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Der Park der Lords

Alle Reisehandbücher haben gewünscht, daß ich nach Killarney fahre. Zu Hause in Berlin empört man sich ja gegen die Reisehandbücher und nimmt sich vor, auf Reisen das Leben zu leben, wie es eben kommt. Aber hier in Irland gewinnen die Handbücher wieder die Übermacht, und ein friedfertiger Mensch fügt sich.

Ich fahre wieder nicht auf der Eisenbahn, sondern, mit dreißig Amerikanern und Amerikanerinnen zusammen, auf einem großen offenen Motorwagen. Statt die Eisenbahnen zu verbessern, führt man jetzt in Irland überall solche Autolinien ein. Für die Touristen ist es sehr angenehm; es kostet viel mehr, aber es ist ein Vergnügen. Die Ureinwohner des Landes mögen sich auch die nötigen Dollars verschaffen, dann werden auch sie halbwegs angenehm durch ihr Irland reisen können. Es besteht tatsächlich kein Gesetz, nach dem Iren den Motorwagen nicht benützen dürfen. Nur in der Praxis sitzen lauter Amerikaner auf den Bänken.

Also hoch zu Auto über einsame Pässe; vorbei an Felsenwüsten, an grünen Mooren. Hie und da eine sehr jämmerliche Hütte; überall weidende Schafe und schwarze Rinder. Dann wieder hinunter an die zackige Küste des atlantischen Ozeans. Dann wünscht die Motoromnibusunternehmung, ich möge in einem bestimmten Hotel den Lunch nehmen, also muß ich. Es gibt wunderschöne große und teure Hotels in diesem Teil von Irland, mit violetten Rhododendren in weiten Gärten, mit eigenen Küstenstrichen, kilometerlangen Golfplätzen, alles hübsch von Mauern umzäunt – kurz, in dieser hochmodernen Zeit ist der schönste Teil von Irland durchaus nicht ganz von den Parks der Lords bedeckt, sondern zum Teil auch von den Parks der reisenden Amerikaner. In so einem unausstehlich schönen Parkhotel muß ich also für etliches Geld frühstücken. Dann wieder hinauf zu meinem Sitz. Es ist gut, daß er erhöht ist, denn sonst würde ich das Meer nicht sehen. Nämlich wo in Irland die Gegend schön zu werden beginnt, ist sie sofort durch eine hohe Hecke von der gemeinen Welt geschieden. Hinter der Hecke hat irgend ein Lord seinen Park und der Park hört genau dort auf, wo die schöne Lage aufhört. Wer hoch auf einem Auto sitzt und das bezahlt hat, der kann gerade noch über die hohe Hecke blicken und in den Park des Lords. Durch die Bäume hindurch sieht man das Meer schimmern; auf weiten grünen Rasenflächen steht ein prachtvolles Landhaus. Alle Aussicht und das Meeresufer und die Eichen und Erdbeerbäume und blühenden Rhododendren gehören dem Lord; aber man blickt über den Zaun.

Und dann wieder landeinwärts. Hier sind keine Hecken. Das Land gehört zwar noch immer dem Lord, aber hier ist die Aussicht nicht so gut, hier kümmert sich seine Herrlichkeit um nichts. Blutarme Pächter pflanzen einige Kartoffelstauden; der übrige Grund bleibt, was er war. Fast nirgends ein Getreidefeld, wo dennoch eins ist, stehen die Halme vereinzelt zwischen buntem Unkraut. Nun fahren wir wieder über einen Paß. Irgendwo anders würde man sagen: der Weg steigt. Hier gelangt man vom fruchtbaren Meeresufer in einer halben Stunde in die vollste alpine Einsamkeit. Kein Baum ringsum. Und jetzt wieder einige Dutzend Meter bergab, an kleinen stillen Silberseen vorbei. Ein weites helles Tal öffnet sich; es ist eine herrliche Aussicht auf eine Seenkette, auf Berge und tiefgrüne Wälder. Was geschieht? Eine Hecke beginnt. Hier hat ein Lord seinen Park.

Wir fahren in rasendem Tempo auf Killarney zu. Die Hecke läuft munter mit. Aber das macht nichts, ich habe gezahlt wie nur irgend ein Amerikaner und sitze erhöht; ich darf wahrnehmen, daß die Welt schön ist. Ich freue mich auf Killarney: Seen, Berge, Wald. Spaziergänge muß das geben!

Am nächsten Morgen, nachdem ich mich durch das englische Frühstück gewunden habe, stehe ich vor der Tür meines Hotels und blicke auf die Hauptstraße von Killarney. Also, deutsche Dörfer haben reinere Hauptstraßen. Indessen, nicht wegen des Schmutzes und der Verwahrlosung wirken solche irische Nester so deprimierend, sondern wegen ihrer provinziellen Belanglosigkeit, wegen eines ganz erschreckenden Mangels an Charakter und Ausdruck. Oh Tivoli, du italisches Drecknest, wie liebe ich dich, wenn ich in Irland bin! Es gibt dekorativen Schmutz und schäbigen Schmutz. Der irische Schmutz ist ziemlich selten dekorativ, obwohl das ja auch vorkommt. Und in Irland bedeutet jede Art von Schmutz nicht nur Armut, sondern vor allem Sklaverei: weil nämlich die Angelsachsen, weil diese Herren des Landes gar so vorzüglich gewaschen sind. Wie schmuck ist ein großes englisches Touristenzentrum im Vergleich zu diesem Killarney, das doch den Haupt- und Paradeort des irischen Fremdenverkehrs vorstellen soll! Aber was tut es! Ich gehe jetzt zum Seeufer! Ich nehme den Weg links; drei Minuten später stehe ich vor einem Parkgitter. Zwischen mir und dem See befindet sich der Park des Earls von Kenmare. Wer auf dieser Seite zum Ufer will, muß durch den Park Seiner Lordschaft. Nun könnte Seine Lordschaft zweierlei tun; sie könnte mir Wanderer erlauben, einzutreten. Das wäre gastfreundlich, großzügig, aristokratisch. Sie könnte das Tor hermetisch zusperren und alle Schönheit von Killarney für sich behalten. Das wäre protzig, hochmütig, exklusiv. Seine Lordschaft, der Earl of Kenmare macht es ganz anders: der edle Lord verlangt fünfzig Pfennig Entree. Wenn ich ihm Sixpence bezahle, ist er nicht exklusiv, sondern hingegen gastfreundlich. Das ist praktisch eingerichtet, aber es sträubt sich in meiner Bürgerseele irgend etwas dagegen, und ich denke mir: nun, so gehe ich eben von rechts an den See heran. Und zahle keine Sixpence und male es mir aus, wie enttäuscht der Earl jetzt sein muß.

Während ich mich wende, rast ein Kutscher vorbei und schlägt vor, ich möge seinen Jaunting-Car mieten. Nun ist ein irischer Jaunting-Car eine vergnügliche Sache. Ein einspänniger Wagen auf zwei hohen Rädern, aber schon mehr eine Rutschbahn oder ein Wasserfall als ein Wagen. Es sieht aus, als wäre dem Pferd sein Sattel über den hintersten Rücken gerutscht. Ein hoher Grat in der Mitte; rechts und links unter diesem Grat je ein schmaler Sitz. Man hat also das Pferd nicht vor sich, sondern neben sich. Der Kutscher sitzt vorn auf der Höhe des Grates; die Fahrgäste klammern sich ordentlich an, sonst rutschen sie hinunter. Es ist ein großer Spaß und es geht sehr flott; doch ist das Wandern des Müllers Lust, und jeder Deutsche heißt in diesem Punkte Müller. Ich lehne also sehr stolz ab. Ich werde nicht fahren, sondern am Ufer des Sees dahinwandern. Ich werde mich ins Gras setzen. Ich werde – –

Zunächst ist zwischen dem See und mir eine Mauer. Dann eine Hecke. Nun sind irische Mauern schön; grüne Bäume ragen darüber empor. Nun sind irische Hecken noch schöner: sie blühen und duften. Aber auf die Dauer liebt es der Mensch nicht, auf einer staubigen Landstraße zwischen zwei Mauern, zwischen zwei Hecken einherzugehen. Endlich hören die Mauern und Hecken auf – es beginnt ein Gitter. Hier ist der Park des Lords zu Ende und es fängt der Park eines der beiden Hotels an, die in Killarney am See liegen. Was hilft mir das? Ich genieße nicht den Vorzug, in einem dieser Hotels zu wohnen; meine sämtlichen Erbonkel sind gesund und kinderreich. Nun, so werde ich weitergehen! Aber sofort fängt wieder eine hohe Mauer an; dahinter liegt wieder der Park eines Lords, oder vielleicht ist es nur der Gliedcousin eines Lords, ich weiß nicht. Ich sehe also ein, daß ich bei dem gegenwärtigen Stand der irischen Gesellschaftsordnung absolut nicht an den See von Killarney gelangen kann, wenn ich nicht dem Herrn Earl von Kenmare einen halben Schilling zahle. Ich kehre reuig um und tue das und nun weiß ich, wie eine irische Mauer von der anderen Seite aussieht. Jetzt habe ich einen gewaltigen Park zu meiner Verfügung; die Natur ist mir mit Erlaubnis des Earls zugänglich. Und ich sehe, was alles dem Earl von Kenmare gehört. Ein weiter See, der rauscht und Wellen wirft. Berge, so hoch wie die in unseren deutschen Mittelgebirgen, aber schroffer und kühner. Sie steigen in den See hinab, schicken wilde Klippen hinein. Und es blüht violett im tiefgrünen Gebüsch; ein dunkler Bach zieht durch enges Tal, dem See entgegen. Inseln mit alten Ruinen schwimmen im See. Es ist eine Fülle und ein Reichtum wie an den Seen Oberitaliens und streng und ernst wie im hohen skandinavischen Norden. Und wenn das Volk von Irland nicht Sixpence zahlt, bekommt es dieses sein Land nicht zu sehen.

Ich frage im Hotel meine Wirtin, ob ich denn dem Earl von Kenmare absolut Tribut bezahlen muß, wenn ich die Gegend sehen will. Sie meint, ich müsse das nicht, ich könne ja auch einen großen Ausflug machen, Kombination 3 c, mit Lunch im Boot. Das Ziel ist ein Bergpaß, the Gap of Dunloe und es scheint, daß man in Killarney eher kleine Kinder fressen, als diesen schon mehr rituellen Ausflug unterlassen darf. Wenn ich meinen ersten Impulsen folgen würde, vielleicht würde ich eher kleine Kinder fressen – ich bin eigentlich sehr gegen jene Ausflüge, die man unbedingt gemacht haben muß. Aber der Mensch ist ein feiges und schwächliches Wesen, wenn er der Übermacht der vereinigten Reisehandbücher und Hotelportiers gegenübersteht. Ich stimme zu und am nächsten Morgen steht ein Jaunting-Car vor der Hoteltüre und ich fahre wieder jene Straße zwischen den Hecken entlang. Aber heute sehe ich über die Hecken, indem ich doch meinen Wagen bezahle und erhöht sitze. Der Wagen führt mich so allmählich zwischen den Hecken hindurch, etwas bergan. Sofort wird die Gegend wieder öde. Plötzlich sprengt mir auf der Straße ein Reiter entgegen. Noch einer, noch einer, zehn. Alle möchten, daß ich ihr Pferd miete, denn ich werde den Wagen gleich verlassen müssen, ein Bergpaß beginnt. Ich überlege, ob an irischen Bergpässen gewöhnlich Lords mit Hecken residieren. Aber nein, sie sind mehr für Seeblicke; ich brauche keinen erhöhten Sitz und werde endlich einmal ein bißchen zu Fuß gehen können. So traben zehn schwer enttäuschte Reiter hinter meinem Wagen einher. Es sind übrigens noch mehr Wagen aller Formate auf der Straße; alle Hotels von Killarney lassen um die gleiche Stunde ihre Ausflügler los. Am Eingang des Passes herrscht ein wahrer Jahrmarkt. Hier ist es Sitte, in einem bestimmten Bauernhaus ein Glas Ziegenmilch zu trinken. Und alle Ausflügler tun es. Unterdessen wimmeln hundert Ponytreiber mit hundert Ponys vor dem Bauernhaus herum, und alle Treiber sind der Ansicht, daß ich alle ihre Pferde besteigen sollte. Auch bietet mir ein altes Weib dicke Wollsocken zum Kauf an; ferner ist da ein Mann mit einer Trompete und sagt, er könne fein Echo blasen; ich möge ihn für einen Schilling mitnehmen. Ich liebe Echos nicht; er ist empört, schwingt sich auf sein Rad und radelt davon. Ich muß noch ein bißchen bleiben, denn es ist zu komisch, wie sich uralte Amerikanerinnen in einen Herrensattel setzen und davonreiten.

Dann kommt ein wundervoller Marsch durch die Berge. Es traben hundert Pferde vor und hinter mir; junge Mädchen lachen, alte Weiber kreischen, Treiber fluchen und dennoch herrscht Einsamkeit, so düster sind die Felsen, die kleinen Bergseen. Alles Menschliche in der Nähe ist so überaus erbärmlich, daß man es gar nicht beachten muß. Nur hie und da steht eine mit Wellblech gedeckte Hütte am Wege und davor lauert ein junges Mädchen, ob die Fremden nicht Durst haben und Gingerbeer trinken wollen – chemische Limonade mit Vitriol und Paprika, oder, daß ich nicht aufschneide, noch viel schärfer, der richtige Labetrunk für alte Whiskysäufer mit rettungslos verbranntem Gaumen. Abgesehen von dieser Belästigung (und es ist leicht, von ihr abzusehen) sieht die Gegend einfach aus, wie eine Mondlandschaft. Ich setze mich an den Wegrand und lasse die Reiter vorbei. Wenn sie weiter weg sind, wenn sie dort oben über die gewölbte Brücke ziehen, sehen sie gut aus und romantisch. Eine junge amerikanische Miß, blond, mit weißen Vogelflügeln am Hut, verschmäht es, ihr Pferd von dem irischen Treiber am Zügel ziehen zu lassen. Mit einem Lachen galoppiert sie ihm auf einmal davon, vorbei an den ängstlichen Sonntagsreitern, eine frohe Silhouette auf der Brücke, eine Walküre mit größerer Dollarmitgift.

Der Staub legt sich, ich kann langsam und einsam weiterschreiten. Freilich, der Mann mit der Trompete wartet an der nächsten Wegebiegung und teilt mit, für drei Pence werde er jetzt blasen. Ich lehne dankend ab, aber er bläst doch und kommt zu mir und sagt, er habe jetzt geblasen, und es sei ein Echo gewesen, und ich möge ihm einen Penny geben. Hinter dem nächsten Felsen steht ein anderer Mann und schießt einen Böller los. An dem dunkelsten See steht ein Photograph und knipst mich. Nicht so sehr, weil er mich malerisch findet, sondern weil er mich nachher wieder irgendwo abfangen und mir das vollkommen entwickelte und kopierte Bild verkaufen will. Bergfrieden nennt man das auf poetisch.

Wie dann der Paß zu Ende ist und das Tal, in das er auf der anderen Seite mündet, sieht man von fern wieder den See blinken. Alle Leute freuen sich, alle Pferde traben los. Ich frohlocke, jetzt komme ich doch an den See, ob es der Earl von Kenmare will oder nicht. Und am Seeufer wartet schon mein Boot mit dem Frühstückskorb darin. Da sehe ich, wie sich der Verkehr staut; alle Reiter steigen ab. Nämlich jetzt kommt ein Parktor und am Parktor steht ein reizender kleiner Billetschalter, und wer durch will und an den See, der muß dem Lord Bandon einen Schilling bezahlen. Im Mittelalter waren die Raubritter nie so billig, wenn sie Wegzoll erhoben. Wir leben in einer zivilisierten Zeit und im Lande Irland, das zwar einigen englischen Lords gehört, aber auf eine höchst legale und zivilisierte Weise.

Gewiß, das Frühstück schmeckt dennoch. Wir sitzen im Gras und essen immer noch ein Sandwich; drei Schritte weiter lagern die Mitglieder einer Cookschen Touristengesellschaft und lassen sich von ihrem livrierten Fremdenführer genau so zeremoniell servieren, als befänden sie sich eben im Speisesaal des Astoriahotels und nicht bei sehr blauem Himmel auf einer sehr grünen Insel am Ufer eines sehr blauen Bergsees. Es geht nichts über die richtige internationale Vornehmheit.

Ich nehme meine letzten Sandwiches mit ins Boot; ich muß endlich dieses Seeland genauer kennen lernen. Was jetzt folgt, die stundenlange, träumerische Ruderpartie durch drei Seen, ist herrlich. Grün sind die Erdbeerbäume der Lords. Mild leuchtet der Himmel der Lords. Adler der Lords kreisen um die starren Berggipfel der Lords. Auch gehört den Lords die Geschichte; alte Abteien und Schlösser, die andere Lords vor Jahrhunderten den Iren entrissen und zerstört haben, liegen am Ufer der Lords. Das Schloß von Ross, die Abtei von Innisfallen. Efeu rankt sich um das alte Gemäuer. Wenn die Iren Entree bezahlen, dürfen sie erkennen, wie kultiviert ihr Land in alten christlichen Zeiten war, wie tüchtig irische Krieger sich in alten Burgen gegen die englischen Feinde verteidigt haben. Aber die irische Erde, für die jene kämpften, gehört heute den Lords. Irland ist ein Park der Lords.


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