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Die Familie Picon speist zu Abend

Als ich an einem warmen Pariser Juniabend gegen halb neun in mein kleines Lieblingsrestaurant auf der Ile St-Louis trat – nennen wir es: »Au Beau Marin« – war die Familie Picon – warum nicht Picon? – schon da. Sie hatte, von der Tür aus gesehen, den letzten Tisch zur Rechten gewählt, saß also unmittelbar am Eingang zur Küche, in welche der kluge Wirt sommers und winters seinen Gästen ununterbrochen Einblick gewährt. Es macht sich nicht nur gut, wenn man da auf einem uralten Herd die Flamme hochschlagen und die Kupfertöpfe von ihrem Widerschein leuchten sieht: Es ist wirklich sehr schön und sehr heimatlich. Auch steigert es das Vertrauen, das die wundervollen Speisen erwecken, um ein Beträchtliches und gibt jedem einzelnen das Gefühl, daß gerade das von ihm bestellte Gericht besonders sorgfältig zubereitet werde. Was ja auch der Fall ist.

Nichts in diesem entzückenden Restaurant, dessen neun Tische (mehr hat es nicht aufzuweisen) längs der Wände auf einem Steinboden stehen, den man von Zeit zu Zeit mit weißem Sand bestreut, nichts wird jemals überstürzt. Auch keiner der Gäste wird sich jemals beeilen. Sind alle Tische besetzt, so warten eben die Neuangekommenen bei einer »Fine« in einem noch kleineren benachbarten Café, oder sie setzen sich auch zuweilen so, wie man dies wirklich nur in Paris tun kann, auf die Ufermauer unter die breiten Pappel- oder Ulmenwipfel, und sehen den Abend blau und purpurn von Passy und den Champs-Elysées her über den Dächern heranwehen. Sie sehen, wie hier oder dort eine Lampe aufblitzt, wieder verlischt und von einer anderen abgelöst wird, sie sehen ein kleines Fräulein vor einem Spiegel seinen Hut zurechtrücken, einen jungen Mann in Hemdsärmeln seinen Rock auf die Straße hinaus ausbürsten und dann unter den Arm nehmen – sie hören eine Tür ins Schloß fallen, in den Schlag hinein von irgendwoher eine Schallplatte ertönen, eine alte, mit einem süßen Schmarren von der Boyer, oder eine neuere mit einem leidvoll-herben von der Damia, sie hören vielleicht auch eine aufgeregte Mutterstimme nach dem tiefliegenden Seinestrand hinunterwettern: »Yvonne – Yvonne – willst du vielleicht machen, daß du jetzt nach Hause kommst? In zwei Minuten bist du hier, oder ich sperre die Tür zu und lasse dich bei den Clochards unter der Brücke schlafen …« Eine Männerstimme besänftigt: »Mais ne vous en faites pas, Madame Marais! Die Kinder sind doch alle noch drunten am Wasser bei dieser Hitze! Was sollen sie denn jetzt schon im Bett machen!« »Aber ich will ausgehn, Monsieur Fétis! Was hat man denn von seinem Leben, wenn man nicht wenigstens einmal im Monat im »Tout va bien« ein paar Leute sieht …«

Dieses und Ähnliches können die auf der Ufermauer Wartenden hören … Und wenn es dann wieder stiller geworden ist und sie dem Auge wieder das Vorrecht vor dem Ohre geben, dann mögen sie feststellen, daß in diesem oder jenem der benachbarten alten Paläste ein Kronleuchter aufflammt und goldne Bilderrahmen auf blauen oder roten Damast-Tapeten erglänzen läßt, daß eine alte Dame auf den schmalen Balkon tritt und die Hände auf den Saum des schmiedeeisernen Gitters legt, daß auf einem anderen, ebenso schmalen und ebenso schön geschwungenen Balkon zwei junge Herren im Abendanzug ein Gespräch fortführen, das in der kühleren Uferluft besser gedeiht als in dem heißgewordenen Salon – daß immer noch ein nickelblinkender Wagen mit Gästen auf der engen Straße vorfahren will und nicht kann – daß die Mutter, welche noch ins Café »Tout va bien« gehen will, wirklich die kleine Yvonne vom Wasser heraufgeholt hat und ihr den Blanken versohlt, wobei sie ihren Strohschlappen verliert – und daß die Lüfte schon jenes heliotropenfarbene Leuchten angenommen haben, in dem dieses traumhafteste Viertel von Paris zum Wunder verschwebt. In den seither stillen Wipfeln hat nun ein Flüstern begonnen, in dem sich ein Duft von Wasser fängt, von der Seine herauf singt einer, der seine Wäsche beendet hat und das Bedürfnis verspürt, die Freude an den befreiten Poren im Liede zu äußern: »J'ai hérité de mon grandpère, un beau prunier …« – und in die immer offene Tür seines Restaurants ist der Wirt getreten, welcher aussieht, als ob er ein Kammerdiener des Duc de Guise wäre, und hat ein huldvolles Zeichen gemacht, daß nun ein Tisch zur Verfügung stehe …

Beim Eintreten sehen die Geduldigen dann, daß das Zinn des Büfetts wie ein Silberbergwerk blinkt im verwandten, bläulichen Lichte – und ihre Nüstern ziehen beglückt den Duft altmodischer Centifolien ein, die in großen Sträußen auf der Borte stehen … Ninon, die schwarze Katze mit bernsteingelben Augen, sitzt in der Mitte des schmalen Raumes, ohne daran zu denken, den Durchgang freizugeben – auf dem Herde in der Küche knistern ein paar Holzscheite für eine »Grillade« auf – und die Familie Picon betrachtet neugierig, unter stummem Kauen, die Ankommenden.

Die Familie Picon: das ist Vater, Mutter und Sohn. Der Vater mag ein Mann von sechzig Jahren sein. Er sieht ein wenig aus wie der alternde Victor Hugo, hat also, was man einen guten Kopf nennt. Er hat genau den schön umrahmenden Bart des pathetischen Romantikers – denselben Schädel, aber ein viel weicheres und gütigeres Auge. Er hat ein wirklich gütiges und sehr zufriedenes hellbraunes Auge, in dem auch ein Schalk sitzt. Der ganze Mann ist ein gemilderter, in das bürgerlich-provinzhafte übersetzter Patriarch. Seine Hände zeigen gutgeformte Finger, aber einen völlig ungegliederten, glatten Rücken. Sie sind phlegmatisch und ohne Nerven. Herr Picon trägt schwarze Schnürstiefel, auf deren einen eine beigefarbige Wollsocke herunterhängt. Ich kann das beim Blick unter den dem meinen gegenüberliegenden Tisch sehen. Ich sehe auch das Stückchen behaarten Beines, das unter einer weiten, etwas hochgezogenen dunkelgrauen Hose zum Vorschein kommt. Sollte Herr Picon kurze Unterhosen tragen? Unvorstellbar … Von seinem sonstigen Anzug kann ich nicht allzuviel gewahren, denn er hat die ungeheure Serviette rechts zwischen Hals und Kragen gesteckt und über die gesamte Fülle seines Leibes ausgebreitet. Aus dem rechten Ärmel seines Rockes kommt zuweilen eine gestärkte weiße Manschette mit großen Goldknöpfen zum Vorschein. Diese Manschette sitzt am Hemde fest … Das kann man an ihren Bewegungen erkennen, welche äußerst maßvoll sind. Auf der Stirne des Herrn Picon schreibt sich die Arbeit des Essens in winzigen kleinen Tropfen ihr Bulletin.

Nichts dergleichen auf der alabasterweißen Haut von Madame. Madame (Picon) gebe ich 43 Jahre Provinz. Sie muß ein wunderschönes junges Mädchen gewesen sein. Ihre Züge sind von großer Feinheit, die Wölbung der Brauen über (unzweifelhaft) perlgrauen Augen ist von unübertrefflicher Zeichnung. Sie hat eine feine, ganz leicht gerötete Nase, sehr kleine, von keinem Haar versteckte Ohren, in welche zwei blasse Korallen festgeschraubt sind, blaugeäderte Schläfen und einen knappen Mund, dessen Winkel besagen, daß er strenge, wenn nicht böse Worte zu finden vermag. Heute abend jedoch scheint er auf Güte eingestellt zu sein. Ein unentwegter Hauch leisesten Lächelns liegt über den Zügen der essenden Frau Picon, der Ausdruck ihrer Augen ist weltumfassende Freundlichkeit. Sie trägt auf ihrem aschblonden, gekräuselten Haar einen etwas schiefgerutschten schwarzen Hut, der an ein umgekehrtes Vogelnest erinnert (Roßhaar?) und den sie von Zeit zu Zeit ohne große Sorgfalt zurechtschiebt. Dann werden ihre kleinen, sinnlichen Hände sichtbar – und es leuchten, neben dem Ehering, zwei prachtvolle blaue Brillanten auf. Ihr Kleid ist irgend etwas Schwarzes, ganz Dünnes mit grauweißen Schmetterlings- oder Fledermausmustern, etwas, das flattern, ja fortfliegen könnte, wenn sich seine Trägerin bewegte. Aber sie bewegt sich nicht. Sie lehnt wie angeklebt an den Rücken des Wachstuchsofas und neigt sich auch beim Essen nicht den Speisen zu … Warum eigentlich nicht? Mein Gott: Sie kann einfach nicht! Das erkannte ich erst, als sie sich doch einmal etwas seitlich wendete und, trotz der ebenfalls über ihren Busen gezogenen Serviette, die Konturen dieser Büste sehen ließ … Beinahe wäre mir die Gabel entfallen. Ich mußte sogleich an Fräulein Milli aus der Schaubude »Sans Concurrence« auf der Messe von Neuilly denken, an dieses liebe Fräulein Milli (aus Temesvar), das auf dem gleichen Körperteil einen Ringkämpfer durch die Arena trägt …

Unwillkürlich gingen meine Blicke dann wieder unter den gegenüberstehenden Tisch. Frau Picon trug schwarze, ausgeschnittene Schuhe, und da auch ihr Kleid ein wenig hochgerutscht war, konnte ich nicht nur einen überquellenden Fuß, sondern den Ansatz einer beträchtlichen Wade sehen. Wie kann sie nur stehen auf diesen Stöckelabsätzen, schoß es mir durch den Kopf … Und dann sogleich wieder, wie ich ihr feines, unverbrauchtes, unbelastetes Mädchengesicht betrachtete und ein Verhältnis zwischen ihm und den geschilderten Füllen herzustellen versuchte, fielen mir die Chamissoschen Verse ein (mit der zugehörenden Musik) »Kommt ihr Schwestern, helft mich schmücken«. – Aber nicht genug: ich sah eine Kommode im Wohnzimmer meiner Großmutter, eine Nußbaumkommode, auf deren durchbrochener gehäkelter Decke in grüngepreßtem Kaliko die »Dichtergrüße« von Elise Polko lagen – Fort mit euch, ihr verfluchten Gedankenverbindungen … Da ist ja noch der Sohn, das Ergebnis und die Handhabe … Dieser Sohn ist ganz Gallien auf einmal … Zwanzig Jahre. Er kann nicht älter sein. Denn hätte er gedient, hätte er nicht diese Haltung, diese nicht zu schildernde Haltung des lauernden, nagenden Murmeltieres.

Er ist ein netter Junge, groß, breit, füllig – ein Flaps. Er ist unbedingt einziges und verwöhntestes Kind. Aufgefüttert mit allem, was das Imperium France zu bieten hat. Ein Rundkopf mit schwarzem Haar und schwarzen Kugelaugen, die beständig äugen. Er ist gestopft mit unausgetragenen Kräften – der Mangel an Gelegenheiten sämtlicher Provinzen Frankreichs hängt wie ein dicker Mantel um seine kräftigen Schultern. Er hat genau die Züge des Vaters. Auch eine Socke – aber eine seidne – hängt ihm auf den braunen Halbschuh. Er dreht mir den Rücken zu, aber er räkelt sich während des Essens ununterbrochen hin und her, so daß ich ihn mühelos sehen kann. Er neigt sich ganz dicht über seine Speisen. Dann sieht er aus wie ein Knecht bei der Mahlzeit. Aber richtet er sich einmal auf, so wirkt er wieder als Herr. Seine Serviette liegt gefaltet neben ihm. Er wischt sich mit der gefalteten den vollen, glänzenden Mund. Dann äugt er wieder – und ißt weiter. Geht die Speise in den Mund, so legt er jedesmal die Stirn in Falten.

Gesprochen wird kaum am Tische Picon. Die Familie Picon speist zu Abend.

Woher, fragte ich mich, woher wohl mögen diese Leute sein? Und während ich nachgrübelte, kam mir ein etwas kaleschenartiges Automobil in den Sinn, das ich an der Ecke des Kais, auf dem Parkplatz, gesehen hatte. Es hatte ein Lederverdeck und Scheiben aus Marienglas. Und es war vollgestopft mit Kisten und Körben. Dieser Wagen – und kein anderer – gehörte den Picons. Es gab gar keinen Zweifel. Solche Einkäufe macht, wer 150 Kilometer von Paris entfernt wohnt. Wer in der Banlieue wohnt, kommt öfters nach Paris und deckt sich weniger üppig ein. Die Picons waren Rentiers. Sie hatten in Grundstücken ihr Vermögen gemacht und hielten sich noch – zum Zeitvertreib, sagen wir – eine Geflügelfarm. Madame Picon war die Tochter des Notars Giraud aus Châteauroux. Ihre Schwester war mit dem Ingenieur Charles Mercier verheiratet, wissen Sie, dem bekannten, der damals als …

– Ah, voilà, quelle chance, sagte eine helle Stimme in mein verrücktes Phantasieren hinein. Sämtliche Tische schauten auf. Der Wirt verneigte sich gegen eine offenbar junge Dame, die auf dem Wandsofa des eben frei gewordenen Tisches neben den Picons Platz nahm.

– Wie immer, mein Lieber, sagte die junge Wasserstoffblonde, indem sie einen Augenblick lang ihre ochsenblutroten Nägel überprüfte … Sie wissen, kein Fleisch, eine Melone, mit Eis, zum Anfang – Schellfisch – gratinierte Kohlraben – Walderdbeeren. Zum Trinken eine halbe Champagne nature … Und später einen Filter … Geben Sie mir, bitte, ein Streichholz …

Und schon roch es nach Amerika im Raum.

Der junge Picon starrte offenen Maules auf die Pfingstrose, die ihm schräg gegenüber saß. Seine Mutter klopfte ihm mit der Gabel auf den Handrücken (»Benimm dicht!«). Mit der Freundlichkeit in ihren Zügen war es vorbei. Der Vater schaute verstohlen in der gleichen Richtung wie sein Sohn, bis ihn ein strenger Blick seiner Gattin in seine Beschäftigung zurückverwies.

– Mein Gott, was essen eigentlich diese Picons alles? dachte ich …

Als die Blonde kam, wurde gerade die Frage des erweiterten Nachtisches besprochen. Der Vater verzichtete. Die Mutter entschied sich für Walderdbeeren mit Sahne, der Sohn für grüne Mandeln. Die Blonde folgte genau diesen Debatten mit der Kellnerin. Sie hatte den saftigen Braten sofort gewittert – die »conditions« dieser Familie in einer Sekunde überschaut und sich den Jungen aufs Korn genommen. Es war ersichtlich, daß sie nur auf den Anknüpfungspunkt wartete. Sie ließ ihre Handschuhe fallen, jedoch der Wirt fing sie eben auf, als sie die Tischkante hinter sich lassen wollten. Aber nun stand ihr der liebe Gott bei, als die bestellten Mandeln gebracht wurden – ein ganzer Teller voll herrlicher, papageiengrüner Früchte.

– Oh, rief sie mit der Geste eines im Sacré Coeur erzogenen jungen Mädchens … Welche bezaubernde Farbe! Fräulein tauschen sie mir doch bitte die bestellten Erdbeeren gegen solche Mandeln um …

Die gesamte Familie Picon richtete ihre Blicke auf die Enthusiastin. Frau Picon sah sodann mit hochgezogenen Brauen ihren wohlgefällig dreinschauenden Gatten an, der das Käsemesser in der rechten Faust aufgerichtet hielt, kniff ihre Lippen, welche plötzlich bitterböse geworden waren – und holte sich dann ihre Erdbeeren herbei …

– Es tut mir unendlich leid, gnädige Frau, sagte demütig der Wirt zu der Blonden – aber wir haben keine Mandeln mehr … Es ist die letzte Portion, die wir soeben serviert haben …

Der junge Picon strahlte auf. Seine runden Augen füllten sich mit übersinnlichem Glanz.

– Darf ich Sie bitten, gnädige Frau, die meinen zu nehmen?

Seine Mutter trat ihm unter dem Tisch auf den Fuß. Er schob verärgert ihren Schuh zurück. Dann sagte sie:

– Und mir bietest du nichts an?

– Oh, sagte die Blonde, welcher der Junge schon den Teller hingeschoben hatte – bitte gnädige Frau, nehmen Sie doch …

– Danke, sagte Frau Picon, es war nur ein Witz! Ich freue mich, wenn sie Ihnen schmecken. Ich mache mir gar nichts aus dem Zeug …

Der Junge hörte keinen Ton von dem, was seine Mutter in zügelloser Bissigkeit sagte. Er war nur noch Auge. Er verschlang das schön gemalte Bildnis, das nun versuchte, mit den Ochsenblutnägeln die grünen Schalen zu spalten.

– Mein Gott, sagte der Junge, Sie werden sich Ihre Hände schön zurichten. Erlauben Sie, daß ich Ihnen die Früchte öffne.

Wieder versuchte ihn der Fuß der Mutter unter dem Tisch zu erreichen, während sich die übergelegte Serviette mächtig gegen das Kinn hob. Aber er hatte sich schon schräg gesetzt, so daß seine eigenen Füße nun unter den Tisch der Blonden reichten … Die Mutter stieß also ins Leere …

Nun hatten sich die Spitzen des braunen Halbschuhs, über dem die seidene Socke niederhing, und des schneeweißen Wildlederkunstwerkes mit dünner Goldschnalle, auf dem die Blonde durch das Leben schritt, gefunden. Ganz unmerklich hatten sie sich gefunden, und dachten nicht daran, sich loszulassen, indessen die Mandelschalen knackten, sehr langsam, eine nach der anderen, und die Augen sich anblitzten.

– Nein, laß mich doch, tönte es plötzlich hart aus dem Munde der Mutter – es ist eine unerträgliche Hitze in diesem kleinen Raum.

Die übergelegte Serviette wurde heftig von der atmenden Brustwehr gezogen, der schwere Marmortisch auf seinem eisernen Gestell zurückgeschoben – und Madame Picon verließ ihren Platz.

– Ich will mir die Hände etwas waschen, sagte sie.

Der Wirt zuckte entschuldigend die Schultern:

– Gnädige Frau: Wir sind hier in diesem alten Haus mit Absicht ganz primitiv geblieben – das macht unsere besondere Note. Wir haben noch keine modernen Einrichtungen – aber wenn Sie sich ans Büfett bemühen und etwas bücken wollen – Ich habe dort einen kleinen Wasserhahn über dem Eimer anbringen lassen – und das Wasser ist eisgekühlt, das ich da laufen lasse.

Frau Picon wurde rot bis unter die Krempe des umgekehrten Vogelnestes. Sofort verstand der Wirt.

– Wenn Sie erlauben, sagte er rasch, ehe noch Frau Picon gezwungen war, irgendeine verlegene Antwort zu geben, werde ich Sie in das nebenanliegende Hotel du Port geleiten, mit dem ich bezüglich besonderer Wünsche meiner Gäste ein Abkommen habe … Sie finden dort alle Bequemlichkeiten. Man kann auch von dort aus telephonieren oder nach dort Vorbestellungen für mich aufgeben …

Erlöst lächelte Frau Picon und ging an der Seite des Cicerone, ihre leise in sich selbst wogende Fülle durch die offene Tür tragend, in den violetten Abend hinaus.

– Ich hoffe, Ihre Gattin ist nicht unwohl, sagte die Blonde zu Herrn Picon. Das kommt nur von der Hitze, welche starke Leute schlechter ertragen als wir schlanken –

– Ja, ja, sagte Herr Picon … Wir haben den ganzen Tag Besorgungen in Paris gemacht – und das ist bei 28 Grad immerhin eine Anstrengung für eine Dame, welche das Getriebe der Großstadt nicht gewohnt ist.

– Natürlich … natürlich … So, Sie leben auf dem Lande! Sie Glücklicher! Ich dachte, Sie seien Pariser.

Herr Picon strahlte die Blonde an, welche Spiegel und Lippenstift hervorgeholt hatte.

– Das war einmal, als ich jung war, sagte er: Und alle Erinnerungen einer sehr fernen, sehr glücklichen Zeit verdichteten sich in seinem runden Gesicht zu einer wiederkehrenden Morgenröte …

– Aber Ihr Herr Sohn lebt wohl hier?

– Noch nicht, Madame. Wir wollen unser einziges Kind solange bei uns behalten, als es nur irgend geht. Wenn er gedient hat, mag er hier unsere Häuser verwalten, nicht wahr, mein Junge!

– Mais oui, papa …

– So, Sie haben Häuser hier, sagte die Blonde, während sie eine neue Zigarette anzündete. Der Wirt kam mit etwas besorgter Miene an den Tisch und flüsterte Herrn Picon etwas ins Ohr. Herr Picon machte ein betroffenes Gesicht.

– Danke, sagte er … Da muß ich doch einmal nachsehen … Entfernte ebenfalls die übergelegte Serviette und erhob sich …

– Soll ich mitkommen? fragte der Sohn …

– Nein, nein! Bleibe du ruhig hier und beende deinen Nachtisch. Du weißt doch, daß Mama bei großer Hitze manchmal diese kleinen Störungen hat … Im Notfall bleiben wir einfach heute nacht in Paris und fahren erst morgen zurück.

Und nun, als auch der Vater gegangen war, geschah das Folgende: Der Sohn bestellte zwei »Fines maison dégustation«, die er sogleich bezahlte, und stieß mit der Blonden an. Dann wurden in aller Ruhe zwei Karten ausgetauscht, worauf eine leise geführte Unterhaltung begann. Als diese zu Ende war, sagte die Blonde laut, während sie den Zucker in ihrer Tasse mit dem Löffel nachlässig zerstieß:

– Sie müssen sich keine Sorgen machen, meine Mutter, die auch etwas stark war, hatte ganz ähnliche Anfälle. Diese guten Damen muten sich immer zuviel zu, wenn sie einmal in die Stadt kommen … Auch das ungewohnte Essen trägt sein Teil Schuld … Wir Pariser haben ein ganz anderes Training! Sie sehen ja, was ich gegessen habe – nichts. Die Menschen essen alle viel zu viel …

Der junge Picon sog die Weisheiten der karminroten Lippen in sich auf. Dann war er nur noch Auge … Die Blonde sah in den Abend hinaus … Vom Quai des Augustins herüber kamen die Klänge einer Harmonika … Wieder hielten sich die Fußspitzen.

Da kam der Vater zurück:

– Mama geht es besser. Sie wartet im Hotel auf uns, sagte er. Sie ist nicht zur Vernunft zu bringen, sie will durchaus noch heute abend nach Hause fahren.

Der junge Picon runzelte die Stirn, was einem Fluche gleichkam …

– Sie fahren noch weit? fragte wie unwissend und gleichgültig die Blonde.

– Wie man es nimmt: bis nach Gien. 158 Kilometer … Um zwei, bei vernünftigem Fahren, sind wir zu Hause.

– So nach Gien. Nach dem guten Gien … Schöne alte Häuser gibt es dort –

– Ach, Sie kennen Gien? sagte strahlend der Vater. So, so, Sie kennen Gien! Das freut mich aber, mein Gott, wer kennt Gien?

– Wer Frankreich liebt! lautete die stolze Antwort.

– Bravo, bravo! Wie schade, daß wir fort müssen! Wie würde ich mich gefreut haben, mit Ihnen über Gien zu sprechen –

– Und ich erst!

Herr Picon setzte einen Zwicker auf und prüfte die mit Kreide auf eine Schiefertafel geschriebene Rechnung. Dann gab er seinem Sohn einen Fünfhundertfrankenschein und sagte:

– Bring das in Ordnung mein Kind, und hole uns im Hotel nebenan ab. Ich will vorgehen, damit Mama nicht nervös wird … Au revoir, Madame … A une autre fois, j'espère.

– Au revoir, Monsieur, et tous mes compliments à Madame … J'espère qu'elle est tout à fait rétablie … Au revoir, Monsieur …

Der junge Picon zahlte. Den fragenden Augen, die auf ihn gerichtet waren, antwortete er mit einem hilflosen Achselzucken.

– Aber Gien, sagte die Blonde … Gien, 158 Kilometer … das ist doch gar nichts …

– Natürlich ist es gar nichts, wenn man es von Paris aus sieht. Von Gien aus ist es dreimal so weit, antwortete der Junge.

Und er bestellte noch zwei »Fines maison«.

Längst hätte ich gegangen sein sollen – aber ich wollte diesen Aufbruch noch erleben. Ich brauchte nicht mehr lange zu warten. Im Rahmen der Tür, von den Lichtern des Raumes angestrahlt, stand plötzlich die gewaltige Erscheinung Madame Picons in einen hellen, glänzenden Staubmantel gehüllt. Sie trat nicht über die Schwelle. Sie wußte, daß das nicht nötig war. Sie konnte sich auf ihre Stimme und die Macht ihres Bildes verlassen.

– Jean! rief sie – Jean! Viens!


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