Hugo Bettauer
Die freudlose Gasse
Hugo Bettauer

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Die Erlebnisse eines Lehrbuben.

Im Haus Nummer 54, das nun Grete betrat, herrschte einige Aufregung. Eine abgehärmte, magere Frau stand unter dem Haustor und weinte bitterlich, andere Frauen versuchten sie zu beruhigen, ein angeheiterter Mann schrie immerfort lallend: "Ah, machen S‘ Ihnen nix draus, Frau Huber, in Sibirien da weinen die Weiber, wann die Männer sie net prügeln tun. Weil s‘ glauben, daß sie ihner nachher net lieben."

Neugierig fragte Grete, was g‘schehen sei.

"Ihr Mann hat sie blutig geschlagen, der gemeine Kerl der!"

"Sein halt alle roh und brutal," versicherte eine ältere Frau. "Ui je, wenn meinem Seligen was net recht g‘wesen is, gleich hat er mit der Faust dreing‘schlagen!"

Eine junge hübsche Frau, die in ihrer Pelzjacke geradezu elegant aussah, schüttelte den Kopf.

"Da seh‘ ich erst, was ich für einen guten Mann hab‘! Vier Jahre sind wir jetzt verheiratet und noch kein böses Wort hat er mir gegeben. Den ganzen Tag arbeitet und schuftet er, damit ich alles hab‘, am liebsten möchte er mich von oben bis unten mit Samt und Seide behängen. Seitdem das Kind da ist, hat er nur die einzige Sorge, eine größere Wohnung zu finden, damit wir aus dem Haus herauskommen und ein Dienstmädel halten können."

"Ja, Frau Pollak, Sie haben‘s halt gut," sagte die geprügelte Frau, die inzwischen die Tränen getrocknet hatte, "weil Sie einen Juden zum Mann haben. Rein beneiden könnt‘ man Sie!"

"Jawohl," echote die Alte, "alles, was wahr ist! Man kann über die Israeliten sagen was man will, aber brave Ehemänner sind sie und schlagen tut keiner seine Frau."

"Nobel sein s‘," versicherte ein hübsches, junges Ding mit Kohlenstrichen unter den Augen. "Mein Freund, mit dem was ich jetzt geh‘, is auch ein Jud‘ und morgen geh‘ ich zu Gerngroß mit ihm, weil er mir ein neues Kleid kaufen will. Er hat selbst nicht viel, aber was er hat, teilt er mit mir."

"Ausg‘schamte Ludern seids alle zusammen," schrie der Angeheiterte, "daß euch net graust von denern Saujuden! Derschlagen sollt man die jüdischen Gauner, die was uns das Geld wegschleppen und noch dazu unsere Töchter und Frauen entehren tun."

Da der Meinungsaustausch jetzt sehr heftig wurde, zog es Grete vor, zu Meister Wisloschill zu gehen, um auf Rechnung der Frau Greifer zwei Paar Halbschuhe zu bestellen.

Auch in der Werkstatt des tschechischen Schusters, die gleichzeitig Küche und Wohnzimmer war, herrschte Aufregung, aber aus ganz anderen Gründen.

Der Lehrbub, ein aufgeweckter, munterer Junge, war eben nach vierwöchiger Abwesenheit nach Wien zurückgekommen. Er war an einem Lungenspitzenkatarrh erkrankt und zu seiner Ausheilung aufs Land zu seinen Eltern gefahren. Am Morgen nach der Entdeckung des Mordes im Hause 55 war er fortgefahren, so daß er erst jetzt, nach seiner Rückkehr, von der Bluttat Kenntnis erhalten hatte. Und nun einige Mitteilungen machte, die das Ehepaar Wisloschill in lebhafte Aufregung versetzten.

Als Grete eintrat und ihre Bestellung machte, rief der Meister den Lehrbuben heran.

"Franzl, das Freiln ist gebildet, hat sich Lateinschulen besucht, erzähl‘ jetzt noch einmal genau, was du weißt." Sich wichtig fühlend, berichtete Franz ausführlich über seine Beobachtungen.

Er hatte damals gegen sieben Uhr abends ein Paar Schuhe von einem Ingenieur, der im ersten Stock des Hauses 55 wohnte, holen müssen, weil eine geplatzte Naht im Oberleder sofort genäht werden sollte. Hinter ihm war ein großer Herr in das Haus gekommen, dessen eleganter, dunkelgrauer Raglan mit dem grauen Pelzkragen dem Knaben aufgefallen war. Der Herr hatte, wie Franz, der inzwischen im ersten Stock angelangt war, feststellen konnte, bei der Frau Merkel im Mezzanin selbst aufgesperrt.

Franz hatte bei dem Ingenieur einige Minuten warten müssen und befand sich gerade auf der Treppe vom ersten Stock ins Mezzanin, als eine in Pelz gehüllte und dicht verschleierte Dame in fieberhafter Eile vom Parterre hinaufeilte und vor der Türe der Frau Merkel stehen blieb. Neugierig war auch der Lehrbub stehen geblieben und es war ihm aufgefallen, daß die feine Dame zweimal hintereinander läutete, um dann durch die sofort geöffnete Türe durchzuhuschen, wie jemand, der nicht gesehen werden will.

Franz wußte, daß die Frau Merkel ein Absteigequartier vermietete und mochte sich wohl seine frühreifen Gedanken über den Besuch des Herrn und der Dame gemacht haben. Gegen neun Uhr war die Reparatur beendet und der Lehrbub trug die Stiefel wieder hinüber. Gerade als er das Haus 54, in dem er wohnte, verließ, sah er, wie aus dem genau gegenüberliegenden Haus 55 der Herr im Raglan eilig herauskam. Der Herr sah sich nach allen Richtungen um, lief fast die Straße abwärts, um aber schon nach wenigen Schritten scheinbar unschlüssig stehen zu bleiben und im Haustor des zweitnächsten Hauses Nummer 51 zu verschwinden.

Verdutzt war auch der Schusterbub stehen geblieben. Warum lief der Herr von einem Haus in das andere? Nummer 51 hatte gar keine Wohnungen, sondern war ein einstöckiges Gebäude, das ein Möbellager enthielt. Was also wollte der Herr in dem Haus, in dem nur ein Hausmeister rückwärts im Hof wohnte?

Aber schon war der Herr wieder auf der Straße und rannte abermals stadtwärts. Nur einmal noch blieb er stehen, bevor er in der Dunkelheit verschwand, und zwar gerade unter einer Gaslaterne, die ihn scharf beleuchtete. Und nun sah der Junge mit seinen guten Augen, daß der elegante Herr, der vorhin, um sieben Uhr, ganz sicher einen schwarzen Spitzbart besessen und einen Zwicker getragen, Bart und Zwicker nicht mehr hatte. Er war jetzt glattrasiert!

Franz, dessen Phantasie von Kinodramen und Schundromanen reichlich genährt war, dachte sofort an ein geheimnisvolles Verbrechen, hatte aber keine Gelegenheit mehr, seine Beobachtungen dem Meister oder der Meisterin mitzuteilen, da beide schon schlafen gegangen waren. Am nächsten Morgen mußte er zeitlich aufstehen, um seinen Zug nach Aspang zu erreichen, und der ganze Vorfall wäre seinem Gedächtnis entschwunden, wenn er nicht jetzt, nach seiner Rückkehr, von dem furchtbaren, noch immer unaufgeklärten Mord an der schönen, reichen Frau Dr. Lia Leid erfahren hätte.

Interessiert hatte Grete den Buben ausreden lassen, dann gab sie dem Meister den Rat, am andern Tag mit Franz auf das Polizeikommissariat zu gehen.

Frau Wisloschill, eine recht feine Frau, die sich als Stubenmädchen in reichen Häusern gute Umgangsformen und einige Bildung angeeignet hatte, stellte, während ihr Mann dem schönen Mädchen Maß nahm, philosophische Betrachtungen an.

"Eine Schande ist es, daß so eine noble Frau, der der Mann das Paradies auf Erden bereitet, mit irgendeinem Kerl, den sie vielleicht nicht einmal ordentlich kennt, in ein Absteigequartier geht. Recht ist ihr geschehen, allen Frauen, die ihre Männer betrügen, sollte es so gehen!"

"Vielleicht hat sie ihn sehr geliebt," meinte Grete nachdenklich.

"Ach was, geliebt! Wenn man einen ordentlichen Mann hat, der einen auf den Händen trägt, so hat man keinen anderen zu lieben! Aber ich weiß es ja, alle diese reichen Frauen haben einen Liebhaber, es gehört bei ihnen ordentlich zum guten Ton, einen zu haben, und wenn eine brav ist, wird sie ausgelacht. Ich habe zwanzig Jahre in den feinsten Häusern gedient – also ich weiß genau, wie es da zugeht. Mit eigenen Ohren habe ich einmal gehört, wie meine Gnädige einer jungen Frau gesagt hat: ‚Sie sind nervös, weil Sie kein Verhältnis haben! Schaffen Sie sich nur rasch einen Freund an, dann wird ihnen das Leben gleich viel heiterer vorkommen!‘ Einem armen Mädel nimmt man es übel, wenn es, weil es arm ist und auch etwas vom Leben haben will, sich verkauft, und die reichen Frauen schmeißen sich rein zum Zeitvertreib an den erstbesten Kerl, der gut tanzen kann, weg."

Herr Wisloschill war fertig und Grete sagte, ein wenig verlegen, daß die Rechnung an Frau Greifer geschickt werden möge. Uber das Gesicht des Schusters zuckte ein Lächeln, während Frau Wisloschill überrascht aufblickte.

"Kennt das Fräulein die Frau Greifer schon lange?"

"Ich kenne sie gar nicht," erwiderte Grete, während ihr die Röte ins Gesicht schoß, "als der Vater starb, hat sie uns die Trauerkleider zurecht gemacht, das ist alles."

Frau Wisloschill wechselte einen Blick mit ihrem Gatten und sagte dann zögernd:

"Ich will gegen die Frau Greifer nichts sagen, sie ist unsere beste Kundschaft – immer schickt sie uns Damen – aber ich mein nur, weil sie doch so ein feines, junges Mädchen aus gutem Haus sein – ich würde mich an Ihrer Stelle mit der Frau Greifer auf nichts einlassen. Man redet halt so allerlei – und ein schönes junges Mädel wie Sie kommt doppelt so schnell ins Unglück wie eine andere."

Wisloschill unterbrach sie grob.

"Red‘st wieder Unsinn, Frau! Freiln braucht Schucherln, siehst es ja eh. Soll sie sich lieber zu Tod rackern und Lungensucht kriegen von schlechte Kost? Wenn Freiln Rumfort is sich g‘scheit, so wird sie scho wissen, was zu tun. Nur net dumm sein, gnä‘ Freiln, dann haben Sie alle Mannsbilder am Wickel!"

Frau Wisloschill sagte nichts mehr und Grete ging, verwirrt, wie betäubt nach Hause, wo sie längst sehnlich erwartet wurde. In der Nacht aber träumte sie, daß sie in einem herrlichen Pelzmantel an der Seite eines schönen großen Mannes mit guten freundlichen Augen saß. Der Mann wollte sie an sich ziehen und küssen, sie widerstrebte sanft, da drehte sich der Chauffeur, der die Gesichtszüge der Frau Greifer trug, um und rief ihr höhnisch zu: Nur nicht dumm sein, nur nicht dumm sein!

Um sieben Uhr wurde sie von der rasselnden Weckuhr aus dem Schlaf gescheucht, zog sich frierend in dem ungeheizten Zimmer an, schlürfte eine Tasse widerlichen Malzkaffees herunter und eilte in ihrem schäbigen, dünnen Fähnchen und den zerfetzten, ausgetretenen Schuhen zu Fuß nach dem Hohen Markt ins Bureau, um für Herrn Wöß zu arbeiten.

Die Schreibmaschine klapperte hastig, und es war Grete, als würde sie den Takt zu den Worten "Sei nicht dumm, sei nicht dumm!" schlagen.


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