Hugo Bettauer
Die freudlose Gasse
Hugo Bettauer

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Zurück in die freudlose Gasse.

Die Melchiorgasse hatte wieder ihre Aufregung. Alle die schlumpigen, abgehärmten Weiber, die vormittags mit den halbleeren, zerrissenen Einkaufstaschen sich zu endlosen Disputen vor den Haustoren zu versammeln pflegen, raunten es einander zu:

"Die Marie von den Lechners ist nach Haus gekommen."

Schauderhafte Details wurden von dem Zustand erzählt, in dem sie aus dem Allgemeinen Krankenhaus abgeliefert worden sei.

"Ganz herunter‘kummen ist das Madel, Zähn‘ sein ihr ausg‘fallen, ausschauen tut s ‚ wie eine Leich‘."

"Nicht an Kreuzer Geld und kane Kleider. Da wird ja die Lechner a schöne Freud‘ haben!"

"Morphinistin soll s‘ g‘worden sein! Recht g‘schieht ihr! Drei Jahr‘ Duljäh und dann das Spital, so muß es denern Ludern gehen, die an nix denken, als an die Mannsbilder!"

"A was, reden S‘ kan Blödsinn umanand! Pech hat s‘ halt g‘habt, das arme Madel! Schön und jung war s‘ und aus derer Gassen hat s‘ heraus wollen! Das is doch ka Sünd‘ net!"

Während sich so die Volksmeinung in verschiedenen Tonarten ausließ, lag Marie Lechner, die drei Jahre lang als die schöne Mary in den Wiener Nachtlokalen eine Rolle gespielt hatte, im vierten Stock des erbärmlichen Proletarierhauses Nummer 54, in der dunklen, an die Küche stoßenden Kammer auf einem zerfetzten Strohsack, allein, verlassen, fiebernd, nach einem Trunk lechzend, den ihr niemand geben konnte.

Mutterschicksal des Wiener Mädels aus der Tiefe, das das Glück oder Unglück hat, schön zu sein. Der Vater, einst ein braver, fleißiger Arbeiter, jetzt Schwerinvalide, einbeinig, einarmig, zerbrochener Kiefer, die eine Augenhöhle leer. Torso eines Menschen, im Schützengraben, in der Gefangenschaft, im Lazarett zum Halbtier geworden, das als letzte Lebensfreude den Alkohol hat und das bißchen Geld, das ihm der Staat geben kann, bis zum letzten Heller in Fusel umsetzt.

Die Mutter mit ihren knapp zweiundvierzig Jahren ein altes Weib, das frühmorgens aus dem Haus geht, um bei fremden Leuten zu waschen, spätabends auf ihren Strohsack kriecht, in der Nacht von dem heimkehrenden Trunkenbold geweckt wird, ihm, da er sich nicht allein entkleiden kann, behilflich sein muß, froh ist, wenn er ihr in einer Anwandlung von Zärtlichkeit die Schnapsflasche reicht, noch froher, wenn er nicht mit der Faust des einen Armes, der ihm geblieben ist, auf ihren wehen, dürren Körper einprügelt.

In Kriegsnot und Elend war ihnen das einzige Kind, die Marie, lieblich aufgewachsen, groß, schlank, wohlgebaut, ein roter, sinnlicher Mund, der zum Küssen lockt, kastanienbraune Haare in überreicher Fülle, lebhafte graue Augen, die von Temperament sprühten. Und dabei behutsam den Burschen und Männern aus ihrer Umgebung aus dem Wege gehend, nicht wie ihre Altersgenossinnen, die unter Haustoren, in den verlassenen Möbelwagen, die in großen Höfen stehen, im Gebüsch der Gärten sich dem erstbesten ausliefern, mit zwölf Jahren schon in alle Geheimnisse der Liebe eingeweiht sind.

Bis auch ihre Stunde schlug. Nach dem Krieg lernte die Siebzehnjährige, die mit Hilfe eines entfernten Onkels vom Lande, dem es gut ging, eine Handelsschule besucht und eben eine Stellung in einem Bureau angetreten hatte, einen eleganten Herrn kennen, dem sie willig ihre Unberührtheit schenkte. Und später eine gefällige Frau, die ihr die Wege wies, die Wege in die Champagnerlokale, Bars und Nachtcafés. Vor drei Jahren verschwand Marie aus der Kammer ihrer Mutter, tauchte als die schöne Mary in der Lebewelt auf, man sah sie im Auto, beim Rennen, in den Logen der Varietés. Nicht weit von der Melchiorgasse 54 und von diesem Haus, doch durch Welten getrennt, hatte sie ihre Wohnung. Und mehr als hundertmal erzählte ihre Mutter neidvoll und doch mit Zärtlichkeit im Unterton:

"Der Marie geht‘s fein! Sie geht mit die nobelsten Herren und trinkt mehr Champagner als unsereins Malzkaffee. Sehen tu‘ ich sie ja nie, aber die Leut‘ erzählen mir von ihr."

Und nun war sie wieder in der Melchiorgasse, bei der Mutter, und spuckte Blut auf den Fetzen, der ein Kissen bildete, und hatte entzündete Augen und Geschwüre am Körper.

Was eigentlich mit Mary, die jetzt wieder Marie hieß, geschehen war, wußte Frau Lechner nicht. Das Mädchen war aus dem Frauenspital nach Hause gebracht worden, hatte wirr aufgelacht und mit der heiseren Stimme der Unglücklichen, denen Amor das Blut vergiftet, geflüstert:

"Sie laßt mich nicht los, die Melchiorgassen, sie hat mich wieder, die verfluchte Gassen. Mutter, schreib‘ auf das Holzkreuzel am Grab:

Geboren, zur Dirne geworden und krepiert in der Melchiorgassen."

Angesichts dieses Häuflein Elends war sogar dem Invaliden der Rausch verflogen, er hatte nicht geschimpft und dreingeschlagen, sondern die Hand seiner Frau gepackt und stumm gelauscht, wie die Marie im Traum aufschrie und unzusammenhängende Worte stammelte.

Am anderen Tag hatte die Melchiorgasse eine noch kräftigere Sensation. Als Frau Lechner abends vom Waschen nach Hause kam, traf sie vor dem Haus Nummer 56 die Frau Greifer, die, den fetten Leib in einen Pelzmantel gehüllt, eben ein Autotaxi besteigen wollte. Mit einem gellenden Wutschrei stürzte die Wäscherin auf sie los und schrie, daß man es in allen umliegenden Häusern hören konnte:

"Koberin, verfluchte, Sie tragen an Pelz und fahren im Automobül und mein armes Madel verfault bei lebendigem Leib auf‘m Strohsack! Ins Zuchthaus g‘hören S‘, Sie Zutreiberin, die was unsere Kinder verkauft! Anzeigen wer‘ ich Sie bei der Polizei. Sie Luder Sie!"

Der Taxichauffeur verhinderte die Lechner, der Frau Greifer in die Haare zu fahren, und die Wäscherin kroch, von johlenden Kindern verfolgt, ihrer Behausung zu, um der Mary, die jetzt Marie hieß, aber von der Mutter schon wieder Maritscherl genannt wurde, eine Suppe mit einem Ei zu kochen. Die Knochen für die Suppe hatte sie von der Köchin des Hauses, in dem sie gewaschen, geschenkt bekommen, das Ei aber sozusagen gestohlen. Der liebe Gott, der angeblich alles sieht, hat sicher zu diesem Diebstahl freundlich gelächelt.

Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, an dem nicht gewaschen wird, erschien in aller Früh Fräulein Henriette, die Direktrice des Schneidersalons der Frau Greifer, bei der Lechner, schauderte bei dem Anblick der Kranken, bekreuzte sich und redete dann heftig auf die Mutter ein. Die Unterredung endete damit, daß Frau Lechner zehn Scheine zu je 50.000 Kronen erhielt, die sie sofort tief in den Strohsack ihres Bettes vergrub, damit der Gatte, der eben seinen Rausch ausschlief, sie nicht finde. Und dann das Fräulein Henriette zur Tür begleitete und ihr einen Handkuß für die Frau Greifer auftrug.

Arme Leute dürfen sich den Luxus des Ehr- und Rachegefühls nicht leisten. Auch das ist nur für die Reichen. – – –


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