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Dichters Lande

Ich ging wieder in Belfast spazieren und hatte genug von Belfast. Schließlich will man im Sommer auch etwas anderes, als sich über die Fortschritte der nordirischen Leinenindustrie verwundern und feststellen, daß die Straßen einer großen Industriestadt gut gekehrt sind. Es gibt grüne Berge, es gibt die See. Also wohin?

Was tut der Mensch? Er geht ins nächste Reisebureau und verlangt Prospekte.

Im Reisebureau sagt mir ein hilfreicher Beamter: »Besuchen Sie doch die Insel Man! In vier Stunden sind Sie dort.«

Es gibt auf Reisen gute Momente. Da fährt man zunächst von Station zu Station, findet überall zweibeinige Menschen und die gewohnte Tabaksorte und merkt höchstens am Zustand des Geldbeutels, daß man weiter und weiter kommt. Auf einmal sagt so ein gutes Menschenkind: Vier Stunden zur Insel Man! Und man fängt an, sich zu imponieren. Die Insel Man, das ist etwas Weites, etwas Unbestimmtes, etwas aus der Geographiestunde. Schade, daß sie vom Geographielehrer schon entdeckt worden ist, sonst würde man jetzt als Forschungsreisender berühmt ... Indessen, man wird auch so vor Mitmenschen protzen dürfen. Was wissen die Mitmenschen von der Insel Man? Was weiß ich heute von ihr?

Und auf einmal fällt mir ein, daß ich ja jeden Winkel der Insel Man schon kenne. Daß ein scharf umrissenes, scharf belichtetes Bild dieser fernen Insel in mir ist. Nur daß sie wirklich und im Ernst existiert, habe ich bisher im Ernst nicht geglaubt. Die Insel Man ist die Insel des Dichters Hall Caine und in Hall Caines Romanen steht die ganze Insel Man. Aber man begreift nicht gleich, daß es dasselbe Eiland sein soll, das man heute Nachmittag mit einem wirklichen Dampfer erreichen kann.

Nun habe ich ja diesem Sommer seine Überschrift gegeben: Irische Reise. Soll ich die irische Reise ein bißchen unterbrechen und ferne Inseln entdecken gehen? Gott, die Insel liegt vier Stunden von Irland und ich muß nicht so streng mit mir sein. Übrigens, vielleicht erfährt man auf der Insel Man etwas über Irland.

Während der Dampfer durch die irische See fährt, überlege ich, was ich also gelesen habe: eine nordische Felseninsel zwischen England, Schottland und Irland. Ein kleiner selbständiger Staat unter britischer Flagge. Also ein Homerule-Land, vier Stunden von Irland. Man wird sehen können, wie sich Homerule in diesen Gegenden ausnimmt. Weiter: Die Bewohner sprechen Manx, eine Mischung von Keltisch und Altskandinavisch. (Wird man mein kostbares Englisch im Hotel auch verstehen?) Die Katzen haben dort keine Schwänze. Dann muß es viel Heidekraut geben, der Eindruck ist mir im Gedächtnis geblieben. Die Leute, biedere Heringsfischer und rauhe Bauern, schwerblütig, tragisch veranlagt. Zwei von ihnen heißen Deemster, sitzen auf Richterstühlen und pflegen Dramen zu erleben. Alle zusammen hängen an alten Sitten und halten nach dem alten Brauch ihrer germanischen Ahnen noch immer Thinge ab, Versammlungen des souveränen Volkes. Oh, es muß eine interessante Insel sein. Oder schon mehr ein Eiland.

Wie es gerade dunkel wird, sieht man vom Deck aus eine ferne Steilküste. Sie kommt näher, sie sieht einsam aus, ein großer Stein im Meer. Aber da öffnet sich eine Bucht und oben, mitten in den ureinsamen nordischen Klippen, da kriecht etwas. Es ist unglaublich, aber wenn man nicht gerade auf eine so romantische Heringsfischerinsel lossteuerte, würde man bestimmt meinen, es sei der hellerleuchtete Wagen einer normalen »Elektrischen«. Und dann ist da rechts ein Schimmer. Illuminieren die Heringsfischer heute? Aber nein, es ist ein langer, langer, städtischer Kai, und er schwimmt in grellem Lichte. Das muß doch der Hauptort Douglas sein, aber man hat sich ihn ein bischen anders vorgestellt. Und nun über eine lange, laute, wimmelnde Seebad-Landungsbrücke hinein in die Stadt.

Ja, was ist denn hier eigentlich los? Der ganze Kai ist verrückt, er heult, er singt, er gröhlt. Volksfest? Jahrmarkt? Da Blechmusik, dort brüllende Zeitungsjungen, eine bimmelnde Pferdebahn, Autos, Lichtreklamen von Varietes, Tanzhallen, Kinos. Über einem Theaterportal der flammende Name einer Operette von Lehár, dazwischen eine starre Reihe vielstöckiger Gebäude, die alle Hotels und Fremdenpensionen sind, auf dem Pflaster zwischen den Hotels und der See zehntausend sehr bewegliche, sehr laute, sehr gut aufgelegte Bummler – also ich bin ganz einfach in einen riesigen Badeort von der unsympathischsten Sorte geraten.

Am nächsten Morgen schlendere ich umher, nicht gerade in erbauter Stimmung. Die See ist blau, diese Tatsache ist unbestreitbar. In dieser Richtung ist alles in Ordnung; auch gegen die vielen netten Kinder habe ich nichts, die vor mir im Sande buddeln. Aber hinter mir und neben mir! Da ist ein Karussel; in hundert Geschäften werden bunte Ansichtskarten verkauft (»printed in Germany«), in hundertfünfzig Geschäften billige Andenken, geziert mit dem Bild der schwanzlosen Manx-Katze oder dem drolligen Wappen von Man, das wie das Wappen von Sizilien drei gestiefelte Beine zeigt. Auch kann ich mich sehr leicht und billig photographieren lassen, zumal mit einer komischen Kopfbedeckung, deren erlesenen Humor der Photograph gratis beistellt. Ferner ist ein billiges spezielles Zuckerzeug im weitesten Umkreise überall erhältlich. Zwischen all diesen Dingen helles Geschrei. Junge Burschen mit roten türkischen Fez auf dem Kopf (das muß eine Uniform des hiesigen Frohsinns sein) ziehen truppweise herum, singen und fühlen sich. Es dürfte hier momentan ein Kongreß aller Kommis von Manchester und Liverpool stattfinden.

Man möchte der Promenade entrinnen, aber die inneren Straßen sind noch voller, noch lauter, noch pöbelhafter vergnügt. Nun, rechts vom Hafen sind grüne Höhen. Da muß es schön sein. – – Was? Ich soll mich auf diese überfüllte Dampffähre setzen, die mit Musikbegleitung über den Hafen fährt? Da drüben muß es noch ärger zugehen, als auf der Promenade. Also nach links, dort ist auch ein Vorgebirge. Ich will in einen Pferdebahnwagen steigen, sehe aber, daß an dem Wagen eine große bunte Inschrift heischt: man möge nur ja jene einsame Klippe am Meer aufsuchen, es befinde sich auf ihr ein ganz wundervoller Vergnügungspark mit elektrischem Riesenschaukelbetrieb.

Was tut der Mensch, wenn er betrübt ist? Er kauft sich eine Zeitung. Ich gehe also in ein Buchgeschäft und verlange eine. Daily Mail gefällig? Manchester Guardian? Nein, Miß, eine Zeitung, bitte, von der Insel Man, über die Insel Man! Richtig, es gibt eine. Ich überfliege sie im Stehen. Großartige Pierrot-Truppe in der Villa Marina, neues Kinoprogramm im Palace. Aha, in einem Winkel steht noch ein minder wichtiger Artikel: Im uralten ständischen Parlament von Man, im »Haus der Keys«, wird über allerlei Mißstände debattiert. Man soll, sagt das Blatt, doch einmal mit der alten Komödie aufhören, mit der sentimentalen historischen Kleinstaaterei und die Insel ganz einfach zu einer englischen Grafschaft nehmen.

Also das ist das Ende einer tausendjährigen Autonomie. Alte Seekönige von Man hat es gegeben, nordische Wikinge, die neben sich keine Autorität duldeten, als das Thing ihres Volkes. Aus der keltischen Stammesverfassung und dem germanischen Königtum war ein besonderes Gebilde herausgewachsen: Regnum Maniae et Insularum, wie es unter dem ältesten Wappen mit dem Wikingerschiff heißt. Das ganze Mittelalter hindurch gab es einen König von Man, zuletzt aus dem Hause Stanley. Eines Tages fand zwar ein Stanley, Earl von Derby, es sei besser, ein großer Lord zu heißen, als ein kleiner König, und legte den Titel nieder – aber noch heute ist die Insel Man keine bloße englische Provinz. Die Bürger verwalten ihre kleine Heimat allein; am Tynwald-Hügel versammeln sie sich alljährlich zur Landgemeinde. Es ist das politische Ideal Vieler, diese weiße Autonomie kleiner Verbände unter einer großen Reichsflagge. Und jetzt wird die Abschaffung dieser Autonomie als ein kleines Item behandelt, eingebettet zwischen Kinoreklame. Auf dem jetzigen dreifüßigen Wappen von Man steht: »Quocunque jeceris, stabit.« Ein Motto für Manx-Katzen mehr als für ein Land: Es bedeutet: Wirf die Katz', wie du willst – sie fällt immer in den britischen Assimilationsbrei.

Mich faßt eine Wut gegen den Dichter Hall Caine. Er hat mich hergelockt in diese zertrampelte, verflachte Gegend. Aber ich werde jetzt wieder einmal seine Romane lesen und öffentlich beweisen, daß sie Fälschungen sind. Also, Miß, geben Sie mir den »Manxmann« von Hall Caine! Die Miß, vermutlich eine Manxfrau aus Liverpool, sucht und sucht in der kleinen Strandbuchhandlung. Ob ich nicht lieber die neue Sixpence-Detektiv-Geschichte will? Na, endlich findet die Miß tatsächlich den Band von Hall Caine.

Im Hotel schlage ich ihn auf und konstatiere, daß er zum größten Teil nicht hier, sondern drüben bei Ramsey spielt. Gut, ich kann auch nach Ramsey fahren, nur weiß ich nicht, ob mit der Eisenbahn, der Elektrischen Bahn oder dem Dampfschiff. Die ganze Promenade ist voll von streitbaren Plakaten der drei Gesellschaften. Jede behauptet, daß man auf der anderen Strecke gar nichts Rechtes zu sehen bekomme. Es ist eine sehr einsame Insel.

Ich wähle die Elektrische und bin ganz zufrieden. Der Lärm von Douglas verklingt. Man sieht das Meer, darüber grüne Hochflächen und stattliche, unbewaldete Berge. Manchmal zieht sich eine üppig bewachsene Schlucht zum Meer hinab. An diesen Stellen steht jedesmal ein Restaurant und die Ankündigung, der Eintritt in die Schlucht koste Sixpence; dafür sei diese aber der fraglos berühmteste »Glen« der Insel, und der Wasserfall der Konkurrenz nebenan sei viel dünner. Weiter. Hohe Hecken von blühenden Fuchsien verbergen das Meer. Purpurnes Heidekraut bedeckt den Abhang des Nebelberges Snaefell, den ich jetzt so schön mit Hilfe der elektrischen Bergbahn besteigen könnte, wenn ich nur Lust dazu hätte. Endlich sind wir in Ramsey. Auch hier wieder ein Strand mit lauter gleichen Sandkörnern und lauter gleichen Boardinghäusern, in denen lauter gleiche Leute aus Manchester die gleichen Worte reden und die gleichen Speisen essen. Aber es ist doch nicht so viel Lärm hier wie in Douglas, und auf dem ersten Informationsspaziergang sehe ich hübsche Hafenwinkel mit Heringskähnen und im Hintergrund liegen waldige Höhen, vielleicht ohne Entree. Hier kann man schon eine Sommerwoche verleben.

Auf einem grasigen Hang hingestreckt, zwischen Ginster und Erika, habe ich dann den »Manxmann« von Hall Caine gelesen. Kein Buch der modernen Art; die Leute darin sind entweder Engel oder aber sie werden geläutert. Es gibt Zufälle, Wiederholungen, Sentiments ohne Zahl. Aber doch ein hinreißendes, ein schweres, ein blutvolles Buch. Die Geschichte eines Ehrgeizigen, der hinauf will und der daher an dem schlechten Weibe vorbei muß, das er liebt. Und wie er dann wirklich Oberrichter wird, aber das Weib vernichtet und Pete, den braven Kerl und Freund; wie er eines Tages über seine eigene Sünde zu Gericht sitzen muß und nun alles hinwirft, um wieder ein guter Mensch sein zu können. Wie er, der Richter, die Hand der Sünderin faßt und mit ihr aus dem Regierungspalast fortschreitet ins Dunkel.

Nach den ersten zehn Seiten weiß man, daß es doch keine Fälschung ist. Daß da ein echter Manxmann Echtes über seine Insel geschrieben hat. Hall Caine hat mit diesem Buche viel Geld verdient; darauf kehrte er sofort aus der großen englischen Welt nach Man zurück, kaufte sich die Besitzung Greeba Castle und wohnt jetzt oft in der Heimat. In der Heimat? Ist dieser meerumspülte Vergnügungspark noch die Heimat eines Manxmannes und eines Dichters?

Mit Hilfe dieses schönen Buches erkennt man schließlich, daß auf dieser Insel die Schönheit noch immer nicht ganz tot, der Charakter noch immer nicht ganz zertreten ist. Ist die Insel Man (wie Hall Caine selbst klagt) schon ganz zur Insel Manchester geworden? Gott, sehr nordisch-keltisch-romantisch sind die Riesenschaukeln ja nicht, aber wenn man das Buch des Dichters gelesen hat und nun mit klareren Augen umherblickt, findet man noch Spuren der alten Eigenart. Fischer mit vollem Männerbart; Haufen von silbernen Heringen auf dem Samstagmarkt. Oder im Innern der Insel kleine Fußpfade, die plötzlich in eine andere Welt führen, in eine fast einsame Hirtenwelt, wo Schafe auf Bergwiesen grasen und wo um schöne, ausdrucksvolle Bauernhöfe südlichbunte Gärten liegen. Wenn man richtig so einen einsamen Winkel gefunden hat – aber es gehört etwas Forschergeist dazu – dann kann man glauben, man sei wirklich auf der stillen, schwerblütigen Insel, die zu suchen man im Sinn gehabt hat. Und daß das eines Dichters Land ist. Freilich, es ist bitter, Entree zahlen zu müssen, bevor man (durch eine Drehtür) in die bachdurchrauschte Farnschlucht gelassen wird, wo der Dichter Christian und Kate einander lieben ließ; es ist peinlich, in einem Restaurant Tee zu trinken, wo neben einem Karussel die Erinnerung steht: dies ist Hall Caines Gasthaus »Zur Manxfee« wo der alte Sektierer Cäsar dereinst – –

Nein, es ist gräßlich. Es stehen noch schöne altnordische Runenkreuze auf Friedhöfen, die einst still waren. Aber wenn altnordische Runenkreuze gerade gut genug sind, um Motive für Souvenir-Löffelchen abzugeben, verzichte ich auf Runenkreuze. Die schwanzlosen Manx-Katzen werden für Liebhaber besonders gezüchtet und teuer verkauft. Die gewöhnlichen Katzen für den Hausgebrauch haben Schwänze wie alle guten britischen Katzen. Die interessante Manxsprache hört man beim Spazierengehen genau so häufig, wie das Kalmückische; aber es macht sich vortrefflich, wenn der Autor einer Fremdenverkehrsbroschüre ein nettes altes Motto auf Manx zitiert.

Kurz und gut, man möchte wünschen, daß der wackere alte Zauberer Mannananbegmagylir (Pardon!) noch existierte. Dieser etwas schwierige Magier herrschte einst über Man, lange bevor der Wikingerkönig Orry kam, und hatte die wahrhaft löbliche Gewohnheit, die Insel hinter dichten Nebeln zu verbergen, damit sie niemand finde. Jetzt hat der Mittelstand von Manchester sie doch gefunden und seither ist das Klima nebelfrei und die Insel liegt überhaupt vor den entzückten Augen im Strahl der Sonne da, alle Prospekte sagen es. Da könnte auch der langatmige Zauberer kaum etwas machen. Gedruckt ist gedruckt.

Und gerade deswegen sieht man, daß Dichter stärker sind als Magier. Die Insel Man, die der Manxmann Hall Caine geschildert hat, wird schon noch eine Weile existieren. Willst Dichters Lande du verstehen, mußt du, und wenn die Welt voll elektrischer Rutschbahnen wäre, mußt du ja doch zum Dichter gehen.


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