Hugo Bettauer
Die freudlose Gasse
Hugo Bettauer

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Der erste Schritt.

Als Grete Rumfort in ihrem neuen Kostüm zum erstenmal nach der Mittagspause ins Bureau ging, drehten sich noch viel mehr Männer nach ihr um als sonst. Und die Blicke, die sie in die Auslagefenster warf, sagten es ihr, daß sie jetzt erst schön, auffallend schön sei. Die kleinen Füße in den Lackhalbschuhen des Meisters Wisloschill, die schlanken, edel geformten Beine von grauen Seidenstrümpfen umhüllt, die weichen, zarten Linien ihres Körpers – wahrhaftig, es ging keine an ihr vorüber, die sich mit ihr hätte messen können. Die grüne Farbe des Kostüms hob ihren Teint, ließ ihre blonden Haare goldig schimmern, der kleine Hut saß kokett auf dem schönen Köpfchen.

Von oben bis unten hatte Frau Greifer sie eingekleidet, alles an ihr war neu, auch ihr Lebensmut, ihre Freude an sich selbst. Als anderer Mensch fühlte sich Grete, selbstbewußt, selbstsicher, stolz.

Grete hatte sich spät entwickelt. Als vor einem Jahr ihr Vater starb, war sie noch ein schüchterner, eckiger Backfisch gewesen, und das Jahr ihrer Reife zum jungen schönen Weib hatten Sorge und Kummer so belastet, daß sie nicht zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen war. Und nun fühlte sie sich eigentlich zum erstenmal in ihrem Leben als Weib, als Siegerin, die Ansprüche an das Leben stellen konnte.

Vor dem Haus, in dem sich das Bureau des Herrn Wöß befand, zögerte Grete.

Was wohl die Kollegen und Kolleginnen sagen würden? Diese armen, dürftigen, genau wie sie ausgebeuteten Menschen, die alle wie sie noch gestern in Fetzen und zerrissenen Schuhen einher-gingen! Und Herr Wöß, dieser ekelhafte Kerl, der würde schauen!

Während das Mädchen die Treppen hinauf ging, fiel plötzlich die ganze Freude von ihr ab. Mit Schrecken kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie fast keinen Heller mehr besaß, morgen schon zu Hause wieder Not und Hunger herrschen würden, alles, was sie trug, ausgeborgt war, eigentlich gar nicht ihr, sondern dieser seltsamen freundlichen und ihr doch unheimlichen Frau Greifer gehörte. Im Bureau riß man Augen und Ohren auf. Bewundernde, neidische, argwöhnische Blicke musterten sie, niemand sagte etwas, man tat, als wäre sie das Fräulein Rumfort vom Vormittag und nicht eine elegante, bildhaft schöne junge Dame, die in dieses schmutzige Bureau mit seinen wackeligen Stühlen und ungehobelten Schreibtischen nicht hineinpaßte.

Auch Grete tat ganz unbefangen und setzte sich wie gewöhnlich vor ihre aus vergangenen Jahrzehnten stammende Schreibmaschine, um zu arbeiten.

Herr Wöß betrat das Bureau und verschluckte sich, als er Grete sah. Musterte sie von oben bis unten durchdringend, lachte dann höhnisch auf und begab sich, während er vielsagend mit den Achseln zuckte, in sein Kontor.

Das höhnische Lachen des Sklavenhälters hatte auf die Sklaven befreiend gewirkt, fand nun sein zehnfaches Echo. Alle grinsten, warfen Grete höhnische Blicke zu, und ein ausgedörrtes, angesäuertes Mädchen murmelte ihrer Nachbarin etwas von Kokotten und Frauenzimmern zu.

Bisher hatte sich Grete, die gefällig und liebenswürdig gegen jedermann war, mit allen gut vertragen, jetzt fühlte sie zum erstenmal Abwehr gegen sich, aber auch Abwehr gegen die anderen.

Herr Wöß öffnete die gepolsterte Tür seines Privatkontors und rief barsch nach Grete.

Allein mit ihr begann er vergnügt zu lachen.

"Also, reichen Liebhaber gefunden, was? Recht haben Sie, sehr recht, ein junges, schönes Mädel muß klug sein. Schade, wäre gern der Erste bei Ihnen gewesen, hätte mich auch nicht lumpen lassen, aber macht nichts, bin noch immer Ihr guter Freund. Eifersucht kenne ich nicht, bin begnügsam. Also, wann werden Sie mir eine Nacht schenken?"

Grete zitterte am ganzen Körper vor Empörung und Scham. Sie stampfte mit dem Fuß auf und sagte, während ihr die Tränen entströmten:

"Herr Wöß, ich muß mir das verbieten, Sie haben kein Recht, mich zu beleidigen."

Da geschah Unerwartetes. Der dürre Kerl mit der Trinkernase und dem finnigen Gesicht riß das Mädchen auf seinen Schoß und preßte es mit eiserner Gewalt an sich, während er keuchte:

"Geh‘, tu‘ dir nichts an, Schatzerl! Das, was ein anderer kann, kann ich auch, und gerade jetzt gefallst du mir gut. Oder willst du mir einreden, daß dir der liebe Herrgott die feinen Sacherln geschenkt hat?"

Ein frecher Handgriff tat das übrige, um Grete fast die Besinnung zu rauben. Mit einem jähen Ruck riß sie sich los, schlug mit der geballten Faust ihrem Chef ins Gesicht und schrie:

"Ich bleibe keine Stunde länger bei Ihnen, Sie gemeiner Mensch Sie!"

Schluchzend stürzte sie hinaus, Wöß folgte ihr und brüllte ihr nach:

"Schauen Sie, daß Sie hinauskommen, Sie Frauenzimmer Sie! Ich dulde in meinem Bureau keine liederlichen Personen, die in Samt und Seide einherkommen. In dem Aufzug gehören Sie auf die Straße, aber nicht unter solide Menschen. Sie sind ohne Kündigung entlassen. Schauen Sie, daß Sie bald den Vorschuß zurückzahlen, sonst verklage ich Sie!"

Grete hörte das beifällige Murmeln der Sklaven nicht mehr, sie hatte Jacke und Hut genommen und war davongeeilt, ohne noch einmal aufzublicken. Und wie sie nun draußen im Novembernebel stand, schien ihr durch die Tränen, die ihren Augen entströmten, die Welt nicht mehr schön und hoffnungsfroh zu sein, sondern grau, düster und verzweifelt.

Mechanisch, wie im Traum querte Grete die Innere Stadt, um über den äußeren Burghof, den Volksgarten entlang, nach Hause zu kommen, fühlte nicht die werbenden Männerblicke, die ihr folgten, sich an ihr festsaugten, sie entkleideten. Dumpfer Refrain aller ihrer Gedanken: Was jetzt, was jetzt, woher Geld nehmen? Ungeheures Mitleid mit sich selbst überkam sie, das Gefühl der Schutzlosigkeit und Verlassenheit. Großvater würde poltern und mächtige Worte sprechen und von Custoza erzählen, Mama, die arme, von all den Sorgen ganz unvernünftig gewordene Mama, jammern und weinen, Erich, dieser gute, liebe Junge, sich dann an Mamas Schürze klammern und mit ihr heulen. Und Else – Grete schloß die Augen und ein unsagbares Angstgefühl durchzog sie. Else machte ihr Sorgen, war in letzter Zeit so seltsam, gar nicht wie ein Kind von dreizehn Jahren – gestern erst hatte sie ihr gesagt, sie denke nicht daran, noch länger so zerfetzt in die Schule zu gehen, sich in den Hüften gewiegt und mit einem grellen, unkindlichen Lachen erklärt, ganz genau zu wissen, daß es Herren genug gäbe, die einem Mädchen, auch wenn es erst dreizehn Jahre alt sei, Geld und schöne Sachen schenken. – – –

Grete fühlte ihr Herz bis zum Hals hinauf klopfen, als sie die Melchiorgasse betrat, die ihr heute düsterer, abscheulicher als je erschien. Freudlose Gasse mit häßlichen Menschen, Armut und Verbrechen.

Schaudernd sah Grete zu den Mezzaninfenstern des Hauses 55 empor. Hier hinter diesem Vorhang war die junge, schöne Frau erdrosselt worden, die alles hatte, was das Leben an Glanz und Pracht bieten konnte, und doch nicht mit ihrem Schicksal zufrieden war, aus dem Heim voll Luxus und Reichtum hierhergeschlüpft war, um in der freudlosen Gasse durch Mörderhand zu sterben.

Vor dem Haus Nummer 56 blieb Grete stehen, betrat es dann mit raschem Entschluß. Vielleicht wußte Frau Greifer, die so gut zu ihr gewesen, Rat. Sicher, so war es, diese welterfahrene Frau mit ihren vielen Bekanntschaften würde ihr helfen, eine neue Stellung verschaffen.

Frau Greifer führte Grete in einen großen, mit alten Möbeln nicht ohne Geschmack ausgestatteten Salon, dessen breiter Kachelofen behagliche Wärme ausströmte. Verwundert sah sich Grete um. Es fiel ihr auf, daß unverhältnismäßig viel Stühle und Fauteuils in dem saalartigen Raum umherstanden, an den Wänden hintereinander drei Diwans, neben dem Klavier vor dem mit dichten Vorhängen verdeckten Fenster eine Art Podium.

Frau Greifer fing den Blick des Mädchens auf und erklärte gleichmütig:

"Bei mir gibt es oft kleine Unterhaltungsabende, da wird gespielt und getanzt. Für die Damen, die bei mir arbeiten lassen. Sie bringen halt ihre Herren mit und es ist dann recht lustig bei uns. Das nächstemal lade ich Sie auch ein, Freiln Grete, nur muß ich Ihnen vorher ein schönes Abendkleid machen."

"Damit wird es wohl nichts werden, Frau Greifer! Wie Sie mich hier sehen, bin ich ein armes, postenloses Bureaumädel, das man hinausgeschmissen hat."

Frau Greifer hörte die Erzählung Gretes schweigend an, während sie zärtlich die Arme und die Büste des schönen jungen Mädchens tätschelte. Dann nickte sie.

"Ja, so geht es einem schönen Mädel, wenn es arm ist. Brauchen sich deshalb kein graues Haar wachsen zu lassen. Wer‘n mir schon machen, verlassen Sie sich nur auf die Greifer, die wird Ihnen schon einen eleganten, reichen Freund aussuchen, bei dem Sie gut aufgehoben sind."

Grete zuckte zusammen.

"Verkaufen tue ich mich nicht, Frau Greifer, lieber geh‘ ich ins Wasser. Ich bin kein dummes Mädel mehr, weiß schon, wie es auf der Welt zugeht. Aber der Gedanke, daß ich mich mit so einem abscheulichen Kerl – nein, Frau Greifer, ich könnte es einfach nicht tun, würde, sogar wenn ich es wollte, im letzten Moment davonlaufen."

Die Schneiderin lenkte ein.

"Von einem abscheulichen Kerl ist ja keine Rede, Fräulein Grete! Ich denk‘ an einen feschen, eleganten Herrn, der Ihnen gefallen wird. Und Sie brauchen sich ja nichts zu vergeben, gar nichts! Die Männer von heutzutag sind ja gar nicht so, daß sie gleich alles wollen. Wenn Sie gescheit sind, dann halten Sie ihn hin, so lange es Ihnen paßt. Ich kenn‘ einen feinen Herrn, einen schönen, stattlichen Mann, er heißt Löhner und ist furchtbar reich. Wenn Sie den richtig zu behandeln verstehen, so können Sie Millionen, Schmuck, Perlen, Kleider von ihm haben – was Sie wollen. Verlassen Sie sich nur auf mich, Fräulein Grete, ich wer‘ Ihr Glück schon machen. Wenn ich das nicht genau wüßt, hätt‘ ich doch nicht das viele Geld für die Kleider kreditiert. Ich bin ja selbst eine arme Frau und muß schauen, daß ich zu meinem Geld komm‘."

Aus den Pfoten der Katze, die eben noch geschmeichelt und gestreichelt hatte, fühlte Grete die Krallen auftauchen. Zitterndes Angstgefühl bemächtigte sich ihrer und doch auch wieder der Wille zum Leben. Millionen, Kleider, Juwelen – und das alles vielleicht nur für einen flüchtigen Kuß, an dem ihr Herz nicht beteiligt sein würde. Pah, das konnte man riskieren, das wusch man wieder mit Seife und Wasser ab, wie einen Rußfleck!

Die Türglocke hatte geläutet und nun kam Fräulein Henriette mit zwei eleganten jungen Damen herein. Die eine, eine wahrhaft junonische brünette Erscheinung, die andere klein und zierlich wie eine Puppe. Beide trugen Pelzmäntel, die sie jetzt ablegten. Stark dekolletierte Abendkleider und viel Schmuck kamen zum Vorschein.

Frau Greifer stellte vor:

"Fräulein Lona und das kleine Fräulein Gisi. Das ist Fräulein Grete, die jetzt schweren Kummer hat. Ich wer‘ ihr schon helfen, auf mich kann man sich verlassen, was, meine Damen?"

Die imposante Lona und die zierliche Gisi nickten nicht gerade sehr eifrig und sahen Grete neugierig und ein wenig ironisch an. Lona wandte sich dann der Frau Greifer zu:

"Na, Mutterle, wird es heute hoch hergehen? Ich brauch‘ Geld, viel Geld!"

Frau Greifer zwinkerte mit den Augen und beeilte sich, Grete in das vordere Zimmer zu führen.

"Zwei nette, feine Damen! Denen ist es genau so schlecht gegangen, wie Ihnen, bis sie sich mir anvertraut haben. Heute fahren sie im Auto spazieren und leben wie die Fürstinnen. Nur nicht dumm sein, Freiln Grete, dann werden wir beide auf unsere Rechnung kommen!"

Grete hämmerten die Pulse. Sie war verwirrt, wußte nicht recht, was um sie her vorging, konnte und wollte keine Erklärung dafür finden, daß hier Damen nur Vornamen hatten. Eine grenzenlose Müdigkeit machte sie fast willenlos, kaum daß sie sich noch zu der schamhaft geflüsterten Bitte aufschwingen konnte, Frau Greifer möge ihr ein Darlehen von fünfzigtausend Kronen gewähren.

Die Äuglein der Schneiderin blitzten auf. Sie gab Grete den Betrag, fügte aber hinzu, daß es ihr selbst schwer ankomme und sie mehr nicht tun könne. Übrigens werde sie in den nächsten Tagen an einem Nachmittag bei einer guten Jause Grete mit dem Herrn Löhner bekannt machen, und wenn sie nur klug sein wolle, werde dann alle Not ein Ende haben.

Grete nickte. Schon hatte sie das Gefühl, nicht mehr freies Eigentum ihrer selbst, sondern willenlos, verpfändet, Gegenstand zu sein. Und doch war sie nicht mehr so verzweifelt wie vor zwei Stunden noch. Für einen Tag war ja die Not abgewendet und dann – Frau Greifer würde schon helfen. Und – morgen würde sie sich ausschlafen können. Denn sie brauchte ja nicht mehr in das schreckliche Bureau des Herrn Wöß zu gehen. – – – –


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