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2. Kapitel.
Ein Millionengeschäft.

Als Erwin Gerardi um die Mittagszeit erwachte, strahlte funkelnder Sonnenschein durch die breiten Fenster. Erschreckt fuhr er auf und schaute nach der Uhr. Halb Zwei!

Er tastete nach der Stirn, die heftig schmerzte.

Was ... was hatte er erlebt?

Plötzlich fiel sein Blick auf die Tasche aus braunem Leder, die auf seinem Nachttisch lag. Es war also kein Traum gewesen. Er ergriff die Tasche, klappte sie auseinander und zog das marmorierte Stempelpapier hervor.

5 Millionen Franken!

Immerhin fragte es sich, ob die Sache stimmte und die Bank die Auszahlung nicht verweigern würde.

Mit fliegenden Händen kleidete Erwin sich an, trank eine Tasse Mokka, rauchte eine Zigarette und war um zwei Uhr bereits auf der Straße.

Dort merkte er, daß außer dem Scheck kein Sou sein eigen war. Wütend kramte er in allen Taschen und machte sich schließlich zu Fuß auf den Weg zur Bank.

Es war ein sehr heißer Tag und die Sonne brannte mit wahrhaft südlicher Glut auf die Straßen nieder. Scharf umrissen fielen von den Häusern ihre schwarzen Schlagschatten über den blendenden Asphalt, der unter der Hitze weich zu werden begann. Autos wirbelten benzinduftende Staubwolken auf. Motorräder schnauften und dröhnten. Die sonst so mißachtete Straßenbahn erschien Erwin Gerardi in diesem Augenblick begehrenswert und bequem. Aber er mußte laufen! Und war doch fünffacher Millionär!

An der Ecke der Rue du Progres und der Rue Bergere rannte er mit einer Dame zusammen. Sie kam aus dem Café Glacier, fächelte sich mit einem duftenden Tüchlein Kühlung zu und winkte angestrengt nach einer Autodroschke.

»Ivonne!« rief Erwin erfreut. »Sie sendet mir der Himmel! Sie müssen mich nach der Bank du Commerce fahren!?«

Ivonne Martinet betrachtete den erregt und erhitzt aussehenden Erwin vom Kopf bis zu den Füßen und sagte dann mißbilligend:

»So sieht also ein Mann aus, der sein ganzes Vermögen verspielte! Ich wüßte nicht, was Sie – ausgerechnet Sie – noch auf der Bank du Commerce zu suchen hätten und warum gerade ich Sie dorthin fahren sollte!?«

Erwin sah ein, daß hier eine langatmige Erklärung nutzlos war. Außerdem fuhr gerade das Auto vor. Es war also keine Zeit zu verlieren. Ohne Umstände griff er in die Tasche, holte den Scheck hervor und hielt ihn Ivonne unter die Nase. »Lesen Sie!« sagte er lakonisch, »und behaupten Sie noch einmal, ich habe nichts auf der Bank zu tun!«

Und da Erwin bestätigend nickte:

»Merkwürdig! – Ich habe nie geahnt, daß Ihnen so große Reserven zur Verfügung ständen. Von Ihrem Vater können Sie das eigentlich doch nicht geerbt haben!?«

»Habe ich auch nicht!« lachte Erwin belustigt. »Aber wollen wir nicht fahren? Es wird höchste Zeit und ich besitze keinen Sou Kleingeld.«

*

Am Eingang des Kassensaales trat ein kleiner eleganter Herr von asiatischem Typus auf Erwin und Ivonne zu und fragte halblaut:

»Habe ich es mit Monsieur Erwin Gerardi zu tun?«

»Gewiß, der bin ich,« sagte Erwin erstaunt. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

Der kleine Herr verneigte sich tief. »In nichts, Monsieur, im Gegenteil, Sanjo Afru hat mich beauftragt, Ihnen behilflich zu sein, falls die Auszahlung Schwierigkeiten machen sollte. Ich bin sein Sekretär.«

Sie begaben sich in das Kassenzimmer.

Erwin wies den Scheck vor, der sogleich angenommen wurde. Der Beamte erkundigte sich, was mit der Summe geschehen solle.

Erwin dachte einen Augenblick nach. Dann erbat er sich zehntausend Franken in bar und ließ den Rest seinem Konto gutschreiben.

»Sehr wohl ...«

Der Beamte kehrte mit einem Päckchen Tausendfrankscheine zurück.

»Hier bitte. Sie haben vielleicht die Güte, nachzuprüfen.«

Aber Gerardi machte eine abwehrende Handbewegung und unterschrieb eine Quittung.

Vor dem Portal stellten Ivonne und er fest, daß der Fremde im Gewühl verschwunden war. Sie fuhren nach dem Maison Doree, um zu speisen. Das dauerte anderthalb Stunden und war sehr ausgiebig. Als sie endlich bei Kaffee, Chartreuse und Zigaretten angelangt waren, legte sich Ivonne behaglich zurück und sagte: »Was nun?«

Erwin kniff das rechte Auge zusammen, schnippte die Asche von seiner Zigarette und antwortete kühl: »Das Geschäft.«

Es war Ivonne klar, daß sich mit einem Manne, der fünf Millionen Franken auf der Bank und zehntausend Franken in der Tasche stecken hatte, schon Geschäfte machen ließen.

»Kann ich Ihnen dabei behilflich sein?« fragte sie freundlich.

Erwin erhob sich und ging einigemal auf und nieder. Schließlich blieb er vor Ivonne stehen. »Sie kennen Monsieur Doufrais persönlich?«

»Ich kenne ihn.«

»Er steht vor der Pleite.«

»Schön, würden Sie sich bereit erklären, festzustellen, unter welchen Bedingungen Doufrais seine Fabrik verkaufen will?«

»Sie sind der Käufer?«

»Ja. Aber er braucht es noch nicht zu wissen.«

Ivonne dachte einen Augenblick nach. Dieser Mann hatte Großes vor, und das imponierte ihr. Es lohnte sich mit ihm zu arbeiten. Vielleicht würde er sie sogar heiraten. Er hatte früher dergleichen Andeutungen fallen lassen. Aber damals hatte sie ja noch nicht gewußt ...! Jedenfalls bestand kein Hindernis, in die Sache hineinzuspringen. Aber Geschäft war Geschäft.

»Ich brauche einen Vorschuß auf meine Provision,« sagte sie lässig, »sonst kann ich nicht mitmachen.«

»Aber gewiß!« Erwin überreichte ihr einen Tausendfrankenschein. »Wenn es weiter nichts ist. Ich hoffe, diese Kleinigkeit wird vorläufig genügen. Treffpunkt: zehn Uhr abends im Café de Paris!«

»Ich werde tun, was möglich ist.«

Er küßte ihr die Hand und geleitete sie zum Auto.

Als sie abgefahren war, ging er ans Telephon. »18 066, bitte!«

Knistern, Schwirren, dumpfes Knacken. Dann eine etwas heisere Stimme:

»Hier Francois Courton.«

»Hier Erwin Gerardi ...«

»Du? Sehr schön, daß du lebst. Mir wurde aus dem Casino de Paris berichtet, du habest fünf Millionen Franken verspielt und es infolgedessen vorgezogen, dich in ein besseres Jenseits zu verflüchtigen. Aber diese Nachricht scheint nicht auf Tatsachen zu beruhen ... Oder sprichst du etwa aus dem Himmel ...?«

»Im Gegenteil. Ich stehe so fest wie lange nicht mit beiden Beinen auf der Erde. Außerdem ist einiges von Bedeutung vorgefallen. Ich bin in Besitz einer größeren Summe Geldes gelangt. Könntest du daher auf zwei Worte ins Maison Doree kommen? Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Es betrifft, damit du im Bilde bist, das Terrain von Doufrais ...!«

»Von Doufrais? Ich verstehe. In zehn Minuten bin ich bei dir und bringe das Material mit.«

Francois Courton war Ingenieur und Sachverständiger der Eisenbahnverwaltung. Unter anderem hatte man es ihm übertragen, die neue Eisenbahnlinie von Marseille nach Cannes abzustecken.

Gerardi überzeugte sich, als der andere kam, daß die ledergepolsterten Türen verschlossen waren und setzte sich Francois gegenüber.

»Wie stehen unsere Aktien?« fragte er leise.

Courton entnahm der Aktenmappe eine Karte der Umgegend von Marseille, durch deren grüne, blaue und schwarze Farbenfelder sich eine dicke rote Linie wand. Courton fuhr mit dem Zeigefinger die Linie entlang und hielt schließlich an einem Punkt, der durch eine Ansammlung schwarzer Klexe als bebautes Gebiet gekennzeichnet war.

»Hier,« sagte er ruhig, »ist was du wünschest!«

Gerardi beugte sich vor und bemerkte, daß die rote Linie quer durch das Terrain der Doufraisschen Werke gelegt war.

»Bist du zufrieden?« fragte Courton. »Dieser Plan bleibt noch fünf Tage geheim, so lange hast du also Zeit zum Handeln. Sobald seine Veröffentlichung erfolgt ist, wird wohl kaum einer, durch dessen Besitztum die neue Eisenbahnlinie gehen soll, daran denken, gutwillig zu normalen Preisen zu verkaufen.«

»Ich bin zufrieden,« sagte Gerardi. »Alles Nötige ist eingeleitet. Falls die Sache richtig klappt, bekommst du hunderttausend Franken. Genügt das?«

»Es genügt. Aber du weißt: nur noch fünf Tage!«

Erwin Gerardi fuhr nach Hause, um sich umzuziehen. Als er seine schlanke Gestalt in Frack, blendender Hemdbrust und schwarzer Binde im Spiegel bewunderte, lächelte er seinem eigenen Bilde zu. Das Leben war doch schön! Wenn er sich auch hatte erschießen wollen. Denn gerade die lauernden Gefahren verliehen dem Dasein einen eigenen Reiz.

Es war nach Zehn, als er im Kasino eintraf.

Überall begegnete er erstaunten Blicken, die zu sagen schienen: Also du bist wieder da? Und wir dachten schon ...!

Am Spieltisch traf er Ivonne, die ein Zehnfrankstück nach dem anderen auf Rouge setzte und verlor.

»Lassen Sie das, Ivonne,« rief er. »Sie haben heute kein Glück im Spiel.«

Sie setzten sich in eine abgelegene Nische und bestellten Sekt und Austern.

Als der Sekt in den Kelchen perlte, fragte Erwin: »Also, Schönste der Frauen, was haben Sie ausgerichtet?«

Ivonne ließ sich Zeit. Dann antwortete sie: »Nichts zu machen. Der alte Doufrais denkt nicht daran, zu verkaufen. Er sagt, mit der Pleite habe es noch seine gute Zeit. Allerdings, wenn ich wüßte, daß ihm jemand eine Million vorschießen wolle – zu hohen Zinsen natürlich – das sei etwas anderes. Aber verkaufen – nein!«

»Verdammt!« Erwin schlug mit der Faust auf die Marmorplatte des Tisches. »Der Alte ist verrückt! Auf die verfahrene Karre auch noch Geld leihen? Aber, wenn er nicht verkaufen will, gut, so werde ich ihn zwingen!«

Er ergriff das Tischtelephon und ließ sich mit dem Detektivbureau »Union« verbinden.

»Union! Was steht zu Diensten?«

»Ich brauche Daten über die Firma Doufrais bei Marseille!« –

»Sehr wohl! Hat die Angelegenheit eine Stunde Zeit?«

»Nein. Dreißig Minuten müssen genügen!«

»Gut. Wohin können wir unseren Beauftragten mit den Feststellungen senden?«

»Casino de Paris. Marmorsaal. Elfte Seitenloge links. Erwin Gerardi.«

Er hängte den Hörer an. Die Sache kam in Schwung.

Sechs Minuten nach Elf betrat ein Herr mit markanten Zügen den Marmorsaal.

»Habe ich die Ehre mit Monsieur Gerardi?« erkundigte er sich höflich.

»Ganz recht. – Nehmen Sie Platz, Monsieur ...?«

»Morton ...«

»Monsieur Morton, trinken Sie ein Gläschen und erzählen Sie dann.«

Der Detektiv berichtete. Es erwies sich, daß Doufrais schon längst pleite gewesen wäre, wenn ihn nicht die Aufträge der Firma Spanetti in Mailand vor dem Schlimmsten bewahrt hätten.

»Kennen Sie den gefährlichen Konkurrenten von Doufrais?« fragte Gerardi gespannt.

»Einen Augenblick!«

Morton zog ein Notizbuch aus der Tasche und nannte dann mehrere Namen. Maßgebend sei auf alle Fälle der mittelfranzösische Seidentrust mit dem Direktionssitz in Lyon!

»Gut! Das genügt!« Gerardi beglich die Rechnung, steckte dem erfreuten Morton eine Hundertfranknote zu und verließ in Begleitung Ivonnes das Kasino.

»Ich fahre mit dem nächsten D-Zug nach Lyon! – Wollen Sie mich begleiten?«

»Ich bin gespannt, wie Sie die Sache ins Lot bringen werden und komme daher mit ... das heißt, wenn es Sie nicht stört ...?«

Erwin Gerardi lachte. Es war ein fröhliches Lachen, aus dem Ivonne schloß, daß ihre Chancen gut standen.

Im Morgengrauen trafen sie in Lyon ein. Ohne Zeit zu verlieren, fuhren sie nach dem Direktionsgebäude des Seidentrusts.

Es dauerte eine Weile, bis ihnen ein verschlafener Portier öffnete.

»Ist der Generaldirektor zu sprechen?«

»Verreist.«

»Wohin?«

»Paris.«

»Wer vertritt ihn?«

»Ingenieur Massot. Kommt um zehn Uhr.«

»Zu spät. – Wo wohnt er?«

»Rue du Valence 32!«

Schwapp war die Tür wieder zu. Erwin und Ivonne sprangen ins Auto und fuhren nach der Rue de Valence.

Das Haus Nr. 32 war erstaunlicherweise offen. Ein hübsches Kammerkätzchen stand im Vorgarten und klopfte beim Schein der ersten Sonnenstrahlen Teppiche.

Erwin ging auf sie zu: »Monsieur Massot schon auf?«

Gelächter als Antwort.

»Aber Monsieur! Um diese Zeit? – Nach vier Stunden das wäre was anderes.«

»Sie müssen ihn wecken! Es handelt sich um ein äußerst wichtiges Geschäft!«

Noch immer zögerte die Kleine, wurde aber, als ihr Erwin einen Zehnfrankschein in die Hand drückte, sofort von der Dringlichkeit der Sache überzeugt.

»Gut, gut ..., ich werde seh'n, was sich machen läßt!«

Verschwunden war sie.

Es dauerte fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde.

Erwin wurde ungeduldig.

Um neun Uhr dreißig ging ein Zug nach Marseille zurück, den wollte er benutzen. Schließlich hatte er für das ganze Geschäft nur fünf Tage Zeit und der erste war bereits angebrochen.

Als zwanzig Minuten vergangen waren, ohne daß sich jemand meldete, hielt er es nicht mehr länger aus und ging hinein. Bereits auf dem Vestibül hörte er eine männliche und eine weibliche Stimme, die in erregtestem Tonfall Zwiesprache hielten.

»Laß mich zufrieden ..., ich will noch schlafen!«

»Und ich sage Ihnen zum hundertstenmal: es ist ein feiner Herr, der eigens aus Marseille gekommen ist, um mit Ihnen ein wichtiges Geschäft zu verabreden.«

»Unsinn. Es ist wieder irgendein Vagabund, der dich zum besten hält und mich um ein paar Sous anbetteln will!«

»Um ein paar Sous?!« Des Mädchens Stimme klappte über vor Zorn und Eifer. »Um ein paar Sous?! – Na, wenn das so einer wäre, hätte er mir wohl nicht zehn Franken gegeben, damit ich Sie wecke ...!«

»Zehn Franken? Donnerwetter!«

»Jawohl, zehn Franken! Aber ich gehe nun, bringe sie zurück und erzähle ihm, daß er ruhig nach seinem Marseille zurückfahren kann, da der Ingenieur Massot zu faul sei, um morgens Geschäfte zu machen!«

Erwin wartete indessen nicht ab, bis das erzürnte Kammerkätzchen wieder bei ihm erschien, sondern öffnete ohne Umstände die Tür. Das Zimmer war geräumig und halbdunkel. In einer Ecke stand ein großes Bett. Auf dessen Rand saß ein Mann in blauseidenem Schlafanzug und bemühte sich, möglichst schnell ein paar rote türkische Morgenschuhe an die Füße zu bekommen.

»Pardon,« sagte Erwin, »wenn ich störe. Aber mein Zug geht in 45 Minuten ... Ich habe doch die Ehre mit Herrn Ingenieur Massot?«

»Allerdings, der bin ich ... Und Sie ...?«

»Erwin Gerardi aus Marseille. Ich komme, da ich Sie um eine Gefälligkeit bitten möchte ...«

»Ich pumpe prinzipiell nicht!«

»Ganz mein Fall! Aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen! Ich biete Ihnen persönlich zehntausend Franken, wenn Sie das Geschäft für mich machen ...!«

»Was für ein Geschäft?«

»Mit der Firma Spanetti in Mailand!«

»Kauft von uns nicht! Wird von Doufrais beliefert!«

»Weiß ich. Sie setzen sofort ein Telegramm an Spanetti auf, in dem Sie drei Wagenladungen Seide loko Mailand um zehn Prozent billiger offerieren als Doufrais ...!«

»Sie sind wahnsinnig, Herr! Wir würden dann einen Verlust von nahezu sechs Prozent erleiden und haben nicht den geringsten Anlaß, uns in dergleichen sinnlose Affären hineinzustürzen!« –

»Die Angelegenheit ist weder sinnlos, noch eine Affäre! Wenn es Ihnen gelingt, ein einziges Mal die Aufträge der Firma Spanetti an Doufrais auf sich überzuleiten, ist Doufrais pleite ...!«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Jawohl. Damit Sie ganz sicher gehen, erbiete ich mich, den Verlust zu tragen. Genügt Ihnen das?«

»Und ich bekomme ...?«

»Wie ich schon sagte, zehntausend Franken, die auf der Société Générale deponiert werden.«

Massot dachte einen Augenblick nach. An der Sache war alles klar und nichts zu verlieren. Im Gegenteil, da er 6 Prozent Verlust kalkuliert hatte, und dieser in Wirklichkeit nur 4 Prozent betrug, würde die Firma durch die Sicherstellung dieses seltsamen Herrn Gerardi aus Marseille noch 2 Prozent der Gesamtsumme gewinnen. Und er? Er konnte zehntausend Franken auf alle Fälle brauchen. Immerhin mußte er sich mit dem Generaldirektor verständigen!

Während er sich unter Beihilfe Gerardis in aller Eile ankleidete, meldete er ein Telephongespräch nach Paris an. Es wurde neun Uhr, bis er den Anschluß bekam.

Der Generaldirektor aber war gerissener als sein Gehilfe. Er durchschaute sofort die Dringlichkeit der Sache und beschloß daraus Kapital zu schlagen. Er ließ Erwin Gerardi mitteilen, er könne seine Zustimmung nur erteilen, wenn er bereit sei, außer den 6 Prozent Verlust noch 2 Prozent Risikoentschädigung zu bezahlen.

Gerardi war nicht erbaut, als Massot ihm diesen Bescheid brachte. Aber die Zeit drängte, und es war keine Minute zu verlieren. Der Not gehorchend, sagte er zu.

Hals über Kopf ging es nach der Hauptpost. Das Telegramm wurde aufgegeben und die Antwort bezahlt. Sobald diese einlief, sollte Massot Gerardi in Marseille benachrichtigen.

Und dann saßen sie beide, Erwin und Ivonne, wieder in dem bequemen, geschlossenen Abteil des Zuges nach Marseille, den sie mit knapper Not erreicht hatten. Auf und ab schwangen die Drahtbündel der Telegraphenlinien neben dem Zuge. Zuweilen schauten für kurze Augenblicke die roten Dächer und weiße Mauern freundlicher Städtchen aus dem Grün der Landschaft, um bald wieder zu verschwinden.

Ivonne war sehr müde. Alle die vielen Ereignisse des letzten Tages, der vergangenen Nacht und dieses Morgens, die in kinematographischer Schnelle über sie hingestürmt waren, hatten auch ihre sonst recht widerstandsfähigen Lebensgeister mürbe gemacht. Das rhythmische Geräusch der Räder, das leise Schaukeln der Wagen und die streichelnde Wärme der Sonne machten sie vollends schläfrig. Sie schloß die Augen. Langsam, ganz langsam sank ihr feiner blasser Kopf zur Seite und schmiegte sich an Erwins Schulter.

Er lächelte und legte den Arm um sie.

So saßen sie lange.

Valence und Avignon zogen vorüber. Die ersten Vorstädte von Marseille schoben ihre verräucherten Mauern an die Schienen.

Da weckte Erwin seine Gefährtin durch einen Kuß.

Mit einem leisen Schrei fuhr sie auf: »Was ... was ... ist?!«

»Nichts. Wir sind in Marseille!«

»Du ... hast mich ... geküßt?!« – Und dann ganz erzürnt, daß sie selbst »Du« gesagt hatte: »Das war nicht hübsch von Ihnen, das war ...«

Aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. Er nahm ihr schlafheißes, schönes Gesicht zwischen beide Hände und drückte einen, nein, viele Küsse auf ihren schmollenden Mund.

Schließlich rang sie sich los und wies hinaus. »Nun ist's aber genug!« rief sie atemlos. »Fast wäre ich erstickt, du schlimmer, böser, lieber Mensch! – – Was sollen sich denn überhaupt die Menschen denken ...?!«

Und wahrhaftig, der Zug stand längst auf dem Hauptbahnhof von Marseille und ein ganzer Schwarm Neugieriger beobachtete schmunzelnd die stürmischen Zärtlichkeiten, mit denen Erwin seine Angebetete überschüttete.


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