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Asyl des Herzens

Auf einer meiner Wanderungen durch entlegene Viertel von Paris geriet ich eines Abends gegen zehn Uhr in eine kurze, einsame Gasse, welche auf die Mauer eines verwahrlosten Gartens mündete. Es war Winter. Ein Duft von Schnee lag in den rötlichen Lüften. Einige Fenster der verschlafenen Fronten waren spärlich erleuchtet. Nur aus der geöffneten Tür eines zweistöckigen Hauses drang ein hellerer Schein bis auf die Mitte des Gehsteiges. Als ich näher kam, erkannte ich, daß in einer Art »Entrée« eine bläuliche Kugellampe brannte, welche ihr Licht auf eine schwarze Tafel warf. Auf dieser Tafel stand mit Kreide geschrieben: »Man schließt das Haus um halb elf Uhr abends«. Zwischen den Arabesken einer Glastür, welche ins Innere des Hauses führte, las ich in hauchfeinen goldnen Lettern: »L'ASILE DU COEUR«.

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Vor vielen Jahren hatte mir ein Mädchen in einer afrikanischen Oase gesagt, es habe seinem Hause, das nur aus zwei Räumen zu ebner Erde bestand, den Namen gegeben: »Paradies der Seele«. In dem vorderen Raume plaudere und scherze man um ein Wasserbecken, in dem hinteren vergesse man die Welt auf seidnen Kissen … Geist und Sinne, vereint, ergäben das Gleichgewicht der Seele. Die Seele aber sei von Gott und gehe ein zu Gott.

Die Erinnerung an dieses Wort kam mir nun beim Anblick der Inschrift »L'ASILE DU COEUR« mit solcher Deutlichkeit zurück, daß ich mitten in einer Winternacht der Ile de France schwarze Palmenwedel im lavendelblauen Äther wiegen sah und das Klirren der Laute hörte, auf der die Kleine mir uralte Lieder der Wüste vorgespielt hatte … Ich roch wieder den scharfen Duft grüner Pistazienbonbons und die milde Süße quittengelber Lukkumwürfel … Ganz ferne, am Horizont, verkohlte ein Beduinenfeuer, ein Esel träumte laut aus seinem Stall in die Nacht, und die seidnen, in Vanillewasser gewaschenen Finger des Mädchens fuhren dem Bogen meiner Brauen nach, um schließlich auf meinen Lippen ruhen zu bleiben.

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Das Zuschlagen einer Tür im Innern des Hauses rief mich zur Besinnung. Ich zog die Schelle. Dünnes Läuten kam vom Ende eines Korridors, dessen Verlauf ich durch die Sterne des Milchglases bei genauerem Zusehen erkennen konnte. Langsam näherten sich Schritte. Die Glastür wurde aufgeschlossen. Eine alte, ernste Frau stand vor mir und schaute mich prüfend an … Dann sagte sie, vielleicht ein wenig erstaunt darüber, daß ich ohne Begleitung war:

– Bitte, treten Sie näher …

Mein Fuß versank in einem dicken Smyrnaläufer, der von einer schmalen Treppe aufgenommen wurde und gleichzeitig in jenen Korridor abzweigte, den ich schon durch die Scheibe geahnt hatte. Aus einem Messingkübel neben dem Kleiderständer stieg der Duft rostbrauner Winterastern. Zur Rechten öffnete sich ein Durchblick in einen kleinen Salon, dessen verblichene gelbseidene Möbel von einer verhüllten Stehlampe (Stil 1900) erleuchtet wurden. Eine unaussprechliche Stille herrschte in dem Haus.

– Womit kann ich Ihnen dienen? fragte die Frau, eine Handbewegung nach dem Salon machend …

– Ich werde es Ihnen sogleich sagen. Lassen Sie mich erst ganz zu mir kommen …

– Ist Ihnen ein Unglück zugestoßen? fragte sie.

– Nein.

Sie hatte den Kopf, dessen silbergraue Haare in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem losen Knoten zusammengewunden waren, auf ihre weißen Hände gesenkt. Ein abgenutzter Trauring war der einzige Schmuck dieser leidenden Hände. Ihr Kleid war aus schwarzer Seide. Eine schwarze Jettbrosche schloß den halboffnen Kragen.

– Sie müssen mir nicht böse sein, sagte ich schließlich, daß ich hier als Neugieriger eindringe. Ich möchte ganz einfach mit Ihnen plaudern. Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen Ihre Zeit stehlen will. Es versteht sich von selbst, daß ich Ihnen die Zeit vergüte, die Sie an mich verschwenden …

– Es sind keine Frauen in diesem Hause zu finden, lächelte sie … Dieses Haus ist, wie sein Name besagt, eine Ruhestätte … Wer zu mir kommt, weiß, wer ihn schon erwartet oder wer ihm in Kürze nachfolgen wird. Nach halb elf Uhr abends erlischt die Lampe und wird die Tafel entfernt.

– Madame – ich kenne Paris gut, und ich kenne Dinge in dieser Stadt, die viele Pariser nicht einmal ahnen … Was mich überrascht, ja was mich fast erschüttert hat, ist der Geist der Menschenfreundlichkeit, der mich aus dem Namen anweht, den Sie diesem Hause gegeben haben …

– Sie sind in einem Hause der Menschenfreundlichkeit, mein Herr. Sie sind nicht in einem Hause des Geschäftes … Erwarten Sie nicht von mir, daß ich auch nur einen Centime von Ihnen für Ihren Besuch annehme. Wenn Sie etwas zu trinken wünschen – einen Kaffee oder einen Tee oder einen offnen Wein – so können Sie das haben. Sie werden dafür keinen anderen Preis zahlen als in irgendeinem Restaurant.

– Ich möchte gerne ein Glas Wein trinken, sofern Sie mir Gesellschaft leisten.

– Das tue ich gerne. Ich pflege selbst noch etwas zu nehmen, ehe ich mein Haus am Abend schließe.

– Ihr Haus?

– Ja, mein Haus.

Sie läutete … Eine alte Dienerin brachte Rotwein und Biskuits.

– Es stört Sie nicht, wenn ich rauche?

– Im Gegenteil.

Ich zündete meine Zigarre an.

– Eine Frage, mein Herr: Sie sind nicht etwa Berichterstatter einer Zeitung?

– Seien Sie ohne Sorge, Madame –

– Madame Gauvain …

– Nein, Frau Gauvain. Ich bin kein Berichterstatter. Ich habe zwar einige Bücher geschrieben und hoffe, deren noch einige zu schreiben – aber das ist ja etwas anderes, nicht wahr?

– Allerdings. Ich dachte mir, daß Sie Künstler seien …

– Sie kennen wohl allerlei Künstler?

– Ja, diejenigen, welche Vertrauen genug hatten, mir ihre Namen zu nennen, nachdem sie des öfteren Gäste meines Hauses gewesen waren …

– Frau Gauvain, haben Sie selbst den Namen für Ihr Haus gefunden?

– Nein. Das hat mein Sohn getan. Er ist Musiker im Orchester eines der größten Variétés in Paris.

– Er wohnt bei Ihnen?

– Nein. Es wäre auch etwas zu weit für ihn, jeden Abend hier heraus zu kommen …

– Frau Gauvain: wer sind die Leute, die den Weg zu Ihnen in dieses entlegene Viertel finden?

– Leute, die nicht glücklich sind – und für ein paar kurze Stunden vergessen wollen, daß sie es nicht sind …

– Also viele?

– Vielleicht.

– Leute der »gehobenen« Schichten?

– Leute aller Schichten. Des gens comme il faut. Sehr ordentliche Leute …

– Woher wollen Sie das wissen?

– Glauben Sie, daß leichtsinniges Gesindel sich die Mühe macht, hier heraus zu kommen?

– Schwerlich …

– Wer mir nicht paßt, den nehme ich nicht auf … Das bin ich den anständigen Menschen schuldig, die hier eine Zuflucht suchen …

– Es sind wohl oft die gleichen, die wiederkommen?

– Sehr oft. Es gibt einige, die seit Jahren kommen. Andere bleiben eines Tages für immer fort. Vielleicht sind sie gestorben, vielleicht hat sie das Schicksal auseinandergeweht, vielleicht ist ihre heimliche Beziehung entdeckt worden … Was weiß man? Um jede Liebe, die hier ein flüchtiges Asyl sucht, ist sehr viel Traurigkeit …

– Wie ertragen Sie dieses Wissen um soviel Schmerz?

– Wo entdecken Sie nicht den Schmerz, sofern Sie nur anfangen, um sich zu schauen? Ich denke weit mehr an das Gute, das ich – ohne mein geringstes Zutun – diesen oder jenen erweisen kann … Haben Sie noch nicht gefunden, daß viele (sogenannte) Familientragödien vermieden werden könnten, wenn die Menschen etwas menschlicher sein wollten?

– Was nennen Sie »menschlicher«?

– Menschlich ist, wer das Unzulängliche unseres Daseins begreift, ohne es zum Maßstab des Wesentlichen zu machen …

– Und was ist das Wesentliche?

– Das Gleichgewicht … Alles Unglück kommt von der Störung des menschlichen Gleichgewichtes. Wenn Ehegatten entdecken, daß ihnen das eheliche Leben zur Qual wird oder sie nicht mehr befriedigt – aus Gründen, die wohl niemals zu »erklären« sind: wenn sie spüren, daß ihre Kraft, die Schwere des Daseins zu tragen, für ihre Kinder zu sorgen, diese Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen, deshalb erlahmt, weil sie sich körperlich nichts mehr bedeuten: ist es dann eine solche Todsünde, wenn sie das Fehlende zu ersetzen suchen und dadurch den Rahmen der Familie erhalten? Wo sollen Kinder gedeihen, wenn nicht in diesem Rahmen? Ein Leben kann lange währen – und was sich natürlich auseinandergelebt hat, kann sich, unter veränderten Voraussetzungen, ebenso natürlich wieder zusammenfinden …

Meine vielen Erfahrungen haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß dieser Fall weit häufiger eintritt als die meisten ahnen … Verzeihen Sie eine Frage: sind Sie verheiratet?

– Nein.

– Ich dachte es mir. Wer nicht verheiratet ist, kann hier nicht mitreden. Er kann glauben – oder er kann nicht glauben. Das ist alles.

– Ich glaube Ihnen …

– Das dürfen Sie mit gutem Gewissen tun … Ich habe gewußt, was ich wollte, als ich dieses Haus eröffnete. Ich war selber sehr unglücklich in meinem Leben. Ich war unfrei. Ich hatte nicht den Mut, ein zerstörtes Gleichgewicht wiederherzustellen, wie es die Frauen tun, die hierher kommen. Ich hatte auch keine Gelegenheit dazu. Man hat mich niemals viel beachtet. Und ich war nicht die Frau, die sich bemerkbar machte … Ich war in große Geldnot geraten. Ich besaß nichts mehr als dieses kleine Haus. Es ist mir und vielen anderen zum Segen geworden. Es erlaubt mir, äußerlich mein Leben zu fristen, ohne jemandem zur Last zu fallen – und, vielen anderen wahrscheinlich, durchzuhalten. Die Verlogenheit der Bürger geht mich nichts an. Welchen menschlichen Menschen ginge die etwas an? Ich diene nicht dem »Vergnügen« und verdiene nicht an ihm: ich helfe der menschlichen Unzulänglichkeit ein wenig über sich selbst hinaus. Das ist nicht viel. Aber es ist besser als gar nichts …

Frau Gauvain lächelte:

– Die Kirche wird mich gewiß nicht heilig sprechen und meine geliebte Vaterstadt Paris wird mir noch viel weniger ein Denkmal setzen. Aber es gibt Herzen in dieser Stadt, die dem meinen bis in ihre letzte Stunde verbunden bleiben werden … Hat irgendeine Frau das Recht, mehr zu verlangen oder nur zu erhoffen?

– Ja, Frau Gauvain … Sie selbst!

– Und was sollte ich verlangen – und was sollte ich erhoffen?

– Daß Ihnen der Dichter eines Tages das Denkmal setzt, auf das Sie Anspruch haben …


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