, du mußt mir Antwort geben.«
Da kräuselt's wirre durch's Gemach
Wie Wetterweh'n und Donnerkrach,
Wie Frühlingssäuseln, Blumenduft,
Wie Auferblühn und Moderlust,
Gestalten, scharf und klargeründet,
Gestalten, sanft und leicht verwischt,
Doch hier, was sonst getrennt sich kündet
Im Sonn- und Mondenlicht vermischet
Und eine Stimme spricht ihm leise:
»Ihr lebt mein Leben, sag' ich Dir,
Und mehr nicht weiß ich, als wie ihr!«
Da schwieg der Narr und wurde weise,
Denn weise sind seit alten Tagen
All jene, so nicht weiter fragen.

Von solchen Irr- und Leidensgängen der Spekulation –, die den Jüngling in dem letzten Gedicht übrigens schon auf dem Weg zum Pantheismus des Steinklopferhanns zeigt –, führte ihn die Not des Vaterlandes wieder auf die Erde, auf heimatlichen Boden zurück. Die Schatten von Solferino steigen vor ihm auf. Über den Gräbern der Toten sproßt und blüht es. Auf ihrer »lenzgeschmückten Gruft« sitzt ein greiser, lebenssatter Schäfer, der als einzige Himmelsgnade nur ein sanftes, rasches Ende erfleht. Gern scheidet er von diesem Dasein: »Der Leib ist Fleisch, der Geist der Früchte Kern, so leg' ich mich in Gottes Hand als Samen, sei es zum Faulen oder Keimen. Amen.« Der Alte, die überreife Frucht, die keine Faser mehr nährend an dem Aste hält, ahnt in seiner Weltverlorenheit nicht, daß Tausende unter seinen Füßen ruhen, die ungereift der Sturm vom Ast gerissen: »da liegen sie wohl, doch ruh'n sie nicht, sie schieden zu früh vom Sonnenlicht, sie schieden zu früh und wider Will', drum bleiben sie nicht im Grabe still«. Nächtens tauchen sie »als bleicher, weh'nder Flor« aus ihrer Gruft. In solcher Stunde füllt uns der Windstoß, der scharf über die Haide streicht, das Auge mit Thränen. Erst der Tageshelle weichen die Schemen:

So scheuchet sie fort der Sonne Glanz
So ruft sie zurück der Sternenkranz;
Doch eine der Nächt' im Jahreslauf
Die rüttelt sie aus dem Traume auf.
Da steigen sie auf aus dunklem Schacht
Und schlagen die Solferino-Schlacht
Und sitzen dann nieder bei Irrwischlicht
Und halten ein eisern Gericht.

Gefeit ist des Gerichtes Boden. Den fahlen Plan fliehen Mensch und Tier. Mit giftigem Hauch bekämpfen die Entseelten den Odem der Lebendigen. Fern von jeder Licht- und Lebensspur ziehen hier die Geister ihren Mörder zur Rechenschaft: »Erst lispelt's leise in den Lüften, dann wird ein Name schrill genannt, der in zahllos verstreuten Grüften ein seltsam Echo fand.« Und nun verhallt jeder Laut, die Natur scheint zu erstarren, die Irrlichtflammen verlöschen, wenn sich der Geister Fluch erhebt und alle Schatten ihr Amen! hauchen. Mit Heldenliedern singen sich dann die Franzosen in Schlummer. Die Italiener klagen »um ihres Sieges große Schand', ums Stück, das man vermarktet habe vom bluterkauften Vaterland«. Den Österreichern ruft endlich der Dichter selbst das Abschiedswort zu:

Die Ihr das Licht der Sonne scheuet
Nehmt Eure Wahrheit mit in's Grab
Ihr seid bis auf die Zeit gebannt,
Wo einst lebendiger Geist nicht scheuen
Die Sonne muß in Östreichs Land
.

In diesen Schlußversen erweist sich der Dichter Eines Sinnes mit den Patrioten, die schon dazumal Aufhebung des Concordates, Anteil des Volkes an den Staatsgeschäften, »lebendigen Geist« statt offenkundiger Mißstände in Gerichts- und Geld-, Heer- und Unterrichtswesen forderten. In den Reihen der Mutigen, die für ein starkes, stolzes Neu-Österreich mit dem Einsatz ihres ganzen Wesens zu wirken gedachten, stand also der junge Anzengruber: ohne Namen, ohne Beziehungen, ohne Einfluß, ohne Leser und Zuhörer und doch, wie Wenige berufen und berechtigt, als Sinnbild für seine Entwürfe die Fackel zu wählen. Daß er aber auch mit gleichem Fug des Narrenstabes sich bedienen durfte, daß er schon in jener Werdezeit verstand, als Humorist mit Lachen die Wahrheit zu sagen, bezeugt die – leider unvollendete – gehalt- und umfangreichste seiner Jugenddichtungen: Mephisto (1861-2).

»Im Abgeordnetenhaus«, »im Ministersalon«, »am Friedhof«: so lauten mit zwei vielsagenden » etcaetera etcaetera« ergänzt und verstärkt, die Überschriften der späterhin verlorenen oder vernichteten Fortsetzungen des Mephisto. Erhalten sind außer dem Prolog nur zwei Szenen dieser höllischen Komödie in Knittelversen.

Langeweile führt den Kavalier der Hölle wieder auf die Erde; wohl ist sie nicht mehr sein Jagdrevier: die Welt ist ein Garten voll zahmer Tiere geworden: ungläubig selbst gegen seine satanische Existenz. Man fürchtet ihn nicht mehr und doch gedeiht alles zu der Hölle Nutz und Frommen. Um sich ein frohes Stündchen zu bereiten, will er, wie der Hausvater in sein Bedientenzimmer, zu seinen Domestiken, den Menschen, gucken. Sie treiben's lustig, so lang sie nicht »dort unten« in sein Herrenantlitz schauen: »die Hölle ist ein modischer Salon im leid'gen Punkt der Konversation«: man hat kaum für einen Abend Stoff: »was hülfe dort der ein und andere tolle Streich? wie füllte solche kahle Kleinigkeit das bodenlose Faß der Ewigkeit?« Den frommen Seelen im Paradies, die, gleich irdischen Bälgen auf nasser Windel, nichts denken, wenig fühlen, neidet er ihren Frieden nicht im geringsten:

Wer läßt sich noch vom süßen Himmelsglauben
Ein Stück verbotener Lust auf Erden rauben?
Nun für die Hölle alles ist im Fluß
Negier' ich alles und mich selbst zum Schluß.
Die Welt ist aus sich selber so geworden,
Vernunft und Geist, sie sind des Stoffes Borden,
Die mit der Tuchscheer' trennt der Scheerer tot,
Und ein voreil'ger Schluß ist nur der Gott,
Und ich, der Teufel, bin ein Märchenspuk,
Aus einer lichtverarmten dummen Zeit,
Und weiche auch des Lichtes heil'gem Druck – –
Und kehre nur in immer neuem Kleid.

»Zum Pfaffen in der Mask' des Atheisten, zum Freigeist in der Fratz' des Pietisten, so komme ich zu ihren fleischgewordenen Gegensätzen und Gott Apoll und all' den lieben Seinen, dem muß ich wohl als Kritikus erscheinen.« So überfällt er zunächst einen frommen Mönch, der nicht bloß unerschütterlich an Satan glaubt, sondern inbrünstig um die Gnade fleht, ihn von Angesicht schauen zu dürfen; denn nur dann hofft er ihn der sündigen Menschheit so abschreckend abzukonterfeien, daß sie bereuend Buße thut. Mephisto führt sich als weltmännischer Gast in der Zelle des Gottesmannes ein. Je überzeugter der Mönch auf seinen Teufelsglauben pocht, desto spitzfindiger pflichtet ihm Mephisto bei. »Satan und Gott sind nur zwei Pole des Einen Glaubens«, sagt der Mönch. »Ganz recht«, bekräftigt sein Besucher. »Was wär' denn Gott nur unter seines Gleichen? den Teufel her als Unterscheidungszeichen.« Und mit diabolischer Schadenfreude wendet er den Satz »Ein Grundstein ist erschüttert nun der Böse, wer braucht den andern, der vom ersten ihn erlöse,« so boshaft; er beweist seine Kenntnis aller himmlischen und weniger himmlischen Seiten des geistlichen Berufes so überlegen; er rückt dem Frommen den Bund von Thron und Altar so sarkastisch vor (»der König läßt Euch vom Reichs-Apfel naschen, um sich mit Eurem Chrysam rein zu waschen«); er parodiert die Gründe für die Notwendigkeit des Ketzerschmorens so handgreiflich (»ein alter Kaufmann liebt den neuen nicht, der neben seinem Kram den Stand aufricht' und mag viel weniger ihn noch goutieren, wenn Beide sie nicht gleiche Bücher führen«); er macht sich zuletzt, durch die Begriffstützigkeit seines Wirtes halb belustigt und halb geärgert, über alle Martyrien so unverschämt lustig, daß ihn das Mönchlein endlich erkennt, entrüstet mit Weihwasser besprengt und exorcisiert. Auf die gebieterische Frage, zu bekennen, was in dem Reich der Finsternis vorgehe, lautet die Erwiderung:

Weil immer wen'ger Fromme auf der Erden,
Beschloß die Hölle selber fromm zu werden.
Man wählte außer mir noch hundert Herren
Und sandt uns alle aus auf Missionen.
Wir sollen neu die arge Welt bekehren,
Weil in der Hölle zu viel Teufel wohnen.
Wir haben denn auch aus der Hölle Essen,
Paar Millionen Teufel ausgewählt,
Die schmieden nun an klingenden Adressen,
Zu denen man die Unterschriften zählt.
Wir woll'n den Alten droben längst versöhnen,
Und betteln schon Jahrtausend spät und früh,
Jetzt trafen wir den Zeitpunkt, den so schönen,
Und hoffen allgemeine Amnestie.
Es steht zu hoffen, daß der Alte,
Da sich ihm fast das ganze All empört,
Damit er doch ein Stückchen noch behalte,
Der reu'gen Hölle noch verzeihen werd …

Inmitten dieser satanischen Reden entschlummert zum großen Gaudium Mephistos der Mönch trotz des Bestrebens, einiges von diesen Blasphemien für seine nächste Predigt zu behalten. Mephisto aber verschwindet mit dem Hohnwort: »langweil'ger als der Hölle starres Lauschen muß sein, wenn Teufel von Bekehrung plauschen«.

Wir begegnen ihm wieder in einem Künstlercafé, in dem Poeten und Schauspieler, Photographen und Maler, Bildhauer und Zeitungsschreiber, verkannte Genies und pedantische Gelehrte sich treffen, um einander zu schmeicheln und durchzuhecheln. Um die Gunst der hübschen Kassiererin bewerben sich wetteifernd ein Heine'scher und ein Dialektdichter.

Heine'scher Dichter: (indem er sein leeres Glas auf die Kredenz stellt:)

Scheint sich doch Natur zu hasten
In der Sorg' um jedes Best'
's frißt der Eine, – nicht zu fasten –
Was der Andre übrig läßt.

Dialektdichter:

Na, gelt ja, das kralt di
Du hernzeter Bua
Daß ich jetzt Dein Dirndel
Beim Koi nehmen thua

I schau ihr in d' Äugerln
Und glaubst, ich such Di
Du bist nimma drinnet
I such allan mi

Aus 'n Aug'n, aus 'n Herzal
Han gehts Dir in Sinn
Daß ich wie im Äugerl
Im Herzal drin bin.

I kann in ihr Herzal
Mi nein schaun net gnua
Und schau ihr ins Äugerl
Bis meine druckt zu.

Während die Beiden einander in Trutzliedeln und Spottversen überbieten, herzt und halst Mephisto das spröde Mädchen und beschämt durch sein verwegenes Beispiel die zwei Dichter, die er mit cynischen Reden heimschickt. Übler noch als diesen Musensöhnen spielt er einem Tragiker in der Einbildung mit. Er verhöhnt dessen »Klage Didos«, ein akademisches Machwerk in Hexametern, grausam und trifft ihn selbst in das Herz mit dem Giftpfeil: »Ein jed' Genie war ein verkanntes in der That und das zwar einstens, als es noch gekonnt nichts hat«. Seine stärksten Trümpfe aber spielt »Herr von Maulwurfsgraben« – so lautet Mephistos Leih-Name als Kritiker – gegen einen Modedramatiker und geckenhaften Mimen aus. Unsichtbar nimmt er an dem Gespräch der Beiden teil, bedenkt Jeden mit den gesalzensten Wahrheiten und hat nebenher den Spaß, daß Einer den Andern für die Bosheiten verantwortlich macht, die Mephisto zum Besten gegeben. Der rollenhungrige Schauspieler hat den Autor gebeten, ihm den Inhalt seines Stückes mitzuteilen und der selbstgefällige Mann hebt sogleich an mit der Erzählung:

Man sieht nun eine Spielwaar'n-Niederlage
Zerklaubt, zerwühlt vom letzten Weihnachtstage
Hier singen die neun Kegel einen Chor
Zu End desselben stürzt die Kugel vor
Nun denken Sie den köstlichen Effekt,
Wenn sie die neun Choristen niederschlägt,
Die purzeln um, es lacht im ganzen Hause
Natürlich wird von selbst hier eine Pause.
Es tritt der Wurstel auf und singt Kouplet
Er kramt ein Teleskop aus all dem Wust,
Blickt auf zum Himmel und sich unbewußt
Wird nach Mond, Mars, Merkur, nach was er blickt,
Von sonderbarem Spuke er geschickt.

Der Urheber des bösen Spukes ist ein Teufelchen in einer Tabakdose. Jeder Akt spielt nun auf einem anderen Sterne: im Mondland ist dies, auf dem Mars jenes, hier das Pfaffen-, dort das Landpflegerwesen zu lästern. Muß ein solches Stück, so fragt der Autor siegesgewiß, nicht Direktoren und Darsteller, Garderobenschneider und Publikum erobern? verherrlicht es nicht die dramatische Kunst? Aus seinem sicheren Versteck entgegnet Mephisto: »bei überirdischer Alfanzerei, bei Hexen, Druden, anderer Teufelei« habt Ihr leicht hausen und prahlen:

Doch Menschliches auch menschlich zu gestalten
Ja damit will es freilich schwerer halten
.

Die Knittelverse rücken die dichterischen Absichten des jungen Anzengruber in so helles Licht, wie die Schlußzeilen der »Schatten von Solferino« seine politischen. War und blieb Kern und Ziel seiner dramatischen Kunst nicht immer: »Menschliches auch menschlich zu gestalten«?

Nicht minder grad und grob sagt Mephisto den Komödianten die Meinung:

Doch habt Ihr ein Bewegen, Gehen!
Zu steh'n wißt Ihr, wie's Gott und Mensch verboten
Und daß beim Reden Sprüng' Euch im Gesicht entstehen
Seid ihr beschmiert mit Schmink, der weiß' und roten.
Die deutsche Sprache zur Tortur zu bringen,
Daß ihr die Muskeln und die Sehnen springen.
Macht in der Not Euch das Gedächtnis Lücken,
Ihr wißt den Dichter prächtig auszuflicken.
Halb danket Ihr – halb danken Euch die Herren.
Das Proletariat von Charakteren
Die heut'gen Tages unsere Bühnen zierend
Zerlumpt, zerflickt, mit Schnapsstimm' fistulierend …

(Hier fällt der wütende Schauspieler den Dramatiker, – als vermeintlichen Sprecher, – mit heftigen Beleidigungen an.)

Der Inhalt des »Mephisto« ist mit diesen Andeutungen noch nicht ausgeschöpft. Das Fragment schließt damit, daß der Präsident des Klubs den »Herrn von Maulwurfsgraben« als Ehrengast bittet, einer Vorlesung zuzuhören, die ebensowenig erhalten ist, wie des »Teufels Leiblied«, mit dem Mephisto vermutlich als mit einer Gegengabe sich einstellte. Dramatische Schlagkraft, streitbarer Humor, Frühreife des Urteils, satirischer Übermut, die Vorliebe für die Mundart, die Schärfe und Selbständigkeit des Weltbildes, »der Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug« – all diese und manch andere Züge des Mannes überraschen uns schon in diesem Werk des Jünglings, der nun jahrelang als kleiner Schauspieler die Spur seines eigentlichen Berufes, mit der Zeit in seiner neuen Laufbahn sogar seinen alten Namen, in aller leibhaftigen Not und geistigen Bedrängnis aber niemals sich selbst verlieren sollte. Eine Gesinnung, der er, unbeirrt durch Anfechtungen und Heimsuchungen, in seiner ganzen Lebensführung treu blieb und in Warasdin im April 1864 Ausdruck gab in dem Bekenntnis:

Wo Ihr Gemeines solltet finden
In meines Dichters Born so hell
Laßt vom Genießen, vom Empfinden
Und suchet den verborgenen Quell.

Und ist es nimmer zu vertreten
So tretet kühn es unter'n Fuß
So werdet ihr den Dichter retten
Der sonst sich selbst verachten muß.

Ich will Euch sagen, was ich meine
Im Denken, Sinnen und in That
Gebet ist Hohes – das Gemeine
An Gott und Menschheit ist's Verrat.


Schauspieler und Polizeischreiber.

Im Winter 1859 trat der Zwanzigjährige seine »Kunstreisen an unter Verhältnissen, wo das Reisen eine Kunst war:« sein erstes Engagement sollte sein bestes bleiben. Es waren »harte Jahre, diese dramatischen Lehrjahre« und wenn Anzengruber »als unverbesserlicher Träumer auch stets bereit war, wie ein Hypnotisierter rohe Kartoffeln für Birnen zu essen und Fensterpolster wie Babies zu wiegen:« nach allzulanger Prüfungszeit mußte er doch inne werden, daß »es in dem vermeintlichen Lande der Ideale realistischer zuging, als irgendwo.« Wohl hielt der Jüngling »das Gemeine, das sich an ihn zu drängen versuchte, in unbewußter Regung ferne, wie ein Schlafender Fliegen scheucht; wohl half er sich über alles Platte, Schale, Peinliche, das ihm seine drückend beengte Lage aufzwang, damit hinweg, daß er einen reichen Schatz in seinem Innern zu hüten glaubte; wohl stand ihm treulich die Mutter zur Seite, die ihm seine Träume deuten half, mit ihm an deren Verheißung und Erfüllung glaubte.« Allein »der kleine Ehrgeiz, der erste in einem Dorfe zu sein und mit allen Intriguen diesen Platz zu behaupten«, war ihm nicht gegeben: das Glück und wohl auch die Fähigkeit, als Schauspieler künstlerisch Bedeutendes zu leisten, blieb ihn: versagt. Erst allmählich konnte dem Anfänger die Erkenntnis aufdämmern, daß er es als Darsteller niemals zur Meisterschaft bringen werde. Er begann in Wiener-Neustadt unter der Direktion der Herren Lutz und Ziegler seine Bühnenlaufbahn als Episodist. Man spielte kunterbunt Altes und Neues, Possen und Ritterstücke, klassische Dramen und Bauernkomödien, Offenbach und Auber: Redwitz' Zunftmeister von Nürnberg und Albrecht der Streitbare, Landgraf von Thüringen; die Teufelsmühle am Wienerberg und Elmars Goldteufel; Doktor Fausts Hauskäppchen und Bauernfelds »Tagebuch«; Nestroys »schlimme Buben« und »Hinko der Freiknecht«; Staberl als Freischütz und das Testament des großen Kurfürsten; Bäuerles »Gisperl und Fisperl« und mit dem eben erst von Laube neuentdeckten, vom jungen Anzengruber »groß vom Anfang bis zum Ende« genannten Franz des Burgtheaters, Josef Lewinsky, als Gast – »Die Räuber«. Kurzum ein lernbegieriger, pflichteifriger Jünger der dramatischen Kunst konnte in raschem, buntem Wechsel die erprobtesten, volkstümlichen Lieblingsstücke der Massen an sich vorüberziehen sehen, vielleicht genauer und umfassender, als in der Hauptstadt, die bei der unvergleichlich größeren Zahl von Theatergängern mit einer kleineren Auswahl alter, einer längeren Spieldauer neuer Werke sich bescheiden darf. Ein weiterer Vorzug der Wiener-Neustädter Bühne war die Nähe Wiens. Einmal, weil die Stammgäste, gewohnt und berufen, mit großstädtischen Aufführungen Vergleiche anzustellen, nicht allzu anspruchs- und kritiklos waren; dann aber, weil Wiener Künstler einen freien Tag gern zu einem Abstecher nach Neustadt benutzten. Wie Josef Lewinsky zum Besten einer Frau Gutsch, so spielten an Anzengrubers Probebühne ein andermal »zum Vorteil eines Kollegen« Rott und Albin Swoboda, die Damen Lutz und Sternau vom Theater an der Wien in »Toni und sein Burgei« und dem »Freiheitskampf von Tirol«. Solche Abende, solche – in den Briefen an Lipka einsichtig beurteilte – Beispiele beflügelten den Mut des Jünglings, der sonst unablässig, menschlich und künstlerisch, auf harte Geduldproben gestellt wurde. Er mußte »statieren und chorieren« und ironisch zusehen, wie »der Wechsel des Neustädter Repertoirs alles Erhabene und Niedere brachte. So haben wir den 20. d. M. »Kabale und Liebe« verarbeitet, daß dem Schillerschen Skelett wohl die Knochen geschauert haben. Dann gaben wir wieder »Die Kinder von Aspern« von Schustermeister Pirzel – so was gefällt.« Seine eigenen Rollen hielten »mit haarsträubender Konsequenz das Sechs-Wort-System« ein und bei alledem mußte er noch zufrieden sein, daß und solang er als »geheimer Haus-Statist« überhaupt engagiert blieb. In den zwei ersten Spielmonaten kündigte die Direktion zehn Mitgliedern. Angesichts der gleichen ihm täglich und stündlich drohenden Gefahr fragt er den getreuen Lipka: »Weißt Du nicht ein paar Häuser, wo ein Stiefelputzer, Kleiderbürster, Zimmerkehrer u. dgl. m. notwendig geworden? Sonst könnte man auch Lampenputzer, Pudelwascher, Pferdestriegler werden. Denn daß ich mir mit der Feder das Notwendige verdiene, das glaub' ich kaum, selbst wenn ich statt für die Bühne für die Bawalatsche (Harfenisten-Bühne) schreiben würde.« Fühlt er sich unter solchem Druck begreiflicherweise »so behaglich, wie ein altzeitiger Inquisit in den Armen der eisernen Jungfrau«, so bleiben ihm dennoch Witz und Humor getreu in allen Nöten und Sorgen. Nach seiner eigenen Vorschrift macht er »in dem ernsten Stück des Lebens seine Lazzi«. Im Kreise munterer Kameraden stellte er seinen Mann bei Schnurren und Schnaken; er war der belebende Geist einer satirischen Kneipzeitung; er hatte seine Lust an einem Schauspielerkränzchen, in welchem Jeder auf einen Spitznamen – Ludwig Anzengruber bezeichnenderweise auf den Namen: Momus – hörte.

Den Sommer verbrachte er in Krems als Mitglied der dortigen Bühne: von dort aus pflegte er regen Gedankenaustausch mit seinen anderen »Götterbrüdern« – den fleißigsten aber doch wohl mit Apollo selbst. In einem handschriftlich erhaltenen Jugend Vers bekennt er:

Es war mir sonst ein süßer Brauch
Wenn Frühlingsmund sein Werde sprach
Daß ich vom erstergrünten Strauch
Ein halberwachtes Zweiglein brach –

gleichsam »als Gewähr, als Talisman« dafür, daß auch sein Dichterfrühling einmal kommen werde: denn unablässig trug er sich mit dramatischen Entwürfen. Schon im November 1860 arbeitete er in Wiener-Neustadt Hals über Kopf ein Stück: »Der Onkel ist angekommen,« damit, wie er Lipka resigniert schrieb: »die Theatersekretäre wieder etwas zum Lesen und Zurückweisen haben können.« Und obwohl sich die Prophezeiung nur allzurasch erfüllte, plant und schafft er von 1860-63 eifrig immer neues: Lustspiele: (Vom Regen in die Traufe; Opfer der politischen Vehme; Ein Billetdoux um einen Regenschirm). Dramen: (Der Versuchte, mit einem Vorspiel: der Nachlaß des Mörders; Er heilt seine Liebe; Ein Deserteur der großen Armee). Romanentwürfe: (Von der leichten Seite; Pierre de Strass). Volksstücke und Possen: (Wiener Straßenkehrer; Glacéhandschuh und Schurzfell; Die Commisin oder der Krama und sein Töchterlein). Viel Vertrauen fand er vorerst nicht einmal im Kameraden-Kreise. Der Wiener-Neustädter Kapellmeister Altschul, der Anzengrubers Satiren und Parodieen von den »Götter-Abenden« kannte, ließ sich als Beneficiant den (unsäglich albernen) Text zu einer »funkelnagelneuen« Operette lieber von einem Oberlieutenant der Garnison schreiben, als von seinem Kollegen »Momus«, über dessen Gaben er sich höchst abschätzig ausließ, als Der ihm ohne sein Zuthun als Librettist empfohlen wurde. In diesen scheußlichen Tagen »pekuniärer Fretterei, der Rollenmisère und Stücke-Abweisungen blieb ihm nur ein lichter Stern, das Bewußtsein, selbst in der engen Zwangsjacke besseres leisten zu wollen und die innere Gewißheit einer Befähigung, die, wenn sie sich einmal hervorgethan, mir einen ehrenvollen Platz anweisen wird«. So hoffte er auf die Zukunft und nicht ganz unfreundlich ließ sich scheinbar schon die Gegenwart an. Ein Komiker, der in Neustadt mit Erfolg gastiert hatte, der ehemalige Volkssänger Johann Matras wagte es, die Direktion des Theaters in Steyr zu übernehmen und seinem Rufe folgte mit den anderen Götterbrüdern Zephyrus, Merkurius etc. auch Momus Anzengruber. Das Streben und die Laune der jungen Schauspieler blieb auch in dem neuen Engagement unverändert: nicht aber die Gunst des Publikums. Matras machte immer schlechtere Geschäfte und wenn der ehrliche Mann seine Leute auch weder darben noch zu Schaden kommen ließ – trotz redlichstem Bemühen mußte er plötzlich und vorzeitig schließen. Im Morgengrauen nahmen die »Götterbrüder« jähen Abschied von einander. Und nun kam ein Sommer, in welchem der junge Mime den ganzen Jammer der Schmierenwirtschaft bei einer Wandertruppe kennen lernte. Nach Croatien, Südungarn und Slavonien, nach Apathin, Palanka, Mittrowitz und Binkovce wurde er verschlagen. Auf Teilung, in Wirtshäusern und Scheunen wurde gespielt. Es mag Sohn und Mutter mitunter Mühe gekostet haben, trockenes Brot zu finden. Ein Mittagessen, bei dem Knödel und Gurkensalat aufgetischt werden konnten, galt als Festmahl, zu dem man Gäste bat. Im Winter 1862 war der Dichter in Esseg engagirt; im Sommer 1863 in Böslau, im Winter desselben Jahres in Marburg (Steiermark). Es gehörte der ganze »gußeiserne Humor« Anzengrubers dazu, diese Hungerjahre nicht nur zu bestehen und ihre grotesken Eindrücke als überlegener Satiriker in Reisebriefen ohnegleichen an Lipka zu beschreiben, sondern inmitten all dieser Heimsuchungen unverzagt fort zu schaffen. Ein Stück um das andere wurde abgewiesen. Vergebens setzten sich sein wackerer Vormund Schumacher und Freund Lipka bei allen Bühnenleitern für ihn ein. » Glacéhandschuh und Schurzfell« schien sogar einmal Gnade zu finden vor dem Sekretär des Josefstädter Theaters, Forst; das Ende vom Liede war jedoch, daß Anzengruber nicht einmal das Manuskript des eingereichten Volksstückes zurück erhielt. Erst drei Jahre nach dem Heimgang des Dichters fand es der jetzige Direktor des Pratertheaters, Herr Jäntsch, in der von ihm mit den Fundus gekauften Bibliothek des Josefstädter Theaters. »Glacéhandschuh und Schurzfell« behandelt die Schicksale eines Arbeiters, den sein einer aristokratischen Familie entsprossener reicher Fabriksherr zum Dank für seine Tüchtigkeit als Werkführer zum Erben eingesetzt hat. Die hochadeligen und hochnäsigen Angehörigen haben den Groll über ihre Enterbung noch nicht verwunden, als sie durch die Werbung des ehemaligen Proletariers um eine ihrer Verwandten überrascht werden. Der Emporkömmling hat im Sonntagsstaat (Glacéhandschuhe inbegriffen) im Park seines neuen Besitzes das junge schöne Mädchen kennen und lieben gelernt. Beim Millionär sagen die Herrschaften nicht nein; sie willigen, wenn auch sehr gespreizt, in die Mißheirat, in der es anfangs frostig genug hergeht. Der Fabrikherr muß im ersten Jahr in die Residenz übersiedeln, Galafeste geben, seine Gnädige mit »Sie« und »Madame« anreden. All das trägt er geduldig in grenzenloser Liebe. Im Innersten getroffen wird er aber, als er sie bei einem (harmlos verlaufenen) Stelldichein mit einem Maler, einem feigen, blaublütigen Gecken, überrascht. Der schwer gekränkte Mann – ein Vorgänger des »Hüttenbesitzers« – läßt sich zu keiner Roheit hinreißen. Er trennt sich jedoch von der Frau, die ihn jetzt erst kennen, schätzen und lieben lernt um seiner mit rechter Feinfühligkeit gepaarten Männlichkeit willen. Sie geht ihm auf seinen Landsitz nach und erscheint mit den andern Arbeiterfrauen, die ihren Männern ihr Essen bringen, in der Fabrik zur Mittags-Feierstunde, wo sich die Versöhnung einstellt. Diese Umwandlung der Charaktere, das »Heraussprengen des Kernes durch ein großes Schicksal« wird schon im ersten Akt und den meisten hochdeutschen Scenen in rührend unbeholfener, im Beiwerk bisweilen komischer Weise vorbereitet. Den Gegensatz der vornehmen Gesellschaft zur aufstrebenden Bürgerschaft deutet der junge Poet dadurch an, daß der Mann Renan, die Dame Amaranth liest; als Luxus-Neuigkeit wird eine Moderateur-Lampe besonders erwähnt. Allein so kindlich und weltunkundig der junge Dramatiker sich im Salon ausnimmt, in der Darstellung des Volkslebens meldet sich schon vernehmlich der starke, markige Anzengruber der Reifezeit. Seine Liebe für die rechten, rechtschaffenen Kernmenschen der Massen und nicht zum wenigsten sein mächtiger Humor kommt siegreich zum Vorschein in der Prachtgestalt des Vaters unseres Helden; in den Kontrastfiguren eines beglückten Ehepaares aus dem Volke, das in wechselseitiger Hilfe frohes Genügen findet und in der dürftigen Hauswirtschaft, wie in der strengen Arbeitszucht Laune und Mutterwitz behält; in einer gesunden Possenscene, in der ein verliebter, vorwitziger Gassenjunge geohrfeigt wird; in einem witzreichen Couplet von alter und moderner Zeit. Und die Gewalt, zu packen, zu rühren, zu ergreifen, äußert sich mehr noch, als in der Aussprache der wiedervereinigten Vertreter von vornehmer und arbeitender Welt, von »Glacéhandschuh und Schurzfell«, in einem prachtvollen Lied auf »die Hand, die Hand« als das segenstiftende Sinnbild aller Arbeit.

Von einem klugen Theatermenschen eingerichtet, könnte »Glacéhandschuh und Schurzfell« möglicherweise noch heute naive Zuschauer gewinnen: 1863, vor mehr als einem Menschenalter, hätte die Komödie, gut gespielt, ein Zugstück werden können. Kluge Theatermenschen waren indessen in jenen Tagen so selten wie heutzutage. Nichts begreiflicher, als Anzengrubers damaliger Zornesausbruch: »Ja Flamms falschen Blondin können sie aufführen, »Almenrausch und Edelweiß« – aber Glacéhandschuh mit Nichten!« Nichts begreiflicher, als daß er zeitweilig entmutigt und mißgestimmt wurde, zumal auch alle Bemühungen glücklicherer, in Wien engagierter »Götter-Brüder« fehlschlugen, ihn selbst nur als Statisten an eine Vorstadtbühne zu bringen. Und je engere Kreise äußere Drangsale um ihn zogen, desto mehr erweiterte sich zu seinem eigenen Erstaunen sein Denkkreis, desto größer wurde seine Sprachgewalt: »Summa Summarum«, so schrieb er Lipka, aus Großkanisza, 1864, »habe ich jetzt 13 Stücke geschrieben, führe 31 Notizhefte mit mir und bin erst, was das beste ist, über 24 Jahre. Ich habe Dir einmal auf dem Spaziergang erklärt: ich will auf Erfolg warten bis zu meinem 30. Lebensjahr und dann gehen, von wo man mich nicht braucht – diese Idee steht fester als je vor mir.«

Als Schauspieler brachte er es nicht vorwärts. Besser als irgendeiner wußte er daheim, wie jede Rolle gespielt werden müsse. Auf der Bühne gab er alles in der gleichen, breiten Manier. Bösewicht und Tugendspiegel, Knecht und Edelmann war eine Figur; selbst an Winkeltheatern rückte er nie in ein erstes Fach vor, sondern blieb stets Episodist, dem man höchstens Kerkermeister, Profoßen und ähnliche brummige Respektspersonen, nebenher wohl auch seines Ordnungssinnes, wie seines Fleißes halber, die Verwaltung der Bibliothek übertrug. Im Verkehr mit den Kameraden war er wählerisch; geachtet wegen seiner idealen Lebensführung, seiner rührenden Anhänglichkeit an die Mutter; gefürchtet wegen seiner wahrhaftigen, sarkastischen Kritik; ehrlich und offen mit allen, zutraulich mit wenigen.

In der Truppe des Direktor Radler trat ihm Dominik Klang, heute Oberregisseur des Grazer Landestheaters, näher: ein Schauspieler, der ursprünglich zum Theologen bestimmt, geradewegs vom Seminar zum Theater gekommen war. Mit ihm unterhielt sich »L. Gruber« (denn diesen Namen führte fortan – vermutlich nicht aus eigener Wahl, sondern dem Wunsch der Direktoren gemäß – auf dem Zettel, wie im Leben der Dichter) viel über die Einrichtung und Leitung dieser geistlichen Lehranstalten. Er konnte gar nicht begreifen, daß Klang schnurstracks von dieser heiligen Stätte zur Bühne gegangen. Mutter Anzengruber aber meinte: »Na, er wär' halt ein verliebter Pfarrer worden«, eine Bemerkung, die den Sohn einen Augenblick betroffen machte, dann aber zu dem Ausruf veranlaßte: »Wär' kein schlechtes Stück.« Dazumal griff er den Vorwurf nicht auf, wiewohl er Drama um Drama schrieb – in der Regel nur für seine Tischlade, in Marburg ausnahmsweise sogar einmal für die wirkliche Bühne. Er bat Herrn v. Radler, ein Schauspiel aufführen zu dürfen, und der Direktor, der ihm als Autor nicht viel mehr zutraute, denn als Darsteller, hatte anfangs gestutzt, sich dann aber der Weisheit nicht verschlossen: »So' was zieht immer in einer kleinen Stadt.« Das Drama » Der Versuchte nach einem englischen Roman frei bearbeitet von L. Gruber« wurde zum Benefize eines Schauspielers angesetzt und das Haus war ausverkauft, weil Spaßvögel und Spießbürger sich einen ausgiebigen Skandal versprachen. Statt des verhofften Durchfalls gab es aber einen starken, von Akt zu Akt wachsenden Erfolg. Die Komödie, welche Anzengruber noch 1871, nach dem Sieg des »Pfarrers von Kirchfeld«, beim Grazer Theater einreichte, ist verschollen: der Inhalt schwebt Dominik Klang nur mehr dunkel vor: »Ich spielte einen Sträfling, der in den ersten Akten stirbt und mein Komplize wußte von dem geraubten Geld, eignete es sich an, trat dann in einem Badeorte als reicher Mann auf und jetzt ist der Faden in meinem Gedächtnis auch abgerissen; wenn ich nicht irre, wird der Komplize durch Verkettung von Umständen zum Selbstmord getrieben, nachdem er das Geld an die Eigentümer zurückerstattete.« Es war nicht die einzige dichterische Liebesgabe, welche »L. Gruber« seinen Kameraden zugute kommen ließ; Klang schrieb er lustige Couplets mit dem Kehrreim: »wenn sie das in Wien erfahren, kommst du nie ins Burgtheater«; Lokalsängerinnen, Soubretten und Sentimentalen, die das Wohlwollen des sonst recht zaghaften Mannes erregten, widmete er als Zeichen sympathischer Gesinnung Lieder, Albumverse, gelegentlich auch satirische Flugblätter mit selbstgezeichneten Karrikaturen, so einmal ein Capriccio: »Der Teufel in Sauerbrunn«, eine mephistophelische Schilderung der Badegesellschaft: Werke und Werklein, welche der Poet in späteren Jahren nur als Vorübungen gelten und verschwinden ließ. Desto mehr Dank wissen wir Franz Lipka für seine Fürsorge, die uns ein (mittlerweile vom Anzengruber-Curatorium der Bibliothek der Stadt Wien gestiftetes) Heft » Gedichte und poetische Versuche von Ludwig Gruber 1863« aufbehalten hat. Ein Roman mit einer ungetreuen Kollegin, Genrefiguren, Balladen, Beschauliches u. a. mehr kommt höchstens als Studie in Betracht. Aber heute noch packt uns die Antwort des Jünglings auf die Frage:

Was ist ein Dichter?

Ein Dichter ist kein Nebulist
Der wandelt in der Träume Land
Die Erde unter sich vergißt
Die seines Sinnes Unterpfand
Und der Gefühltes ungekocht
Zur Tafel bringt, und mundet's nicht
Auf seine höh're Sendung pocht
Und mit gesundem Sinne bricht
Der wenn durch's Land der Morgen weht
Nur klaget um die Ruhe sein
Und liederreich zu Bette geht
Das ist kein Dichter – ewig nein!

Doch wer der Träume Land durchzieht
Gedanken sondernd – süßer Lust
Die nach und nach der Nebel flieht
Bis sie durchstrahlend seine Brust
Ihm stramm entgegentritt die Schar
Der er im süßen Schöpfungsschmerz
Der Vater und die Mutter war
Ihr denkend Hirn, ihr fühlend Herz
Der über'm Liede sich vergißt
Erneut sich find't – am Schlusse klar
Der Gottheit Adern glühend küßt
Das ist ein Dichter echt und wahr.

Sucht der aufstrebende Poet in diesen stammelnd hervorgestoßenen Versen die eigene Sendung unsicher in der Form, selbstsicher in der Sache, so findet er ein andermal in Gehalt und Gestalt die richtige epigrammatische Abfertigung der Masse der Theatergänger in dem

Scherzgleichnis.

Es ist das Publikum ein Tier
Und gleicht als solch's dem Pfauen schier
Es steht auf jammerschlechtem Fuß
Zwei Augen leiht's vom Criticus
Am Haupt hat's einer Krone Zier
So federleicht als wie der Wind
Und dann am Schweife hat es hint'
Viel tausend Augen – alle blind.

Gründlich, nur allzugründlich hat er solches Pfauen-Publikum kennen gelernt, nicht nur zuerst als namenloser Anfänger in der Provinz, sondern leider auch bis in seine allerletzte Zeit der Wiener Meisterschaft in der Reichshauptstadt.

Im Jahre 1864 war Anzengruber bei der Truppe des Direktors Bertalan: die Leidensstationen seiner Irrfahrten waren Warasdin, Kanisza, Czakathurn, Rohitsch, Bruck an der Mur, Leoben, Pettau und Radkersburg: in dem letztgenannten Städtchen wurde er, wie er einmal erzählte, als »der Beste« vom Publikum anerkannt. Sonst erlebte er wenig Genugthuung: er fand weder Beachtung, noch ein Rollenfach. Eine Charakterrolle wie der Sekretär Wurm machte ihm wohl schon durch die hochdeutsche Prosa, die in seinem Munde immer etwas gespreizt herauskam, Schwierigkeiten; den menschenfeindlichen Kapitän Flamming in Elmars romantischem Schauspiel »der Goldteufel« überschrie er. Und wie auf der Bühne, so erfuhr er auch im Leben mehr Verdrießliches, als Erquickliches, wie er das nach Jahren auf's Neue schmerzlich empfunden hat, da er auf einer (schwermütig beschriebenen) Erholungsreise die Orte wiedersah, an welchen er so viel gelitten, so wenig erreicht hatte. Schon 1864 bekannte er einem »Götterbruder«: »mich soll der Schwarze holen, wenn ich die Provinz nicht so satt habe, als nur was: ich will in Wien als Episodiste und Dichter Hausen und Du weißt, ist man einmal drin, so geht's.« Es währte aber noch eine lange, grausam lange Prüfungszeit, bis Anzengruber »drin sein« sollte. 1865 war er wieder im Sommer in Vöslau engagiert, mit lieben Kollegen, wie Thalboth (gegenwärtig Regisseur im Theater an der Wien). Aber noch weniger als in früheren Jahren wußte er sich zu behaupten; die einzige Rolle, die er leidlich spielte, war der phlegmatische Diener in der »Wasserkur«. Kümmerlich fristete er sein Leben, eingemietet bei einem Bauer in Gainfahren. Und nichts war weniger zu erwarten, als das, was Anzengruber in dieser Lage wirklich that: er machte einem heißgeliebten Bürgerkinde einen regelrechten Heiratsantrag.

Von früh an war der Dichter zarten Regungen leicht zugänglich. Er schwärmte fast für all seine Jugendgespielinnen für keine aber lebhafter und länger, als für Mathilde Kammeritsch, die Schwester eines Schulfreundes. In seinen Wiener Lehrjahren war er fast allabendlich im Kreise ihrer wackeren (einer Beamten-) Familie; gern geneigt, die furchtsamen Mädchen mit selbsterfundenen, im Grabestone vorgetragenen Gespenstergeschichten zu necken und im Augenblick des ärgsten Gruselns durch jähes Herabdrehen der Lampen zu erschrecken; sonst meist schweigsam und ernst, unfähig, bei seinem verschlossenen, in sich gekehrten Wesen sein tiefgewurzeltes Gefühl ahnen zu lassen. Als er 1860 Wien verließ, stiftete er Mathilden ein Stammbuchblatt, dessen gezwungene, spaßhaft vermeinte Wendungen mehr von galanter Geziertheit als von stürmischer Leidenschaft eingegeben schienen. Als er aber fünf Jahre hernach Mathilde Kammeritsch in Wien und Gainfahren wieder sah, schlug er andere Töne an: er weiß von der Sonne zu singen, die einen Cactusstrauch »über Nacht beblütet«: der »stachliche Geselle« kennt sich selbst nicht mehr in der neuen Pracht: wie ist die Nacht so kühle, da er der Sonne fern, wie grüßt ihn froh der Morgen mit feuchtem kühlenden Thau: »Du Mutter meiner Blüten, du gold'ne Herrin mein«, so fragt er angstvoll zum Schluß »werd' ich in Deinem Glühen nicht bald verdorret sein?«

Mathilde, die nach einem im Besitz ihrer Familie erhaltenen Bilde keine Alltags-Schönheit gewesen sein muß, ermutigte und entmutigte diese Huldigungen nicht. »Ihre Erscheinung«, so schrieb ihr Anzengruber am 16. August 1865 aus Gainfahren, »hat im Kreise meiner Kollegen lebhafte Sensation erregt. Schon mich zu sehen an der Seite eines Fräuleins war eine ungewohnte und ihre Erscheinung eine zu liebenswürdige, um nicht ein Ereignis zu werden. Wer war das schöne Fräulein? war die allgemeine Frage. Ich fühle mich sehr geschmeichelt, daß von Ihrem Glanz auch einiges Licht auf mich fiel und referierte über Sie, mein Fräulein, kurz und bündig die Wahrheit, daß Sie eine Jugendfreundin und wie ich glaube, ja eine Freundin in des Wortes wahrer und reinster Bedeutung seien – das schienen die Leute nicht so recht begreifen zu wollen, wie man solcher Liebenswürdigkeit gegenüber nichts als Freund sein wolle, ich gebe den Leuten wahrhaftig Recht und so müssen Sie sichs denn gefallen lassen, daß man Ihnen in Gainfahren nichts Übleres nachredet, als – Sie wären meine Braut, wobei man mir die Ehre anthut, mich neben Ihnen passend zu finden. Zürnen Sie nicht dem Zufall, noch den Leuten, wenn wer übel dabei wegkommt, bin ich's, der Bräutigam ohne Braut. Es hat mich wahrhaftig ergötzt, daß trotz allem Aufgebot meinerseits an Überredungskunst die Leute diesmal nicht die Wahrheit glauben mochten, obwohl ich in diesem Falle meinerseits natürlich nicht das Geringste dagegen hätte, wenn die Lüge wahr wäre.« Dieser Brief war nur der Vorbote des folgenden Heiratsantrages in dessen schlichter, altfränkischer Form so viel verhaltene Leidenschaft webt, als rückhaltlose Rechtschaffenheit sich offenbart:

 

Gainfahren, den 27. August 1865.

Mein liebenswürdigstes Fräulein! Da ich schon einmal das Glück genieße, mit Ihnen in Korrespondenz zu stehen und Sie die Güte haben, meine Briefe zu beantworten, so drängt es mich, aus mehr als einer Ursache mich für das liebe Schreiben zu bedanken, das ich von Ihnen unterm 19. d. M. erhielt.

Mein Fräulein, ich stehe an einem Wendepunkte meines Lebens, als Schauspieler steht es mir frei, Österreich zu verlassen, auswärts mir Anerkennung und Existenz zu erringen – aber mein vorwiegend dichterisches Talent möchte gern im vaterländischen Boden wurzeln, mein hiesiges Engagement hat sich plötzlich gelöst, ich stehe sozusagen wieder »frisch«; dem wäre abgeholfen, wenn ich in das theaterreichere Ausland zöge – aber … ich müßte doch Vieles lassen, Vielem entsagen im Vaterlande und ich hätte wohl einen tiefen, heiligen Anstoß, der mich alles wagen hieße, um im Lande zu bleiben und – glücklich zu sein! –

Mein Fräulein, wenn einer offen und ehrlich ist, so bin ich's! – Als Mann, der so spricht, wie er denkt und fühlt – hätte ich Ihnen – der Gespielin meiner Jugend, meiner reizenden Freundin und dem fleckenlosen reinen ehrlichen Mädchen etwas zu sagen – was sage ich etwas – vieles, wenn auch in wenig Worten – vieles – und sei Gott mein Zeuge, keine Silbe, die ein Mädchen von den Lippen eines Mannes erröten machen müßte.

Soweit habe ich mich ausgesprochen – schriftlich; ich bin es Ihrer Ehre schuldig, wenn ich jetzt mit einer Bitte, mit einer innigen Bitte vor Sie trete, ohne Sie mißtrauisch machen zu wollen. Ich bitte Sie, Ihnen, Ihnen allein das Angedeutete sagen zu dürfen – hören Sie mich, vom 8. September ab bin ich wieder in Wien, sind Sie dem armen Dichter, der bis heute freilich noch sorgend und ringend allein steht, ein wenig gut – so bestimmen Sie ihm Ort und Stunde einer Zusammenkunft, ohne Ihrer, durch Arbeit in Anspruch genommenen Zeit Abbruch zu thun – sollte Ihr Herz jedoch bereits versagt und Sie dem Dichter nicht mehr sein wollen, als Freundin, dann seien sie offen und schlagen Sie mir die Zusammenkunft rund ab.

Um uns gegenseitig jede Peinlichkeit zu ersparen, bitte ich Sie um ein paar Zeilen, die Ihr überlegtes »Ja« oder »Nein« ausdrücken mögen, – mehr nicht –. Ich spreche nichts von meinen Gefühlen, sie sollen stumm sein – lassen Sie Ihr Herz dagegen offen sprechen – ich erwarte die Entscheidung: die Bewilligung meiner Bitte – oder die offene Rückweisung im Laufe dieser Woche. Folgt keine Zeile, dann ist Schweigen auch eine Antwort – aber Ihr Freund verbleibt doch in allen Lagen des Lebens Ihr treu ergebener

Ludwig Gruber.

 

Mathilde antwortete nicht, weil sie, ganz abgesehen von der Mittellosigkeit des Freiers, seine Neigung nicht erwiderte: »Der arme Dichter« stand nach wie vor »sorgend und ringend allein«: das Maß der Widerwärtigkeiten war aber noch lange nicht voll.

Ich habe – so bekannte er Lipka – auf den glühendsten Traum meiner Jugend auf Ruhm und Nachruhm verzichtet und wollte nichts, als still bescheiden schaffen, unbekümmert um die Anerkennung der Welt, den Gebilden meines Herzens und Busens leben und siehe, just auf dem Punkte der größten Entsagung fordert das Elend von mir die größte, es verlangt, daß alle Pläne liegen tot und starr ohne Auferstehn – es entzieht mir alle Mittel, mich hineinzudrängen in die Vergangenheit, um in gewaltigen Worten die Zukunft zu predigen, die ich ahne! Es läßt mich darben, verderben. Und wo ich schon heruntersteige zum Volke und ihm die Hand reiche, wie in meinen Volksstücken – da läßt man mich nicht dazu, meinen Ruf hingelangen zu lassen. Sage mir, was bleibt dem vielnamigen Lanz, Gruber, Anzengruber? Nichts. Meine Zukunft: das Zigeunerleben eines Provinzschauspielers. Mein Dichten: hier und dort zur Einnahme ein selbstverfaßtes Stück. Ich habe keinen Kampf, als den mit mir und darum keine Berühmtheit – zum Kampf mit der Zeit fehlen mir die Waffen.

Im Ausland fand oder suchte er kein Unterkommen. Ein Debüt in Znaim (1866) endete aber so unglücklich, daß der für ein erstes Fach Engagierte sofort nach Wien zurückkehren und froh sein mußte, in dem neugegründeten Harmonie-Theater als »Aushilfs-Schauspieler« beschäftigt zu werden. Mitunter schrieb er auch auf Bestellung allerhand Gelegenheitsarbeiten: einmal, wie er mir erzählte, über Nacht einen Einakter zu einem eben aus Paris eingelangten – Amazonenkostüm und ein paar (längst verbrannte oder verschollene) Stücke (»Der Telegraphist in der Nacht«, der »Reformtürk«), deren glücklichstes ihm – 4 Gulden 50 Kreuzer Tantieme eintrug. Nach jahrelangem fruchtlosen Suchen kam ich auf den Gedanken, diesen Komödien in der Zensur-Abteilung der Wiener Polizei nachzugehen, wo ich denn im April 1897 wirklich wenigstens Eine in Anzengrubers eigener Handschrift auffand und für deren Abschrift gern und reichlich das Doppelte von dem zahlte, was der arme Poet ein Menschenalter vorher als Autoren-Anteil bezogen hatte. Der Reformtürk oder ein Ausflug in die Türkei, Faschingsposse mit Gesang und Tanz in 1 Akt von ***, ist eine flüchtige Gelegenheitsarbeit, eine Improvisation zu Ehren von soundsoviel frisch eingetroffenen Pariser Operettenkostümen. Ein Wiener Schneidermeister, Bügelberger, hat von einem Vetter ein Gut in der Türkei mit den zugehörigen Haremsdamen geerbt. Da ihm der neumodische Patriotismus nicht gefällt, der sich nicht mehr mit den Worten »Gut und Blut für's Vaterland« begnügt, will er mit Frau und Familie dauernd in der Umgebung von Konstantinopel sich ansiedeln. Ein Vorhaben, das den Wienerinnen seines Hauses, von der Frau und den Töchtern angefangen bis hinab zum Stubenmädchen, gar nicht einleuchtet. Rasch entschlossen verschwören sie sich. Als Bundesgenosse kommt ihnen eine Gesellschaft von Vergnügungszüglern zurecht, denen unterwegs Geld und Zehrung ausgegangen ist. Die Kriegslist ist bald gefunden. In Kreta ist gerade wieder einmal ein bischen Aufstand. Die Leutchen machen Bügelberger weis, daß er für oder gegen die Rebellen Partei nehmen müsse. Er hilft sich mit doppeldeutigen Telegrammen, worin er Türken und Griechen gleicherweise versichert, er sei bereit, sie gehörig zu empfangen. Die Depeschen lassen Frau Bügelberger und ihre Getreuen nie abgehen. Herrn Bügelberger reden sie aber ein, daß die Adressen verwechselt wurden. Infolgedessen ergeht an ihn die (fingierte) landesübliche Einladung, sich der seidenen Schnur zu bedienen. Angesichts dieser türkischen Justiz bekehrt er sich zur Heimfahrt. Ein Beschluß, den er nicht zurücknimmt, auch nachdem er von den mittlerweile unter den Vergnügungszüglern erwählten Verlobten seiner Töchter hört, von wem, weshalb und wie er zum besten gehalten wurde? – Das Unterhaltendste an der anspruchslos hingeworfenen Schnurre sind die – Zensurstriche. Jeder politische Schlager, alle (bisweilen freilich sehr boshaften) Anspielungen auf die parlamentarischen und kriegerischen Ereignisse der Sechzigerjahre sind sorgfältig getilgt. Das eigenste des »Reformtürken« war vom Rotstift verschlungen worden. Die Theaterreferenten wußten davon nichts und verdammten deshalb ohne weiteres die Verwechslungsposse, in der sie bestenfalls die Millöckersche Musik und die militärischen Manöver nach dem Muster der Offenbachschen »Schönen Weiber von Georgien« gelten ließen. Eine bis anderthalb Wochen behauptete sich »der Reformtürk« auf dem Spielplan. Denkwürdig bleibt er, weil er zum erstenmal den Namen Gruber als Autor auf einem Wiener Theaterzettel vorführte. Sonst hatte das ruhmlose Debut nur die eine Folge, daß ein anderer Anfänger sich bereit fand, einen weiteren Versuch mit Herrn Gruber zu wagen. Als Kapellmeister war an demselben Theater ein dazumal gleichfalls namenloser Musensohn engagiert: Karl Millöcker. Für ihn schrieb Anzengruber den Text zu einem einaktigen in Pest aufgeführten Singspiel: Der Sackpfeifer, für das der Autor volle 20 Gulden erhielt. Eine harmlose im Atelier eines venezianischen Malers spielende Karnevals- und Eifersuchtskomödie, in der Verkleidungen der Diva und die Gliederpuppe eines Pifferaro die Verwickelung, ein schnurriger, leichtberauschter Farbenreiber aber die komische Figur zu besorgen hat. An innigen Liedern und gesunden Späßen fehlt es der heute noch spielbaren Operette nicht, deren zarte Liebesszenen anmuten wie der Abgesang der eigenen Herzensgeschichte des Dichters. Ein Hauch von Jugendlust und Jugendglück ruht auf dem Flüsterlied: (Ei kleines Herz, du reges Ding, wie ist mit einmal die Last, die dich bedrückte, so gering, was pochst und schlägst in freud'ger Hast? ach Liebe die ist wie holdseliger Mai etc.). Den Bedürfnissen des Musikers kommt der Poet nicht nur mit dem unvermeidlichen Trinklied und einer grotesken Romanze »mit Dudelsack-Aufputz (als Don Speranza von Braganza etc.)«, sondern auch mit einem Elfenlied im Volkston glücklich entgegen. Derber und litterarisch doch schwächer geraten ist der für denselben Tonsetzer bestimmte Operettentext: Der Raub der Sabinerinnen. Nicht blos der alte Lucian, auch die ganz jungen Götterparodisten Offenbachs haben dem Autor bei dieser Arbeit über die Schulter geguckt. Die Nichte des lüsternen Bürgermeisters von »Sabinium« hat einen heimlichen Liebeshandel mit Romulus: die Kosenden werden bei einem Stelldichein überrascht und Hersilia muß heim, in strenge Haft. Der durchtriebene Pontifex des Römerlagers, Faustulus, ein Virtuose pfäffischen Gaukelspiels, rät dem König, die Sabiner zu einer Akademie einzuladen, dabei die sabinischen Mädchen zu rauben, den Damen aber vorher diese Entführungs-Absichten vertraulich zu melden. Die Sendung fällt natürlich Faustulus zu, der alle Mägdlein seinem Vorhaben mehr als geneigt findet. Bei seinen sauberen Anträgen wird er aber vom Bürgermeister Turpilius belauscht, der, auf der Jagd nach seiner Nichte, in der Nische des Götterbildes von Janus Platz genommen, offenbar nach dem Muster des Pan, der in (Offenbachs) »Daphnis und Chloë« die Stelle seiner Brunnenfigur einnimmt. Faustulus kommt rechtzeitig hinter den Trug, da er die Opferflamme entzündet und das Nießen des falschen Janus nicht als göttliches Vorzeichen, sondern, als sachkundiger Spitzbube, sofort als irdische Nichtsnutzigkeit deutet. Während Turpilius nur die Weiber in das Römerlager sendet, im Glauben, bei der Gelegenheit seine Gattin rasch und sicher loszuwerden, führt Faustulus die als Knaben verkleideten Mädchen mit sich fort. Die Römer rauben denn in Wahrheit zuerst die Weiber der Sabiner. Ein Irrtum, der zu einem lebenden (Zerr-) Bild nach dem David'schen Gemälde Anlaß geben soll. Faustulus aber, auf den alle zuerst enttäuscht und empört einstürmen, triumphiert zuguterletzt als der schlaueste aller Schelme. Durchweg schlägt die Parodie vor, selbst den im Stil der travestierten Aeneide gehaltenen Theaterzettel nicht ausgenommen. Da und dort leuchten satirische Blitzer auf; an freigeisterischen Sticheleien ist kein Mangel: rund oder auch nur erquicklich wirkt die übrigens niemals auf die Bühne gelangte Operette nicht.

Allzuviel Hoffnungen hatte der Dichter auf diese Versuche selbst nicht gesetzt: ihr Fehlschlagen traf ihn deshalb auch nicht entfernt so schmerzlich, als der Verlust seiner Stellung, da das Harmonietheater zu Grunde ging. Mit Müh und Not erhielt er in dem Hietzinger Sommertheater von Schwenders »Neuer Welt« einen Posten als Chargenspieler und Statist, kaum so gut bezahlt, wie ein Tagelöhner. Im Winter d. J. war er wieder, wie er im Jahr 1859 nach seiner Entlassung aus dem Sallmeyerschen Geschäfte sich genannt: vacierend. Mutter und Sohn Anzengruber lernten damals in ihrer engen Wohnung in der Waisenhausgasse ein Elend kennen, das, noch in der Erinnerung, dem Dichter Grauen einflößte. Die Not trat ihm nahe, bis zu dem Punkte nahe, wo er, nach seinem eigenen Wort, das Demoralisierende derselben ahnen konnte. Die letzten Habseligkeiten, selbst die alten Familienringe wanderten in das Pfandhaus, zum Hausierer. Um kärglichen Zeilenlohn lieferte Anzengruber dazumal Beiträge für O. F. Bergs »Kikeriki«. Er mußte glücklich sein, wenn er als »Aushilfe« ab und zu in der von Gasthaus zu Gasthaus wandernden Singspielhalle Campi verwendet wurde, wenn er dem und jenem Volkssänger ein Kouplet zu Dank schreiben durfte. In dieser Gesellschaft zupfte er eines Abends Wilhelm Wiesberg, der einaktige Burlesken für die Leute des »Brettls« lieferte, am Ärmel und steckte ihm ein Heftchen zu mit den Worten: »Da hab ich eine Soloscene g'schriebn für den Komiker und möcht' gern die Meinung eines andern Menschen drüber hör'n. Lesen Sie 's durch.« Wiesberg nahm das Manuskript mit nach Hause und staunte beim Durchlesen über die gewaltigen Geistesblitze, welche da aufflammten. Es betitelte sich: Der politische Laternanzünder und war in so freiem Stil gehalten, daß es Wiesberg mit dem Urteil zurückgab: »Das Wunderbarste, was ich je in diesem Genre gelesen und gehört habe: Sie vergessen jedoch, daß wir in Österreich eine Zensur haben. Drei Jahr' Festung,« meinte der Wackere scherzhaft, »wer so' was vorzutragen riskieren würde.« Anzengruber schüttelte ungläubig den Kopf und schickte das Manuskript der zensurierenden Polizeibehörde, von der es alsbald mit dem »obligaten: Zum Vortrag nicht zulässig« zurückkam. Der beleidigte Dichter zerriß sein Werk sofort mit den unmutigen Worten: »Da hab' ich einen schönen Begriff von Preßfreiheit bekommen, ich schreib' in meinem Leben keine Zeile mehr.«

Streng nahm er es mit diesem Vorsatz schon damals nicht: er klopfte bei dem dazumal von Johannes Nordmann geleiteten »Wanderer« mit Erzählungen an, welche der wohlwollende Redakteur las, annahm und zum Abdruck brachte: gesicherte Existenz, ja nur das nackte Leben war auch mit diesen Einnahmen nicht zu holen. Als Glücksfall mußte es nach alledem erscheinen, daß, Dank dem Eingreifen eines hilfreichen Verwandten, des Dr. v. Holzinger (dazumal Adjunkt in Sechshaus, heute Vizepräsident des Wiener Landesgerichtes) der Polizeidirektor v. Strohbach Anzengruber, zunächst als unbesoldeten »Praktikanten«, in seinen Schreibstuben ein Plätzchen einräumte – (im Vorzimmer des Evidenzbureaus, mitten unter Amtsdienern) –, wo er täglich von 8-2 Uhr Leumundsnoten kopieren und »Vorstrafen« von Strolchen »erheben« mußte. Vertraut gemacht hatte er sich mit einer solchen prosaischen Wendung seiner Schicksale schon in den letzten Jahren seiner Prüfungszeit als fahrender Komödiant. »Die Darstellungsgabe«, so schrieb er 1864 aus Sauerbrunn an Lipka, »ist, wie A. W. Schlegel bemerkt, die verbreitetste unter allen. Um so seltener ist die außerordentliche Begabung und so denn offen heraus, diese außerordentliche Begabung fehlt mir.« Überraschender noch, als diese tapfere Selbstkritik, ist die Weisheit und Reife des 25jährigen in Warnungen und Betrachtungen, die in jeder Schauspielschule von Amtswegen angeschlagen werden sollten:

Die Bühne, wie sie einst war, war ein Märtyrstand, verlieh somit dem Vagabunden eine Art Glorienschein, die Spannkraft des Elends schraubte seine Talente bis zur Höhe von Kunstleistungen empor, die Dichterperiode, die noch Menschenlos und Leid sang, täuschte auch die ernsten Charaktere und diese brachten das Gesungene gewichtig wie Apostel, wie Sendboten der Dichtkunst, des Menschengeistes vor das Licht der Lampen. Diese Zeiten sind vorbei. Derjenige, der den Genuß beim Theater sucht, der findet ihn, aber nicht den reinen, er findet die aufreibendsten Orgien und geht gewöhnlich in Liebe und Wein physisch und moralisch unter. Der Ernstere wirkt eine Weile mit Ernst und sucht ein vorgespiegeltes Ideal und plötzlich tritt die ganze Nichtigkeit und Schaale seines Treibens ihm erschreckend vor Augen … Du wirst die Frage aufwerfen, hat ein Diurnist so einen hohen Lebenszweck – nein, aber er kann sich einen unterlegen. – Und er hat ein ruhiges Einkommen, eine ruhige Laufbahn – das ist's – der ruhige Genuß des Lebens macht so viele Naturen, die von Haus aus zu den unausgesprochenen gehören, human und gut, das wilde hastende Treiben der Bühne verdirbt sie, macht sie, wenn gar nichts anderes – unwahr.

Jeden schauspielerischen Ehrgeiz hatte er also längst abgelegt: kaum, daß er gelegentlich seine Glanzrolle, den Titelhelden in Kaisers »Viehhändler aus Oberösterreich«, in Meidling zum Besten gab. Seine Mitarbeit am »Kikeriki« hörte, da er »der Stelle nicht zweizüngig erscheinen wollte«, an dem Tage auf, an welchem er 1870 mit einem Monatsgehalte von 50 Fl. seine Bestallung als Kanzlist erhielt, ein Amt, das sonst ausgedienten Unteroffizieren vorbehalten war. Mit welch verzweifeltem Humor er und seine Leidensgefährten selbst dieser Ernennung entgegengeharrt hatten, bezeugt ein parodistisch altertümelndes Schreiben an Dr. v. Holzinger vom 22. Dezember 1869:

»Ich erlaube mir Ew. Liebden ein erschröckliches Faktum zur Kenntnuß zu bringen, so Euch wol schon durch die Blätter des Tages, aber nur in dem verdorbenen Stylum der Neuteutschheit bekannt sein dürfte. Der von Strohmaier, wohledeler Kanzelar der Rossauer Vogtei stürzte sich in wolüberlegter Melancholei in die Fluten des Danubius, woselbsten er am »Fluße des Stickes«, wie es die Neuerer nennen, verstorben oder urdeutsch jämmerlich ersoffen ist; selbentlichen soll eine amtliche Repramantur, so die Neueren »Nase« nennen, in das kuhle Grab getrieben haben, was ein sehr jammerhafter Grund ist sich selbsten umb das Leben zu bringen. Wenn alle die, so ihren Vorgesetzten nicht anstehen in das Wasser gungen, so gäbe es gar keine Untergebenen mehr und wenn alle Vorgesetzten, so den Untergebenen nicht anstunden, des gleichen Weges gungen, so gäbe es auch keine Obrigkeit mehr, daß dermaßen jede sittliche Weltordnung ein End mit Schröcken hätte. Sei es nun dermaßen oder anderst, in dem Expedito herrscht über dieses Absterben keine Traurigkeit, sondern die Barbaren des Expedits, die auf die Quälerei der Menschheit durch polizistische Maßregelung alldort ihre Herzen verstocken und Praktikanti benambset werden, begehen die Leichenfeier auf die Weise der alten Egyptier und füttern ihre Leichnämer mit verdoppelter Ergötzlichkeit, so ein fremder Leichnamb in Figuram bei Tische sitzet; wesmaßen denn auch die Strafe des Himmels nicht ausbleibt und der v. Strohbach, der Rath des Hofes und Vogt der getrewen Stadt Wien keinen dieser Schadenfrohen zu einem kaiserlichen Brod gelangen läßt. Was Ew. Liebden auch besagen mag, daß sich nichts rühret, was aus irgend eine Besetzung oder auch nur auf Verleihung zu 25 fl. bezifferter Remuneration schließen lasset, was mich also wild machet wie den »Fuchs des Teufels«, sintemalen auch der v. Berg insonderheit diesen Christmond als ein niederträchtiger Heide sich erweiset, der zu glauben scheint, daß sein getrewer Mitarbeiter (am »Kikeriki«) kein Geld brauchet etc.«

Im Amt selbst hielt sich Anzengruber mit pedantischer Genauigkeit an sein unerquickliches Geschäft. Daheim aber ging er ins Gericht mit seinen dichterischen Erstlingen: er verbrannte fast all seine Jugendarbeiten, Verse und das Dutzend Volksstücke, die er im Laufe des Jahrzehntes von 1860-70 geschrieben, schleunig eingereicht und noch schleuniger zurückerhalten hatte. Über der Asche gedachte er aber »Spinozas – Brillen schleifen und tief im Herzen die Gedanken verschließen – tief im Herzen.« Er war als Schauspieler gescheitert, als Schriftsteller nicht weiter gekommen, als daß ihn der Herausgeber des »Kikeriki« als Witzbold, der Redakteur des »Wanderer« als Lückenbüßer aufgenommen und als Zeilenschreiber bezahlt hatten. Die Bühnen wiesen ihn beharrlich zurück: er selbst wurde zaghaft. »Da, noch einmal, weil auch der Realismus von allen Seiten drängte, fragte ich meine getreue Ratgeberin – meine Muse? – nein, meine Mutter: ich habe einen Stoff zu einem Volksstück, soll ich ihn schreiben? Vielleicht nimmt das Stück diesmal die Direktion und verbietet es die Zensur.« – »Du hast so viel für die Tischlade geschrieben, wag's daraufhin wieder.« »Ich wagte und was dabei herauskam, weiß Jeder, der den »Pfarrer von Kirchfeld« kennt.« Der Dichter hatte sein Volk, das Volk hatte seinen Dichter gefunden.


Der Pfarrer von Kirchfeld.

Tagsüber schrieb L. Anzengruber im Polizeigebäude am Petersplatz Steckbriefe ab. In seinen Ferialstunden saß er in seinem engen Kämmerlein in der Waisenhausgasse über dem Manuskript des »Pfarrers von Kirchfeld«, das in wenigen Monaten zum Abschluß gedieh. Der beste Jugendfreund des Dichters, Lipka, reichte das »Volksstück mit Gesang in vier Akten von L. Gruber« in der Kanzlei des Theaters an der Wien ein. In einer schlaflosen Nacht las der damalige Leiter dieser Bühne, Maximilian Steiner, das Stück: im Innersten gepackt von der Kraft und Kühnheit, mit der hier eine Zeit- und Weltfrage behandelt, echt dramatisch behandelt ward. Der Regisseur Liebold, dem er das Manuskript hernach zur Würdigung übergab, erklärte: es sei das beste Volksstück, das er jemals in die Hand bekommen. Und da gerade die Posse: »Ein deutscher Bruder«, auf welche der Direktor als Zugstück gerechnet hatte, abfiel, versuchte er es, am 5. November 1870, mit dem unbekannten Werk eines unbekannten Autors. Mit Ausnahme der alten Volksschauspieler, die dem Opus schon um seiner Gattung willen hold waren, versprach sich Niemand irgendeinen, nicht einmal einen Achtungserfolg. Der erste Darsteller des »Wurzelsepp«, der kurz vorher Triumphe als Paris in der »schönen Helena« gefeiert, wurde erst von Frl. Geistinger, der Darstellerin der Anna Birkmeier, angeregt, seine Aufgabe ernster zu nehmen. Wer hätte auch denken mögen, daß eine Bauernkomödie in den Tagen des »Possenkönigs« O. F. Berg und des »Operettenkönigs« Offenbach dem Publikum genügen oder gar gefallen könnte! Und doch ergriff das Werk mit stetig wachsender Macht die Gemüter der Menschen, unverdorbene Gründlinge und strenge Kenner, wie eine Naturgewalt. Ja, von Abend zu Abend wuchs das Wunder, daß ein solches Werk in Wien nicht nur gedichtet, sondern aufgeführt werden konnte. Noch im Jahre 1859 hatte ein Wort des Kardinal Rauscher genügt, um die Wiederaufnahme des Charakterbildes von Friedrich Kaiser »Mönch und Soldat« zu hintertreiben: ein Volksstück, in welchem der edle Prior der Augustiner einen unwürdigen Affiliierten der Jesuiten entlarvt. Mittlerweile war im parlamentarischen, wie im Zeitungskrieg die Tonart gegen die Parteigänger des Konkordates allerdings immer schärfer geworden: es fehlte, wie in den Witzblättern nicht an Zerrbildern und Spottversen, so auch in den Kouplets der Bühnen-Journalisten nicht an heiteren und hämischen Verunglimpfungen der Meßner, Kerzelweiber, Vorbeter, Kondukt-Ansagere etc. Mit den kleinen und kleinlichen Angriffen dieser Troßbuben, mit diesem »Beleidigen und Ausschimpfen der Gegner« hatte Anzengruber aber sowenig gemein, wie ein anderer, bedeutender Dichter, Ferdinand von Saar, der aus der gleichen Zeitstimmung heraus seine Priesternovelle »Innocenz«, seine Papst-Tragödie »Hildebrand« schrieb. Anzengruber erkannte und verklärte die Sendung der Kirche mit der Schwärmerei eines Glaubensboten. Und da er die herrschende Kirche nur im Sinne der Demut, die streitende nur im Sinne geistigen Kampfes nahm, sollte sie nach seinem Wunsche nur als Friedensfürstin walten. Nicht trennen, sondern einigen, nicht verbittern, nur begütigen, nicht Haß predigen, vielmehr Liebe bewähren mußte, nach seiner Gesinnung und Empfindung, der Gottesmann mehr als jeder andere; doppelt, da in dem sich verjüngenden Vaterland, in einer sich verjüngenden Weltanschauung, die Menschen von der Kirche Trost, nicht Fluch, Schonung, nicht Aufreißen alter, schwerer Wunden erwarteten. In solchen Ideen ersann der Dichter seinen »Pfarrer von Kirchfeld«: unduldsam nur gegen die Unduldsamkeit, voll Liebe für die Religion der Liebe. Und mag auch, wie Klang meint, das Marburger Gespräch, das Wort der Mutter vom »verliebten Pfarrer« (s.o. S. 67/8) äußerlich den ersten Anstoß zu unserem Volksstück gegeben haben: der Ur-Kern unseres Stückes wurzelt tiefer als in dieser Begebenheit: tiefer auch, als in der Frage des Cölibats, wenngleich die Tragik verfehlten Priesterberufes gerade im vormärzlichen Österreich so merkwürdige Schicksale gezeitigt hat, wie den Selbstmord von Michael Enk, die Flucht von Sealsfield-Postel aus dem Prager Kreuzherren-Kloster nach Amerika, die förmliche Absage Smetanas an die katholische Kirche. In Anzengrubers »Pfarrer von Kirchfeld«, der weder ein Abtrünniger, noch ein Gleichgiltiger sein will, offenbart sich das Ideal eines Priesters der Liebe, den, trotz aller Werke übermenschlicher Entsagung und Selbstüberwindung, die geistlichen Machthaber des Tages als unbrauchbares Rüstzeug in den Staub werfen und zertreten wollen. Seinen Drängern von außen, wie der Versuchung des eigenen Innern gegenüber behauptet sich Anzengrubers Pfarrer gleicherweise: er sucht »den Weg des Leidens zur Pflicht«. Und wenn er trotz alledem im Kampf des Lebens scheinbar zu Grunde geht: »diese sittliche Entrüstung des Helden im Leiden oder als Leiden giebt dem Helden selbst, der der getretene, unterliegende Teil ist –« nach einem tiefen Wort von Otto Ludwigs Shakespeare-Studien – »jenes Imposante, wodurch er stets über den Tretern zu stehen scheint. Aus der Fruchtbarkeit dieses ästhetischen Elements ist wohl auch die Entwickelung der deutschen Poesie nach der revolutionären Seite zu erklären. Da ist der Bauer oder Förster, der gegen den Amtmann, der Bürger, der gegen den Minister, der Ritter, der gegen Fürst und Kaiser, der Kaiser endlich, der gegen den Papst die Sprache der sittlichen Indignation spricht und physisch getreten, moralisch tritt: ja gar der Mensch seinem Gotte gegenüber, von dem er Rechenschaft haben will für allerlei, was ihm in dessen Weltordnung als Unrecht erscheint.« Diesen springenden Punkt für die richtige Auffassung des gerade von übereifrigen, einseitigen Verehrern vielverkannten »Pfarrers von Kirchfeld« hat der junge Rosegger berührt in den schlichten und überzeugenden Worten:

»Es sieht aus, wie ein Sensationsstück, wie ein Tendenzstück, wie ein Parteistück. Und so ist es auch. Die Partei ist die Menschheit und die Menschlichkeit, kämpfend gegen die Unmenschlichkeit; diese Tendenz ist in dem Stück auf das tiefste erfaßt und auf das konsequenteste durchgeführt. Wenn der Pfarrer von Kirchfeld in jenen schweren, ja unwürdigen Verhältnissen, unter denen heute noch der katholische Geistliche schmachtet, sich selbst verleugnet, um die Ehre seines Standes zu retten, so erfaßt uns Wehmut. Wenn wir aber sehen, daß die Kirche mehr noch verlangt von dem Manne, der ihr sein Glück geopfert, wenn wir sehen, daß dieser Mann gegen die Menschlichkeit, gegen seine sittliche Überzeugung handeln soll, wie dem aber doch diese höher steht als die Satzungen der Kirche, wie er liebreich den verkommenen Wurzelsepp aufrichtet, wie er dessen Mütterlein, das sich selbst das Leben genommen, ehrlich begräbt und wenn wir sehen, daß er deshalb vor den Richterstuhl beschieden wird und daß ihm eine trübe Zukunft bevorsteht, – so zittert uns das Herz. »Der Herrgott will ja nicht, daß der Mensch unglücklich sein soll sein ganzes Leben lang!« ruft der Wurzelsepp, der dem starren Gesetze der Kirche ein verlorenes Leben und ein wahnsinnig Mütterlein verdankt. Und Anna Birkmeier? Still entsagt das junge Herz, still wie der Pfarrer Hell und still wie der alte Pfarrer von St. Jakob in der Einöd. Überall trifft den Unschuldigen kaltes, starres Entsagen. Und wofür? – Es wird nicht ausgesprochen auf der Bühne, wie es nicht ausgesprochen wird im Leben, aber es ist zu lesen in den Gestalten, es zittert in der Luft, daß es nicht sein soll, – »der Herrgott will ja nicht, daß der Mensch unglücklich sei sein ganzes Leben lang!«

Und nicht in Reden und Sentenzen, nicht auf den Höhen der Gesellschaft, im kleinen Umkreis eines Dorfes, unter einfachen Naturmenschen, im Spiegelbild einer Alltagsgeschichte, offenbart sich uns der Weltlauf.

Der junge Pfarrer Hell ist ein Mann durch und durch: gut, brav, rechtschaffen, ein Seelsorger, der seiner Gemeinde so voranleuchtet, daß man ihm getrost Tritt für Tritt nachgehen kann. Er bringt, wie selbst der Dorfketzer zugiebt, wahres Christentum unter die Kirchfelder, sperrt ohne Schlüssel die Dorfschenke unter Tag, bindet den Raufteufeln auf den Tanzböden die Arme, hält brav Schule für die Kleinen und lehrt die Großen selbst denken, unerschöpflich als Wohlthäter der Armen, als Ratgeber und Helfer der Kleinbauern. »Ein Pfarrer auch außer der Kirche« ist er der Ausgleichung der Gegensätze so hold, wie abgeneigt dem Fluch- und Verfolgerwahn. Ein Gegner der »selbstmörderischen« Bewegung wider die Neugestaltung der heißgeliebten Heimat. Dabei – zum Unterschied von vormärzlichen Indifferentisten, wie Grillparzer, im Gegensatz zu nachmärzlichen Tempelstürmern – gläubig, auf das innigste durchdrungen von den Heilswahrheiten der christlichen Ethik. Gallikaner nennt man solche Leute in Frankreich, Schwärmer für die Nationalkirche im Reich; in Anzengrubers Heimat heißen sie Josefiner. Männer seiner Art, deren innerstes Wesen auf Sittigung und Beruhigung ausgeht, verleugnen die Kirche nicht: desto leidenschaftlicher werden sie von den Heißspornen der Kirche verleugnet. Hells Unbefangenheit wird Lauheit, seine Vorurteilslosigkeit Untreue gescholten auf Bischofssitzen und Herrenschlössern. So hat sich Hell im Parteilager der Feudalen wohlgesinnte Gönner in rachsüchtige Widersacher umgeschaffen, weil er, unbekümmert um die Schmeicheleien, wie um die Drohungen seines Kirchen-Patrons, des Grafen von Finsterberg, die neuen Staatsgesetze nicht allein nicht bekämpft, sondern unverhohlen billigt. Er läßt seine Kirchfelder nicht auf Bittgänge ziehen, die der alten Ordnung der Dinge gelten. Eine Mischehe zwischen einem katholischen Bauernburschen und einem protestantischen Dirndel kann er wohl selbst nicht vollziehen: aber er segnet die Braut auf dem Weg zum weltlichen Standesamt. Herzenseinfalt, Arglosigkeit, unvertilgbarer Glaube an die ursprüngliche Güte des menschlichen Gemütes lenken all seine Handlungen. Gerade diese reinen Gesinnungen machen ihn aber zum Märtyrer streitbarer Feinde, deren gefährlichster nicht in Finsterberg, unter den geistlichen und weltlichen Oberen Hells, sondern in Kirchfeld selbst sitzt. Vor zwanzig Jahren hat der Gerbersepp ein lutherisches Mädel heimführen wollen; sein Vorhaben erschien dazumal aber dermaßen als Gottesfrevel, daß der alte Pfarrer so lange auf Sepps Mutter einstürmte, bis er seinen Schatz, sein Liebes- und Lebensglück, fahren ließ. Verstört und verbittert ist er weltfeind, aus dem Handwerker ein Unbehauster, aus dem Gerber- der Wurzelsepp geworden; er flieht die Menschen, verschmäht jeden Kirchentrost und sieht seine Mutter, für die allein er das Opfer gebracht, über seinem Leid »hintersinnig« werden. Ein später häufig wiederkehrendes Motiv Anzengrubers tritt uns hier zum erstenmale entgegen. Es giebt viele Wege, so sagt der milde Pfarrer in »Gott verloren«, die den gemeinen Mann vom Glauben ablenken: aber nichts verhärtet seinen Sinn ärger, nichts läßt ihn stärker an der Gerechtigkeit der geistlichen und staatlichen Weltordnung zweifeln, als unverdientes, unbegreifliches Unrecht, das ihm selbst widerfahren. Weil harte Menschen dem Wurzelsepp einst das tiefste Weh angethan, haßt er alle dermaßen, daß er – wie der Berthold Schwarz von Johann Anzengruber Blitz und Feuer auf sie herabzaubern will – »der Herrgott sein möcht', um dös Unziefer mit der Faust zu zerdrücken.« Weil ein Pfarrer seinen Glückstraum zerstört, sein Dasein verheert hat, verabscheut und verfolgt er jeden Geistlichen, schon um seines Kleides willen: denn »mit dem G'wand muß er das sein, was der Wurzelsepp meint«. Und je weniger er dem neuen, vielgerühmten Pfarrer ankann, desto ungestümer harrt er des Anlasses, »wo er's den Kirchfeldern unter die Nasen reiben kann, daß Hell nit besser, als ein Anderer«. Und da ein »lebfrisches« Dirndel, Anna Birkmeier, ihn bittet, ihr den Weg in ihren neuen Dienstplatz, den Pfarrhof, zu weisen, sieht er mit dem Scharfblick des Hasses voraus, was Annerls Fürsprecher bei Hell, der Pfarrer von Sankt Jakob in der Einöd erst hinterdrein sieht: daß das schöne, brave, kluge Mädel das Wohlgefallen, das Mitleid, den Herzensanteil des jungen Geistlichen erregen wird, erregen muß. Hell fühlt auch mit stillem, stetig von Tag zu Tag wachsendem Glück die Wohlthat von Annas Nähe. Er wähnt alle Freuden seines früh verlorenen Familienlebens wieder aufblühen zu sehen; das reine, frohe Wesen des Mädchens gemahnt ihn an seine jüngst verstorbene Schwester; er denkt, daß sie den Pfarrhof nie mehr verlassen will; er errät ihre Wünsche und schenkt ihr ein Geschmeide seiner Mutter, ein goldenes Kreuzchen, das sie einmal auf Hells Sekretär erblickt, voll Verlangen, auch so ein Kreuzel zu tragen, wie alle Dirndeln da um Kirchfeld. So unbewußt ist diese Neigung in dem Priester aufgedämmert, so fern von jeder äußeren oder inneren Gefahr wähnt er sich, daß er Anna gestattet, das Kreuz offen vor ganz Kirchfeld, im Gotteshaus und daheim, zu tragen. Den wahren Namen seines Gefühls enthüllt ihm schadenfroh der Wurzelsepp, der das Gespräch der Beiden im mondhellen Garten belauscht hat. Hämisch sagt er Hell auf den Kopf zu: »Dir klingt die Stimm' von dem Dirndl im Ohr, wie der helle G'sang von ein Waldvögerl, Du schaust von Deinen Büchern auf nach ihrem frischen G'sichterl, Du schenkst ihr das Kreuzel von Deiner Mutter selig und gleichwohl Du's nit haben kannst, das Dirndl, gönnst Du's doch kein Andern.« Triumphierend sieht er »Ein' von Euch da, wo er vor zwanzig Jahren sich g'wunden hat, wie ein Wurm«. Und mit schneidendem Hohn stellt er Hell vor die Wahl: Anna »in Unehre halten oder mit Herzleid fahren lassen«. Und sogar diese Wege verrammelt der Wurzelsepp dem Priester, der als ehrlicher Mann sich selbst bezwingen will. Er trägt seine häßliche Angeberei rasch unter die Kirchfelder und seine Worte bekräftigt das goldene Kreuz, das männiglich während der Messe an Annerls Hals erblickt. Die schlimmsten Deutungen des Wurzelsepp finden, wie er es vorausgesagt, das willigste Gehör: »'s sein ja lauter gute Christen, ihr habt's ja mehr 'n Satan, als unsern Herrgott fürchten g'lernt und so glauben's auch eher 's Böse, als 's Gute von ihr'n Nebenmenschen.« Doch nur einen Augenblick ist Hells Ansehen bei den Kirchfeldern erschüttert. Für die Ehre seines lang stillgeliebten Annerl »schlägt« sich der Bauernbursche Michel Berndorfer, der aus dem Heimatdorf fortgezogen, um die Dirn' zu vergessen, in der Stunde der Gefahr aber mit dem »Betbüchel« ihrer Mutter und einem schüchternen Heiratsantrag naht. Das wackere Mädchen sagt ja. Wortlos verwindet Anna ihre Empfindung für den Priester, zu dem wohl auch sie, wenngleich nur einen Augenblick, nicht blos wie zu einem Heiligen, aufgeblickt. Und mit zerstücktem Herzen muß ihr Hell Recht geben, als sie, ein schwaches Weib, ihre Stärke in der Pflicht sucht und für immer aus dem Pfarrhof scheidet: »Hand in Hand mit ein'm braven Buben, dem ich nit feind sein kann und nach'm alten Sprüchel: »gleich und gleich taugt«. Nur Du laß Dir nix anhaben, daß, was g'schieht, nit umsonst g'schieht, (ausbrechend) denn sonst, mein Seel, sonst lasset ich's gleichwohl sein, wenn's für nix sein sollt und haltet treu bei Dir aus bis ans End'!« Und gerade in dem Augenblick, in dem diese Prüfung über Hell verhängt wird, tritt ihn als Schutzflehender derselbe Unhold an, der ihm all diese Qualen bereitet: der Wurzelsepp, dessen Mutter in den Mühlbach gestürzt ist als wahnsinnige Selbstmörderin, der ein christliches Begräbnis versagt werden kann, nach starrer Satzung wohl gar verweigert werden soll. Der Schuldbewußte ist gewärtig, Hohn mit Hohn, Härte mit Härte heimgezahlt zu sehen; statt dessen verheißt Hell dem trostlosen Sohne nicht nur, daß sein Mütterl in geweihter Erde bestattet wird: mit Engelzungen spricht er gegen die Barbarei, Schuld oder Krankheit der Geschiedenen an den Überlebenden zu strafen. Hell selbst will die Leiche zu Grabe geleiten, für die Tote sprechen, die Gemeinde für sie beten lassen und mit einer Beredsamkeit des Herzens, die zu solchen Thaten stimmt, will er den Wurzelsepp aus seinen Wildnissen, in denen er selbst verwildert, wieder herausführen, aus der Vereinsamung in die Gemeine. Er redet dem Verlorenen, Verstörten »in die Seel' h'nein, als ob er wüßt', was Einer sich z' tiefst 'nein denkt«: er bittet ihn, mit der Leiche seiner Mutter in die Kirche zu gehen, unbeirrt durch Spottreden, nicht gehalten, wiederzukommen. Und mit diesen Werken und Worten: mit der unmittelbaren Kraft eines Apostels begabt, den tiefverschütteten Quell lebendiger Liebe aufzuschürfen, vollbringt Hell das Werk der Läuterung an dem Verzweifelnden. »Sei wieder unser«, sagt er zu dem Staunenden, Gerührten, Kämpfenden, »was verlange ich denn von Dir, das ich Dir nicht wieder zu geben bereit bin? Sei wieder für Alle in Teilnahme, Mitleid, Erbarmen, Liebe und Menschenliebe, damit Alle wieder für Dich seien! (Die Arme nach ihm ausstreckend): Willst Du, Sepp?« Und zu Füßen wirft sich ihm der Überwältigte, widerstandslos hingegeben dem neugewonnenen Führer und Erretter: mit voller Leidenschaft umfaßt Sepp die Kniee des Gottesmannes mit dem Rufe: »Mach Du mit mir, was Du willst, Du – Du bist doch der Rechte!« Als Mann des Volkes hat Hell das Kind des Volkes bekehrt: sein Wort wirkt Wunder, weil er es durch sein Beispiel bethätigt. Selbstüberwindung, Entsagung, das Gebot, Unbill zu vergeben und zu vergessen, predigt er nicht allein den Anderen: er übt es am strengsten gegen sich selbst. Er hält an seinem Gelübde der Ehelosigkeit fest, obwohl er »im Geiste mit vernarbten Wunden die Brüder jener Tage grüßt, denen das geistliche Kleid nicht mehr den Kampf zwischen Schande und Entsagung zur Pflicht macht.« Er gewinnt es über sich, den Sturm in seinem Innern zu beschwören und, wie es Anna von ihm verlangt, sie mit ihrem Michel »vor dem Altar z'sammzugeben«; er ringt sich dieses Opfer ab, von dem großen Gedanken getragen, die selbstsüchtige Liebe zu der Einen in selbstloser Liebe für die Gesamtheit zu verwinden. Und in eben dem Augenblick, da er seinen Beruf als Priester am reinsten erfaßt, am schönsten erfüllt, ereilt ihn die Rache der Hetzer. Das Konsistorium entsetzt ihn seines Amtes und ladet ihn zur Verantwortung vor das geistliche Gericht: Graf Finsterberg gießt alle Schalen seines Zornes und Hohnes über Hell aus. Er hat den Auftrag gegeben, der Trauung nicht vorzugreifen, diese geistliche Handlung die letzte seines Amtes werden zu lassen. Diesem Streich – der Excommunication – hält der Pfarrer nicht mehr Stand: er denkt nach der ersten Erstarrung an Selbstmord, und nur Annas aus tiefster Seele hervorgeholte Worte vermögen ihn, einem irdischen Richter Rede zu stehen. Als Dulder nimmt er die unverdiente Schande und Strafe, die Trennung von seinen Pfarrkindern hin: in der Gegenwart, im leibhaftigen Leben besiegt, im Gefühl all der Seinigen der Sieger der Zukunft: selbst ein führender Geist.

Ein Geist, der Milde, Entsühnung, Vergebung noch beim Abschied verkündigt: nicht Worte der Klage und Anklage, Worte des Segens drängen sich zuletzt auf seine Lippen. Freilich traf diese Weiherede Hells Widersacher schärfer, als die leidenschaftlichste Brandrede. Wie engherzig mußten Machthaber sein, die einen solchen Priester des Volkes, einen solchen Diener des Gottes der Liebe, diesen Propheten der Menschlichkeit, verketzerten? welche Prüfungen standen einer Gemeinschaft bevor, in der für einen so gläubigen und getreuen Sohn der Kirche kein Raum mehr war? Auf diese Fragen, die von der Bühne herab gestellt wurden, blieben die Massen im Zuschauerraum die Antwort nicht schuldig. Am Abend der ersten Aufführung waren die Besucher des Theaters an der Wien dermaßen überrascht und kleinlaut gewesen, daß der Dichter halb verzweifelt nach Hause kam, im Glauben, er habe einen Mißerfolg erlebt. Selbst die im Ganzen sehr anerkennenden Morgenberichte der Wiener Blätter brachten ihn von dieser Meinung nicht ab. Sein Vetter, Dr. v. Holzinger, der bei der zweiten Vorstellung in einem Seitengang des Parterres neben Anzengruber zur Stelle war, mußte ihm immer wieder begreiflich machen, daß die Stimmung, in welcher das Publikum das Werk aufnahm, tiefer Erschütterung und inniger Ergriffenheit, nicht aber kühler Ablehnung gleiche. Von Abend zu Abend wuchs der Andrang und Beifall der Zuschauer, die sicherer als der eine und der andere herablassende Rezensent herausfühlten, daß hier kein Alltagsautor, sondern ein Dichter vor sie hingetreten sei, dessengleichen nur in Kometenjahren gedeihen. Wenige hegten diese Überzeugung so unbedingt, als die sachkundige und einflußreiche Gemahlin des damaligen Herausgebers der »Neuen Freien Presse«, Frau Regine Friedländer, die ihrem Manne sagte, die erste Notiz seines Blattes habe dem seltenen Talent des neuen Poeten nicht volles Recht widerfahren lassen. Über dieses Stück müsse Laube schreiben. Und ihr Rat kam zu Ehren. Sie lud den Dramaturgen in ihre Loge und Laube veröffentlichte eine Anzeige des Stückes und seiner Darstellung, die seither aus dem Feuilleton der »Neuen Freien Presse« in alle Buchausgaben des »Pfarrers von Kirchfeld« herübergenommen wurde. Ein Geleitsbrief, der Anzengruber in allen deutschen Landen ausgiebig förderte. Ebenso stark, ja womöglich noch stärker, als in der Hauptstadt, war der Erfolg des Stückes in den Provinzstädten. Nach Prag und Graz pilgerten Bauern und Landgeistliche in die Schauspielhäuser zu dem »Pfarrer«, dessen Autor in der ersten Zeit zur sagenhaften Gestalt wurde. Die Einen wußten zu melden, daß hinter dem offenbaren Pseudonym sich ein Kirchenfürst berge; Andere nannten den damaligen Justizminister Tschabuschnigg als Verfasser; in Graz hielten die Leute Rosegger für den Dichter, schon weil Anna Birkmeier als Entréelied sein Dialektgedicht: »darf i's Büaberl lieben« sang; die »Presse« hatte dieser Namensliste noch einen Bezirks-Kommissär in St. Veit anzureihen, der sofort in demselben Blatte den folgenden Schreibebrief einrücken ließ:

»Da ich nie einer der Freier um Penelope sein gewollt hätte, nur der Gefahr von Ulyß erschlagen zu werden, zu entgehen, so erkläre ich und bitte um Aufnahme des Folgenden: Vor Jahren hörte ich in meiner Heimat Kärnten von einem Pfarrer von Latschach erzählen, der in dieser Pfarre am Fuße sozusagen des Mittagskogels unweit Villach sich die Mußestunden mit Goldgraben im Mittagskogel (für die französischen Wienerinnen Pic du midi genannt) vertrieb. Hieran knüpfte ich meinen Vorsatz, mich im Drama zu versuchen. Ich bemerke hier, daß der Pfarrer von Latschach, nebenbei gesagt, wegen Verletzung des k. k. Berg- und Münzregals in Untersuchung kam und während derselben – starb. Nun dachte ich mir einen Pfarrer, will sagen »Priester« – ein Ideal – der »im Kampf mit der Welt untergeht«. Meinem Ideale werden nach meiner Empfindung alle jene Sünden ungerechterweise angesonnen, welche man Priestern anzuwerfen pflegt; über Grund oder Ungrund zu sprechen, ist von mir ferne. Mein Pfarrer von Latschach erliegt im Drama unter den Anwürfen der »Freigeisterei«, der »Fleischlichkeit« oder vielmehr des »Geizes«, wozu leider die einzige, wahre Schuld gegen Reichsgesetze kam id est: eigenmächtige Ausbeutung, Verwendung und selbst Münzung des Goldes. Die Wucht der eingetretenen, strafgerichtlichen Untersuchung erdrückte vollends sein tief erschüttertes Leben, wiewohl er im Momente des Verlöschens in den Augen der frommen und weichgesinnten Landesmutter, Ihrer Majestät der Kaiserin Maria Theresia, Gnade fand. Der Pfarrer hatte sein gewonnenes Gold eben und hauptsächlich an die Verschönerung seiner Kirche gewendet. – Ich benamste mein Volksschauspiel in vier Akten: »Der Pfarrer von Latschach oder der Kampf mit der Welt.« Nachdem ich es in Klagenfurt vergeblich zur Aufführung bringen gewollt, fand es ein dortiger Herr, der es aber nicht von mir und mit keiner Mission von mir, sondern aus dritten Händen überkommen, für gut, damit nach Wien abzufahren. An zwei Jahre arbeitete ich, um wenigstens mein Manuskript zurückzuerhalten, was mir endlich gelang. –

Sollte sich in meinem Schriftstücke und jenem des nunmehr renommierten Wiener Bühnenstückes ein geistiger Zusammenhang finden, dann hat es wohl den Anschein, daß ich um Zeit und Mühe meiner Arbeit – geprellt werden soll. Indem ich um die Aufnahme dieser Zeilen höflichst ersuche und gewärtige, die verehrte Redaktion werde sich dadurch zu einer, wenn auch noch so winzigen Aufklärung – als öffentliche Erwiderung – veranlaßt sehen, empfehle ich mich hochachtungsvoll

Dr. Leopold Wenger
Bezirks-Kommissär und ökonomischer Referent.
St. Veit in Kärnten, 10. November 1870.

»L. Gruber« erwiderte »seinem Bacherl« kurzweg: Ehe Herr Dr. Wenger mit der Vermutung in die Öffentlichkeit trat, »daß er um Zeit und Mühe seiner Arbeit – geprellt werden soll«, wäre es doch wohl zweckdienlich gewesen, daß er vielleicht vorerst selbst nach einem »geistigen Zusammenhang« zwischen seinem Schriftstück und dem nunmehr renommierten Wiener Volksstück geforscht hätte; diese Nachforschung zu ermöglichen, wurde er übrigens sogleich von der Direktion des Theaters an der Wien eingeladen, sein Manuskript einzusenden. Bis »diese Stunde der Prüfung« an mir vorübergegangen sein wird, habe ich einstweilen nichts zu versichern, als: daß ich nur durch den »Lokal-Anzeiger der Presse« sowohl von der Existenz eines Dr. Wenger, als auch des von ihm verfaßten, »Der Pfarrer von Latschach« »benamsten« Volksstückes Kenntnis erhielt.« »Es fehlt nur noch«, schrieb ein Wiener Witzblatt, »daß man dem Papst die Autorschaft des Stückes in die Schuhe schiebt: das komische an der Sache aber ist, daß während alles mit der Diogeneslaterne nach dem geheimnisvollen Dichter sucht und Andere für ihn Gratulationen einheimsen, derselbe aus seiner Urheberschaft gar kein Geheimnis macht. Im Foyer des Theaters an der Wien war zu wiederholtenmalen ein unansehnliches, mit Brillen versehenes Männchen zu sehen, dessen Äußeres eher auf einen mit Kummer beladenen Lehrer, als auf einen demokratischen Schriftsteller schließen ließe. Dieser Mann ist subalterner Beamter bei einer k. k. Behörde, nennt sich Gruber und ist seit Jahren fleißiger Mitarbeiter des »Kikeriki«. Ganz genau waren auch diese Angaben nicht. In Wahrheit machte Anzengruber, der eben zum k. k. Polizei-Offizial IV. Klasse ernannt worden war, Freunden, die, wie Thalboth in Wien, Klang in Graz, seine Urheberschaft errieten, sowenig als irgendwem sonst ein Hehl daraus, daß er den »Pfarrer von Kirchfeld« gedichtet, wenn es ihn gleich überraschte, als der Polizei-Kommissär Weyl ihn in sein Zimmer rief und von Herzen als gerade entdeckten dichterischen Kollegen beglückwünschte. Der echten Natur unseres Poeten war es genug, daß geworden war, was er erstrebt, daß er den Genius über sich schweben hatte, der alles aufrührt, daß »verklärender Abendsonnenschein auf den greisen Scheitel seiner Mutter sich senkte«. Und ganz anders, als irgendwelche äußere Ehren ihn beglücken konnten, erhob ihn das Bewußtsein, daß echte Schöpferkraft ihn erfülle, daß er endlich die rechten Wege beschritten.

Ihm selbst, nicht nur dem Publikum, war der Pfarrer von Kirchfeld unversehens aufgestiegen, wie ein Granitgebirge, das sich jählings aus der Meerflut hebt. Und wie Delos, das ehedem unstet im Ozean umherschwimmende Eiland, erst durch die Geburt des Apollo Halt gewann als fester Mittelpunkt einer Inselgruppe, als unverrückbares Heiligtum des Musenführers, so war durch die Geburt des Pfarrers von Kirchfeld die Volksbühne Anzengrubers sichere Heimstätte geworden. Schon deshalb war und bleibt der »Pfarrer von Kirchfeld« nicht allein Anzengrubers erster, sondern auch sein denkwürdigster Erfolg. Wohl hat der Dichter nach diesem ersten sieghaften Schauspiel späterhin Schöpfungen zu Stande gebracht, die den »Pfarrer« an Ideengehalt und künstlerischer Klärung weit übertrafen. Hier aber hat der Dichter zum erstenmal sich selbst entdeckt. Hier zum erstenmal ein Volksstück geschaffen, in dem nach Friedrich Kaisers Forderung eine große Zeitfrage wenigstens prophetisch ihre Erledigung fand. Hier äußerte sich zum erstenmale die ganze Naturgewalt Anzengrubers mit der elementaren Macht eines aus unbekannten Tiefen hervorbrechenden Felsenquells. Keimhaft ist schon hier seine reiche spätere Entwickelung angedeutet: die Fähigkeit tragischer Erschütterung und dicht daneben ein Frohsinn, so urkräftig, wie der Humor der Bauern, die auf der Kirchweih desto ausgelassener sind, je härter sie das lange Jahr hindurch schaffen müssen. Zum erstenmal entzückte hier seine Kunst oder vielmehr die angeborene Gabe, Menschen vor uns hinzustellen, die Niemand wieder vergaß: obenan die »Leidensfigur aus dem Volke«, der um sein Lebensglück betrogene Wurzelsepp, ein Zorn- und Rachedämon, in dessen Innerstem neben den Instinkten ungebändigter Wildheit auch die weichsten, zartesten Regungen schlummern, einem Gletscher vergleichbar, unter dessen Eisfeld eine Wunderflora begraben liegt. Ihm ebenbürtig die Idealgestalt des Priesters, der nicht als fischblütiger Tugendheld, vielmehr als echter, warmblütiger, warmfühlender Mensch seine Märtyrerkrone im Ringen mit der eigenen Leidenschaft erstreitet. Nicht minder echt Anna Birkmeier, bald schalkhaft, bald empfindsam wie die Seele des Volkes selbst: bei aller Einfachheit und Bescheidenheit in der Stunde der Gefahr stärker und entschlossener, als der weiseste Mann: die älteste Schwester der Horlacherlies und der Magdalein' Reindorfer im »Schandfleck«. Seiner Liebsten nicht unwürdig ihr Freiwerber Michel: gleichfalls der Älteste einer Reihe von Brüdern (Wastel im »Gewissenswurm«, etc.): alle Kinder desselben Vaters, bei aller Familienähnlichkeit aber Jeder ein Anderer, Jeder ein ganzer Anzengruber. Mit eine der größten Figuren ist eine der kleinsten Episoden: Pfarrer Vetter von Sankt Jakob in der Einöd. Nur in Einer Verwandlung tritt er uns entgegen und doch offenbart er uns sein Leben bis in seine verborgensten Heimlichkeiten und zugleich das Schicksal eines ganzen Geschlechtes von Leidensbrüdern. Er ist der Bauer in der Soutane, der Priester werden mußte, um dem älteren Haussohn das Anwesen nicht zu verkleinern: ein Greis, der in der Jugend auch hoffte, träumte, strebte: mit den Jahren aber immer stiller und dumpfer, von Hochgebornen und Protektionskindern sich überflügelt, bei Seite geschoben, von schlechten zu immer schlechteren Pfarrern sich gedrängt sah, bis er, der nie gelernt zu murren, resigniert, gedrückt, halbverbauert auch das Harren verlernte. Bei aller Ergebung in sein Schicksal, bei aller Enge seiner Weltkenntnis weiß dieser Friedfertigste aller Friedfertigen aber doch ganz genau, daß seine äußerliche Gelassenheit weniger in übermenschlicher Tugend, als in der nüchternen Thatsache wurzelt, daß er nicht für Weib und Kind zu sorgen hat, wie sein rebellischer Schulmeister, der diese Erde nicht nur als himmlische Versuchsstation, als Ort der Prüfung gelten lassen will. So viel Meisterepisoden, so viel Musterpfarrer Anzengruber auch geschaffen – (menschenkundige, auf das Praktische ausgehende, nüchterne, wie sie die Zeit von Kaiser Franz und Ferdinand hervorgebracht; stürmische, hitzköpfige, eifernde, wie sie in den Seminaren zur Zeit des Konkordates und des Kulturkampfes gediehen: die geistlichen Herren im »Sternsteinhof«, in »Gott verloren«, »Zu fromm«, »Der Einsam« etc.) – den Pfarrer Vetter hat er niemals übertroffen.

Und wie er mit genialem Künstlersinn Menschen vor uns vergegenwärtigte, wie kein Anderer neben, wie Wenige vor ihm, so verstand er mit genialem Bühnensinn Bilder vor uns hinzustellen, die sich wie ein Miterlebtes einprägen. Bewundernswert schlingt er die Gegensätze ineinander, läßt er muckerische Wallfahrer und weltfrohe Hochzeiter auseinanderplatzen: schaubar und hörbar: hier trifft jede Stachelrede, hier sitzt jedes Wort, jeder Zug. Und genau so sinnfällig kontrastiert er Hell und Wurzelsepp: in dem Zusammenstoß dieser beiden, grundverschiedenen Weltanschauungen schlägt die Botschaft der Liebe an das verhärtetste Herz, wird es nicht bloß dem bekehrten Wildling auf der Bühne warm in den Augen.

Gegen den Aufbau und die Führung des Stückes sind dagegen manche Bedenken zu erheben. Schon Laube vergleicht es »einem Baum, der sich nicht ausbreitet in seinen Ästen«. Nun erwiderte Anzengruber wohl, die Schuld dafür habe nicht er, nur die Zensur zu tragen, die ihn genötigt, die Schliche des Grafen Finsterberg, Hells Erscheinen vor seinen geistlichen Richtern etc. hinter die Bühne zu verlegen. Mag sein. Betrüben kann es den Freund der Kunst Anzengrubers trotzdem nicht, daß Graf Finsterberg nur zweimal im »Pfarrer« auftritt; Charakterköpfe aus solchem Gesellschaftskreise kennt oder trifft er nicht; er gleicht dem von Wildwässern gespeisten Bergstrom auch darin, daß er, je weiter von seinem Ursprung, desto leichter versandet. Auch gegen die seltsam zwischen vorstädtischer und bäurischer Sprache schwebende Mundart, gegen die eine und die andere an Leitartikel der Zeit erinnernde Redewendung kann man Bedenken haben, obgleich auch hier unversehens Gleichnisse aufsteigen, die nur ein Dichter prägen konnte: so das von der Versetzung der Waldbäume, den Überständern und dem Unterholz; so das vom Orient, dem über seinen Büchern eingeschlafenen Kind.

Wie er aber ist, mit seinen kleinen Schwächen und seinen großen Eigenschaften bleibt »der Pfarrer von Kirchfeld« ein Ereignis nicht blos in der Theatergeschichte Österreichs: das Stück, mit dem sich in der deutschen Litteratur Ludwig Anzengruber seine Beglaubigung geholt hat als Kenner und Freund und Dichter des Volkes: ein Werk, auf das wohl ein Wort Walthers von der Vogelweide neugemünzt werden mag: Sîn lop ist niht ein lobelîn.


Theaterdichter. Heirat. Tod der Mutter.

Alle Freuden jungen Ruhmes wurden Anzengruber nun zuteil. Aus der Ferne und Nähe meldeten sich Genossen der Wander- und Leidensjahre: »Götterbrüder« aus Sankt Pölten und nach der Wallachei verschlagene Dekorationsmaler; Kameraden, die es in Wien mittlerweile zu guten Stellungen gebracht hatten, wie der Kapellmeister Millöcker und der Theatersekretär Thalboth; eine längst theatersatt, zur Gouvernante gewordene Sentimentale, deren lyrische Versuche der namenlose Dichter in Leoben durchgesehen und verbessert hatte; alle mit der gleichen Frage, ob der Gruber des »Pfarrers von Kirchfeld« denn auch in Wahrheit derselbe Gruber, den sie sommers im grauen Lüstreröcklein, winters im grauen Mantel pünktlich auf der Probe, selten im Gemeindewirtshause, einmal als Mietsmann eines Kleinbauern, mit der Gipspfeife und dem breiten Strohhut auf dem Bänkchen vor dem Haus, zumeist aber im Stübchen neben seiner emsig strickenden Mutter gesehen?

»Gruber kenne ich«, schreibt einer dieser alten Kameraden aus Bukarest: »sollt' es jener Gruber sein? – So sitze ich und sinne hin und her: da tritt ein hier von seinem Direktor vergessener Schauspieler, der nebenbei gesagt schon einige Jahre in deutschen Wirtshäusern den Musen dient auf einem »Brettl«, das, kaum zwei Ellen groß, aber doch die Welt bedeutet, zu mir heran, giebt mir Klarheit und kann behaupten, daß Du der Anzengruber seiest – daß der brave Dichter Niemand Anders als der einstige Schauspieler sei. Nun hab ich's rein; ja, ja Du bist's, ich sehe Dich noch unter der Bande des gemütlichen Hauptmanns Bertalan; ich sehe Dich noch auf der Probe neben mir stehen; wie Du standest mit feierlicher Miene im grauen Mantel eingehüllt, die Blicke etwas gen Norden gerichtet, die Arme verschränkt, jeden Augenblick bereit Dich loszulassen, sobald Dein Stichwort fällt. Lieber Gruber, Du glaubst nicht, wie es mich berührte, von Dir so viel Schönes zu lesen, Dich bewundert zu sehen; ich sage Dir, mir wurde völlig warm, als ich den Artikel über Dein neuestes Bühnenwerk las und ich war vielleicht glücklicher, als Du selbst es manchmal bist. Weißt Du, Gruber, Du kannst recht stolz sein: denn was Du bist und was Du wirst, das bist und wirst Du aus Dir selbst und bleibst ein Original.«

Nicht immer begnügten sich die Genossen jener schweren Zeiten der Prüfung mit so treuherzigen Glückwünschen; mehr als Einer bat, wie der Dichter scherzte, um ein Engagement für »erstes Vorschußfach«: ein Anliegen, das bei dem weichen, warmen Sinn, der offenen, wenn auch niemals verschwenderischen Hand Anzengrubers stets Erfüllung fand. Auch die wehmütige Überraschung sollte er erleben, daß Mathilde Kammeritsch in dem Gruber der Zeitungsberichte ihren abgewiesenen Freier erkannte und ihm – von ihrem Sterbebette aus – durch ihre Schwester Krakowski einen innigen Scheidegruß bestellen ließ. In wortloser Bewegung las Anzengruber die Briefe an Mathilde wieder, die ihm ihrem letzten Willen gemäß zurückgegeben wurden: dann verhieß er, den Ihrigen ein Freund zu bleiben: ein Wort, das er redlich gehalten hat. Alle Theater in der Heimat und im Reich wetteiferten, den »Pfarrer« so schnell als möglich auf die Bühne zu bringen. Und wenn auch eine schnöde »Bearbeitung für Norddeutschland« aus dem Grafen Finsterberg einen Fürstbischof machte, der in der Schlußszene im vollen Ornat mit großem geistlichen Gefolge erschien und mit dem schlichten Pfarrer um seine Schutzbefohlenen haderte, wenn auch sonst Stück und Mundart eigenmächtig und übel genug zugerichtet wurden: der Kern und damit der Eindruck des Werkes blieb unversehrt. Der Direktor des Grazer Landestheaters, Kreibig, sandte Anzengruber zu Neujahr in sauberer Dukatenbörse sechs Stück Goldfüchse und knüpfte daran die Einladung: der Dichter möge zur zwanzigsten Aufführung des »Pfarrers« als sein Gast nach Graz kommen. Und noch ein anderer Gruß kam aus der Hauptstadt der Steiermark: in heller Begeisterung, aus übervollem Herzen schrieb ihm P. K. Rosegger einen Begleitbrief zu seinem (o. S. 86 erwähnten) in der »Tagespost« veröffentlichten »Wort über den Pfarrer von Kirchfeld«. Den Dichter von »Zither und Hackbrett« hatte das Stück stärker getroffen, als irgendwen. Unmittelbar vorher hatte er mit demselben Vorwurf nach demselben Kranz gestrebt. Er hatte ein Volksstück mit Gesang in fünf Aufzügen geschrieben: »Der Dorfkaplan«: ein Werk, dessen Thema der Cölibat war. Ein junger Priester hegt eine stille Liebe zu einem Bauernmädchen, das von seiner Neigung nichts weiß. Als die Dirne ihm aber mitteilt: sie möchte ihm ein süßes Geständnis machen, das vor Gott und Menschen freilich eine große Sünde sei, sehnt sich der Kaplan nach diesem Bekenntnis vermeintlicher Gegenliebe, hält es jedoch für seine Pflicht, vorher beim Konsistorium seinen Austritt aus dem geistlichen Stande anzumelden. Darüber bricht das Herz seiner alten Mutter; der Kaplan wird exkommuniciert und hilflos verstoßen; als er mm aber mit der Geliebten in die Fremde Ziehen, einen Herd gründen will, erfährt er, jenes Geheimnis, das sie ihm früher im Beichtstuhle mitteilen wollte, dessentwillen er seinen Stand und sein Lebensglück verscherzt, betreffe ihren sündigen Liebeshandel mit einem jungen Gutsbesitzer. Gebrochen, den Tod suchend, flieht der Kaplan aus der Heimat. Noch vor dem Wiener Erfolg des Pfarrers von Kirchfeld hatte sich das Gerücht von dem Motiv und der Vollendung des Roseggerschen Volksstückes in Graz verbreitet; ein Schauspieler bat, ihm das Werk zu einer Benefizvorstellung zu überlassen: ein Verlangen, dem Rosegger erst willfahren wollte, nachdem er das Urteil seines bewährten Beraters Dr. Swoboda eingeholt haben würde. Noch bevor der (unbedingt verdammende) Spruch dieses zuverlässigen Kenners und Freundes fiel, fand die erste Aufführung des »Pfarrers« in Graz statt, der Rosegger beiwohnte: »der brave Roll gab den Pfarrer; die anmutige junge Kreibig, die uns bald nachher der Tod entriß, spielte die Anna Birkmeier; der geniale Martinelli stellte den Wurzelsepp dar; ich habe diese Rolle später von manchem bedeutenden Künstler gesehen, aber den naturwahren, dämonisch finsteren und doch gemütstiefen Wurzelsepp, die scheinbar von aller theatralischen Mache freie unmittelbar echte Volksgestalt des Martinelli brachte Keiner wieder.« Mundart, Stand-Liedeln, selbst die (Roseggers »Pfarrer im Gewände« wahlverwandte) Figur des Pfarrers Vetter bestärkten das Publikum in dem Glauben, daß der Dichter in Graz, nicht in Wien daheim sei. Und als nun gar im dritten Akt die Anna Roseggers Liedchen sang (Darf ich's Dirndel liabn), erscholl bei den Hervorrufen immer lauter sein Name. Da der Vorhang das letztemal fiel, ging ein Beifallssturm »wie der Lawinen entfesselnde Frühlingsföhn« durch das Haus; es war ein ganz phänomenaler Applaus, der nicht den Darstellern galt; der Dichter wurde gerufen und immer wieder gerufen; den Dichter wollte man auf der Bühne sehen, bis der Regisseur zur allgemeinen Verblüffung im Namen des abwesenden Dichters dankte. Als Rosegger das Schauspielhaus verließ, begrüßte ihn, den man noch immer für den Autor hielt, vielstimmiges Bravo. »Ich taumelte nach Hause und konnte die Nacht nicht schlafen: es war mir wie zum Wahnsinnigwerden: ich hatte das Stück nicht geschrieben: es war mir ganz neu und es war mir doch so traut: ich sah mich in ihm. Mein ureigenes Empfinden und Wollen war darin zur That geworden, aber ich hatte diese That nicht begangen.« Am nächsten Tage kamen Glückwünsche über Glückwünsche an Rosegger als »allzubescheidenen« Dichter, der schließlich statt jeder anderen Widerlegung dieser Vermutungen sein »Wort über den Pfarrer von Kirchfeld« in die Tagespost einrücken ließ, das zuguterletzt »den leider unbekannten Autor aufforderte, sich endlich zu nennen.« Von dieser Vorgeschichte des Roseggerschen Aufsatzes hatte Anzengruber keine Ahnung, als er den ersten Brief des steirischen Volksdichters erhielt; mit heller Freude dankte er aber seinem »Herzens- und Zeitgenossen« seine Annäherung; als Gegengabe schickt er ihm (11. Februar 1871) seine Photographie und das Bühnenmanuskript des »Pfarrers von Kirchfeld«: dann fährt er fort:

»Das thut mir recht leid, daß Sie in Wien mich nicht gefunden haben. So will's ich Ihnen denn hier sagen, was ich Ihnen auch gesagt hätte, wenn ich Sie gesprochen hätte. Ahnen Sie es wohl, wie zagend ich auf mein fertiges Stück die Charakterisierung: »Ein Volksstück« hegte? Und doch! Wenn wir, die wir uns emporgerungen aus eigener Kraft, über die Masse, heraus aus dem Volk, das doch all unsere Empfindungen und unser Denken großgesäugt hat, wenn wir, sage ich, zurückblicken auf den Weg, den wir mühevoll steilauf geklettert in die freie Luft, zurück auf all die tausend Zurückgebliebenen, da erfaßt uns eine Wehmut, denn wir, wir wissen zu gut, in all diesen Herzen schlummert, wenn auch unbewußt, derselbe Hang zum Licht und zur Freiheit, dieselbe Kletterlust und dieselben wenn auch ungelenken Kräfte und so oft wir bei einer Wegkrümmung das Thal zu Gesicht kriegen, so thun wir, wie uns eben ums Herz ist, lustig hinabjuchzen: »Kimmt' rauf, do geht der Weg!« oder weinend zuwinken – o wie oft unverstanden! Das war auch meine Furcht, aber siehe da – plötzlich wimmelt's auf meinem Weg herauf vom Thal, ich seh' mich ganz verstanden, seh' mich eingeholt, umrungen und steh' dem Volke gegenüber, gehätschelt wie ein Kind oder wie ein Narr – die bekanntlich die Wahrheit sagen. Gott erhalte uns das Volk so, wir wollen gern seine Kinder sein und seine Narren bleiben!«

Mit diesen Gefühlsausbrüchen hebt zwischen den Beiden ein reger Gedankenaustausch an, eine echte Männerfreundschaft, in der Rosegger stets mit seltener Bescheidenheit zu Anzengruber als dem Größeren aufblickt, dieser aber dem steirischen Volksdichter mit Laune und Liebe, mit Rat und Trost, als Freund seines Wesens und seines Talentes zeitlebens treulich verbunden blieb. Als Anzengruber im Mai Einundsiebzig nach Graz kam, verlebte er dort schöne, im Frühlingstraum eines Glücklichen verklärte Stunden. Die ihm zu Ehren veranstaltete Aufführung des »Pfarrers« gestaltete sich zu einer Huldigung: Darsteller und Zuschauer wetteiferten, den Dichter auszuzeichnen. »Wir sahen einen noch jungen, markigen Mann mit hoher Stirne, blauen Augen und edelgeformter Adlernase, mit rotblondem Vollbart und reichen, nach rückwärts wallenden Haaren. Sein Auftreten war sicher und schlicht, er kam vor das Publikum nicht in Frack und mit Cylinder, nicht in weißer Halsbinde, weißen Handschuhen, dem Kleide des Bedienten, sondern im dunklen Rocke des deutschen Mannes, der sich seines Berufes als Volksdichter bewußt ist, nicht um den Beifall der Menge buhlt, denselben aber mit Anstand und Gelassenheit anzunehmen weiß«. Nur Einen Augenblick verliert er die Fassung: er sieht »einen Lorbeerkranz neben sich fallen, aber er wagt es nicht, ihn aufzuheben. Kronen mag man vom Tische des Herrn nehmen und sich aufs Haupt setzen, das ist Gewalt- und Geschmacksache – aber einen Kranz, ein Zeichen der Ehre und Liebe für den Meister? Laß ihn liegen, Lehrling! Aber wer rafft ihn auf und drückt ihn dem Tiefergriffenen in die Hand? Der Wurzelsepp, die Leidensfigur aus dem Volke – o wäre das symbolisch?« Und noch waren die frohen Überraschungen nicht zu Ende. Direktor Kreibig gab dem Gaste zu Ehren ein Bankett, an dem die ganze Grazer Künstlerwelt teilnahm: Trinkspruch auf Trinkspruch wurde laut und als Martinelli das Wohl der beiden Volksdichter ausbrachte, stießen Anzengruber und Rosegger an: der Steirer sagte dabei: »Der Pfarrer lebe! Der Kaplan sei tot.« Anzengruber aber fand kein Wort lauter Danksagung: ganz stille dachte er dafür desto lebhafter daran, wie über alles Erwarten herrlich die Träume seiner Lehrjahre sich erfüllt, und aufs neue gelobte er sich, erst recht »wach zu werden und wach zu bleiben: denn die Zeit schien ihm eben wieder am Einnicken: da galt's wieder und immer wieder frisch darein zu »juchezen« oder den ernsten Weckauf zu machen.« Am nächsten Morgen führte Rosegger den neugewonnenen Wiener Freund über den Rosenberg, ins waldige Maria-Grün; unterwegs fragte Anzengruber, was der Steirer mit seinem Toast eigentlich habe sagen wollen, denn für einen Witz sei's ihm zu schlecht gewesen. Und nun hörte der Wiener die Leidensgeschichte des »Dorfkaplans«, während Rosegger erfuhr, wie sein Liedel in den »Pfarrer« gekommen sei: es geschah auf Wunsch der Geistinger, die bei den Proben noch ein lustiges Gesangs-Solo verlangt hatte. Immer traulicher und vertraulicher plauderten die Beiden; immer aufs Neue schwärmte Rosegger von den Schönheiten des »Pfarrers«. Als er aber meinte: Anzengruber würde nie ein größeres Volksstück schreiben, antwortete dieser ruhig: »Ich werde ein noch größeres schreiben«: denn schon trug er sich mit dem Plan des »Meineidbauer«, von dessen Fabel er vorher jedoch nicht sprechen mochte.

»Der Meineidbauer«, so schrieb er im Juni 1871 einem alten »Götterbruder«, »geht seiner Vollendung langsam aber sicher entgegen; schreibe jetzt 2. Akt, Verwandlung, das Schwierigste liegt hinter mir. Ich könnte Dir den ganzen Stoff erzählen, wenn Du nämlich daraus klug werden könntest, bei mir aber ist das Dichten eine Naturgabe und wie bei dieser Schafferin ist das Interessante nicht was, sondern wie Etwas wird und das Wie liegt eben in der Dichtung und ich bin stolz darauf, daß man mir keinen Verfasser oder Autor hinaufdisputiert, sondern mir den Dichter gelten läßt u. z. von der allerschwierigsten Branche des Volksstückes. Ich sehe ruhig diesem Meineidbauer-Werden zu, ist die Szene lebendig geworden, dann schreibe ich sie mit sicherer Hand auf das Papier, so reiht sich Szene an Szene, Akt an Akt und bald wird die Komödie fertig sein. Und dann wollen wir ja sehen!«

Ungestört durch irgendwelche andere Pflichten konnte der Dichter dem, was er so schlicht als echt das » Meineidbauer-Werden« nannte, zuschauen, da ihm die Direktion des Theaters an der Wien den Antrag gestellt hatte, ihr gegen einen festen Gehalt von jährlich 1200 Gulden als Theaterdichter jährlich zwei neue Stücke zur Verfügung zu stellen. Und er war auf dieses Anerbieten nicht nur sofort eingegangen, er hatte auch leichten Herzens auf seine (mit 500 Fl. Gehalt und 120 Fl. Quartiergeld besoldete) Stellung bei der Polizei Verzicht geleistet, obgleich sein unmittelbarer Vorgesetzter ihm zu seiner großen Erheiterung dringend zuredete, weiter ein Amt zu versehen, für das er so besondere Fähigkeiten mitbringe. Und noch herzlicher belustigte den Scheidenden ein »Abschieds-Bänkel« seiner bisherigen Genossen: die Herren von der Polizei wünschten ihm nicht nur volles Glück auf der neuen Lebensbahn: sie verhießen ihm auch treues Andenken und – schonungsvolle Behandlung, wenn er späterhin einmal durch allzufreie Meinungsäußerung wieder einmal »dienstlich« mit ihnen zu schaffen kriegen sollte. So war nun Anzengruber, wie er in seiner »nachgeholten Tagebücherei« meinte: – »nichts.« Nichts, müssen wir hinzufügen, als ein Künstler, der ruhelos gleich dem emsigsten Handwerker schaffte und schanzte. Ein Überschuß an Kraft rang nach Bethätigung in ihm: mit Plänen und Entwürfen zu Stücken und Geschichten war er auf Jahre und Jahrzehnte versorgt. Und diese ungemessene Schöpferlust und Schöpferkraft, die Zuversicht, im Leben, in der Litteratur, auf der Bühne ungehemmt seiner Neigung nachgehen, seine Begabung entfalten zu dürfen, erfüllt ihn mit fröhlichem Übermut. In gehalt- und humorvollen Briefen an Rosegger, in welchen er sehr ernst von Kunstfragen, von seinem Liebling Otto Ludwig und dem Unterschied zwischen »Tendenz« und »Entwickelung« in der Dichtung spricht, unterfertigt er sich als »dramatischer Bauernkerl« oder »der Kirchfelder«. Je finsterer die tragischen Gewitter über dem Haupt des »Meineidbauern« aufsteigen, desto munterer werden seine Botschaften an den »edlen Ritter ohne Furcht und Wadel Peter von Rosegger auf Schloß Hautzenbichel bei Knittelfeld«: »Sie sind ein Troglodyte,« neckt Anzengruber seinen »liebenswürdigsten Freund, den nur die Atmungsnotwendigkeit nach den Bergen treibt, während ich, die heiteren Bergeshöhen selbst im Busen tragend, ruhig stubenhocken kann: aber«, so widerlegt er Roseggers Vorwürfe, der nie begriff, daß man jahraus, jahrein die Alpen mied, »wo soll man denn hocken, wenn man schreibt?« Wenn es den Steirer einmal besonders lebhaft verlangte, in Anzengrubers Gesellschaft zu sein, dann scheute er auch im Winter nicht die Fahrt von Graz nach Wien, nur um ein paar Abendstunden mit ihm zu verbringen. Zuerst las ihm der Dichter vor, was er gerade fertig gebracht und »dann währten diese Abendstunden allemal bis zum Morgen.« Auch die große Gesellschaft suchte den Poeten in ihre Kreise zu ziehen: dort aber fühlte er sich, nach seinem eigenen Wort, »so unbehaglich, wie ein Frosch unter einer Luftpumpe«; wer ihn da zufällig in seiner steifen Förmlichkeit sah, konnte sich beiläufig vorstellen, wie er sich ehedem auf der Bühne in Salonrollen benommen haben mag. Desto gemütlicher war und blieb es ihm zeitlebens, nach harter Tagesarbeit den einen und den anderen Abend der Woche mit vertrauten Freunden zu verkneipen. Dabei war er wählerisch, soweit der Charakter, völlig anspruchslos, soweit die Lebensstellung seiner Tischgenossen in Betracht kam. Auf einen Naturmenschen, wie den alten Schum, einen Kanzleidiener der Nationalbank, der jahrzehntelang auf Sonntagswanderungen die Umgebungen Wiens erforschte bis in ihre letzten Winkel, wie kein Zweiter, auf diesen biederen, rüstigen Siebziger, »der ganz Leben und richtiges Verständnis für alle Verhältnisse desselben ist«, fiel nach des Dichters Urteil »ein vollerer, leuchtenderer Strahl aus der Diogenes-Laterne«, als auf ungezählte Leute in Amt und Würden, als auf so manche gespreizte Berufs-Schriftsteller. Von dem »Hackel-Trifolium«, in welchem O. F. Berg das große Wort führte, blieb er rasch weg. Aufrichtig schloß er sich dagegen an Friedrich Schlögl an, der sich gerade in jenen Tagen als schneidiger Sittenschilderer von »Wiener Blut« hervorthat: mit ihm, Ferdinand Kürnberger, Rudolf Falb, dem wackeren Bäckermeister Franz etc. verbrachte er manche angeregte Stunde. Ihm dankte Anzengruber noch späterhin manche erquickliche Beziehung; auch zu einer überraschenden Begegnung oder Wiederbegegnung mit Karl Gründorf gab Schlögl Anlaß. Er fragte Gründorf, ob er Lust habe, den Dichter des »Pfarrers von Kirchfeld« kennen zu lernen und bestellte ihn, da dieser mit Freuden Ja sagte, in die Weinstube von Zett »am Hof«. Gründorf fand sich pünktlich ein: gleich nachher trat der Angekündigte in das Zimmer und damit durchzuckte es Gründorf: »Den Mann kenne ich ja! Anzengruber, damals für das große Publikum noch L. Gruber, trat rasch auf mich zu, reichte mir die Hand und sagte lächelnd: »Ich bin ja der Gruber vom Variétés-Theater, Sie waren ja mein Direktor in der »Neuen Welt«. Im Lauf des Gesprächs fragte ich Anzengruber, ob er mir nicht seinerzeit, als Schauspieler, ein kleines Theaterstück übergeben habe. »Ja, aber Sie haben's nicht aufgeführt.« »Hätten sie darauf geschrieben von »Anzengruber«, so hätt' ich's gewiß aufführen lassen.« Da erhob der Dichter die Hand und sagte mit drohend emporgestrecktem Zeigefinger: »Sie war'n halt auch ein Direktor, der nur die Namen der Autoren gelesen hat!« Schlögl und Anzengruber lachten herzlich; Gründorf aber dachte im Stillen: »Ganz unrecht hat er nicht« und schwieg. Als unbedingt ergebener, zuverlässiger Freund bewährte sich der gutmütige Mann dem Dichter fortan im Leben und über das Grab hinaus: er wurde später sein Trauzeuge und nach Anzengrubers Heimgang waltete er seines schweren und verantwortlichen Ehrenamtes als Kurator und Vormund.

In denselben Tagen besuchte den Dichter, mit einem Empfehlungsschreiben Millöckers ausgerüstet, zum erstenmal auch L. Rosner. Der junge Buchhändler, der für den Verlag seines »Neuen Wiener Theaters« den »Pfarrer von Kirchfeld« erwerben wollte, traf den Dichter daheim:

»Anzengruber bewohnte damals in der Waisenhausgasse mit seiner Mutter zusammen eine ziemlich schmale, kleine Kammer. Die Einrichtung war die bescheidenste, die man sich denken kann. Der Längenseite nach standen rechts und links je ein Bett, dazwischen, gerade der Thür gegenüber, ein Schreibtisch. Alles aus weichem Holze. Über dem Schreibtisch hing eine Aquarellzeichnung, ein Blumenstück darstellend. Als Rosner eintrat, saß der Dichter vor dem Schreibtisch. Er trug einen großgeblümten, ziemlich defekten Schlafrock, rauchte aus einer langen Pfeife und errötete, als er das Anliegen seines Besuchers vernommen. »Bieten Sie mir was«, antwortete er in seiner eigentümlich kurzen, die Worte hervorstoßenden Weise. »Konveniert mir Ihr Anbot, so wird das Geschäft gemacht, konveniert mir Ihr Anbot nicht, so haben wir weiter nichts miteinander zu reden.«

Mutter Anzengruber war mittlerweile zum Fenster gegangen, weniger, um die Aussicht zu genießen, als um Rosner mit ihren klugen Augen besser betrachten zu können. Rosners Vorschläge (auch sein Gedanke, Laubes Aufsatz in der Buchausgabe mitabzudrucken) sagten Anzengruber durchweg zu und damit begann eine mehr als zehn Jahre währende Geschäftsverbindung, in welcher der Autor dem Verleger nur den einen Vorwurf zu machen hatte: daß er sich mehr von seiner freundschaftlichen Gesinnung, als von seinem Vorteil leiten lasse. Indessen war auch der Abend der ersten Aufführung des » Meineidbauer« (9. Dezember 1871) herangerückt, der abermals einen vollen Sieg brachte. Die Kritik, allen voran Rosegger, stellte das Werk über den »Pfarrer von Kirchfeld«: der äußere Kassenerfolg war weniger nachhaltig, doch noch immer so ausgiebig, daß vierzehn Vorstellungen in ununterbrochener Reihe stattfinden konnten. Die begeisterte Aufnahme, welche die mächtige Dichtung zumal bei den Kennern fand, that dem Poeten im Innersten wohl und beflügelte ihn zu neuer Thätigkeit; daß er gleichwohl bei allem Dank für enthusiastische Parteinahme wenig Gefallen fand an Vergleichen mit Shakespeare, die schon dazumal laut wurden, gereicht seinem Geschmack und seiner Bescheidenheit zur Ehre. Das Jahr 1872 ist eines der arbeit- und erfolgreichsten des Dichters: vom 6. April bis 3. Juni brachte er seine » Kreuzelschreiber« (ursprünglich: Der gelbe Hof) fertig; vom 17. Juni bis 15. August schrieb er das Schauspiel Elfriede; im November den ersten Akt einer Tragödie Bertha von Frankreich; daneben fand er noch Zeit, als Erzähler die Novellette Früher Tod für die Dioskuren, die Dorfgeschichte Gänseliesel für Roseggers Volkskalender zu vollenden. Und nach dem glänzenden Sieg, den die Kreuzelschreiber davontrugen, fühlte er sich noch angeregt, ein Volksstück: Der Defraudant zu beginnen, das er hinterdrein nicht ausführte. Im Jänner 1873 vollendete er sein erstes Wiener Volksstück: Die Tochter des Wucherers, eine Weile lang lieferte er auch Scherzgedichte für die »Humoristischen Blätter«. Vertraute Freunde wußten ihn über und über beschäftigt mit Plänen zu neuen Dramen, Volksstücken und Erzählungen: da wurden auch sie durch die Zeitungsnachricht überrascht: Anzengruber habe sich am 11. Mai mit Fräulein Adelinde Lipka vermählt. Nur sein nächster Verwandter, Dr. v. Holzinger, und Karl Gründorf, die der Dichter vier Tage vorher zu seinen Beiständen gewählt hatte, wußten von seinem Vorhaben. Die sechzehnjährige Braut war die Tochter des Rechnungsrates Lipka, eines (1864 verstorbenen) Kollegen von Anzengrubers Vater; die Witwen hatten die alte Beziehung aufrecht erhalten; der ältere Bruder Franz Lipka war der liebste Jugendgespiele unseres Dichters gewesen; mit ihm hatte er die ersten theatralischen Versuche in Meidling gewagt; Franz Lipka war sein Vertrauter geblieben während seiner Wanderjahre; ihm hatte er Kenntnis gegeben von all seinen Erfahrungen und Enttäuschungen; ihm zeigte er am liebsten seine Erstlinge; Franz Lipka sandte er, wie zuvor mit soviel zurückgewiesenen Stücken zu soviel Wiener Direktoren, auch mit dem Manuskript des »Pfarrers« in die Kanzlei des Theaters an der Wien. Und Franz Lipka erwiderte Freundschaft mit Freundschaft, Vertrauen mit Vertrauen. Nimmermüde willfahrte er jedem Wunsch von Mutter und Sohn Anzengruber. Hilfreich bot er ihnen in der Zeit ihrer schwersten Not als allerdings höchst bescheidenes Absteigequartier eine Kammer in der Wohnung seiner Mutter; im Hause Lipka wohnten denn auch noch Mutter und Sohn Anzengruber als Aftermieter zur Zeit der ersten Aufführung des »Pfarrers von Kirchfeld«. Der Dichter hatte seine kleine Braut von Kind auf gekannt und in früheren Tagen mit dem scherzhaften Versprechen von »Seidentücherln« und »Petersilienkränzen« geneckt. Dazumal war die Kleine in leidlich guten Verhältnissen gewesen. Ihrer Großmutter hatte das sog. Kyrie-eleison-Haus in Matzleinsdorf gehört. Der Vater war ein gelehrter Dilettant, ein weltfremder Sonderling gewesen, ein Bücherwurm, der während der Beschießung Wiens in den Oktobertagen 1848 im Kugelregen herumgelaufen war mit dem verzweifelten Ausruf, wenn die Hofbibliothek in Brand gerate, wolle er nicht weiter leben. Die Mutter, eine geborene von Hauenthal, war dagegen desto weltlicher gesinnt. Verschwenderisch verspielte und vergeudete sie ihre Habe, bis sie nach dem Tode ihres Mannes soweit herabkam, für sich und Adelinde als Unterkunft den Keller eines Fragners mieten zu müssen. Aus solcher Bedrängnis zog Anzengruber Mutter und Tochter Lipka gleich nach seinem ersten Erfolge als Bühnendichter. Er nahm ihnen eine bessere Wohnung, ließ Adelinde eine Weile in einem städtischen Pensionat in der Kantgasse unterrichten und warb nun um die Sechzehnjährige. Seine Mutter, die schon den Todeskeim in sich trug, widersetzte sich dem Bunde nicht, wenn sie auch durch die Wahl der Braut einigermaßen überrascht schien. Der Dichter aber, der fortan für einen regelrechten Hausstand zu sorgen hatte, spannte seine volle Kraft an, um seiner jungen, gehätschelten Frau jeden Wunsch zu erfüllen. Viel Worte machen war seine Sache nicht; wie ernst er jedoch in der Stille auf ihr Wohl bedacht, wie geartet das Verhältnis der Beiden von Anfang an war, darüber hat der Dichter, vielleicht unbewußt, in der Novelle: Sein Spielzeug aufschlußreiche Winke gegeben. Prüfungen auf Prüfungen waren dem jungen Ehepaar beschieden, das seine Flitterwochen in Breitenfurt verlebte. Die Mutter Anzengrubers wurde zusehends kränker und ihr zuliebe übersiedelte im September 1873 die ganze Familie nach Wölkersdorf in die Heilanstalt des Dr. Hebentanz für ein volles Jahr. Die Arbeiten, welche der Dichter zunächst vornahm oder zur Aufführung brachte, gefielen bald der Kritik, bald den Zuschauern nicht ganz: ein weitgediehenes Volksstück » Da Onkl« (– die erste Gestalt des »Einsam« –) vernichtete der Poet; ein anderes: Tartuffes Erben kam nicht über die ersten Anfänge hinaus. Einer der wenigen frohen Tage des Jahres 1873 war der 16. September, den er bei der in Mürzzuschlag gefeierten silbernen Hochzeit von Friedrich Schlögl im Kreise von lieben Freunden verbrachte. Die erste Aufführung der Tochter des Wucherers (17. Oktober) endete mit einem halben Mißerfolg; die Kritik ging mit dem Dichter überstreng ins Gericht; die Direktion setzte das Stück nach drei Vorstellungen, die eine Einnahme von 6000 Gulden eingebracht hatten, vorzeitig ab. Und dieses ungerechtfertigte Vorgehen führte zur ersten Entfremdung zwischen einem Poeten und einer Theaterleitung, die einander so viel Dank schuldig geworden waren. Ganz unvorbereitet traf den Dichter dieser Ausgang nicht:

»Die Tochter des Wucherers ist fertig,« so schrieb Anzengruber schon dreiviertel Jahre vor der ersten Vorstellung an Friedrich Schlögl, »und erfährt einstweilen von meinen Freunden eine abfällige Kritik. Seit die Shakespeare-Vergleiche zunehmen, seit S. Heller in der Deutschen Zeitung mich mit der grauen und »angrawleten« Zeit in Rapport gesetzt hat, seither ist der Teufel los; ich soll nur »Klassisches« produzieren – ach du lieber Gott, meinen die Leute, ich soll nur Bauernkomödien schreiben? Lieber Himmel, wenn der gute Gott will, so kann ich ja ebenso gut einmal auch eine miserable Bauernkomödie schreiben, als ein miserables anderes Stück. Diese vielbesprochenen Bauernkomödien sind nur aus dem Grunde Komödien mit Bauern geworden, weil sich derlei Konflikte in der Stadt in sehr unpoetischem Lichte zeigen würden. Und warum soll ich denn anfangen, statt lustig zu produzieren und wenn es einmal auch ein schwächeres Geisteskind wird, mit Nebelbildern Ironisches zu treiben? Ich muß gestehen, abgesehen davon, daß auch das ärmere Kind meiner Muse mich den Vater doch durch einige Tantiemen unterstützt, hat die Sache einen ernsteren, ich möchte sagen pathologischen, psychiatrischen Hintergrund. Gestalten, Konflikte, wie in meinen bisherigen Stücken wachsen nicht wie Brombeeren. Begeistert, mühelos gefunden, begeistern sie wieder; aber sich mit »Huß! Huß!« und »Such! Such!« auf die Bahn des Ruhmes nach Außerordentlichem und Außerordentlichstem zu hetzen zu wollen, das ist etwas gefahrvoll! Wir haben es an vielen reichbegabten Naturen gesehen, wohin es führt, immer auf das »Klassische« zu sein. Kleist, Grabbe, Lenz u. a. m. illustrieren das Kapitel. Ich möchte gern geistig und körperlich gesund bleiben, etwas Geld dabei verdienen und wenn ich eine Offenbarung habe, dann werde ich sie der Welt nicht vorenthalten, dieselbe in den Stunden der Weihe niederschreiben, wie ich es bisher gethan. Nur zum Propheten von Profession möge man mich nicht machen.«

Als dann das Stück wirklich abfiel, erforschte und erkannte er in einer unbefangenen Selbstkritik die Gebrechen, aber auch die Eigenheiten seines Werkes so gut als irgendeiner; die schadenfrohe Härte, mit welcher der eine und der andere Rezensent ihn (wie dazumal gerade auch Wilbrandt) wegen eines Mißgriffes nach so vielen Meistergriffen gleich einem »litterarischen Bettler« abfertigte, belustigte ihn mehr, als sie ihn verdroß: »ich habe also einmal meinen Feinden eine kleine Freude gemacht«, schrieb er an Schlögl, »thut nichts, soll nicht zu lange währen, diese Freude.« Beharrlich und stetig ging er seinen Weg: vom 2. bis 16. April des nächsten Jahres 1874 vollendete er den G'wissenswurm, vielleicht seine rundeste Komödie; im Lauf desselben Sommers brachte er sein Trauerspiel Hand und Herz zu Ende; im November und Dezember desselben Jahres schrieb er den ersten Akt von Doppelselbstmord. Häusliche, tief und schmerzlich empfundene Drangsale – seine Frau hatte am 27. August ein totes Kind zur Welt gebracht und schwere Fraisenanfälle durchgemacht; der Zustand seiner armen Mutter hatte sich immer schmerzvoller und hoffnungsloser gestaltet – dämpften seinen Eifer so wenig, wie äußere Erfolge und Mißerfolge. Die erste Vorstellung des »G'wissenswurm« (am 12. September 1874) fand vor halbleerem Hause statt. Das Werk entzückte die Zuschauer durch seinen einzigen Humor, nicht minder aber durch die Vortrefflichkeit einer Darstellung, die von der wichtigsten Hauptrolle bis zur unscheinbarsten Episode die Vollendung selbst war. Martinelli (Grillhofer), die Geistinger (Horlacherlies), Friese (Dusterer), Rott (Poltner), Schreiber (Fuhrknecht Leonhardt), Herzog (Bäuerin), Szika (Wastel), Jäger und Romani als strumpfstrickende Bursche waren jeder für sich und alle zusammen genau das, was der Dichter gewollt hatte; er, der sonst so Theaterscheue, war denn auch mehr als einmal in einer Loge zugegen, nur um den Genuß dieser schauspielerischen Wunderleistung behaglich auszukosten. Große Kassenerfolge sollten aber auch dem »G'wissenswurm« nicht beschieden sein, in jenen Tagen, da die Nachwirkungen des Krachs den Bürger- und Mittelstand heimsuchten. Und geradezu vorsätzlich wurde im Stadttheater Hand und Herz zu Grunde gerichtet: (eine Tragödie, welcher durch ihr Ankämpfen gegen die katholische Satzung der Unlöslichkeit der Ehe das Burgtheater verschlossen bleiben mußte). Der damalige Leiter dieser Bühne setzte die erste Vorstellung des Trauerspieles auf den Sylvesterabend an und als das Werk trotz der Festlaune des Publikums durch seine eherne, aber überzeugende Strenge den Anteil der Zuschauer weckte, unterbrach Direktor Lobe die Aufführungen am Neujahrs- und dem folgenden Feiertag. Er »mordete das Stück absichtlich«, wie Anzengruber glaubte, aus persönlicher Gereiztheit gegen den Dichter, mit dem er auf einer Probe einen Streit hatte beginnen wollen: ein fast aussichtsloses Unternehmen; denn im Gegensatz zu Raimund, der sich und dem infolgedessen auch die anderen auf der Probe nie genugthun konnten, war und blieb Anzengruber nach dem Urteil vielerfahrener und abgehärteter Regisseure der friedliebendste, schweigsamste aller Theaterdichter. »Wohlthuend und erquickend«, so schreibt mir Herr Liebold, der die meisten Stücke des Dichters im Theater an der Wien inszenierte, »war Anzengrubers freundliche Ruhe bei diesen Proben. Da gab es keine fieberhafte Aufregung, da lief alles so glatt und ruhig ab. Es war ein Vergnügen, mit dem bescheidenen, liebenswürdigen, echten Volksdichter zu arbeiten.« Niemals hat er in Besetzungs- oder Inszenierungs-Fragen ungefragt sich eingemengt: immer nur, dann aber willig und mit vollem Eingehen auf jede Wendung, Darstellern, die seinen Rat einholten, ihre Rollen vorgelesen.

Wieder hielt sich der Dichter für die neue Enttäuschung durch eine neue Arbeit schadlos: schon am 26. Jänner 1875 lag Doppelselbstmord bis zum letzten Strich fertig vor ihm und noch in demselben Monat ging er an die Dramatisierung eines neuen Werkes. Nun aber verschlimmerte sich das Leiden seiner Mutter abermals und alsbald war ihr Zustand verzweifelt:

»Ich und meine Frau,« so schrieb er am 27. Februar seiner Cousine, Frau v. Holzinger, »haben nun etwa sieben Tage und Nächte der aufregendsten Pein verbracht, heute nach einer etwas ruhigeren Nacht schreibe ich Dir und ich bitte Dich, da ich weiß, welchen Anteil Du an dem Gegenstande meiner Sorge nimmst, auch Dich in Geduld zu fassen, wie ich mich bereits ganz stumpf gefürchtet und gehofft habe. Bei der Mutter stellte sich letzte Zeit Atemnot ein bis zu Erstickungsanfällen, eine Punktation war Notwendigkeit geworden, dieselbe ward Mittwoch vollzogen und hatte erst nur Qual und Schmerz zum Ergebnis, jetzt tritt Erschöpfung ein, es dürfte nach ärztlichem Ausspruch nur noch eine Frage von Tagen sein. – Ich habe nur mehr einen einzigen Wunsch, daß der Tod meiner Mutter durch Entkräftung, das ist dann durch Einschlafen, eintritt. Was sie gelitten, hat mir das Herz blutig gerissen, ich wünsche nur Erlösung, Ruhe, Friede für sie – der ganzen Größe des Verlustes gegenüber, der mir auf dem Herzen liegt, ich kann nichts anderes wünschen. – Nochmals, erschrecke nur nicht zu viel und wenn Du kommst, so sei gefaßt und ruhig – versparen wir uns das andere bis auf das Letzte – ich schreibe etwas konfus, aber ich halte mich für entschuldigt, nicht wahr –«

Die grausigen Eindrücke jener Tage hat Anzengruber zeitlebens nicht mehr abzuschütteln vermocht: »ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen«, sprach die arme alte Frau und faltete die mageren Hände bittend; »ich bitte Sie, lassen Sie mich,« sagte sie ängstlich zu dem Arzte, der eine Operation vorschlug. »Ja, es giebt eben solche Gefühle von herzbedrückender Wehmut, das uns nichts lehrt, als unsere Ohnmacht, mit der wir herzbrechendem Unsinn, dummen Gewalten wehrlos gegenüberstehen und dieses Gefühl will keiner reproduzieren. Und doch, ich halte es fest. Leidet mit oder ersinnt mir eine Ausflucht, da herauszukommen.« Sie verlangte nach dem Spiegel: »Das muß über mich kommen.« Ich weinte laut auf – das erstemal, seit ich Mann war. »Sei ruhig, ich kann mir schon vorstellen, wie Dir sein wird.« So, aber so nicht (solltest Du versterben) … Ich weiß nicht, was ich rede … »Sei froh, daß Du kein schwer Krankes gehabt.« Ich bat sie um Verzeihung, da ich gegen sie die Geduld verlor: ich rannte durch das Zimmer – verzweifelnd. Mitten in der Nacht verlangte sie nach Kaffee, den ich ihr kochte. »Ludwig,« rief sie, so kräftig sie es vermochte, um mich zu wecken. Diese Gefühle thaten mir weh als Vorboten. »Wie gern hätte ich der Sterbenden noch alles vor dem Abschiede gesagt, aber da wehrte es sich in mir, ihr damit zu sagen: Du stirbst – es spielten sich die letzten Tage voll widerlicher, alltäglicher Störungen und Vorkommnisse ab und dann war sie dahin, ich hatte ihr nichts gesagt, nichts, was mir das Herz preßte – das unaussprechliche Gefühl all des Dankes und der Liebe – da riß es mich plötzlich hin, unbewußt drückte ich einen Kuß auf ihre erkaltete Hand – einen heiligen Kuß – ach, sie fühlte ihn nicht mehr.« »Am 2. März 1875, ½2 Uhr nachmittags (Dienstag) starb meine Mutter nach zurückgelegtem 69. Jahre. Ruhig. Ohne Kampf. Segen ihrem Angedenken«: heißt es im Kalender Anzengrubers. »Blumen waren ihre letzte Phantasie: »Fort möcht ich, fort – Du hast mir viel Freude gemacht – Ich weiß ja nimmer, was ich rede – Du hast mir viel Freude gemacht – Du hast mir nicht weh gethan – Ich bin da und wo anders –.«

Jedes ihrer letzten Worte, jeden ihrer letzten Charakterzüge hat er sich im Laufe der Jahre immer wieder vergegenwärtigt: »Noch tönt die Stimme nach, wie in der Luft. Was sprach aus Dir, Du nunmehr ewig Stumme – die Liebe, Mutterliebe, mein Teil, mein ureigen, ewig unendlich Teil Liebe, das die Welt mir bot.« »Ich habe nicht nur das Weib, das mich geboren, die Mutter, die für mich Unmündigen gesorgt –« so schrieb er Rosegger ein paar Monate nachher – »ich habe meine beste Freundin verloren, ein Stück meines Herzens, meiner Seele.« Die einzige Widmung, die er jemals vorhatte, galt seiner Mutter: auf das Titelblatt seiner »Bertha von Frankreich« wollte er die Verse setzen: »Und so geschah's wie du geahnt, du meines Schaffens trautester Gefährte, nun lege leis und zitternd ich die Hand auf deines Grabes lose heilige Erde.« Wie tief dieser größte Schmerz seines Lebens nachzitterte, das erfuhren jüngere Freunde, wenn ein ähnlicher Verlust sie traf. Als er bei der Leiche von Chiavaccis Mutter in der Kirche erschien, durchschütterte den sonst äußerlich so strammen, fast schroff auf sich selbst gestellten Mann krampfhaftes Schluchzen, derart, daß er kein Wort hervorzubringen vermochte. Einem anderen Bekannten schrieb er:

 

Penzing, d. 27./8. 1886.

Mein verehrter, armer Freund! Ihre Trauerbotschaft fand ich bei meiner Rückkehr von Millstadt vor. Sie wissen, daß ich teil an Ihnen nehme und ich weiß es, daß Sie sich ganz unter demselben Schmerze krümmen – gebrauchen wir kein anderes Wort dafür – wie ich mich seinerzeit. Und das wissen wir Beide, daß dagegen weder mit Phrasen, noch mit gutgemeinten Worten aufzukommen ist.

Als ich mich einst aus der ersten Betäubung aufraffte, da wiederholte ich unzählige Male, das Bild meiner Mutter in der Hand, die Worte: »Ehre sei Deinem Angedenken!« Ein Nachruf, auf den sich Ihre Heimgegangene volles Recht erworben hat.

Sie sehen, ich werte unsere Verluste und unsere Empfindungen ganz gleich und so darf ich denn wohl aufrichtig sagen: es ist mir recht hart geschehen um Sie! Mit wehmütigem Gruß Ihr

L. Anzengruber.


Lebenskalender. »Böses Jahr, böse Zeit.« Der Roman des »Schandfleck«.

In knappen Kalender-Einträgen faßte Anzengruber lakonisch die wichtigsten Vorfälle seines Lebens vom Jahre 1872-1889 zusammen; in dieser Hauschronik verzeichnet er Geburt, Krankheit oder Tod der Kinder, der leibhaftigen wie der geistigen; Beginn und Abschluß seiner meisten Dichtungen; Daten erster Aufführungen neuer Stücke oder oft nach monatelanger Arbeit die trockene Randbemerkung »verbrannt«. Zu Ende des Jahres aber zieht er regelmäßig die Summe seiner Leistungen: soundsoviel »Stücke, Geschichten, Kleinigkeiten«, wie etwa ein tüchtiger Landwirt gewissenhaft das Heimgebrachte an Feldfrüchten, das Erträgnis seiner Weinberge etc. überzählt. Es ist ein Hauptbuch rastloser Thätigkeit, ruheloser Sorge, unbegrenzter Sorgfalt für das Wohl und das Wohlergehen der Seinigen; in diesem wortkargen Lebensbericht liegt eine Welt von Künstlermühen, eine Welt auch von verschwiegenen Schmerzen beschlossen. »Mir fehlt meine Heimgegangene allüberall«, so schreibt er Rosegger im Juli 1875, »ich brüte dahin und bin auf dem besten Wege gemütskrank zu werden, ich kann nicht arbeiten und sonst zerstreut mich nichts«. Wohl rang er sich in diesem Frühjahr die verheißene Kalendergeschichte (Diebs-Annele) ab. Allein eine Erholungsreise, die er im Juli antrat nach neuen häuslichen Wirren (seine Frau gebar am 13. Juni ein Mädchen, das noch an demselben Tage starb) stimmte ihn noch schwermütiger; er hatte Stätten besucht, an denen er als Schauspieler mit seiner Mutter gedarbt und gehofft hatte; am 30. Juli war er fortgefahren, am 2. August schon kehrte er wieder heim. Ein neues Stück, das er vornahm: »Ein gewiegter Kopf« vernichtete er, nachdem er es bis zur letzten Scene abgeschlossen hatte: »ich leide unter einer Verstimmung, man könnte sie eine »großstädtische« heißen, alle Talentlosigkeit ist mir um eine Nasenlänge vor, meine Verhältnisse verschlechtern sich«, so bekennt er dem Grazer Freund im September, »Andere verstehen es doch besser; es ist eine wahre Anmaßung für das Gesunde, das Echte und Rechte sich einzusetzen: man hat nichts als Anfeindungen davon. Ich weiß nicht«, so klagt er an dem »bitteren Sylvester« dieses Jahres, »die letzte Zeit peitscht mich ein unruhiger Geist rastlos von Plan zu Plan, Ort zu Ort, ich finde nicht Halt, noch Ruhe, dabei kommt aber gar nichts weiter. Ich bin sehr neugierig, was das neue Jahr dem Staat, dem Lande, der Stadt, meiner Theaterdirektion bringt, was es mir bringt: so grob wie das vorgehende kann es mir nicht mehr mitspielen, mein Freund, Ihnen wohl auch nicht (Rosegger hatte seine Frau verloren). Es ist genug, daß ich für meine Person das kommende Jahr nicht fürchte, daß ich nichts von ihm hoffe. Was könnte es mir bringen, darüber ich mich recht aus Herzensgrund freuen könnte? ich wüßte nicht was.« Und übel genug begann gleich das Jahr 1876: nach drei Vorstellungen setzte die Direktion des Theaters an der Wien » Doppelselbstmord« ab, obgleich die Presse dem überlegenen Humor der feinen Komödie verdiente Auszeichnung zuteil werden ließ: »wozu schreibt man eigentlich Volksstücke«? fragte er Rosegger. »Die Direktionen verlangen Kassastücke und ein »Volk«, das sich um die Volksstücke bekümmert, giebt es hierorts nicht – also wozu der Liebe Müh'?« »Heute«, so schreibt er Schlögl am 12. Februar 1876, »begraben wir den alten Rott: es wird somit bald keine Schauspieler und kein Publikum für Volksstücke mehr geben und sohin die größte Dummheit sein, Volksstücke schreiben zu wollen.« Stoßseufzer der Art bekommen nur die vertrautesten Freunde zu hören: denn Anzengruber war und wurde nie eine klagende Natur. Thatkräftig nahm er sein auch während seiner glänzendsten Theatererfolge niemals vernachlässigtes Wirken als Erzähler wieder auf; vom 23. Februar bis 25. August 1876 schrieb er seinen ersten großen Dorf-Roman: » Der Schandfleck«, zunächst für das neu als Trutzblatt der dazumal in Österreich verbotenen »Gartenlaube« gegründete Familienblatt: »Die Heimat«. Und die mächtige Schöpfung fand gleich einen großen, dankbaren Leserkreis, wiewohl das jähe Absinken des zweiten, in Wien spielenden Teiles Emanuel Geibel dermaßen auffiel, daß er meinte: eine fremde Hand habe das Werk zu Ende gebracht. In gewissem Sinne war dem auch so: Anzengruber war von der Redaktion der »Heimat« zu dieser, seinem ursprünglichen Plane ferne liegenden, Wendung bestimmt worden: zur verdrießlichen Überraschung jedes Kenners. Als Berthold Auerbach das Buch in die Hand bekam, nannte er es »sehr bedeutend in Einzelheiten, von großer plastischer Kraft, von da, wo die Geschichte ins Stadtleben einmündet, unbegreiflich abgeschmackt.« Der edle Mann, der es späterhin dem Dichter in vornehmster, großmütigster Weise ermöglichen sollte, sein Werk im Sinne des ersten Entwurfes wieder vorzunehmen, trat ihm gerade in denselben Tagen zum erstenmale, zunächst in brieflichem Verkehr, entgegen. Es war das der Ästhetiker Professor Wilhelm Bolin in Helsingfors, der neben seiner streng wissenschaftlichen Thätigkeit als Philosoph lange Zeit Liebhabereien als Dramatiker nachging, bis er im Jahre 1876 Anzengrubers Werke kennen lernte: »ich wurde davon – so schrieb er mir – mächtig ergriffen, so mächtig, daß mir die Einsicht ward, ich würde es mit meinen dramatischen Velleitäten nie zu etwas Rechtem bringen.« Einen Lieblingsplan, den Entwurf zu einem dramatischen Märchen, dessen Motiv Shakespeares »Timon von Athen« entlehnt war, hätte Bolin aber gleichwohl gern von Meisterhand ausgeführt gesehen. »Fest entschlossen, all seine dramatischen Gelüste sich aus dem Sinn zu schlagen,« wandte er sich »unbekannter Weise« an Anzengruber am 12. Oktober mit der Anfrage, ob er von seinem (einläßlich entwickelten) Vorwurf Gebrauch machen wolle und Anzengruber erwiderte schon am 29. Oktober: »Ihr Brief hat mich sehr angeregt. Vollkommen richtig ist, daß ein Timon, der sich von solchen »Freunden«, über die man gar nicht im Zweifel sein kann, erst enttäuschen lassen muß, eigentlich ein komischer Held sein müßte, mithin der Shakespearesche, als tragischer, eine ziemlich bedenkliche Erscheinung ist. Ob Sie ihm je begegnen werden, als dem komisch adjustierten Helden eines Stückes, das ich schreibe, weiß ich wohl nicht zu sagen.« Einstweilen war der Dichter, der kurz zuvor (5. Juni) Vater eines gesunden Jungen (seines ältesten Sohnes Karl) geworden war, eifrig mit der Vollendung eines neuen Volksstückes beschäftigt: Ein Geschworener. Und als ihm das im Oktober begonnene und abgeschlossene Werk nicht gefiel, verbrannte er es kurzweg und brachte vom 22. November bis 30. Dezember eines seiner kraftvollsten Schauspiele fertig: Der ledige Hof. Vier Wochen später, am 27. Jänner 1877, erlebte das Stück seine erste Aufführung im Theater an der Wien; aber die Honigwochen seiner Verbindung mit dieser Bühne waren vorbei: »es ist jetzt«, so meldete er Rosegger anfangs März, »eine dermaßen hundeelende Zeit, daß es Einem verdrießt zu produzieren: der ledige Hof ist nur mit etwas solennerem Conduct zu Grabe getragen worden, als Doppelselbstmord: dieser lebte vier, jener acht Tage: mit dem nächsten Stücke habe ich daher Hoffnung auf sechzehnmale zu kommen. Die Direktion scheint ganz recht daran gethan zu haben, denn das Publikum lief darauf in das »Blitzmädel« hinein, das jedenfalls unterhaltlicher und ohne tragische Anläufe ist.« Es wäre nicht unbegreiflich gewesen, wenn der Poet in seinem Unmut über die launische Art der Bühnenmenschen und Theatergänger schon dazumal vom Volksschauspiel sich abgekehrt hätte; denn gerade damals drängte ihn Paul Lindau um Beiträge für »Nord und Süd« und seine Geschichten zur Psychologie der Bauern: »Wie der Huber ungläubig ward« und »der gottüberlegene Jakob« (März und Juni 1877) wurden mit gleichem Jubel aufgenommen von der Masse, wie von einem Allerberufensten: Turgenjew. Allein noch immer hielt Anzengruber die Bühne für seine eigentliche Heimat. Mit einer Regsamkeit und Spannkraft, die man nur bewundern, nicht begreifen kann, schrieb er als neugeworbener Theaterdichter Franz Jauners in Preßbaum sein die Arbeiterfrage streifendes Volksstück: Ein Faustschlag (September) und für Eduard Dorn, den damaligen Leiter des Theaters in der Josefstadt: Das vierte Gebot (November 1877). Und als Jauner Bedenken trug, den »Faustschlag« aufzuführen, stellte er die (im Februar 1878) entstandene Bauernposse: Das Jungferngift zur Verfügung. Im Juni desselben Jahres vollendete er Die Trutzige (deren Hauptrolle für die Gallmeyer bestimmt war), im Juli für das Ringtheater das Volksstück: Alte Wiener. Sehr begreiflich, daß er dazumal Rosegger, der ihn wieder einmal um Beiträge für den »Heimgarten« anging, den Bescheid erteilen mußte:

»Ich atme nicht, ich bin jetzt Schreibmaschine, dramatische Schreibmaschine, ich habe nichts als Konflikte in der Seele, Figuren im Kopfe, seelenerschütternde Reden im Herzen und anderserschütternde in der Gegend des Zwerchfells. Was hilft Sie alle Zudringlichkeit mir gegenüber? was die Pistole, wenn ich nichts Kleines bei mir habe? Ich weiß vor Arbeit nicht, wo mir der Kopf steht, oder manchmal zu gut, wenn er mir weh thut.« »Sie fragen sehr naiv«, so heißt es in einem Brief vom 21. September 1878, »wie man in ein Bad gehen kann: das wäre das Letzte, was Sie zu thun wüßten. Allerdings ich ging auch nur hin, als Einer, der hingehört, weil er krank ist. Bleiben Sie hübsch gesund.«

Anzengruber war von seinem Arzt nach Marienbad geschickt worden, wo er mit der Gallmeyer und Ada Christen zusammentraf. Als er im September heimkehrte, bereitete ihm die Aufnahme der »Alten Wiener« und der »Trutzigen« sowenig nachhaltige Freude, als die vorangegangenen ersten Vorstellungen des von der Censur verstümmelten »Vierten Gebot« und des vom Publikum wenig besuchten »Jungferngift«. Völlig unerwartet kam ihm dagegen im November 1878 aus Berlin der Schillerpreis von 3400 Mark, der ihm auf Antrag von Dr. August Förster verliehen worden war. Wilhelm Scherer würdigte dazumal das dramatische Wirken des Landsmannes in seinem ursprünglich in der Deutschen Rundschau erschienenen (1893 in den Kleinen Schriften wiederholten) Aufsatze »Die Schillerpreise«, der mit das Wahrste und Wärmste bleibt, was jemals über Anzengruber gesagt wurde. Die Wiener »Konkordia« veranstaltete ihm und den gleichzeitig mit ihm preisgekrönten, gleich ihm in Wien wohnenden Dichtern Nissel und Wilbrandt am 7. Dezember ein Bankett im Prachtsaal des Grand-Hôtel, bei welchem Unterrichtsminister Stremayr, Schauspieler, Schriftsteller, Studenten etc. zur Stelle waren. Anzengruber, der nie ein großer Redner war, hielt seine Danksagung nicht im Jubelton:

»Ich bin nun acht Jahre dramatischer Schriftsteller und die ganze Zeit hindurch hat mich die hiesige Kritik kräftigst gefördert. Daß ich ihr dafür Dank schulde, wird gewiß jeder Strebende wissen. Ohne Erfolg ermattet der Geist, ohne Erfolg läßt man die Werkzeuge sinken. Der pekuniäre Erfolg ist bei mir allerdings abseits geblieben und das ist für einen Volksdichter sehr maßgebend, denn es zeigt sich doch auch in den Tantièmen, wie die Massen des Volkes ins Theater sich drängen. Der Volksschriftsteller soll die Gebildeten nicht langweilen, aber das Volk nicht daneben sitzen lassen. Er soll also in zwei Sätteln gerecht sein. Ich habe mir dies immer angelegen sein lassen und erreicht, was erreichbar war. Das Erreichte danke ich wesentlich der Förderung der Kritik und das will ich hier anerkennen. Die Massen kommen langsam, Schritt für Schritt ins Theater und daher wäre mir ohne diese Förderung wohl längst der Mut gesunken. Ich freue mich, heute Allen, die mich so sehr gefördert, sagen zu können: Sie brauchen kein Wort zurückzunehmen, denn ich habe heute auch von Norddeutschland mein gutes Schulzeugnis heimgebracht. Allen, die mich in meinem Streben so kräftig unterstützt, ein Lebehoch!«

Mehr als Einen befremdete die herbe Nüchternheit dieser Sprache bei einem Künstler, der ebensowenig ein Geschäftsmann war, wie Moriz von Schwind. Und doch hatte auch dieser Romantiker für einen Schwärmer, der ihn, angesichts einer Ausstellung von Modebildern, erst recht für den größten Maler der Zeit erklärte, die gesalzene Antwort bereit: »Der größte Maler ist Der, dessen Werke am meisten gekauft und am besten bezahlt werden.« Anzengruber beschwerte sich nie darüber, daß Pfuscher und Kaufleute Reichtümer erwarben: er klagte auch nicht, daß er in kleinbürgerlichen Verhältnissen in seiner »Wachtstube in der Hofmühlgasse am übeldunstenden Wienflusse«, schanzend wie ein Tagewerker, nur durch die angestrengteste Arbeit sich und die Seinigen knapp durchbringen konnte; sein Schmerz war, daß er zusehends mehr von der Bühne, von seinem eigentlichen Beruf als Dramatiker abgedrängt wurde. Trotz aller persönlichen Sorge war er aber doch immer gerne und willig hilfreich; kein alter »Götterbruder« klopfte umsonst an seine Thür; jahraus jahrein holten Bedürftige (und nicht blos Bedürftige) Unterstützungen von Anzengruber. Und wie ging ihm das Herz auf, als er für die Hinterbliebenen eines Künstlers als Künstler sein Schärflein beisteuern konnte! Die Wiener Künstlergenossenschaft veranstaltete zum Besten der Witwe und der Waisen von Eduard Kurzbauer eine Wohlthätigkeits-Vorstellung: auf ihren Wunsch schrieb Anzengruber den Text zu einem lebenden Bild nach des Meisters »Stürmischer Verlobung«; statt einer Gelegenheitsarbeit ein meisterhaftes dramatisches Genrebild: Die umkehrte Freit'. In Liebe geschaffen, wurde die Dichtung auch mit Liebe aufgenommen: die Künstlerschaft widmete Anzengruber zum Danke ein sinnreich entworfenes, zierlich und launig ausgeführtes Festblatt, dessen Zeichner, Ernst Juch, ein geborener Thüringer, dem Dichter im Laufe der Jahre näher und immer näher kommen sollte. Die zwei Freunde waren einander enger verbunden, als durch Blutsverwandtschaft: die Beiden glichen einander im innersten Wesen; dem goldenen Gemüt, dem satirischen Grundzug, der rauhen Ablehnung jeder Falschmünzerei des Gefühls: zwei Kernmenschen, deren Zusammengehörigkeit ohne viel, ja wohl ohne irgendwelche äußerliche Kundgebungen von Sympathie selbstverständlich schien und blieb. Zum 70. Geburtstag Rudolf Alts überraschte er den Meister des Aquarells nicht nur mit einem feierlichen Festgedicht zu lebenden, nach Motiven des weltberühmten Malers gestellten Bildern: er widmete dem kalauergewaltigen urwienerischen Landsmann ein munteres »Bänkel«, das die Beiden wenn möglich noch inniger verbrüderte als vorher. Nicht minder erquicklich gestaltete sich ein anderes Verhältnis. Professor Bolin, der dem Dichter in Briefen und Kritiken andauernd Beweise außergewöhnlichen Anteils gegeben hatte, kam eigens, um Anzengrubers persönliche Bekanntschaft zu machen, nach Wien und auch mit dem schwedischen Freund fand sich der Dichter rasch und ganz zusammen. Er las ihm während seines ersten, fünf Wochen währenden Aufenthaltes neue Komödien vor, entwickelte ihm den Plan zu dem (ursprünglich als Drama gedachten): »Einsam« und bereitete dem Gast, der auf keiner Bühne Stücke von Anzengruber zu Gesicht bekam, wie er selbst scherzte, wenigstens solcher Art: Anzengruber-Abende. Das Timon-Motiv wurde neu beredet. Der Titel sollte lauten: Welt-Undank, der Held eine Art Don Quixote sein, der stets zwischen äußerstem Wohlwollen und Mißtrauen hin und herschwebt. Und für die Gestalt eines Dieners hatten die Beiden bei ihrer Abendkneipe in Kummers Bierhalle ein drolliges Urbild in einem etwa achtzehnjährigen Negerknaben gefunden, den sie als Gast an einem mit Reisenden besetzten Nebentisch zufällig sahen und mit Genuß beobachteten. Das farbige Kerlchen, das in Triest Deutsch gelernt hatte, schraubte seine Gesellschafter mit schlagfertigem Mutterwitz und seinesgleichen sollte die Abrechnung mit den windigen Schmarotzern des mit überseeischen, unermeßlichen Reichtümern heimkehrenden Timon vorbehalten bleiben. Obwohl es leider nicht zur Ausführung von Weltundank kam, besuchte im Lauf der Jahre Professor Bolin noch siebenmal den Dichter; ein angeregter, gehaltreicher Briefwechsel der Beiden nahm gedeihlichen Fortgang; »ich habe hier zu Wien und Umgebung«, so schrieb Anzengruber am 11. Mai 1879 an Bolin, »keinen Freund, mit dem ich so gern aus dem Tiefsten herausplaudere, wie mit Ihnen, dem Allerweitestentfernten.« Mit zu den brieflich und mündlich besonders lebhaft besprochenen Themen zwischen den Beiden gehörte die Verunstaltung der Grundidee des »Schandfleck«. Anzengruber hatte Bolin gegenüber kein Hehl daraus gemacht, daß der Bruch durch fremden Einfluß in das Werk gekommen und der schwedische Kritiker fühlte sich gedrängt, diesen Sachverhalt in Lindaus »Gegenwart« mitzuteilen.

Zu seiner nicht geringen Überraschung erhielt nun am 9. November 1879 Anzengruber von einem Hamburger Kaufmann, Maas, eine Geldsendung von 500 Gulden mit einem Begleitbrief, in welchem es hieß: unbekannte Verehrer seines Talentes hegten den Wunsch, ihm ein Zeichen ihrer aufrichtigen Verehrung angedeihen zu lassen. Sie wären glücklich, wenn er sich entschließen könnte, den »Schandfleck« in der von ihm ursprünglich beabsichtigten Form herzustellen und seien bereit, ihm einen Betrag von ein paar tausend Gulden zur Verfügung zu stellen, damit er mit voller Muße an die Arbeit gehen könne. Die beigeschlossenen 500 Gulden hätten nur als Anzahlung der ersten Rate zu gelten. Das Anerbieten konnte Anzengruber nicht gelegener kommen: melancholisch hatte er sich eben zuvor in einem Brief an Rosegger als der »jüngste Possendichter Deutschlands« unterfertigt. Er selbst fühlte, daß sein Versuch, einen Wiener Schwank » Aus'm gewohnten G'leis« zum Besten zu geben, nicht geraten sei. Zu dem Knaben war (30. März 1878) ein Mädchen gekommen. Trotzdem zauderte der Dichter anzunehmen. Er vermutete, daß Bolin mit dem Antrage in irgendwelchem Zusammenhange stehe und schrieb deshalb an den Hamburger Mittelsmann: »Ein solches Anbot kommt nicht ohne irgendeinen Anstoß, unvermittelt aus einem Leserkreise, das kommt nicht von einer Anzahl Leser, die blos an dem Autor teilnehmen, das kommt von einer auch dem Menschen befreundeten Seite. Ich denke nun – ich weiß es allerdings nicht, aber ich halte mich berechtigt, es zu denken – ich denke nun, daß ich keinen Freund habe, dem in der fraglichen Angelegenheit selbst allein nur durch die Ergreifung der Initiative nicht ein Opfer auferlegt wäre und ein solches anzunehmen, dazu halte ich mich nicht berechtigt.« Und an demselben Tage schrieb er Bolin von der Aufforderung, die an ihn ergangen, mit der bezeichnenden Wendung: »Entweder: ich sage Ihnen damit etwas Neues und dann Sie hoch Interessierendes oder – ich thu' es nicht etc.« Erst nachdem Kaufmann Maas, wiederum als Wortführer der ungenannten Verehrer, Anzengrubers Bedenken zerstreut und versichert hatte, »daß bei den Auftraggebern keinerlei Opfer vorwalte,« ging der Dichter auf das Angebot ein, dessen Zartgefühl nur das Feingefühl gleichkam, mit welchem die Ungenannten – immer durch die Feder von Kaufmann Maas – Anzengruber beruhigten und ermutigten, wenn durch häusliche Wirren, unvorhergesehene Abhaltungen etc. die Vollendung seiner Arbeit sich wieder verzögerte. Aus freiem Antriebe erhöhten sie das festgesetzte Honorar »in Anbetracht der schweren Zeiten« und als der Poet endlich 1881 die Umarbeitung seines alten Romans in zwei neue (die Umgestaltung der städtischen Motive zu dem selbständigen Buche: Die Kameradin, der auf dem Lande spielenden zu dem Dorfroman Der Schandfleck) melden konnte, begrüßten sie die Übersendung der beiden Werke nicht nur mit begeistertem Lobe: sie baten Anzengruber, »vorkommendenfalls, wenn wieder die Ungunst des Geschickes ihn beträfe, sie auch fernerhin zu betrachten als die thatfreudigsten Freunde seines Talentes.« Wie ernst sie es mit diesen Worten nahmen, wußte niemand besser als der Dichter; noch vor der Ablieferung des »Schandfleck« hatten sie ihm 1000 Gulden angeboten, wenn er die Sterbescene Jakobs im »Meineidbauer« ändern wolle, ein Ansinnen, das der Dichter mit einer eingehenden Begründung, die seinem Charakter, wie seinem künstlerischen Gewissen gleicherweise zur Ehre gereicht, ablehnte. Anzengruber hat zeitlebens nie erfahren, wer seine fürsorglichen Schutzgeister waren. Erst nach dem Tode des Dichters hat mir Professor Bolin eröffnet, daß er es war, der glaubte, sein Honorar für die schwedische Bühnenbearbeitung Shakespeares solcherart am würdigsten zu verwenden. Er hat damit der deutschen Litteratur einen Dienst erwiesen, der ihm unvergessen bleiben soll: für Anzengruber war es überdies Hilfe in der Not. Denn die Posse »Aus'm gewohnten G'leis« wurde – mit Recht – vom Publikum, das – erst 1891 aus dem Nachlaß herausgegebene und dann im Wiener Ausstellungs- und Deutschen Volkstheater siegreiche – Volksstück Brave Leut' vom Grund mit Unrecht von der Geistinger abgelehnt, welcher der Dichter eine Glanzrolle – die Vergegenwärtigung desselben Charakters auf drei Stufen als Mädchen, Frau und Mutter – geschrieben hatte. Nach diesem neuen Beweis der Willkür oder Geringschätzung verzichtete Anzengruber in den Jahren 1880-84 darauf, weiterhin für die Bühne zu wirken. Er gab fortan Skizzen, Dorfgänge, Humoresken, Kalendergeschichten; er trug es gelassen, als er sich (am 7. März 1880) den Fuß brach und ein volles halbes Jahr unfähig wurde, zu arbeiten und zu erwerben; er fand sich darein, daß er ein so urdramatisch gedachtes Motiv, wie den »Einsam«, als Erzählung behandeln mußte (1881); er that nach wie vor seine Pflicht als Künstler und Familienvater; er klagte nicht einmal mehr laut oder leise. In seinen Kalender aber schrieb er am Sylvesterabend 1879: »böse Zeit«, am Sylvesterabend 1880: »böses Jahr«.

Redakteur der »Heimat« und des »Figaro«. Im Penzinger Heim.

»Rein unnötig geworden« für die Wiener Bühnen war Anzengruber, wie er bitter scherzte, nach zehnjährigem künstlerischen Wirken als Dramatiker. »Ich habe nun neun Jahre Schriftstellertum hinter mir, aber nicht die Stellung errungen, die mir erlaubte, ohne Frage nach dem augenblicklichen Erfolge aus dem Vollen heraus produzieren zu dürfen. Ich werde diese Stellung voraussichtlich nie oder erst dann erringen, wenn meine Jahre nicht mehr die sind, welche eine solche Produktion aus dem Vollen zulassen,« schreibt er (1879) Rosegger. »Wenn es einen Menschen giebt«, so beichtet er in demselben Jahre Bolin, »den ich beneide, so ist es der Richard Wagner und wenn es einen zweiten giebt, so ist es der Johann Strauß: diese Leute sind so situiert, daß sie nur thun müssen, was sie nicht lassen können, aber was sie lassen wollen, das müssen sie nicht thun. Bei mir ist das just nicht der Fall: ich muß manches, was ich lassen möchte.« Keine Wiener Bühne wollte oder konnte ihm eine feste Stellung als Theaterdichter bieten: »es ist immer hübsch, als Reformator der Volksbühne begrüßt zu werden, als solcher fort in Geltung zu bleiben und dabei eine so hübsche – Sinekur auszuüben, wie es bei mir der Fall ist: ich führe einen Titel, habe dabei aber nicht die geringste Verrichtung zu besorgen« (heißt es in einem Brief an Bolin vom März 1880). »Auf meinem Tisch,« so meldet er im August 1881 Ada Christen, »liegt ein Brief Teweles, der mich bittet, zum 100jährigen Bestand des Karltheaters einen Prolog oder ein Festspiel zu schreiben. Das hätte vor zehn Jahren kommen sollen, da würde ich noch dazu ein gläubiges, vertrauendes Gesicht geschnitten und wahrscheinlich geglaubt haben, das sei ernst gemeint – jetzt weiß ich nur, daß man mir allerdings kommt, weil man mir kommen muß, denn Langer, der Gelegenheitsdichter par excellence in derlei Angelegenheiten, ist tot, aber ich bin nicht er, er hatte die souveräne Verachtung voraus, zu schreiben, was er sich zusammenlügen mochte; den Viertelstunden-Enthusiasmus wecken, das konnte, das verstand er, und dann wußte er, saß das begeisterte Volk, ebenso wie er bei Pilsner und Lager. Ich glaube nicht an eine Zukunft des Volksstückes, deß wär' ich wett. Ich will daher auch in dem Rahmen dieses Genres nur wenig mehr mitthun. Gegenwärtig bin ich sehr – sehr müde. Zehn Jahre ehrlichen, redlichen Strebens umsonst aufgewandt, da mag man wohl ein bischen tiefaufatmend stille halten. Der Geschmack des Publikums. Pah! In der Mode war ich, man sieht das eben nicht gleich ein, ein wenig Eitelkeit ist ja verzeihlich, aber das Wenige schon macht blind – ich bin abgelegt!« Zu diesem Gedankengang stimmen Anzengrubers Bemerkungen über Grillparzer (in Briefen an Bolin): »Hinter dem alten Herrn steckt der wahrhafte und wirkliche Österreicher von damals, wie er durch den Wiener, den Prager repräsentiert wurde. Das ist nicht vereinzeltes Denken, das ist Denken, wie es die Wiener von damals, die verständigen, kunstsinnigen Stände versteht sich, in ihrem Innersten verschlossen trugen. Grillparzer ist der Vorgeschrittensten einer dieses nun in unseren Tagen aussterbenden Geschlechtes. Vor drei Jahren starb mir ein alter 80jähriger Onkel – Hutschenreiter –, der gehörte noch dazu. Was Sie über Grillparzer sagen, das unterschreibe ich. Der Mann ist seinerzeit an der Erbärmlichkeit der österreichischen Verhältnisse zu Grunde gegangen. Eine engherzige Zensur, der Mangel einer Anerkennung seitens des Fürsten und des Landes, dessen bedeutendster Dichter, so vielsprachig das Land auch ist, er war, all das hat ihn der Anerkennung der Zeitgenossen, überhaupt jeder Anerkennung, die im Verhältnis zur Leistung steht, beraubt. Es ist kein fördernder Gedanke für den Lebenden, erst unter den Toten einen Rang einzunehmen; die Wirkung auf die Zeitgenossen wirkt fördernd in jeder Beziehung: bei den Großvätern gelesen zu werden, ist ein Bürge, bei den Enkeln doch noch nicht ganz vergessen zu sein; daß die Enkel den lesen, welchen die Großeltern versäumten, kommt selten vor und wenn – so ist jedenfalls sehr traurig, das am Schreibtisch denken zu müssen.« »Sie meinen: 50 Jahre müsse ein Autor warten: dann käme seine Zeit (auch für eine Gesamtausgabe). Je nun, ich habe so eine stille Ahnung in mir, daß dann nie meine Zeit kommen werde, daß ich nicht 50 Jahre alt werde, darum hätt' ichs gerne noch bei Zeiten selbst geordnet«. Ganz ähnlich hatte er schon im Juni 1879 Rosner angedeutet, daß er an eine Gesamtausgabe als Erbe für seine Familie denke: »ich thue es vielleicht bald. Ich fühle mich von ganz eigenen Symptomen behelligt, mir ist manchmal, als hörte ich Frau Atropos mit der Scheere »scheppern«. Es fand sich aber dazumal in Wien und Deutschösterreich sowenig ein Verleger, wie ein Theaterdirektor, der den ganzen lebendigen Anzengruber gebrauchen konnte. Pläne, die Bolin ohne Vorwissen des Dichters mit dem Abgeordneten Carneri ausheckte, Anzengruber, wie dies in Norwegen geschieht, durch Beschluß des Reichsrates einen Ehrengehalt auf Lebenszeit zuzubilligen, oder eine Bibliothekarstelle zuzuwenden, fanden nicht die Unterstützung der maßgebenden Persönlichkeiten. Nach allen Anwandlungen tiefsten Mißmutes, nach allen mit der selbstsicheren Fassung des Weisen verwundenen Todesahnungen setzte sich der Dichter zu guter Stunde wieder hin und nahm die Feder zur Hand: »das thu' ich wie in Freud', so in Leid: das macht erstere tiefgreifender und hilft über letzteres hinweg.« »Ich bin mehr als je entschlossen, so viel als möglich das Kleinliche nebenan liegen zu lassen und wieder einmal aus dem Vollen herauszuschaffen, ganz unbekümmert darum, was Direktoren und Publikum derzeitig etwa dazu zu sagen hätten, vollkommen abgesehen von der Zensurbehörde.« Langsam fing er daneben an, »Stoffe, die er, der Zensur halber, niemals für die Bühne retten konnte, frischweg in Romanform zu bringen«: ein Dramatiker, der mit etwas nicht auf die Bretter zugelassen wird, blieb ihm gleichwohl allzeit »eine der betrübendsten Erscheinungen«. So lange er noch in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre für die Bühne schrieb, meinte er: »Da ich weiß, daß ich die Feder nicht einmal sträuben darf, ohne von Staatswegen mit Titel und Stück zur Aufführung verboten zu werden, bleibt mir nichts übrig, als harmloses, harmlosestes zu schreiben. Pfui, über diese Verhältnisse.« Und nun er als Erzähler und Lyriker ans Werk ging, war er weniger gebunden durch Rücksichten auf eine alberne Zensur, desto mehr aber gehemmt durch Sorgen um das tägliche Brot: »der Lessing ist auch so ein Schwindler, sagt da irgendwo, kein Mensch muß müssen und wie viele müssen müssen, was sie nicht wollen wollen.« Selbst der Entgang der geringfügigen, aber festen Bezüge des Theaterdichters wurde in der kleinen Hauswirtschaft schmerzlich empfunden. Ein Antrag, als Herausgeber bei einem illustrierten Familienblatt mit einem festen Jahresgehalte von 1200 Fl. einzutreten, war schlechterdings nicht abzuweisen: Baron Gustav Erlanger hatte im Verein mit Herrn Amster »Die Heimat« erworben, welche, 1876 von Freunden der Regierung mit namhaftem Aufwand gegründet und gefördert, auf die Dauer den Wettbewerb mit den großen Bilderzeitungen Deutschlands nicht zu bestehen vermochte. Als sinkendes Unternehmen hatten die neuen Käufer die »Heimat« erstanden: der Name Anzengruber, der in litterarischen Kreisen das Blatt adelte, schadete dem Absatz der Wochenschrift bei konservativen und klerikalen Abnehmern: gegen 800 Abonnenten soll die »Heimat« nur durch den Redaktionswechsel verloren haben. Als aufrichtiger Parteigänger stand insbesondere Herr Amster gleichwohl zu dem Dichter, der vom April 1882 bis zum Sommer 1885 die »Heimat« leitete: bis zu Anfang des Jahres 1884 von Dr. Josef Rank als Mitredakteur unterstützt, von diesem Zeitpunkt ab als alleiniger Herausgeber und verantwortlicher Redakteur. Anzengruber nahm seine Aufgabe genau, peinlich genau; er erbat und erhielt Beiträge von Hamerling, Heyse, Lingg, Ada Christen, Schlögl, Chiavacci etc.; er prüfte nach Ranks Rücktritt den ganzen Einlauf mit Geduld und Sorgfalt. Zug und Schwung konnte auch er nicht in das nur mit unzulänglichen Mitteln ausgerüstete Unternehmen bringen. Die Illustrationen hatten, zumal in der letzten Zeit, kein anderes Verdienst, als daß sie Anzengruber zu höchst originellen, des Herkommens spottenden Bildererklärungen Anlaß gaben. Sehr begreiflich, daß der Anteil der Abnehmer mehr und mehr, wenn auch nicht so rasch, schwand, wie die Geberlaune des Baron Erlanger. Anzengruber leistete für seine magere Entlohnung redlichen Tagewerker-Dienst. Die Beiträge, welche er selbst in der »Heimat« veröffentlichte, waren ungleichwertig: er schrieb Genrefeuilletons aus dem Wiener Leben; er improvisierte Verse zu Illustrationen und gab eine Reihe von hochdeutschen Gedichten, die, immer gehaltreich, selten untadelig in der Form waren; er veranstaltete den Neudruck seiner Jugendnovelle: »Die zürnende Diana«. Für alle Zeiten litterarisch denkwürdig bleibt diese redaktionelle Thätigkeit Anzengrubers aber einzig und allein schon dadurch, daß er seine (1883-4 entstandene) Meisterschöpfung als Erzähler den Sternsteinhof im Jahrgang 1884 der »Heimat« veröffentlichte. Daß der Poet neben seinem künstlerischen Schaffen und der mühseligen Tagesarbeit noch Kraft und Zeit fand, jahraus, jahrein als Kalendermann für Petz' (V. K. Schembera) Volkskalender, den Lahrer Hinkenden Boten, den Rheinischen Hausfreund, als Novellist für Nord und Süd, Fels zum Meer, die »Presse« – u. z. immer mit gediegenen Leistungen – sich einzustellen, bleibt um so erstaunlicher, als er daheim Kummer und Aufregungen die Fülle hatte; einmal erkrankte der älteste Junge an Scharlach: gleich nachher die Frau ernstlich. Am 28. Februar 1883 wurde ihm sein jüngster, herzlich geliebter Sohn Hans geboren. Und immer war Anzengruber zur Stelle: am Krankenbett, wie bei der Kindstaufe als echter Hausvater, der auch gewissenhaft dafür sorgte, daß die Seinigen ihre Sommerfrische in Weidlingau oder Perchtholdsdorf bezogen, die ihm, dem durch Arbeiten in Wien Festgehaltenen, nur als Sonntagsgast zugute kam. Wie es dabei mitunter in seinem Gemüt aussah, hat er, soweit seine Familienverhältnisse in Betracht kamen, nicht einmal seinen nächsten Freunden anvertraut: in seinem Nachlaß aber fand sich, vom 12. August 1882 datiert, das Blättchen: »ein fremdes Element, in mein Leben hineingetragen durch das Weib, durch das schmerzliche Erwachen aus Träumen der Jugend«. Eine Unterbrechung erfuhr dieses plagenreiche Einsiedlerleben nur, wenn er, zehnmal geladen, endlich einmal zu einer öffentlichen Vorlesung sich entschloß. Das erstemal willfahrte er einer Bitte des Vereins der Litteraturfreunde in Wien; vom Jahre 1877 ab bis zum Jahre 1888 erschien er regelmäßig, zumeist als der erste, im Cyklus der Vorlesungen dieser Gesellschaft. Im Jahre 1882 folgte er einer Einladung der »Prager Concordia, Verein deutscher Schriftsteller und Künstler in Böhmen,« auf das gemütlichste empfangen vom Obmann Alfred Klaar (der ihm fortan als Freund wert blieb), begeistert aufgenommen vom Publikum. Der Ehrengast der Concordia bei einem Festmahl; der Tischgast von Professor Knoll, der den Dichter zu einem Imbiß bat, bei dem auch die ersten Gelehrten der Universität, Forscher, wie E. Hering etc., sich einstellten, wetteifernd in Beweisen der Achtung und Verehrung für den Wiener Volksdichter. Anzengruber fühlte sich in all diesen Kreisen so wohl, daß er in das Album der Concordia nicht nur ein Scherzgedicht eintrug, sondern seiner Reisescheu zum Trotze, noch ein zweitesmal (1884) nach Prag kam: nicht minder herzlich bewillkommnet von Künstlern und Schriftstellern, vom Stammpublikum und den Studenten, nicht minder vergnügt und ausdauernd bei Früh- und Abendschoppen. Jede derartige Vorlesung regte den Dichter übrigens derartig auf, daß sein Puls bis zu 120 anstieg und sich erst stundenlang nachher besänftigte. Daran trug weder Befangenheit, noch (wie sein Arzt Lindner feststellte) ein Herzfehler, sondern lediglich ein nervöses Unbehagen schuld. So trefflich und vielbewundert Anzengruber deshalb auch gelegentlich öffentlich las: sein ganzes, den geborenen Dramatiker offenbarendes Können entfaltete er doch nur, wenn er, von jeder Anfechtung frei, daheim seinen nächsten Bekannten eine neue Geschichte, ein neues Stück als Vortragender verlebendigte. Bis in das feinste Geäder seiner Technik, bis in das Herz seiner Gestalten glaubte man zu schauen, das Werden und Wachsen jedes tragischen und humoristischen Motives zu beobachten, die feinsten Abstufungen der »Geberde der Rede« wahrzunehmen, wenn Anzengruber sich und anderen solche Feststunden bereitete. Es war, als ob er seine Dichtung auf's Neue, aus dem Stegreif hervorbrächte und nichts wurde einem deutlicher, als daß dieser Poet keines seiner Worte am Schreibtisch gefunden, sondern jedes nur und erst dann zu Papier gebracht hatte, nachdem es, wie ein unmittelbar gehörtes, in seinem inneren Sinn laut geworden war.

Mit dem Jahr 1883-4 trat in den äußeren Verhältnissen Anzengrubers langsam, aber stetig ein Umschwung zum Besseren ein. Das Wiener Stadttheater begann, nach den schlechten Kassenerfolgen überzahlter Pariser Skandal- und deutscher Philisterkomödien, im Sinne einer viel verlachten, ganz vereinzelten publizistischen Anregung nacheinander den Pfarrer, Meineidbauer, Kreuzelschreiber, Gewissenswurm etc. zu geben. Und der Zuspruch des Publikums wuchs trotz mancher Gebrechen der Darstellung so unablässig, daß der anfangs mißtrauische Poet gleich seinem Freundeskreise den angekündigten Anzengruber-Cyklus nicht nur für ein leeres Wort hielt. Litten die ersten Abende auch durch falsche Besetzungen – Mitterwurzer spielte den »Pfarrer« in den ersten Akten wie ein galanter Abbé, im letzten nach Anzengrubers Wort mit einer »Salbungsvöllerei«, die den ganzen Charakter auf den Kopf stellte – allgemach wurden die Einzelleistungen (zumal Tyrolts) und das Zusammenspiel tüchtiger. Und wäre das Stadttheater nicht jählings 1884 abgebrannt: Direktor Karl v. Bukovics, den der Dichter mit einem bösen Witz als seinen »Schliemann« begrüßte, hätte schon dazumal seinem wohlverstandenen Vorteil zulieb die Stücke Anzengrubers vielleicht noch ausgiebiger gepflegt, als dies im 1889 eröffneten deutschen Volkstheater geschieht.

Zwei aufeinander folgende Maitage brachten dem Poeten zwei beachtenswerte, mit ungleichen Empfindungen aufgenommene Anträge: am 21. Mai erschien Herr R. v. Waldheim, einer der angesehensten und hochsinnigsten Wiener Kaufherren, bei Anzengruber mit der Anfrage, ob er an Stelle des eben verstorbenen Begründers des Wiener Figaro, Karl Sitter, die Leitung dieses humoristischen Wochenblattes übernehmen wolle? Und der Dichter, dessen Berufung in aller Stille Freund Juch angeregt und entschieden hatte, sagte mit Freuden: Ja. War der »Figaro« doch das einzige Wiener Witzblatt, das große Überlieferungen in Ehren gehalten: an dessen Text unter Sitters Leitung Friedrich Schlögl, Karl Elmar, Dr. J. N. Berger (der nachmalige Minister), an dessen Illustrationen Künstler, wie Leopold Müller, Laufberger, Juch und der Dialektzeichner Hans Schließmann, mitgearbeitet hatten. Am nächsten Tag wiederum ließ Direktor Jauner Anzengruber ersuchen, gegen ein Jahrgehalt von 1200 Fl. ihm je ein Stück zur Verfügung zu stellen; in der ersten Aufwallung wiederholte der Dichter dem völlig uneigennützigen Mittelsmanne Rosner das Wort, das er schon 1877 über denselben Direktor gesagt: »Nein, der meint's nicht ehrlich.« Allmählich ließ er sich dann doch bereden, auch Jauners Anerbieten anzunehmen. Unverzagt trug er die neuen, schweren Arbeitslasten. Volle zwei Tage gehörten fortan der Redaktionsarbeit für den »Figaro«: wenn ihm hier auch in Juch ein satirischer Zeichner ersten Ranges, in Karl Elmar der erprobte Autor markiger Leitgedichte und andere ständige Mitarbeiter, Einsender von Bilder-Ideen etc. zur Seite standen – mehr als einmal mußte Anzengruber doch, in letzter Stunde, in gebundener und ungebundener Rede für den Inhalt des halben Blattes aufkommen; mehr als einmal, wenn die Staatsanwaltschaft das Blatt konfiszierte, noch einen dritten Tag dem Dienst des »Figaro« widmen. Anzengruber hat auch diese Pflichten mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit erfüllt, eine Weile auch als »Hofsänger Huber« ein scherzhaftes Theaterreferat geführt. Literarisch Bedeutsames konnte er in dieser Stellung nicht leisten: aus warmer Empfindung heraus widmete er dem Kronprinzen Rudolf (der vor Jahren die Bekanntschaft des Dichters zu machen gewünscht hatte) einen poetischen Nachruf; ebenso Hamerling, Laube, Nordmann, Mama Haizinger, Elmar. Er hatte ein freundliches Wort für Veteranen wie Eduard Breier und scharfe Stachelverse für den Schwindelgeist der Zeit; er gab gelegentlich wohl auch ein meisterhaftes Spottgedicht, z. B. über die Operette, zum Besten; er waltete seines Amtes, unparteiisch Alle zu verspotten, mit Schlagfertigkeit und Laune so gut, wie irgendeiner, wenn auch nicht besser, als Sitter. Dennoch stimmten seine besten Freunde in Roseggers scharfen Vierzeiligen ein:

Der größte Tragiker uns'rer Zeit
Der muß ein Witzblatt machen
Ein tragischer Witz – bei meiner Seel'
Man möchte Thränen lachen.

Tröstlich und als wahre Herzenswohlthat wirkten in dieser neuen Lebensstellung allerdings die menschlich höchst erquicklichen Beziehungen zu seinem Chef, einem echten Patrizier, R. v. Waldheim. Der hielt den Dichter stets als Freund hoch; er sah nicht nur die beiden Redaktionstage, an denen Anzengruber sein Tischgenosse war, als Festtage an, er lud ihn im Sommer immer wieder nach Millstatt, leider nur zu allzukurzer Rast, in seine Villa. Nicht minder wohlthuend war der Verkehr mit dem trefflichen Prokuristen Jacobsen und die »Redaktionssitzungen« beim Schoppen mit Freund Juch. Rasch fand sich also der Dichter in die neue Aufgabe hinein; keiner seiner zugesagten Kalenderbeiträge blieb zurück; dabei brachte er im Dezember 1884 den ersten Akt seiner Weihnachtskomödie Heimg'funden fertig, die er ein Jahr hernach (am 3. Dezember 1885) Chiavacci, Gründorf und mir vorlas. Diesmal aber nicht mehr als Mietsmann in der Hofmühlgasse, sondern als Hausherr in Penzing, wo er – im Vertrauen auf die festen Gehalte von Waldheim und Jauner – im Frühling 1885 sich angekauft hatte. Seit Jahren hatte er sich darnach gesehnt, einen kleinen Erdenfleck zu besitzen und nun, ohne einen Sachverständigen zu fragen, ein neuerbautes, einstockhohes Kottagehäuschen in der Mayergasse in Penzing erworben gegen eine geringfügige Anzahlung. Die Tilgung der ausständigen Jahresrenten sollte ihm mit der Zeit noch manche Sorge verursachen. Der Drang, ein noch so kleines Stück Scholle sein eigen zu nennen, war einer der wenigen Züge in seinem äußeren Wesen, in dem er selbst Bauernart offenbarte: »ich bin Großstädter mit Leib und Seele«, schrieb er Bolin einmal, »die ländliche Ruhe ist nichts für mich, die stört ein hausierender Slowak, wenn er im Hofraum schreit. Der Straßenlärm Wiens beirrt mich gar nicht. Ich könnte höchstens das Land, weitab von Wien und im wechselnden Verkehr mit meinen Bauern, nicht auf einem Fleck, liebgewinnen.« Im Erdgeschoß hausten Frau und Kinder; die zwei Zimmer im ersten Stock bewohnte der Dichter. Die bescheidenen Räumlichkeiten waren noch schlichter eingerichtet, als Grillparzers Stübchen in der Spielgasse. Ein Stehpult aus weichem Holze, ein senfbraun angestrichener Schriftenkasten, den man auf den ersten Blick für einen Speiseschrank halten konnte, ein gebrechlicher Schreibtisch, ein Schaukelstuhl und ein paar Rohrsessel machten den ganzen Hausrat des Arbeitszimmers aus, das nur ein Bild der Mutter, ein Reliefbildnis von Professor Bolin, Dürers Selbstporträt und Lionardos Mona Lisa schmückten. Im anstoßenden Sitzzimmer, in dem der Dichter seinen Getreuen seine neuen Stücke vorlas, prangten unter Glas und Rahmen die Blumenstücke der Mutter und Schriftproben des Vaters. Auf dem Bücherbrett hatten neben den Klassikern Hebel, Lichtenberg, Claudius, Auerbach, Gottfried Keller und Reuter Platz gefunden; die Fächer des Kastens nahm Reclams Universalbibliothek in Anspruch, die wohl kaum einen Leser von größerer Ausdauer besaß, als Anzengruber. Die Lebensweise des Dichters war höchst einfach. Meistens »mit kürzestem Bindfaden an den Schreibtisch gefesselt«, verließ er das Haus nur, wenn ihn seine Redaktionspflicht zweimal in der Woche in die Waldheimsche Offizin in die Taborstraße oder seine Tischgesellschaft Mittwochs in den Künstlerkreis der »Nische«, Freitags in die »Anzengrube« (jahrelang beim »Schwarzen Gattern« in der Laimgrubengasse, späterhin bei der Goldenen Birne in Mariahilf) führte. Überall, im Freundeskreis, wie in der Zeitungsstube und im Setzersaal wurde er mit derselben Achtung und Liebe empfangen. Denn wie er der pünktlichste Schauspieler, Beamte und Theaterdichter gewesen, so war er der zuverlässigste Publizist und Tischgenosse. Im Privatverkehr war er von einer Gradheit, Männlichkeit und Verläßlichkeit, die Jedem, der mit ihm zu thun bekam, das Gefühl einflößte, daß er es mit der Rechtschaffenheit in Person zu thun habe. Zurückhaltend und wortkarg gegen Unbekannte, konnte er sehr unumwunden in Äußerungen der Abwehr gegen Leute werden, die ihm nicht zusagten. Besonders verhaßt war ihm schmeichlerisches oder gönnerhaftes Wesen. Seinen Anteil zu gewinnen, war denn auch weder Sache des Glückes, noch der Berechnung. Er hielt sich an Diejenigen, die ihm natürliche, wahre Menschen zu sein schienen, unbekümmert darum, was ihnen das Leben an Ehren und Erfolgen brachte oder versagte. Wissen ohne selbständiges Denken machte ihm so wenig Eindruck, wie äußerlicher Rang ohne den Rückhalt thatsächlicher Leistungen. Güte und Pietät übte er selbst, wie er sie an anderen liebte. Im Salon mit Fremden steif, hölzern, mehr als einmal mißverstanden, wenn er die eigene Verlegenheit hinter barschem Wesen verdeckte, war er die Gemütlichkeit und Gesprächigkeit selbst im engeren Kreise. In der Kneipe, in die er, meist erschöpft und ausgehungert wie ein müdegearbeiteter Großknecht, kam, schwieg er zuerst, bis ein geradezu märchenhafter Gargantua-Appetit gestillt ward; in diesem ernsten Geschäft konnte ihn weder das lebhafteste Gespräch, noch die Anwesenheit irgend eines Ehrengastes beirren. Wohl aber war er als der erste zur Stelle, wenn es galt, einem alten Herrn, wie dem Maler Rudolf Alt, beim Anziehen behilflich zu sein oder seinem treuen Freund, dem invaliden Offizier i. R. Rittmayr, fürsorglich über die Treppe das Geleite bis zum Wagen zu geben. War sein Heißhunger aber gestillt, dann mischte er sich in die Unterhaltung: dankbar für jeden guten Spaß, den er gern wiederholte; mehr als einmal langes Hin- und Herreden mit Einem satirischen Kernwort in der Mundart abschließend. Ein ordentlicher Wiener, meinte er gelegentlich spaßhaft, gehe abends ins Wirtshaus und morgens ins Kaffeehaus und der Einfachheit halber um Mitternacht gleich von dem einen zum andern. Und auf Roseggers Einrede, daß der Mensch nicht am nächsten Tage Kopfweh haben dürfe und daß Gesundheit eine Hauptsache sei, lautete die höchst ernsthaft vorgebrachte Erwiderung: » Kopfweh ist ja auch eine Hauptsache.« So war er diesmal und hundert anderemale am Wirtstisch am liebsten zu herzhaftem Gelächter – nur nicht mit Leuten aufgelegt, die sich unberufen eindrängten und beharrlich hinausgeschwiegen wurden. Und wehe dem, der dreist oder unvorsichtig den heiligen Grimm des Dichters weckte. Ein vielberufener großer Kritiker, der trotz seines kurz bemessenen Aufenthaltes in Wien den Weg in die rauchige Kneipe nicht scheute, nur um Anzengrubers Bekanntschaft zu machen, kam nach den ersten gleichgültigen Gesprächen auf Schiller, den er als überschätzten, wenn nicht überwundenen Dramatiker bezeichnete. »Dös verstehen halt die Herren nicht«, stieß Anzengruber zornrot, heftig hervor. Nicht zu bewegen, sich weiter in das Gespräch zu mengen. Desto rückhaltloser aber, nach dem Abgang des Gastes, in der in einem Kaffeehaus bei Punsch und Knickebein gehaltenen Exkneipe unter sechs Augen. In solchen Stunden mußte man ihn für einen geborenen, feurigen Redner halten; strafend und grollend, spottend und wetternd fertigte er da die »Litterateln« ab: in der ganzen Haltung, dem Blitzen der Augen, der unmittelbaren Wucht des Ausdruckes, dem volkstümlichen Treff seiner Hohnreden das Muster eines Prädikanten. Doch nicht bloß der aufregendste, auch der anregendste, fröhlichste Gesellschafter konnte Anzengruber sein: zumal auf der Reise. Monatelang hatten Chiavacci und ich ihn gedrängt, mit uns nach Gutenstein zu fahren. Als wir ihn endlich dazu vermochten, war er der Lustigste, Jugendlichste, Empfänglichste unter uns: harmlos wie ein Kind zu jedem Bummelwitz aufgelegt; voll Schnurren und origineller Einfälle: so wenn er allen Ernstes behauptete, auf dem Friedhof müsse neben Raimunds Gruft auch das Grab des alten Weibes aus dem Verschwender zu finden sein. Die Fahrt bekam ihm so wohl, daß er den Ausflug nach Gutenstein, wie er Rosegger schrieb, fortan in sein Jahresprogramm aufnahm. Nicht minder gemütlich war eine Winterreise nach München, auf der ich ihn begleitete. Ein frisch überschneites Tannengehölz, ein spielendes Sonnenlicht erfreute ihn: »So hab ich mir das Thor zu Schluß von ›Stahl und Stein‹ gedacht« (»weit auf die Thür – ins Vaterhaus«), meinte er lebhaft, als wir an einem Gehöft im Salzburgischen vorbeifuhren. Und nicht besser wußte er seine gute Laune zu bethätigen, als dadurch, daß er mir die tollsten Streiche von Hebels Zundelfrieder und Zirkelschmied wiedererzählte und, unerschöpflich in seiner Mitteilsamkeit, immer Neues aus seinem eigenen Leben zum Besten gab. So warm und zutraulich er sich aber als echter Wiener gab: der falschen Wiener Gemütlichkeit, der Allerwelts-Höflichkeit war er spinnefeind. So gern er Freunde beschwichtigte, wenn irgendein ernstes oder eingebildetes Mißverständnis zwischen sie getreten war, so wenig fragte er nach Gunst und Gnaden irgendeines wirklichen oder kritischen Machthabers. So lebhaft er nach dem Urteil Weniger verlangte, so gleichgiltig war er gegen die Durchschnittskritik: »Mit dem, dem ein ästhetisches Herbarium lieber ist, als was im Freien zu unserer Zeit blüht, unser Sinnen und Fühlen erregt (ich meine nicht allein im Rahmen des Volkslebens), mit dem zu streiten fällt mir nicht bei« hatte er schon 1872 Rosegger bekannt. Besprechungen, die (z. B. am Meineidbauer) alle erdenklichen Fehler und Mängel ausstellten, behaupteten: Anzengrubers Bauern seien gar keine Bauern, zuguterletzt aber wieder meinten: so oder so wäre doch etwas an der Sache, fertigte er mit den derben Worten ab: »Ich hab' 'mal 'nen Jungen sein jüngeres Schwesterchen sauber machen sehen: er spukte ihm ins Gesicht, dann wischte er darüber: das fiel mir ein, als ich die ›gemischten‹ Rezensionen las.«

»Ich beklage es auf das Tiefste,« so schrieb er Schlögl 1884, »daß Sie sowohl durch das Reden, wie durch das Schweigen der Kritik sich so beeinflussen lassen. Das mag für Talente, die sich erst empor- und durchringen müssen, gelten; ich habe einst auch jede Rezension liebend oder hassend an meinen Busen gedrückt. Jetzt wäge ich mehr die Stimmen, als ich sie zähle und ohne selbst den feindseligsten die Berechtigung, laut zu werden, abzusprechen, rechne ich mir auch von den befreundetsten nur einen Prozentteil des Gesagten zugute, denn sowenig von der Feindseligkeit ist auch von der Freundschaft Übertreibung und Irrtum ausgeschlossen. Als litterarisches Individuum, geworden und abgeschlossen dastehend, halte ich es für meine Pflicht, mich ruhig auszuwirken; die Lichter, die das Lob, die Schatten, die der Tadel meinem Bilde zusetzen, gehören schließlich mit zu demselben. Halten Sie es nicht anders damit, denn was Ihre Schriften anlangt, mein Bester, so mag man Ihnen wohl sagen, diese hätten das Totschweigen nicht zu befürchten. Dazu sind sie zu lebendig.«

Den näheren Freunden aber, die es oft für Starrsinn hielten, wenn er Gebrechen eines neuen Werkes schlechterdings nicht ändern wollte (handgreifliche Gebrechen, die ihnen zuerst auffielen, nur weil sie das Werk zuerst kennen lernten, so z. B. die Salonfiguren im »Heimg'funden«) gab er die Antwort: »Habe ich ein Stück als ein Fertiges vor, so halte ich die vielfach beliebten Kritteleien, wie etwas anders sein könnte als es ist, für übel angebracht, weil ja dann nie über eine vorliegende Sache, sondern über eine in der Schwebe gedachte entschieden oder gesprochen würde. Wenn dieser Rat: »Schlage Dein Kind tot und zeuge ein anderes, einreißen resp. befolgt werden möchte, so erreichten wir nie und nimmer die frische, ursprüngliche Schaffenskraft und -Lust der Dramatiker vor uns.« So ungeduldig er in seinem engsten Kreis »Gutes und Schlimmes über seine Produkte ›brennheiß‹ zu hören begehrte« – Einfluß auf sein Schaffen ließ er Niemandes »Urtel« gewinnen:

Es ist nicht hübsch – so schreibt er gelegentlich Rosner – daß Sie zu dem neuesten Stück meiner Muse weder mu noch mau sagen. Sie wissen ja, daß ich das gern schriftlich habe. Gefällt's, so macht mir's Freude! und ist mir lieber, als ins Gesicht; gefällt's nicht, ist mir's auch lieber, jeder Auseinandersetzung auszuweichen, denn Sie wissen, es hilft nicht bei mir, ich bin so unverbesserlich, wie der verdammte Heide Pilatus. »Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.«

Kein Wunder, daß er bei solchen Gesinnungen, wenn er einmal irrte, stark irrte. Wie im Schreiben, ging er auch im Lesen durchaus seine eigenen Wege; seine Urteile waren zum voraus kaum berechenbar; manche vielgerühmte Bücher aus alter und neuer Zeit hat er geradezu mit Verachtung abgewiesen; manche Meisterwerke moderner Technik als »gute Lektüre zum Einschlafen« bezeichnet. Wahrhaft vornehm hat er dagegen ungerecht Verkleinerte verteidigt; allzeit Berthold Auerbach gegen unbillige Angriffe in Schutz genommen, neidlos die Verdienste anderer anerkannt, Rosegger gefördert in jeder Weise, wahrhaft Großes niemals verkannt. Mit Thränen in den Augen sprach er mir auf der Heimfahrt von München von dem Eindruck, den Spinozas Theologisch-politischer Traktat, den er eben erst kennen gelernt, auf ihn gemacht; Gottfried Keller nannte er schmunzelnd gerne einen »brillanten Burschen«, dessen Martin Salander er mit derselben Lust studierte, wie die Leute von Seldwyla; Raimund liebte er; Dostojewskis »Raskolnikow« konnte er mir nicht dringend genug als Pflichtlektüre ans Herz legen; Fritz Reuter kannte und schätzte er genau so, wie Hebel und Turgenjew. In Scheibles Sammelbänden (Kloster, Schaltjahr) blätterte er nicht bloß. »Goethe kommt von oben, Schiller geht nach oben«, meinte er mit Grillparzer. Und je deutlicher und schmerzlicher er der Lücken seines Wissens sich bewußt war, je mehr er zumal bedauerte, des Latein nicht mächtig zu sein, desto ausdauernder versenkte er sich in eine Lektüre, deren Vielseitigkeit nur von der Kraft übertroffen wurde, mit der dieser starke Geist nicht allein religiöse und litterarische, sittliche und künstlerische, sondern auch soziale und naturwissenschaftliche Fragen selbständig prüfte und zu klären versuchte. So war er in Kunst und Leben eine Kernnatur, ganz auf sich selbst gestellt: ein Wiener der herben, spröden Art, der in seinen schwermütigen, wie in seinen sarkastischen Anwandlungen manche Ähnlichkeit mit Grillparzer und dessen Sonnleithnerscher, epigrammatischer Art aufweist. Ein Mann durch und durch, der kein höheres Lob bereit hatte, als wenn er, den Zeigefinger emporhebend, fest und gemessen von einem – abwesenden – Dritten, Wort für Wort wuchtig betonend, sagte: Ein Freund! Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit, Familiensinn machten das innerste Wesen des Hausvaters Anzengruber aus. Ein tückisches Geschick fügte es, daß gerade das Widerspiel dieser Eigenschaften den Abend seines Lebens verdunkeln sollte.


Letzte Leiden und Freuden. Fünfzigster Geburtstag. Krankheit und Ende.

46 Jahre war Anzengruber alt, als er in das neue Heim übersiedelte und doch sollte er nicht einmal seinen 50., den letzten Geburtstag, der ihm beschieden war, im eigenen Hause begehen dürfen. Die kurze Spanne Zeit, die er in Penzing verlebte, brachte ihm mehr Schmerzliches als Tröstliches, bis ihn endlich eine Familienkatastrophe selbst aus dieser bescheidenen Heimstätte vertrieb. Die Wiener Bühnen blieben dem Dichter noch jahrelang verschlossen. Die Direktion des Theaters an der Wien hatte 1885 ein Zugstück mit Johann Strauß' »Zigeunerbaron« gewonnen und deshalb keine Lust, die Vorstellungen in der Christwoche zu unterbrechen und Anzengrubers Weihnachtskomödie »Heimg'funden« anzusetzen. Im nächsten Jahr hatte der Dichter vertragsmäßig Herrn Jauner wiederum ein Stück zu liefern. Da eine von Professor Bolin angeregte und besorgte Dramatisierung des » Einsam« (Leipzig, 1886, Mutze) von der Zensur in Linz verboten worden war, sah Anzengruber, daß er das Hauptmotiv, die Tragödie eines eifervollen katholischen Priesters und seines Sündkindes, in Österreich nicht auf die Bretter würde bringen können. Schweren Herzens entschloß er sich deshalb, den Vater als Bürgermeister statt als Pfarrer einzuführen. Und obwohl den Freunden bangte, daß durch diese grundstürzende Umwandlung Idee und Entwickelung des langgehegten Planes nicht nur entstellt, sondern vereitelt werden möchte, überraschte er uns bei der ersten Vorlesung des 1886 vollendeten Volksstückes » Stahl und Stein« durch die Findigkeit, mit welcher er neue Gestalten und Themen (die Pauly, Tomerl und die Cenz, den Vorwurf der wilden Ehen unter dem armen Gebirgsvolk) eingeführt, die Bedenken der Zensur beseitigt und besiegt hatte. Auch dieses Werk erklärte die Direktion des Theaters an der Wien ablehnen zu müssen. Und da Wilbrandts seit dem Jahr 1884 immer wiederholte Vorschläge, die Schöpfungen des größten lebenden Dramatikers Deutschösterreichs auf dem Burgtheater zu spielen, von maßgebenden Kreisen mit dem thörichten Einwand abgelehnt wurden: Stücke in der Mundart gehörten nicht auf die Hofbühne; da weiter die Wiederherstellung des Stadttheaters an derselben Stelle von der Polizei und Statthalterei nicht gestattet wurde, blieb Anzengruber in Wien wiederum jahrelang ohne Bühne und ohne Truppe. Ganz eigen wirkte solchen Zuständen gegenüber die (im November 1886) aus München kommende Meldung: das Kapitel des Maximilianordens, die ersten Künstler und Forscher Deutschlands hätten als Nachfolger Scheffels Anzengruber zum Ritter gewählt. Die (vollkommen wahre) Mitteilung rief einen Sturm in der bayrischen (und nicht bloß der bayrischen) ultramontanen Hetzpresse gegen den »Lederhosenpoeten« hervor. Und der Prinzregent versagte diesem ersten Vorschlag des Kapitels seine Genehmigung (wie ein Menschenalter vorher Berthold Auerbach, der späterhin gleichwohl dieser Auszeichnung teilhaftig werden sollte, als Ritter des Maximilianordens zwar gewählt, im Hinblick auf seine jüdische Abstammung aber nicht bestätigt worden war). Anzengruber, der niemals nach äußeren Ehren strebte, war von dieser völlig unerwarteten Berufung solcher Peers herzlich erfreut. Besonders dankbar erhoben fühlte er sich zumal durch die Ritterlichkeit, mit welcher Paul Heyse und Graf Schack seine Sache zu der ihrigen machten und aus dem Ordenskapitel austraten. Eine historisch genaue Darstellung jener Vorgänge gab mir auf meine Bitte Paul Heyse in dankenswerter Weise (vgl. Beilage E.).

Im Januar 1887 kam ein Knabe zur Welt, der in der Not-Taufe den Namen Anton erhielt: »das Kind«, so schrieb der Dichter am 20. Januar an Ada Christen, »ist vorzeitig an Lebensschwäche gestorben und ich denke es ist sicher beneidenswerter, als irgend ein anderer, der weiß der liebe oder nicht liebe Himmel was Alles durchzumachen hat, bis es ihm gelingt, durch Altersschwäche das zu erreichen, was das Kind auf kürzestem Wege erreichte. Sie sehen, Verehrteste, auch bei uns fängt das Jahr gut an.« Vier Tage nachher wurde der Dichter durch die Nachricht überrascht, daß ihm von Nordmann, Wilbrandt, Erich Schmidt, Ludwig Speidel, Robert Zimmermann der Grillparzerpreis für »Heimg'funden« zuerkannt worden sei. Die Vorgeschichte dieser Preisverteilung war die folgende. In der Neujahrsbeilage der Deutschen Zeitung war neben meiner Besprechung von Wilbrandts publizistischen Jugendarbeiten ein Aufsatz Roseggers über die Grazer Aufführung der Weihnachtskomödie veröffentlicht worden. Wilbrandt, der das Blatt, des ersten Artikels halber, zufällig von Freundeshand zugeschickt erhielt, wurde durch die warmherzige Rosegger'sche Würdigung des Werkes dermaßen angeregt, daß er »Heimg'funden« kommen ließ, mit Genuß kennen lernte und den anderen Preisrichtern zur Auszeichnung empfahl. Und wohl that es not, daß irgend ein Ersatz für die schmerzlich entbehrten Tantièmen in das Haus kam, denn Anzengruber hatte außer den Kaufschillings-Raten Arzt und Apotheker zu bezahlen. Häufiger als bisher mußte er (1886 in Teplitz, 1887 in Sankt Pölten, Brünn, Breslau, München) des Honorars wegen dringenden Ladungen als Vorleser folgen, wenn er sich auch niemals (seiner Reisescheu und Nervosität halber) entschließen konnte, oft wiederholten Aufforderungen des Koburger Verbandes zu einer Rundreise durch ganz Deutschland zu entsprechen. Im Übrigen schwieg und arbeitete Anzengruber, so lang er arbeiten konnte: denn selbst seine Riesenkraft sagte mitunter den Dienst auf: nach übermäßiger Anstrengung mit den herkömmlichen Kalendergeschichten, die der Dichter meist zu Anfang des Jahres erledigte, war (wie er Bolin im Mai 1887 schrieb) nun eine Pause der Erschöpfung eingetreten, mit einem »wahren Abscheu vor Tinte, Feder und Papier, vor stilistischen Gedanken.«

»Ich befinde mich bei dieser Tintenscheu so unbehaglich, wie einer in der Wasserscheu; nur werde ich hoffentlich nicht beißen. Die Schreiberuhe, die sich mir jetzt aufzwingt, ist keine Erholung. Ich habe keine Lust und weiß auch gar nicht, was zu arbeiten. Was ich Dramatisches produziere, bleibt liegen, wird höchstens in den Provinzen aufgeführt und das zum Glück, denn hätte nicht Graz mein »Heimg'funden« gegeben, so wäre mir der Grillparzerpreis entgangen. Ich beneide Sie darum, daß Sie vom Theaterteufel besessen sind; aus mir scheint er ausgefahren zu sein. Allerdings sehr zur Unzeit, wie ja das von dem Bösen zu erwarten steht; denn jetzt geht man eben hier in Wien mit der Idee um, ein sogenanntes Volkstheater zu bauen, eine Stätte für Pflege der Volksstücke, die Eröffnung, wenn was aus dem Ganzen wird, soll 1888 stattfinden. Ich warte das ab, was wird und werden soll, dann wollen wir sehen, was ich dazu thun kann. Was ›Stahl und Stein‹ betrifft, so soll es kommenden Herbst hier von Hofburgschauspielern zum Besten ihres Vereins ›Schröder‹ aufgeführt werden. Mir kann das nur sehr lieb sein; es ist mir eine Ehre einerseits und andererseits trägt es auch etwas und Wien hat dann doch nach langer Zeit wieder einen interessanten und aufregenden Theaterabend.« »Was Sie zu und über ›Einsam‹ bemerken, unterschreibe ich alles mit beiden Händen. Aber fragen Sie sich, wie mir und jedem echten Dramatiker zu Mut sein muß, wenn ihm die ergreifendsten und schneidendsten Probleme kurzweg von der Censur konfisziert werden, wenn er von staatswegen das Publikum jahraus, jahrein laden soll, um sich die alte Geschichte, wie Hans die Grete kriegt oder nicht kriegt, vorleiern zu lassen. Unsere Zeit, wenn je eine Zeit zuvor keine Bühne gehabt hat, hat aber schon gar keine. Pfui Teufel! Unser Hofburgtheater hat bis heute (nach Wilbrandts Rücktritt) noch keinen Direktor. Es wird schon irgendwer für das Amt gefunden werden, der dann den Verstand zum Amte geschenkt bekommt, vom lieben Gott.«

Eine kleine Genugthuung gewährte dem Dichter die (oben erwähnte) Vorstellung von Stahl und Stein: die Burgschauspieler, die 1873 Elfriede, 1874 zur Freude des Dichters den »Pfarrer von Kirchfeld« – mit Sonnenthal als Pfarrer und Lewinsky als Wurzelsepp – zum Besten des »Schröder« dargestellt hatten, wagten es nun, die ganze Besetzung eines mundartlichen Volksstückes zu besorgen. Und unvergeßlich bleibt jedem Besucher dieser Vorstellung die Meisterschaft, mit der fast Alle von der ersten bis zur letzten Rolle (Pauly: Frau Schratt, Cenz: Frl. Walbeck, Tomerl: Hübner, Tyrolt: Eisner, Lewinsky: Einsam, Ferrari: Gemeindeschreiber, Kracher: Gensdarm) ihrer Aufgabe gerecht wurden. Als ich nach Schluß des zweiten Aktes in Anzengrubers Loge kam und ihm wortlos die Hand schüttelte, sah ich ihn verklärt, wie nie zuvor: in höchster Aufregung stieß er dann nur den Satz hervor: » G'spielt is di Komödi worden.« Den jubelnden Hervorrufen der Zuschauer leistete nicht der Dichter, sondern der Regisseur der Vorstellung, Ludwig Gabillon, Folge und an diesen Künstler, der zugleich Präsident des »Schröder« war, richtete Anzengruber das folgende Schreiben:

 

Penzing, d. 7./11. 87.

Sehr geehrter Herr!

Erlauben Sie, daß ich mich vorab für ihr gestriges Bedanken ganz ergebenst bedanke, ich hätte das nicht so stilvoll zuwege gebracht. Daß ich gestern nach der Vorstellung nicht auf die Bühne kam, um alle erreichbaren Hände zu schütteln, wie ich es willens war, daran trug nur meine mangelhafte Lokalkenntnis Schuld, denn ich hatte mich schon einmal nach der Generalprobe in dem Riesenhause verrannt und war – ich weiß nicht wie und wo – plötzlich in dem Rücken eines Portiers ins Freie gebrochen. So will ich es denn Ihnen als Präsidenten des »Schröder« anvertrauen, zu dessen Agenden es gewiß auch gehört, den Dank eines Dichters in Empfang zu nehmen, daß mir gestern gar weit, warm und unendlich dankbar ums Herz geworden ist! Widrige Umstände ließen mich wohl in letzter Zeit der Mehrheit des großen Publikums als einen »ausgeschriebenen« Autor erscheinen, die Künstler des Hofburgtheaters, welche in der gestrigen Vorstellung mitwirkten, haben mich rehabilitiert und in einer Weise, wie ich dies am freudigsten anerkennen kann, nicht nur mit dem Gefühle des tiefsten Dankes für ihr Wollen, sondern auch mit dem des höchsten Respektes vor ihrem Können. So! Nun steht das hier in der ganzen, aber ehrlichen Ungefügsamkeit, daß nur zur Bescheinigung der Echtheit des Briefes meine Unterschrift fehlt, die ich denn auch mit hochachtungsvollem Gruße an Sie und alle Werkmeister an meinem Baue hinzufüge als dankbar ergebener

L. Anzengruber.

 

An demselben Tage schrieb er auch Ada Christen, die ihn beglückwünschte und zur Erholung mahnte:

»Ach wie gern würde ich auch mitunter einmal feig und müde, aber im Kampf des Lebens ist der Feldschandarm Sorge hinter mir her und das befeuert meinen Mut ganz erstaunlich und wenn ich so auf das Geleistete zurückblicke – ›regierte Recht‹, so hätt' ich wohl sogar schon einiges, müde zu sein; aber Gott, ohne dessen Willen kein Ziegel vom Dache fällt, läßt mirs, wenn seine Winde dasselbe abdecken, nicht wieder ausbessern, ich darf auch nicht müde werden, denn wenn ein großer Sturm losbricht, so muß ich mich früher umgethan haben, um für die nötige Reparatur aufkommen zu können.«

Die Worte waren prophetisch. Einstweilen saß der Dichter, wie er Bolin schrieb, noch »zwischen Stadt und Land, redigierte sein Blatt, das selten, aber doch konfisziert wird, plante Großes und war gezwungen, Kleines des lieben Brotes halber zu schaffen.« Eine Erkrankung seiner Frau griff ihn, wie mir sein Hausarzt mitteilte, sehr an; er berief zwei Konsiliarärzte, war ungemein besorgt um die Patientin und konnte sich nicht einmal beruhigen, als der Gynäkologe Dr. Habit ihm erklärte, daß nichts Beunruhigendes vorliege: »Wenn es wahr ist«, erwiderte Anzengruber, »wäre es mir schon recht; aber ich glaub's halt nicht.« Als die Frau auf dem Wege der Besserung war, sagte er zu Lindner: »Sie, Doktor, meine Frau ist eine Perle.« Der Dichter selbst aber klagte Bolin schon im Juni 1888, daß er in keiner guten Haut stecke, seit längerer Zeit unpaß, in Folge dessen arbeitsunfähig und nicht ohne Sorge wegen der Tilgung seiner Hausschuld sei. Den Wiener Freunden fiel seine Abmagerung, das plötzliche, starke Ergrauen seines mächtigen Rotbartes auf. Allein ernstliche Bedeutung legte kaum Jemand diesen Symptomen bei, wenngleich der Eine und der Andere ihn drängte, sich mit einer Autorität zu beraten und eine Karlsbader Kur zu gebrauchen. Die materiellen Verhältnisse des Dichters besserten sich allmählich. Das Deutsche Volkstheater (ein verjüngtes Stadttheater) war – wesentlich Dank dem Ansehen und Fürwort des Dichters, der dem Ausschuß als Mitglied beigetreten war – zu Stande gekommen und Anzengruber im September 1888 mit festem Gehalt als Theaterdichter berufen worden; seinem Rate gemäß wurde auch Ludwig Martinelli, der kongeniale Darsteller Anzengruberscher Charaktere, als Mitglied und Oberregisseur der neuen Bühne verpflichtet; in Berlin, wo Fritz Mauthner, Lindau, Hopfen, Homberger, Brahm und Schlenther jahrelang für die Einbürgerung all seiner Werke auch in Norddeutschland sich eingesetzt hatten, kamen alte und neue Stücke zur Aufführung; im November 1888 fiel ihm aus der Stiftung des Frankfurter Patriziers Johann Peter Müller gleichzeitig mit dem Deutsch-Schweizer Conrad Ferdinand Meyer auf Antrag von Freytag, Anton Springer und Constantin Rößler ein Preis von 3000 Mark zu:

»Das habe ich«, schrieb er Bolin damals, »und das ist besser, als ich hätte! Einige Hoffnung konnte ich ja hegen, über das Ärgste hinauszukommen, d. h. die jährliche Hauskaufs-Schillings-Rate von 1000 Fl. diesmal decken zu können; denn in Berlin führen sie nicht nur mit vielem Beifall, sondern auch vor guten Häusern meinen »Pfarrer« am Deutschen Theater auf. Aber wenn ich als gewitzigter Autor nachrechnete, was das alte, daher nur mit 4 Prozent Tantième bedachte Stück eintragen mußte, um für mich soviel an Prozenten abzuwerfen, daß mein Erfordernis gedeckt erscheine, da wurde mir doch etwas bange. Jetzt habe ich mich deshalb nicht zu ängstigen. Bange macht mich etwas, daß am Lessing-Theater in Berlin mein »Heimg'funden« zur Darstellung gelangen soll. Was werden die Berliner zu einer Wiener Weihnachtskomödie sagen? Zwei Dekorationen dazu wurden hier in Wien im Atelier des Hoftheatermalers Kautsky gemalt. Ich sah die Modelle von beiden und den einen Prospekt fertig. Brillante Leistungen! Es that mir völlig weh, daß das von Wien fort mußte. Mir kanns übrigens nicht schaden, wie das Stück auch aufgefaßt werden wird. In Berlin läßt man mir Gerechtigkeit widerfahren – dort bin ich wer! Übrigens erinnern sich auch von Zeit zu Zeit die Wiener meiner und wenn schon nicht alle, so doch die Hutmacher-Innung und so wird es denn zum nächsten Frühjahr neben Castelli-, Elmar- und Rosegger-Hüten auch einen Anzengruber-Hut geben. Noch mehr Ehre wird mir als einem noch nicht dahingeschiedenen Dichter zuteil, indem mich ein zeitgenössischer Maler auf dem Deckengemälde des »Deutschen Volkstheaters« neben Raimund und Nestroy als den Dritten im Bunde verewigen wird. Sie sehen, daß sich gegenwärtig Ehre auf mein Haupt und Geld in meinen Händen häuft. Von Ersterer brauche ich niemand abzugeben, das Letztere wird aber – ach wie bald – schwinden. Indessen bin ich jetzt gesonnen, ruhig an die Arbeit zu gehen und für das Wiener Deutsche Volkstheater eine Eröffnungskomödie zu schreiben. Eröffnung: am 15. September 1889. Noch habe ich allerdings kein Süjet, aber es ist mir nunmehr nicht bange. Werden's schon machen.«

Anzengruber hatte zunächst vor, eine Wiener Komödie Kukuk zu schreiben. Im April 1889 aber überraschte er uns mit der kurz hingeworfenen Bemerkung, er dramatisiere seine Kalendergeschichte: »Wissen macht Herzweh«. Chiavacci hielt sowenig als ich Bedenken gegen die Wahl dieses Stoffes zurück, den Professor Bolin (nach einer freundlichen Mitteilung) dem Dichter zur Bearbeitung empfohlen hatte. Anzengruber meinte aber vergnügt: »hab' halt ganz neue Figuren hineingebracht«. Die weitere Vorgeschichte dieses Eröffnungsstückes erzählte mir der Direktor des Deutschen Volkstheaters, Emmerich v. Bukovics, folgendermaßen: »Was bringen Sie mir, Meister?« fragte der neue Direktor, als sich der bis dahin gegen ihn kühl ablehnende Dichter unvermutet in der Kanzlei melden ließ. Lange Pause … »Bringen, nix. – – Ich komme, Sie zu fragen, nachdem ich schon einmal versprochen hab', daß ich das Eröffnungsstück schreiben werde.« Neue Pause. »Wollen S' a Stadtstück oder Bauernstück?« »Aber Meister, schreiben Sie was Sie wollen, was Sie schreiben, wird das Rechte sein!« Lange Pause. Anzengruber fixiert Bukovics durchdringend, indem er über die oberen Ränder seines Zwickers den klaren, sicheren, ein wenig boshaften Blick in die Augen seines Gegenübers taucht. »Das is Ihr Glück, denn hätten S' a Bauernstück verlangt, so hätt' i a Stadtstück g'schrieb'n und um'kehrt! Also – ich hab' ein Bauernstück ang'fangen. Aber ich brauch a gute Lokalsängerin, die auch reden kann. Ich brauch – ich brauch –« »Aber Meister, was Sie verlangen, wird da sein.« Pause. Ein Blick über den oberen Rand des Zwickers und in wesentlich freundlicherem Ton die Antwort: »Gut, aber ich brauch' auch eine schöne Dekoration, nur Eine; das Andere mach'n mer schon bescheiden, aber wissen's, die brauch' i« … Und nun beschreibt er die Schlußdekoration nach dem Muster des Friedhofs am Hallstätter See, wie sie später zu seiner Zufriedenheit ausgeführt wurde, so beredt, daß Bukovics das Bild lebendig vor sich sieht und entzückt ausruft: »Aber Meister, das wird gemacht, wie Sie es anordnen werden.« Große, eigentlich größte Pause. Und dann ein Blick so freundlich, so warm über die oberen Ränder des Zwickers in Bukovics' Augen und herzlich und in mildem Ton die Worte: »Sie g'fall'n mir.« Und Anzengruber erhebt sich und wendet sich zum Gehen und läßt sich nicht helfen beim Ankleiden und ergreift die Klinke und bleibt in der schon geöffneten Thür stehen und sagt: »So, jetzt hab' ich mein Theater! Wie ich den ersten Akt fertig hab', schreib' ich Ihnen.« Acht Tage später las er dem Direktor diesen ersten Akt vom »Fleck auf der Ehr'« in seiner Penzinger Wohnung vor. »In meinem ganzen Leben«, so schreibt mir Bukovics, »werde ich den gewaltigen Eindruck dieser Vorlesung nicht vergessen. Die unvermeidliche Zigarre im Munde, das Beinkleid verschnitten und zu kurz, das Nachthemd vorne überhängend und am Halse offen, die Lodenjoppe verwittert und schlaff herabhängend – er stand von jeher mit dem Schneider auf gespanntem Fuße – und dennoch, ein Recke der Darstellung wie der Dichtung, der seinen Zuhörer zu hellem Jubel und lautem Beifall fortriß. ›Also es g'fallt Ihnen? Ja wiss'n S', wenn ich schreib', seh' ich die Leut' vor mir‹, so fuhr er auf ein Wort besonderer Begeisterung fort, ›ich hör' sie sprechen, ich beweg sie auf der Bühne‹. ›Sie werden also das Stück auch in Scene setzen?‹ ›Nein, das macht mein Freund Martinelli, der kennt mich und versteht mich, da brauch ich mich nicht zu kümmern, derweil fang ich ein neues Stück an.‹«

Uns nächste Freunde lud der Dichter zur Vorlesung des vollendeten Stückes, die aber erst nach seiner Rückkehr aus Bad Hall stattfinden sollte, wohin er, auf den Rat von Dr. Lindner, im Juni 1889 sich begab. »Er lebte dort (wie mir der Badearzt Dr. Rabl schrieb) streng seiner Kur, die sein Leiden der Heilung so nahebrachte, daß ich überzeugt bin, daß jenes ihn im Laufe der Zeit weder, im Lebensgenusse, noch in seiner geistigen Arbeit und Leistungsfähigkeit gestört hätte, sondern nach und nach definitiv zur Heilung gelangt wäre.« Die Sympathie und Verehrung aller, die ihm in Hall begegneten, gewann er, wie sonst allerorten: er besuchte, was er in Wien nur selten und gezwungen that, das Theater in Hall freiwillig tagtäglich. Übrigens war der Dichter sehr vergnügt, als er der »Anzengrube« am 13. Juni auf einer Postkarte melden konnte: »Ich grüß' die Tafelrunde schön, nächsten Freitag giebts ein Wiedersehn. Wie bin ich froh mir ein Krügel zu kaufen, schon hab ich satt das Jodwassers–, zwar schwillt mir davon noch nicht der Bauch, deß ist des Jodwassers nicht der Brauch. Es magern vielmehr durch die Bänke, die Kurgäste ab bei dem Ge–tränke. Es schmeckt nicht bitter, doch g'hörig salzig und so ein behandelter Haring halt't sich. Erlöset bin ich in wenig Tagen, doch ob es mir auch gut angeschlagen, da muß ich erst meinen Arzt befragen. So hoff' ich auf einen guten Befund und grüß' die verehrliche Tafelrund und daß sich reichlich des Glückes Schuber ihr öffne das wünscht L. A-r.« Als der Dichter am nächsten Freitag in unsere Mitte trat, schwiegen wir alle betreten: so hart hatte ihn die Kur hergenommen. Seinem hageren Aussehen, dem Leidenszug in den müden Mienen zum Trotz, war er aber bester Laune und gleich für die nächsten Tage beschied er unseren ganzen Kreis zur Vorlesung vom »Fleck auf der Ehr'« nach Penzing. Gründorf, unser Gasthaus-Marschall: der wackere Postoffizial Herr Regelsberg, Adjunkt Dr. Haider, Dr. Friedjung und Edmund Mayer folgten der Ladung – Chiavacci und ich nicht ohne schwere Sorge, ob der Stoff auch tragfähig sei für einen ganzen Theaterabend. Anzengruber las meisterhafter als irgendwann: die Stachelreden des Gewohnheitsdiebes Hubmayr, die Trutzliedeln der Bauernburschen, das Genäsel der streitsüchtigen Armenhausleute im Schlußakt: Großes und Kleines ist uns nie wieder in solcher Genialität entgegengetreten. In heller Freude strahlte der Dichter, als Chiavacci und ich ihn versicherten, daß der größte Teil unserer Zweifel zerstreut, der Erfolg des Abends außer Frage sei. Und wiederum bogen sich, wie allemal an dem Einen Abend im Jahre, die Tische unter der Last der guten Bissen, auf deren Auswahl und Herbeischaffung Anzengruber selbst mit echter Altwiener Gastlichkeit bedacht war. Und wieder machte der »Rudolfsheimer« (so nannte der Haussohn den Rüdesheimer) den Beschluß. Es war die letzte frohe Überraschung, die uns der Dichter da, als Hauswirt ohnegleichen, mit dieser Vorlesung bereitete.

Als wir bewegt und vergnügt in der sternhellen Sommernacht zu Fuß heimgingen, ahnte niemand, welches Verhängnis über das Hauswesen, über das Leben unseres Gastfreundes hereinbrechen würde oder eigentlich schon längst hereingebrochen war. Daß die Frau des Dichters dann und wann ohne Vorwissen ihres Gatten Schulden machte, die er dann wortlos beglich, wußten die Meisten. Er war in Geldfragen, soweit nicht seine, sondern die Bedürfnisse seiner Familie in Betracht kamen, ein großer, großmütiger Herr: er hatte beim Kauf des Hauses die Hälfte sofort seiner Frau zuschreiben lassen und war immer und in jeder Beziehung auf ihr Wohl bedacht. Am Abend des 9. August kam er später, als sonst, in unsere Kneipe, aß und trank schweigend wie gewöhnlich; auf die Frage eines Dritten, weshalb Dr. Tyrolt nicht zur Leseprobe seines neuen Stückes erschienen sei, antwortete er ruhig: der Künstler, der in Gutenstein wohne, habe sich brieflich sehr artig bei ihm entschuldigt. »Und was haben Sie ihm geantwortet?« »Nix; i hab jetzt ka Zeit zu so was. Mei Frau geht morgen von mir fort.« »Wohin geht denn die Badereise?« »Fort geht's, für immer, nach 16jähriger Ehe. Wir scheiden uns.« Und nun folgten Einzelheiten, Gründe, Thatsachen, hervorgesprudelt in Hast und Hitze. Der letzte Tagelöhner, der ein solches Schicksal in solcher Aufregung geschildert hätte, wäre uns dauernd im Gedächtnis geblieben, geheiligt durch solchen Ausbruch solchen Schmerzes. – – Die nächsten Tage nahmen ihn mit eklen Geschäften vollauf in Anspruch. Die Frau verließ Penzing: die Sorge für die Kinder fiel fortan ausschließlich ihm zu. Im Herbst zog er in die Stadt, in die Gumpendorferstraße 58/B. Es wurde sein – 1897, wie das Geburtshaus, mit einer Denktafel von Emanuel Pendl bedachtes – Sterbehaus. – – – – – Mitte September wurde das deutsche Volkstheater eröffnet: der Empfang, der dem Stücke, die Hervorrufe und Kränze, die Anzengruber zuteil wurden, waren seine letzte Lebensfreude. Als er im schwarzen Rock vortrat, erschien das blasse Antlitz doppelt blaß neben den geschminkten Gesichtern der Schauspieler, in dem fahlen elektrischen Licht. Und wie auf der Bühne gemutete auch auf dem Deckengemälde der geisterbleiche Mann wie der Bettler Azur in Raimunds Verschwender. Sein Aussehen entsetzte Freunde und Bekannte, die ihn eine Weile nicht gesehen – daß aber auch er seine »Sendung dazumal schon vollendet«, wie Flottwells Retter, ahnte niemand, er selbst am wenigsten. Der schöne Erfolg ermutigte ihn zu neuen dramatischen Entwürfen. Briefliche und mündliche Auseinandersetzungen mit den Eigentümern des Cotta'schen Verlages brachten die Veranstaltung und den Plan einer Gesamtausgabe in das Reine. Er nahm eine Einladung, im Jänner 1890 eine Vorlesung im Verein junger Kaufleute in Berlin zu halten, an. Er ward nicht unwillig, als er erfuhr, daß die »Nische« und die »Anzengrube« seinen 50. Geburtstag im engsten Kreise feiern wolle. Rudolf Alt malte ein herrliches Aquarell für ihn; Juch, der geniale Karrikaturist des Anzengruberkopfes, zeichnete ein Blatt, auf welchem den rüstigen, in Winterkleid und Pelzmütze auf der Straße spazierenden Dichter Schwager Kronos, gichtbrüchig und mit Zahnweh geplagt, vom Zweirad absteigend, antritt und ihm warnend die Sanduhr hinhält; Gründorf sollte die ernste Begrüßungsrede, Martinelli, als Doppelgänger des Dichters, eine von Chiavacci verfaßte, im Anzengruber-Ton gelegentlicher, unwirscher Abwehr gehaltene Danksagung übernehmen. Da schrieb der Jubilar mit einemmale, die Feier müsse verschoben werden: er sei etwas leidend. Primarius Dr. Schopf, der am 26. November zu ihm gerufen wurde, fand (wie er mir schreibt) eine ausgebreitete Zellgewebsentzündung an der Hüfte: »trotz Fieber und Schmerzen ging Anzengruber im Zimmer herum und arbeitete an einem Stehpult; auf eindringliches Zureden begab er sich zu Bett und ich machte unter Assistenz seines Hausarztes zwei lange und tiefe Einschnitte. Die Operation ertrug er mit Resignation ohne Schmerzäußerung und wünschte nur an dem ihm zu Ehren veranstalteten Fest teilnehmen zu können.« Dieser Bitte konnte wohl nicht willfahrt werden: aber an seinem 50. Geburtstag war der Dichter wieder außer Bett und nahm wohlgelaunt Blumen, Kränze, Geschenke und Besuche entgegen, mit welchen ihn Freunde und Freundinnen erfreuten. Emsig arbeitete er am »Figaro«, in dessen nächster Nummer er scherzend verhieß, er werde zum Dank für alle Güte schon fleißig dichten. Die meisten nahen Bekannten hielten ihn für genesen. Am 1. Dezember schrieb er mir noch, daß er Montag nach Hietzing (wegen des Verkaufes seines Hauses), Mittwoch in die Druckerei des »Figaro« fahren wolle, scherzte noch über unsere »beiderseitigen Geschwülstigkeiten« und wünschte meinen Besuch. Als ich ein paar Tage später vorsprach, fand ich ihn zu meiner Ueberraschung zu Bett: »in seinem Zustand trat keine Besserung ein, das Fieber dauerte an, die Entzündung verbreitete sich auf die rechte Leistengegend«: Anzengruber war bei alledem aber so lebhaften Geistes, daß er mir allerhand, u. A. die ganze Fabel eines alten Lustspiels, erzählte, das ich nicht kannte. Der Schwester seiner Jugendliebe, Frau Krakowski, sagte er: »Jetzt bin i do neugierig, ob i mit der Gschicht' oder die Gschicht' mit mir fertig wird.« Als sie ihn beruhigen wollte, meinte er: »Das wirst doch zugeben, daß ich mehr Unglück als Glück im Leben ghabt hab. Zuerst hab ich für mei arme Mutter, so lang' 's sie g'freut hätt', nix thun können und dann hat mir die Gschicht' mit der Mathild do sehr weh gethan.« Es war das erste und letztemal, daß der Dichter dieser entschwundenen Zeit (s. S. 73/4) gedachte. Die Besuche der nächsten Freunde erwartete er mit Sehnsucht. Der Humor blieb ihm auch auf seinem Schmerzenslager treu. Er spaßte über die kolossalen Lorbeerkränze, welche der Hauswirtin lange Zeit Zuthat zum Wildpret-Braten liefern würden; er spottete über seine drei Ärzte, von welchen der eine (als Totenbeschauer des Bezirkes) gleich seinen Leichenzettel schreiben könnte, der andere Löcher in den Kadaver bohre, damit sein Geist bequemer ausfahren könne. Nur über schwere (Leibreiz-)Träume klagte er ab und zu, hervorgerufen durch die Anthrax-Geschwüre, die, an dem einen Tag geschnitten, am nächsten an anderer Stelle schmerzhafter und gefährlicher sich einstellten. Alle Leute, so erzählte er, drängten sich im Schlaf an ihn heran, mit Säcken, Fässern etc; er war in seinen Nachtgesichten Augenzeuge der rettenden Thaten eines russisch-deutschen Fürsten, der gegen die Nihilisten auftrat: aber Anzengruber verstand nicht, weshalb er als völlig Unbeteiligter am Petersburger Hof von allen Seiten so grimmige Püffe aushalten mußte. In solchen Fieberträumen riß er sich einmal, in einem unbewachten Augenblick, ein Stück des Wundverbandes ab. Am 8. Dezember mußte ihm Dr. Schopf einen zweiten, noch größeren Einschnitt machen, der wieder keine Erleichterung brachte. Sonntag und Montag war in seinen Reden wohl zu spüren, daß er durch starke Opiate nicht ganz Herr seiner Sinne sei. Immer wieder aber hatte er Momente, ja Stunden, in welchen er vollkommen frei über Menschen und Dinge sprach, in seiner heimeligen Art und Mundart scherzend – doch im Blick und Händedruck beim Abschied, den er wiederholt hinauszögerte, ausnehmend innig, ja zärtlich. Am 8. Dezember verhehlten die Ärzte ihr Bedenken nicht mehr: der Kranke selbst schrieb dem »verehrten Meister Juch«: er möge den nächsten »Figaro« mit Witzen eigener Fexung versehen, »mir fallt nix ein«. Eine Meldung, die den Zeichner als Vorbote böser Ereignisse auf das Tiefste erschütterte. Denn wie schlimm mußte es um den Pflichtgetreuen stehen, wenn er selbst sein Handwerkszeug beiseite legte. Ruhig stimmte Anzengruber denn auch am 9. Dezember zu, als ihm Dr. v. Holzinger anriet, am nächsten Tag seinen letzten Willen zu erklären. Als die Testamentszeugen am Morgen des 10. Dezember aber erschienen, war Anzengruber bereits (um ¾8 Uhr) verschieden. Er hatte eine schmerzensreiche Nacht verbracht, am Morgen Kaffee getrunken, seiner Wirtschafterin Korrekturen des »Figaro« mit der Weisung übergeben: »Schicken S' den ganzen Krempel zurück, sollen machen, was sie wollen!« Eine weitere Frage von Frau Hauer konnte er nicht mehr beantworten. Schon am 9. Dezember hatte Dr. Schopf »Erscheinungen von Blutvergiftung (Septichaemie) wahrgenommen, an welcher Anzengruber auch am folgenden Tage starb.« Nur wenige Minuten währte der Todeskampf und als die Freunde nach acht Uhr in das Sterbegemach traten, sahen sie ihn, die Züge unverändert, in Wahrheit »eine Leidensfigur aus dem Volke.« Der jähe Verlust betäubte die Allernächsten, die von seiner Krankheit, von der gefährlichen Verschlimmerung seines Zustandes wußten: in Wien und weit über Österreichs Marken hinaus kam die Todesnachricht völlig unerwartet, niederschmetternd. Professor Bolin, der die Botschaft erhielt, ohne vorher auch nur von einer Erkrankung des Dichters gehört zu haben, konnte danach volle zwei Monate kaum die Feder rühren.

Die Todesanzeige ging von der »Concordia« aus, die auch für das Begräbnis sorgte. Verklärt schien das gewaltige, von dem stark angegrauten Rotbart umwallte Denkerhaupt Anzengrubers, als seine Leiche aufgebahrt lag in demselben Gemache, das er vor wenigen Wochen als neue Werkstatt zu betreten vermeinte. »Menschenloos, bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher« hatte Friedrich Hebbel auf seinem Sterbebette geseufzt. Nun schlief auch Anzengruber den ewigen Schlaf. Die erstarrte Rechte hielt ein Kruzifix und die Gipsgießer nahmen die Totenmaske des Kopfes ab, dessen große, kühne Züge schwerlich ein Künstler mit voller Naturtreue wird nachbilden können. Anzengrubers Erscheinung deckte sich mit seinem Wesen: »ein Sänger und ein Held zugleich.«

Die Leichenfeier in der Mariahilferkirche war Wiens würdig. Der Bürgermeister, das Burgtheater, alle anderen Bühnen, die Künstler- und Studentenschaft, die Führer der Deutschösterreicher im Parlament, Plener und Chlumecky, Bürger und Arbeiter waren zur Stelle. Nach der Einsegnung fuhr zufällig Kaiser Franz Josef auf dem Wege nach Schönbrunn an der Kirche vorbei und der Fürst salutierte vor dem Sarge Anzengrubers.

Auf den Friedhof gaben nur Wenige dem toten Dichter das Geleite. An seiner offenen Gruft sprachen E. v. Spiegel im Namen der Concordia, Direktor v. Bukovics im Namen des Deutschen Volkstheaters. Ein starkes Schneegestöber ging nieder und wie ein gespenstisches Schattenspiel zogen im dichten Nebel immer neue Leichenzüge die Fahrstraße der Totenstadt entlang, in der auch Anzengrubers Mutter begraben liegt. Nicht an ihrer Seite, in einem – 1893 vom Anzengruber-Curatorium mit Scherpe's preisgekröntem Denkmal geschmückten – Ehrengrabe ist der Dichter bestattet worden. Im Titelbilde, dank der freundlichen Einwilligung Scherpe's, wiedergegeben. S. a. Beilage G: Das Anzengruber-Denkmal auf dem Wiener Centralfriedhofe. Den wärmsten und letzten Abschiedsgruß widmete ihm Ganghofer in einer Grabrede, die Anzengruber mit seinen eigenen Worten am schönsten ehrte. Wie seinem Pfarrer, diesem »Posa der Volksbühne«, gebühre auch ihm der Nachruf: »Saget es Euren Kindern! bis zum letzten Hauche war er sich selbst getreu und hat festgehalten am Rechten und Guten.« Wie sein Hell, habe auch er gewußt, was dem Volke notthue, habe auch er dem Volke, unvermittelt, unvertreten bei Tag und Nacht, in Frost und Glut zur Seite gestanden, ein Tröster und Beichtiger, der Warner und Sorgenbrecher der Menge. Wie Hell, wenn es in der Welt auch stürmt und tobt, und wenn es rings von Zwiespalt und von rauhen Kämpfen widerhallt, mag darum auch er die Bedrängten an seine Brust flüchten sehen und »Not und Sorge wird schmelzen, wie Schnee auf dem Gebirge in der Maiensonne und Frühling kann werden in kummervollen Herzen.« Und wie für sich selbst habe er auch die Weltbotschaft des Steinklopferhanns verkündigt: »Es kann Dir nix g'scheh'n. Ob D' jetzt gleich sechs Schuh tief da unterm Boden liegst oder ob D' das alles noch tausendmal siehst – es kann D'r nix g'scheh'n – Du g'hörst zu dem allem und das alles g'hört zu Dir – es kann D'r nix g'scheh'n.« – –

Die Freunde hielten es für ihre Pflicht, dem Verewigten, noch bevor das erstemal sein Todestag sich jährte, ein Denkmal aufzurichten aus seinen eigenen Werken: die erste Ausgabe seiner »Gesammelten Schriften.« Sie hat am würdigsten für den Dichter gezeugt und wird auch weiterhin am würdigsten für den Dichter zeugen, noch manches Jahr und noch manchen Tag. Denn so kurz sein Erdenwallen gewesen: reicher an Leid und Bitternis, reicher aber auch an gesegneter Arbeit im Dienste der Kunst und der Menschheit konnte es kaum sein. Und wie vom Volkskaiser, wird darum auch vom Volksdichter der Lebensspruch gelten: Saluti publicae vixit, non diu sed totus.


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