Hugo Bettauer
Die freudlose Gasse
Hugo Bettauer

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Die große Sensation.

Staatsanwalt Tupfer sprach mit schneidender Schärfe. Es stehe, sagte er, vor den Geschworenen der Typus einer neuen abscheulichen Zeit: ein Glücksjäger im schlimmsten Sinne des Wortes, ein Raffer, der um jeden Preis reich werden wolle, nicht durch emsige produktive Arbeit, sondern mühelos, über Nacht, auf Kosten der Allgemeinheit. Und wenn es so leichter und bequemer ist, so auch über Leichen. Glücksjäger und Frauenjäger! Und er habe es verstanden, das eine mit dem anderen zu verbinden. Er habe sich in die reiche Familie seines Chefs geschlichen, dort nach einem Opfer gefahndet und es in der Person der schönen, leichtsinnigen Advokatensfrau gefunden. Ihr herrlicher Schmuck mußte sein Besitz werden, mit dem Erlös dieses Schmuckes konnte er im großen Stil spekulieren. Um diesen Schmuck zu bekommen, mußte aber Frau Leid aus der Welt geschafft werden. Das Ammenmärchen, das der Angeklagte ersonnen hat, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, ist albern und läppisch. Er will uns glauben machen, daß er sich mit Willen der Frau Leid ihres Schmuckes bemächtigt und mit ihm entfernt habe und dann ein Gespenst gekommen sei, – das – – –

Der Staatsanwalt wurde in seiner Rede durch eine seltsame Unruhe unterbrochen. Die Köpfe der Zuhörer wandten sich der Eingangstüre zu, von der Lärm, die flehende Stimme einer Frau, das Poltern eines Mannes laut wurden.

"Was ist los?" schrie der Präsident. Einen Augenblick trat Stille ein, dann hörte man laut und vernehmlich im ganzen Saal die von einer Frau ausgestoßenen Worte:

"Um Jesu willen, ich muß hinein!"

Dumpfe Unruhe breitete sich aus. Ein Schauer lief über die Rücken der Anwesenden, eine Dame schrie auf. Dunkle Ahnungen von Unfaßbarem lasteten auf den Menschen.

Nochmals rief der Präsident: "Was geht da draußen vor?"

Und schon drängte sich ein Weib, von einem Gerichtsdiener am Arm gehalten, herein und schrie gellend:

"Herr Präsident, um Gottes Barmherzigkeit willen, lassen Sie mich herein, ich habe eine Aussage zu machen."

Der Präsident verständigte sich rasch mit den beiden Votanten, ein Wink und der Gerichtsdiener ließ die Ruhestörerin los, so daß sie schwankend bis vor die Schranken gehen konnte.

Das Publikum war aufgesprungen, jeder wollte sie sehen, dieses junge Weib mit dem schneeweißen Gesicht, aus dem sich grellrot gefärbte Lippen wie zwei Blutstriche erhoben. Rufe wurden laut, ein Tumult entstand, die Saaldiener liefen aufgeregt hin und her, der Präsident brüllte mit gewaltiger Stimme: "Ruhe oder ich lasse den Saal räumen!"

Stirner aber stand mit weit aufgerissenen Augen und vorgebeugtem Körper da, und stierte das junge Weib an, das, bevor es sprechen konnte, von einem furchtbaren Husten geschüttelt wurde. Blutstropfen rannen ihr über das Kinn, sickerten auf den Fußboden.

Endlich trat Ruhe, Totenstille ein, in der man das Atmen der Menschen hörte.

"Wer sind Sie und was wollen Sie?" fragte der Präsident.

"Ich heiße Marie Lechner und habe mit meinen Händen Frau Lia Leid erwürgt!"

Ein einziger gellender Aufschrei aus hundert Kehlen. Auch die Geschworenen sprangen auf, drängten vor, die Journalisten stürmten gegen die Schranken zu, es entstand ein Tumult, wie ihn der Schwurgerichtssaal wohl noch nie erlebt hatte. Mühsam konnte sich der Präsident Gehör verschaffen und die Wogen der Erregung verebbten erst, als er mit schmetternder Stimme erklärte, bei dem leisesten Ton den Saal räumen zu lassen. Halblaut sagte er den Beisitzenden und zu dem Staatsanwalt hin: "Zweifellos eine Geistesgestörte," und dann milde zu Marie Lechner:

"Sie haben also Frau Lia Leid ermordet? Schön, erzählen Sie, wie das vor sich gegangen ist."

Und Marie Lechner erzählte. Wie geistesabwesend sprach sie vor sich hin, die Augen gegen die Decke gewandt, nicht links und rechts blickend, mit monotoner Stimme, als ginge sie das alles nichts an, erzählte sie, entrollte ein Schicksalsdrama, ein Drama von Schuld und Sühne, von Jammer und Schmerz. So fließend und zusammenhängend sprach sie, daß weder der Vorsitzende noch der Staatsanwalt oder Verteidiger sie durch eine Frage unterbrechen mußten.

"Ich bin heute noch nicht zweiundzwanzig, war sechzehn knapp, als der Krieg aus war und der Vater als Krüppel heimkam, und mit ihm das Elend und die Not. Damals besuchte ich eine Handelsschule und meine Nachbarin war die Lia Holzer, ein schönes, kokettes Judenmädel, das ich gleich nicht leiden konnte. Sie war so arm wie die meisten von uns Mädeln, aber immer viel besser gekleidet, sie trug Seidenstrümpfe und hübsche Schuhe, und wenn man sie fragte, woher sie das habe, lachte sie schnippisch und sagte, die Männer seien ja so lieb und schenken ihr, was sie haben wolle, auch ohne einzigen Kuß als Gegenleistung. Sie war faul und lernte nichts, aber alle Lehrer waren in sie verliebt, so daß sie bessere Noten bekam als ich, die ich stundenlang zu Hause arbeitete und schrieb. Auch ich war ein sehr hübsches Mädchen, und auf dem Nachhauseweg liefen mir Männer nach. Nur wenn ich mit der Lia ging, verstand sie es, alle Blicke auf sich zu lenken. Sie kokettierte auf der Straße schamlos, so daß ich ihr einmal sagte, ich würde mit ihr nicht mehr gehen. Worauf sie grob wurde, mich stehen ließ und mir zurief:

‚Ich bin froh, wenn ich mit dir nicht gehen muß, dir sieht man ja ohnedies auf zehn Schritte die Proletarierabstammung an.‘

Von da an waren wir bös und sprachen nicht mehr miteinander.

Lia machte noch einen Sprachkurs mit, ich mußte austreten, weil meine Mutter, die jetzt außer Haus waschen ging, das Schulgeld nicht mehr aufbringen konnte, und trat einen Posten als Kontoristin bei einer kleinen Kaifirma an. Im Jahre 1920 ging es erbärmlich schlecht, zu Hause herrschte Elend, Vater verdiente nichts und vertrank seine Rente, verkaufte unsere Betten, sogar Mutters Nähmaschine, und mein Gehalt war so klein, daß es nicht einmal auf Schuhe reichte."

Marie Lechner begann wieder zu husten, das Taschentuch, das sie vor den Mund hielt, färbte sich blutrot. Auf einen Wink des Präsidenten trug ein Diener einen Stuhl herbei, so daß Marie sitzend weitersprechen konnte.

"Ich hab‘ mich mit keinem Mann eingelassen, weil ich in der Melchiorgasse, in der ich groß geworden bin, oft genug gesehen hab‘, wie das endet. Eines Abends im Frühling, es war der 13. April, ich weiß es, als wäre es heute, ging ich spät abends im strömenden Regen nach Hause, müde, hungrig und todunglücklich. Ein Windstoß drehte mir den Schirm um, ich stand ganz verzweifelt da und begann zu weinen.

In diesem Augenblick trat ein großer eleganter Herr auf mich zu, lachte über meine Verzweiflung, bot mir seinen Schirm an und forderte, nachdem wir eine kurze Strecke miteinander gegangen waren, mich auf, mit ihm ein Restaurant in der Bellaria aufzusuchen, um dort das Ende des immer stärker werdenden Regengusses abzuwarten. Meine Herren, ich war siebzehn Jahre alt, wußte kaum mehr, was Fleisch ist und der Herr war so lieb und freundlich zu mir! Ich ging mit ihm und er bestellte, ohne mich lange zu fragen, ein paniertes Schnitzel für mich, und es war so schön warm in dem feinen Restaurant und ich wurde froh und lustig, ging aus mir heraus, erzählte von meiner Armut und all dem Elend um mich her.

Der Herr streichelte meine Hände und sagte, es werde jetzt alles Elend ein Ende für mich haben und dann stellte er sich mir als Egon Stirner vor."

Totenstille im Saal, man hörte den rasselnden Atem des jungen Weibes, Stirner saß zusammengesunken auf seiner Bank, der Präsident, der Staatsanwalt, der Verteidiger und die Geschworenen lauschten mit vorgeneigten Köpfen.

"Bald habe ich ihn geliebt, wie man nur mit siebzehn Jahren lieben kann, und als er mich zu sich in das möblierte Zimmer führte, das er damals bewohnte, und mich an sich zog, da jubelte und schluchzte ich vor Glück und gab mich ohne Bedenken hin."

Leise, ganz leise, daß nur die direkt vor ihr Sitzenden es hören konnten, sagte Marie Lechner:

"Wenn er mich nur den tausendsten Teil so lieb gehabt hätte, wie ich ihn, dann wäre ich heute eine brave, gute Frau und er säße nicht auf der Anklagebank und ich nicht hier, um meine Sünden zu beichten, bevor ich in der Erde wie ein toller Hund verscharrt werde."

Marie fuhr sich mit der bleichen, abgezehrten Hand über die Stirne und sprach laut weiter:

"Eine Zeitlang lebte ich wie im Paradies. Egon kaufte mir Kleider und Schuhe, jeden Abend gingen wir zusammen ins Kino, nachher fein essen und in der Nacht lag ich in seinen Armen und fragte ihn hundertmal: ‚Gelt Egon, du hast mich wirklich lieb und ich bin nicht nur ein Spielzeug für dich?‘

Sein ‚Ja, ich habe dich lieb‘ wurde aber immer milder und lauer, bis er mir eines Tages sagte, daß es so nicht weiter gehe. Er habe selbst schwere Geldsorgen, die Vermittlungsgeschäfte, die ihm eine Zeitlang viel getragen haben, gehen nicht mehr und er sei nicht mehr in der Lage, für mich so wie bisher zu sorgen. Das Verhältnis habe ohnedies schon lange gedauert. Ich sei schön und jung und würde sicher bald einen anderen Freund haben.

Ich wohnte damals nicht mehr bei meiner Mutter, die Stellung hatte ich längst aufgegeben, ich war ganz auf Egon angewiesen und eher hätte ich mich umgebracht, als daß ich zurück in die Melchiorgasse gezogen wäre. Und doch war die Melchiorgasse mein Schicksal.

Eine Bekannte führte mich zu einer Schneiderin, die in der Melchiorgasse wohnt, zur Frau Greifer, die sich meiner annahm. Das heißt, sie saugte mir das Blut und die Ehre aus dem Leib, machte mir kostbare Kleider und Hüte, bis ich nicht mehr mein Eigentum war, sondern ihres, verkuppelte mich an reiche Männer, machte eine feine, elegante Dirne aus mir. Das geht sehr schnell, meine Herren, schneller beinahe, als man es ausdenken kann. Zuerst graust einem, man sträubt sich, dann sagt man sich ‚nur dieses einemal und nie wieder‘, und dann gewöhnt man sich an den Champagner und die Zoten, an das Tanzen und Autofahren, an die Seidenfetzen und den Schmuck, und schließlich weiß man es gar nicht mehr, wessen Geliebte man eigentlich ist, muß nachdenken, ob man gestern mit diesem oder jenem in der Nacht beisammen war.

Meine Beziehungen zu Egon Stirner dauerten dabei fort. Wenn er für mich Zeit hatte, hätte mich nichts dazu bringen können, von seiner Seite zu weichen, und die Sonntage verbrachten wir immer miteinander. Ich haßte und liebte ihn, ich sah in ihm meinen Verderber und meinen Herrn, und er schien mich auch wieder recht gern zu haben, sprach oft davon, daß er, sowie er zu Reichtum gelangt sein werde, mich von der Frau Greifer frei machen wolle. Er hatte mir immer die schwersten Vorwürfe über meinen Verkehr bei der Greifer gemacht. Schließlich lockerten sich unsere Beziehungen immer mehr.

Auf ja und nein gehörte ich zu den bekanntesten Lebedamen Wiens. Ich verkehrte nur in den nobelsten Nachtlokalen, wenn ich ins Tabarin oder Trocadero kam, jubelten mir die Herren zu, einer hat sogar ein Lied auf mich gemacht, das überall gesungen wurde. Der Refrain lautete: ‚Das ist die Mary, die schöne Mary von der Bar.‘

Das ging so ein paar Jahre. Ich lebte in Saus und Braus, fuhr im Frühling des Vorjahres mit einem reichen Rumänen nach Italien und dann nach der Schweiz, hätte mit ihm nach Paris gehen sollen, aber meine Sehnsucht nach Egon war so groß, daß ich den Rumänen eines Tages verließ und nach Wien zurückkehrte. Mein erster Weg galt Egon, der längst Bankbeamter geworden war. Er begrüßte mich recht kühl, erzählte, daß es ihm endlich gelungen sei, in der großen Wiener Gesellschaft zu verkehren und deutete Beziehungen zu einer reichen, schönen Frau aus vornehmen Kreisen an.

Eine wie ich, hatte natürlich nicht das Recht, eifersüchtig zu sein, und ich mußte den Schmerz verbeißen und tun, als wäre es selbstverständlich, daß er, der mich zum Weibe gemacht hatte, mir von seinen Liebschaften erzählte.

Geld hatte ich keines und so ging ich wieder zur Frau Greifer in die Melchiorgasse. Am Hause, in dem meine arme Mutter lebte, schlich ich mich vorbei. Ich hing im Herzen an ihr, aber dabei hielt mich Grauen und Angst davor ab, ihre Schwelle zu betreten. Eine innere Stimme sagte mir, daß, wenn ich erst wieder dort bin, ich nicht mehr loskommen würde.

Ein paar Tage später ging ich nachmittags in den Grillroom vom Bristol in Gesellschaft eines Herrn, der dort mit mir tanzen wollte. Aber ich machte rasch wieder kehrt, den eben tanzte Egon Stirner mit einer eleganten, schönen, jungen Frau und fing gerade einen Blick auf, den die beiden miteinander wechselten, und in diesem Blick lag so viel, daß in mir wilde, rasende Eifersucht aufschoß. Die junge Frau war aber meine frühere Schulkollegin Lia Holzer.

Mein Herr, der sich nicht wenig darüber ärgerte, daß ich fortging, bestätigte es mir:

‚Jawohl, Holzer hat sie mit dem Mädchennamen geheißen. Seit drei Jahren ist sie die Frau des berühmten und steinreichen Doktor Leid. Na, dem armen Kerl setzt sie mehr Hörner auf, als zulässig ist. Jetzt ist der Egon Stirner hinter ihr her.

Teufelsweib das, verbraucht mehr Männer, als ein Raucher Streichhölzer.‘

In dieser Nacht trank ich mir einen Champagnerrausch an und tanzte solange und wild, bis ich einen Blutsturz bekam. Der Arzt erklärte, daß ich es auf der Lunge habe und ein solides Leben führen müsse, wenn ich nicht zusammenklappen wolle. Von da an trank ich nur noch mehr und eine Kollegin machte mich mit der Morphiumspritze bekannt."

Ein neuer Hustenanfall schwächte Marie so sehr, daß sie ganz in sich zusammensank. Ein Schluck Wasser verlieh ihr die Kraft, weiter zu sprechen.

"Ich kam wieder mit Egon zusammen und auf meine scheinbar ganz gleichgültige Frage gab er unumwunden zu, mit Lia Leid ein Verhältnis beginnen zu wollen. Zu dumm, – sagte er, – zu mir kann ich sie nicht nehmen, in ein Hotel geht sie mir nicht, und ein ordentliches Absteigequartier zu finden ist jetzt sehr schwer. Eine Adresse habe ich durch ein Tagblatt bekommen und morgen schau ich mir das Zimmer an. Komischer Zufall, daß es gerade in der Melchiorgasse ist. Nummer 55, bei einer Frau Merkel.

Was damals in mir vorgegangen ist, kann ich heute nicht mehr erklären. Ich weiß nur, daß mich ein ohnmächtiger, rasender Haß gegen das Weib befiel. In der Schule war sie mir vorgezogen worden, beleidigt und gekränkt hatte sie mich und während ich verführt, verlassen, in den Sumpf gestoßen worden war, wurde sie die Frau eines reichen, angesehenen Mannes. Was sie nicht hinderte, diesen Mann zu betrügen, anderen Frauen die Männer zu stehlen. Ich wachte in der folgenden Nacht in Gedanken an Lia auf, Blut trat vor meine Augen, hätte ich sie vor mir gehabt, so würde ich ihr erbarmungslos ein Messer in die Brust gestoßen haben.

Am nächsten Tag traten zwei Zufälligkeiten ein, die mein Schicksal wurden. Vormittags traf ich auf dem Graben Frau Lia Leid, wie eine Fürstin angezogen, im Arm eines jener winzigen Hündchen, wie sie die vornehmen Frauen jetzt besitzen, um den Mann, den sie gerade erobern wollen, dadurch aufzuregen, daß sie in seiner Gegenwart den kleinen Köter streicheln und küssen. Wir gingen dicht aneinander vorbei, Lia aber schaute ostentativ zur Seite, raffte ihr Kleid an sich, um nicht von mir berührt zu werden.

Gallbitter trat es mir in den Mund, das Blut schoß mir in das Gesicht und ich spuckte so vehement aus, daß mich die Leute verwundert anstarrten. Sie, tausendmal ärger als die letzte, verworfenste Straßendirne, die ihren armen, gepeinigten Leib jedem Trunkenbold geben muß, um nicht Hungers zu sterben, sie scheute meine Berührung, wich dem Gruß der ‚Kokotte‘ aus!

Am Nachmittag ereignete sich ein zweiter Zufall. Ich begegnete am Opernring Egon, ohne daß er mich sah.

Instinktiv, ohne eigentlich zu wissen, warum ging ich ihm nach. Er schlenderte den Ring entlang, ging hinüber zum Deutschen Volkstheater und bog dann in die Melchiorgasse ein. Nun wußte ich, daß er sich das Absteigequartier anschauen wollte. Ich versteckte mich in einem Haustor und wartete, bis er wieder aus dem Haus Nummer 55 herauskam.

Unklare Gedanken flogen durch meinen, vom Morphium benebelten Schädel. Nur eines wußte ich genau: ich mußte den beiden morgen das Stelldichein gründlich verderben!

Ich ging in das Haus Nummer 55, zog den Schleier dicht vor das Gesicht und läutete bei Frau Merkel an. Auf ihre Frage, was ich wünsche, sagte ich, ich hätte gehört, daß sie ein Absteigquartier zu vermieten habe. "Ja," sagte sie, "aber da kommt die Dame um ein paar Minuten zu spät. Eben hat es ein Herr gemietet und gleich für den ganzen Monat vorausbezahlt."

Ich drückte mein Bedauern aus und sagte, ich würde es gerade morgen nachmittags dringend brauchen und sehr gut dafür zahlen.

"Ausgeschlossen," sagte sie, "morgen abends kommt der Herr mit seiner Dame."

"Schade, schade," meinte ich, "aber vielleicht, daß es der Herr nicht länger als einen Monat behält. Kann ich mir das Zimmer anschauen?"

Die Frau führte mich hinein. Ich zitterte am ganzen Körper vor Aufregung und sah fast nichts, als einen mächtigen, breiten Diwan, mit einem Überwurf, das richtige Lotterbett für feine Frauen, die sich nicht gern in fremde Betten legen, sondern einen Diwan vorziehen.

Den Rest des Tages und die ganze Nacht ver brachte ich bei der Frau Greifer. Es wurden dort lebende Bilder gestellt und abscheuliche perverse Szenen vorgeführt, Männer und Frauen, und Frauen untereinander und ebenso Männer, und während ich mich sonst von solchen Sachen immer fern gehalten hatte, war ich diesmal die Tollste und Schamloseste, und jeder Mann hat mit mir machen können, was er wollte.

Am anderen Tage schlief ich in meiner Wohnung in der Gumpendorferstraße bis in den Nachmittag hinein, dann gab ich mir eine tüchtige Injektion und ging wieder in die Melchiorgasse ins Haus Nummer 55. Ich schlich die Treppen bis zum Boden hinauf und wieder hinunter und wußte nicht recht, was ich eigentlich wollte. Plötzlich, gerade wie ich auf dem Treppenabsatz über der Wohnung der Frau Merkel stand, ging die Tür der gegenüber liegenden Wohnung auf, eine alte Frau trat heraus und läutete bei der Merkel an. Die beiden Weiber standen unter mir auf dem Korridor und ich hörte, wie die Alte der Frau Merkel von einem Brief erzählte, den sie eben von ihrem Sohn in Amerika bekommen habe. Sie zeigte ihr den Brief und die Frauen gingen, da es dunkel war, zu dem Korridorfenster.

Während sie dort mühsam buchstabierten, schlich ich mich hinunter, huschte hinter dem Rücken der beiden durch die offene Tür in die Wohnung und schon war ich in dem Absteigequartier. Ich sah mich in fliegender Hast um. Wo konnte ich mich verstecken? Groß, breit, mächtig und einladend stand der Diwan vor mir. Eins, zwei kniete ich vor ihm, hob den Überwurf und kroch unter den Diwan. Ich bin schlank, konnte ganz gut liegen, mich sogar nach Belieben umdrehen und bewegen. Und niemand würde mich sehen.

Ein, zwei Stunden vergingen, während ich dumpf, halb betäubt da unten lag. Die Knochen im Leib begannen mir weh zu tun und ich glaubte es nicht länger aushalten zu können, besonders, weil ich immer den Husten unterdrücken mußte. Da trat Egon herein. Mein erster Gedanke war, hervorzukriechen, ihm alles das vorzuhalten, was er mir angetan, ihn einen Schurken zu nennen. Aber rasch überlegte ich es mir. Er war ja stärker als ich, würde mich schlagen und hinauswerfen, vielleicht gar mich der Polizei übergeben. Und dann mit Lia allein sein! Nein, ich wollte warten, bis die auch da war, wollte irgend etwas tun, um ihr die Lust zu nehmen, jemals wieder anderen Frauen die Männer zu verführen.

Lia kam. Ich hörte die beiden miteinander flüstern, hörte ihre Küsse, hörte die süßen, falschen Worte "Mauserl" und "Kleinchen" und "Hast du mich auch wirklich lieb?", alle diese Worte, die mir so bekannt waren, mich an die Zeit erinnerten, da ich ein unschuldiges Mädel gewesen war, und ich mußte die Faust in den Mund pressen, um nicht aufzuheulen.

Raschelnde Kleider, Kichern, ein wollüstiger Aufschrei, zwei Leiber fielen auf den Diwan, unter dem ich regungslos, mit wundgebissenen Lippen lag.

Ich stopfte die Finger in die Ohren, um nichts mehr zu hören. Wut und Schmerz raubten mir die Besinnung.

Wie lange das gedauert hat, weiß ich nicht. Wie im Traum hörte ich wieder das Rascheln von Kleidern, gleichgültige Worte, die sich auf irgend ein Fest bezogen, das, wie es mir schien, beide noch besuchen wollten; aus dem Gespräch entnahm ich, daß er rasch gehen, sie noch bleiben wollte. Ein langer Kuß, feste Männertritte, Auf- und Zugehen der Türe – ich wußte, daß Lia allein war und noch auf dem Diwan lag.

Was dann geschah, kann ich heute nicht mehr genau sagen. Ich weiß nur, daß ich langsam hervorkroch, neben dem Diwan kniete, vor mir den nackten Leib des Weibes sah, das mich mit weit aufgerissenen Augen, in denen namenloses Entsetzen lag, anstarrte. Und daß, ohne daß ich gesprochen oder sie geschrien hätte, sich meine Finger um den weichen, weißen Hals legten und mit einer Kraft, die ich sonst gar nicht besaß, zusammenpreßten. Sie röchelte, schlug mit den Armen um sich, ich ließ los, der Körper vor mir zuckte auf und nieder und regte sich dann nicht mehr.

Ich floh, wie von Furien verfolgt. Schlich auf den Fußspitzen in das finstere Vorzimmer, zog vorher instinktiv den Schlüssel ab, um von außen zuzusperren, lautlos gelangte ich durch das Vorzimmer zur Wohnungstür, meine Hand stieß gegen eine Kette, die ich tastend abnahm; schon war ich auf dem Korridor, raste die Treppen hinab, wurde von dem Dunkel der Melchiorgasse verschlungen, warf den Schlüssel fort und kam erst wieder zur Besinnung, als ich in meinem Zimmer in der Gumpendorferstraße war.

Von da an ging es rapid bergab. Ich betrank mich jede Nacht, machte Skandale, so daß man mich in die feinen Lokale nicht mehr hineinließ, der Husten wurde immer ärger, die besseren Herren wollten nichts mehr von mir wissen, seitdem sie wußten, daß ich Blut spuckte, ich verbrachte die Nächte in den niedrigsten Nachtkaffeehäusern, und da ich nicht, wie früher, vorsichtig und wählerisch war, geschah das, was geschehen mußte. Ich wurde krank. – – – – Bei einer Streifung in einem Stundenhotel wurde ich aufgegriffen, ins Frauenspital gebracht und von dort ging ich zurück in die verfluchte Melchiorgasse, die einen immer wieder verschlingt und nicht mehr losläßt."

Die letzten Worte waren nur mehr ein Gemurmel gewesen. Und nun brach sich die Erregung der Menschen, die eine Stunde atemlos dieser furchtbaren Beichte gelauscht hatten, Bahn. Worte, wie "Unerhört", "Grauenhaft", "Entsetzlich", wurden laut, eine Dame im Auditorium und nach ihr eine zweite und eine dritte wurden ohnmächtig und mußten hinausgetragen werden; eine der beiden weiblichen Geschworenen weinte bitterlich und selbst der Präsident war so erregt, daß Minuten vergingen, bevor er Ordnung und Ruhe wieder herstellen konnte. Er trank das Glas Wasser, das vor ihm stand, auf einen Zug aus und wandte sich Marie Lechner zu:

"Das alles, was Sie uns hier erzählt haben, ist kaum faßbar, klingt wie Fieberphantasie. Sagen Sie uns, warum Sie erst heute, am Tage der Gerichtsverhandlung, Ihr Geständnis ablegen? Sie mußten doch wissen, daß Egon Stirner unter dem furchtbaren Verdacht verhaftet worden war, Frau Lia Leid ermordet zu haben!"

Marie schüttelte den Kopf.

"Nichts wußte ich! Zuerst habe ich in den Zeitungen gelesen, daß man vom Täter keine Spur habe. Später las ich überhaupt keine Zeitung mehr, lebte in ewigem Rausch, kümmerte mich um nichts mehr, vergaß fast, daß ich einen Mord begangen. Erst als ich wieder in der Melchiorgasse bei den Eltern war, begannen mich Träume zu quälen, würgten mich Gewissensbisse und Angst. Und gestern, wie ich so deutlich nach einem Blutsturz gefühlt habe, daß es mit mir zu Ende geht und ich höchstens noch ein paar Tage zu leben habe, hat es mich gedrückt und gezwickt und ich hab‘ heraus damit müssen um jeden Preis auf die Gefahr, daß man mich vom Bett, ins Gefängnis schleppt. Da hab‘ ich Mutter gebeten, mir einen Geistlichen zu holen, damit ich beichten kann. Ein junger Priester ist gekommen und ich hab‘ ihm alles erzählt und er hat furchtbar geweint und mich gefragt, ob ich denn so schlecht sei, daß ich nun einen anderen für mein Verbrechen büßen lassen wolle. Dadurch erst habe ich erfahren, daß Egon heute als Mörder verurteilt werden soll. Daß er den Schmuck genommen hat, hab‘ ich ja gar nicht gewußt. Ich hab‘ dem Priester geschworen, mich den weltlichen Richtern zu stellen, und dann hab‘ ich die Absolution bekommen, denn er hat gesagt, daß meine Leiden reichlich die Schale meiner Sünden aufwiegen tun. Und jetzt, meine Herren, freu‘ ich mich nur mehr auf das Sterben und bin keinem Menschen mehr bös, auch dir, Egon, verzeih‘ ich alles – – hab‘ dich ja heut‘ noch lieb." – – –

Egon Stirner schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte laut auf und mit ihm weinten die Richter und der Staatsanwalt; es ging ein Weinen durch den ganzen Saal. – – –

Der Präsident rief Frau Merkel, die im Saal geblieben war, wieder vor.

"Sie haben ja gehört, was Marie Lechner hier erzählt hat. Erkennen Sie in ihr die Dame, die am Tage vor dem Mord bei Ihnen war und das Zimmer besichtigt hat?"

"Jawohl, Herr kaiserlicher Rat! An alles erinnere ich mich jetzt ganz genau. Es war so, wie es die Arme da erzählt hat. Ich erinnere mich auch an den Brief aus Amerika, den, was die Frau Hummerl, die meine Nachbarin ist, mir gezeigt hat. Richtig hab‘ ich damals die Tür hinter mir offen gelassen!"

Der Staatsanwalt erhob sich und ergriff das Wort.

"Nach den ungeheuerlichen Enthüllungen, die uns geworden sind, trete ich von der Anklage gegen Egon Stirner, die auf Raubmord lautet, zurück und verweise den Akt neuerdings vor den Untersuchungsrichter. Hingegen erhebe ich die Anklage gegen Marie Lechner, die des Mordes oder, wie es nach ihrer Aussage scheint, des Totschlages verdächtig ist, und beantrage ihre Überführung in das Inquisitenspital."

Der Gerichtshof gab den Anträgen des Staatsanwaltes Folge und wies einen Antrag des Verteidigers auf Haftentlassung Egon Stirners ab.

Womit die sensationellste und aufregendste Gerichtsverhandlung, die Wien jemals erlebt hatte, zu Ende war.

Marie Lechner wurde in das Gefangenhausspital transportiert, überlebte aber den Tag nicht. Spät abends, nachdem man vergebens ihre Mutter, die irgendwo bei fremden Leuten wusch, gesucht hatte, starb sie einsam und allein.

Egon Stirner mußte in das Untersuchungsgefängnis zurück und sah mit neuem Mute seiner Verhandlung entgegen, die sich nicht mehr vor den Geschworenen, sondern vor dem Schöffengericht abspielen würde.


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