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Pointeau-Comminges

Jedermann in Paris kennt die schönen Geschäfte des Papierhauses Pointeau.

Seit vielen Jahren bin ich Kunde der in meinem Viertel gelegenen Filiale.

So klein auch die Schaufenster des alten Hauses sind, immer locken sie den Käufer durch ihre fast täglich wechselnden Auslagen. Da sieht man Bütten- und Velinpapiere in seidegefütterten Kassetten, Visitenkarten mit üppigen Namen, Briefbogen mit gepreßten Wappen oder Schloßbildern en miniature, Einladungskarten: »Le ministre du Pérou et Madame … prient …« Todesanzeigen, aus denen ersichtlich wird, daß die Not gewiß nicht zu den irdischen Leiden der enteilten Seele gehört hat, Petschafte aus Onyx, Kartenspiele in goldverzierten Lederetuis, Kalender zum Umschlagen an Nickelbügeln, Notizblöcke mit Silberdeckeln, Siegellackstangen in allen Farben des Prismas –

Betritt man den Laden, so ertönt ein feines Läutewerk, das nur in den Stunden des größten Andranges abgestellt wird, und zwei oder drei Damen unterschiedlichen Alters kommen einem mit würdevoller Freundlichkeit entgegen, um sich nach den Wünschen zu erkundigen. Fast niemals wird man zum Kaufen von Dingen ermuntert, die man nicht verlangt hat. Ebenso selten werden einem Vorschläge gemacht. So etwas gehört nicht zum Stil des Hauses. Wer zu Pointeau kommt, weiß, was er will. Und weiß er es noch nicht genau, so braucht er sich ja nur so rasch oder so langsam wie es ihm gefällt – anzuschauen, was alles um ihn her auf Tischen und Gestellen aufgebaut ist.

Der Laden, von dem hier die Rede ist, steht unter dem Regime einer strengen Diktatur. Diktator ist Madame (= Mademoiselle) Eugénie Pointeau, eine Nichte des Gründers Charles-Guillaume Pointeau. Sie ist neunundfünfzig Jahre alt, weißhaarig, groß und von überzeugender Fülle. Sie beherrscht den leicht zu überschauenden Raum von einer Estrade zur Linken der Eingangstür aus. Auf dieser Estrade steht ihr Schreibpult, der nach vorn, links und rechts durch niedrige Glasscheiben abgeschlossen ist. Das Geld schiebt man – wie an Bahnschaltern – durch eine halbrunde Öffnung über eine gerillte Messingplatte in den Finanzbereich der Allgewaltigen. Das heißt: meistens tun das die Verkäuferinnen, die einen bis zur Kasse begleiten. Eine Registrierkasse gibt es nicht. Es gibt nur zu beiden Seiten des Pultes eine Reihe dünner Nadeln, auf denen rote, grüne, gelbe, blaue, weiße Zettel aufgespießt werden.

Fräulein – wir wollen der Wahrheit die Ehre geben – Fräulein Eugénie hat graue, kalte Augen, deren Lider viele Falten aufweisen. Auch die etwas tief hängenden Wangen haben Runzeln, und die Haut der starken, wohlgeformten Hände hat ebenfalls ihre Spannung verloren. Diese Hände aber haben wahre Lasten kostbarer Ringe zu tragen. Es schien mir oft, dies sei ihre eigentliche Bestimmung.

Lange geruhte Mademoiselle Eugénie, mich kaum eines Blickes zu würdigen. Aber schließlich ergab sich dann doch einmal ganz von ungefähr ein Gespräch. Sie hatte sich eine böse Erkältung zugezogen, und ich hatte ihr ein Hustenmittel empfohlen, das bei ihr offenbar eine gute Wirkung tat. Seitdem wußte man, daß man unter anderem – auch noch Mensch mit menschlichen Regungen war.

Mademoiselle Eugénie hätte dies schon – was meine Person betraf – früher bemerken können, wenn sie mich nicht für eine quantité négligeable gehalten hätte. Es müßte ihr dann nämlich aufgefallen sein, daß ich von einem gewissen Zeitpunkt an weit öfters in den Laden kam als vorher und viele Kleinigkeiten gesondert kaufte, die ich sonst auf einem einzigen Gang mitzunehmen pflegte. Dieser »gewisse Zeitpunkt« fiel nämlich mit dem Auftauchen einer ungewöhnlich schönen und reizvollen jungen Dame zusammen, welche als Verkäuferin in dem Geschäft angestellt worden war: einer Pariserin reinsten Wassers, deren Stimme allein eigentlich den tätlichen Besuch zum Gesetz machte.

Mademoiselle Geneviève wurde in kurzer Zeit das Entzücken nicht nur aller Herren – jüngerer und vor allem auch älterer – welche als Kunden bei Pointeau kauften, sondern auch der Damen, und zwar oft sehr empfindlicher und umständlicher Damen, deren Sonderwünsche gewiß nicht immer leicht zu erfüllen waren. Mademoiselle Geneviève wurde, mit einem Wort, die »Seele« des Geschäftes: was selbstverständlich Mademoiselle Eugénie erst recht bestimmte, dessen unumschränkte Diktatorin zu bleiben. Niemals hätte sie ihrer Partnerin auch nur ein freundliches Wort mehr gesagt als den weniger von der Natur bevorzugten anderen Verkäuferinnen. Niemals auch hätte sie einem männlichen Kunden bestätigt, daß er recht habe, von Mademoiselle Geneviève mit Begeisterung zu sprechen.

Mir selber sollte es vorbehalten bleiben, plötzlich einen Lichtstrahl in das unterirdische Dunkel eines beispiellosen Kampfes zu werfen, der da monatelang zwischen den beiden Frauen tobte.

Eines Tages – es war Mitte Oktober – kam ich nach langer sommerlicher Abwesenheit in die geliebte Pariser Residenz zurück. Und zwar mit einem der frühesten Züge, die auf dem Lyoner Bahnhof aus dem Süden einlaufen. Ich hatte die Nacht über gut geschlafen, war also ausgeruht und begann, ganz gegen meine Gewohnheit, schon um neun Uhr früh ein paar nötige Einkäufe in meinem Viertel zu machen. Selbstredend wollte ich auch sogleich nachsehen, wie es Mademoiselle Geneviève ginge, der ich nicht einmal eine Ansichtskarte geschickt hatte, da sie mich – aus mir unbekannten Gründen – gebeten hatte, ihr überhaupt nicht zu schreiben. Niemals war ich ihr an einem anderen Ort als in dem Papierladen begegnet, niemals hatte ich ihr anders als durch einen Blick oder ein Scherzwort zu verstehen geben können, wie groß meine uneigennützige Bewunderung für ihre Schönheit und Süße sei. Da es auf der Hand lag, daß ihr diese kleinsten Beweise genügten, war unsere Beziehung auf die einzige für sie gültige Form festgelegt.

Ich ging also an jenem Oktobermorgen, während ein feiner Nebelregen fiel, in das Papiergeschäft. Schon als ich die Schwelle des halbdunklen Ladens überschritt, fühlte ich, daß da etwas nicht in Ordnung war. Drei der bedienenden Damen und zwei junge Buchhalter standen schweigend im Hintergrunde des Raumes zusammen, fast wie soeben zurechtgewiesene Sünder, Mademoiselle Eugénie aber trommelte, den hochroten Kopf in die Hand stützend und die Blicke starr auf ihr Geschäftsbuch heftend, mit den goldbeladenen Fingern ihrer Linken auf die Pultplatte.

Ich sagte laut:

– Guten Morgen, meine Damen, meine Herren …

Eine der Verkäuferinnen löste sich aus der Gruppe und kam auf mich zu. Mademoiselle Eugénie rührte sich nicht.

– Guten Morgen, Fräulein Pointeau, sagte ich.

Der glühende weißhaarige Kopf hob sich aus quälenden Versunkenheiten …

– Guten Morgen, lautete die kalte, fast abwehrende Antwort. Werden Sie noch nicht bedient? Was ist denn das heute für eine Wirtschaft?

– Es ist gar keine Wirtschaft, Fräulein Pointeau. Ich werde bedient. Ich wollte mir nur erlauben, Sie nach meiner langen Abwesenheit persönlich zu begrüßen …

– Ja, so – – Sie waren fort … Natürlich … Alle Menschen waren fort. Nur ich nicht … Wie soll ich mir erlauben zu reisen … Was soll aus dem Geschäft werden, wenn ich fort bin …

– Es wird von Ihren ausgezeichnet geschulten Damen und Herren weitergeführt werden …

– So! Was Sie nicht sagen! Und Sie glauben, das geht nur so!

– Warum soll es nicht gehen?

Mademoiselle Eugénie neigte sich nach vorn:

– Weil nichts geht ohne die Faust! Verstehen Sie? Weil man an allen Ecken und Enden hintergangen wird, wenn man nicht Tag und Nacht aufpaßt wie ein Luchs!

Die Dame, welche mich hatte bedienen wollen, wandte sich wieder rückwärts zu der Gruppe der anderen. Ich sah nur Rücken und Schultern, die von einem unterdrückten Lachen geschüttelt schienen.

– Ist das denn so schlimm, wenn man einmal hintergangen wird? fragte ich, um den drohenden Ausbruch zu beschleunigen …

– Ah, par exemple! rief Mademoiselle Pointeau, die bösen Papageienaugen auf mich wendend … Je ne vous connaissais pas une telle manière de voir les choses!

– Quelles choses?

– Toutes les choses!

Ich zündete mir langsam eine Zigarette an und fragte zwischen kaum geöffneten Lippen:

– Übrigens: wo ist denn meine Freundin – wo ist denn Mademoiselle Geneviève?

Nun schrie mich die fast versagende Stimme an:

– Ihre Freundin? Also Sie auch noch? Ja, mein Gott, wer von unseren Kunden war denn an dieser Firma eigentlich nicht beteiligt?

Die Gruppe im Hintergrund des Ladens war verschwunden.

– Was erzählen Sie mir da für Märchen, Fräulein Pointeau?

– Modérez-vous, Monsieur, wenn ich bitten darf! Aus diesem meinem Munde gehen keine Märchen! Aber vielleicht hat Ihnen Ihre »Freundin« Geneviève deren einige versetzt!

– Ich verstehe weder Ihre Erregung noch den Sinn Ihrer Vermutungen, Fräulein Pointeau.

– Dann gratulieren Sie sich! Hier – lesen Sie!

Sie hielt mir eine Vermählungsanzeige hin, welche, wie ich aus dem Stempel auf der Marke erkennen konnte, soeben angekommen sein mußte: Mademoiselle Geneviève Delagrange hatte sich mit dem Grafen Olivier de Comminges, Vertreter einer weltbekannten Automobilfirma, verheiratet.

– So ein Skandal! zischte Mademoiselle Pointeau … So eine Herausforderung! Mir auch noch diese Karte zu schicken, wo ich doch längst im Bilde war!

– In welchem Bilde?

– Sie haben wohl auch geglaubt, Sie seien der Einzige? Was? Wieviel Männer hat denn diese Person an der Nase herumgeführt? Weiß Gott: die hat gewußt, in welcher feinen Falle man sich die Männer fängt! Kein schlechter Gedanke, sich in der vornehmsten Filiale Pointeau anstellen zu lassen und die feudale Herrenkundschaft so lange auszuprobieren, bis man sich den richtigen gefangen hat!

– Wer hat Sie denn so genau über die angeblichen Verführungskünste der Gräfin Comminges unterrichtet?

– Wer? Wer? So etwas kann nur ein Mannsbild fragen! Ich selbst habe mich unterrichtet! Meinen Sie denn, ich sehe nichts, ich höre nichts, ich berechne nichts, weil ich hier oben sitze, Zettel aufspieße und Geld wechsle?

– Ich würde an Ihrer Stelle etwas weniger Vertrauen zu der Unfehlbarkeit meiner Wahrscheinlichkeitsrechnungen haben. Solange Sie nichts beweisen können, müssen Sie jedenfalls in Ihren Bemerkungen sehr viel vorsichtiger sein. Sonst könnten Ihnen Ihre Rechenkunststücke teuer zu stehen kommen …

Mademoiselle Pointeau schlug leise mit der Faust auf das Pult:

– Ich kann aber beweisen, daß sie ein halbes Jahr lang ein Verhältnis mit dem Grafen Comminges hatte …

– Und wenn schon! Dieses »Verhältnis« ist doch jetzt durch die Ehe abgelöst … Der Graf Comminges hat die Tochter eines verstorbenen Generals geheiratet, nachdem ihm die vertraute Bekanntschaft mit ihr den Wunsch nach dieser Ehe erweckt hatte – und selbstverständlich auch vice-versa. Denn zu jeder guten Ehe gehören bekanntlich zwei Wünschende …

Mademoiselle Pointeau starrte mich aus offenem Munde an:

– Und das sagen Sie so dahin, als ob es die simpelste, die selbstverständlichste Sache der Welt wäre?

– Ja, warum denn nicht? Was würden Sie denn zum Beispiel an Stelle der Gräfin Comminges getan haben?

Mademoiselle Pointeau war hochgefahren. Ihr Kopf ragte nun über die Glasscheiben hinaus in den pathetischen Raum. Toute la France »bien pensante« – »das recht denkende« Frankreich – war aufgestanden:

– Monsieur! Nehmen Sie sofort diesen beleidigenden Vergleich zurück, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen antworte! Nehmen Sie diese unerhörte Frage zurück …

Ich lächelte in den Zigarettenrauch und machte eine Bewegung, als ob ich gehen wolle. Die Gruppe im Hintergrund des Ladens hatte sich im Schutze eines Büchergestelles neu gebildet.

– Monsieur! rief Mademoiselle Pointeau, nachdem sich ihr der Laden endlich zur Bühne verwandelt hatte, Monsieur, ich bedaure Sie! Ich hielt Sie seither für einen Menschen, der seine Haltung auf die unverletzlichen Grundsätze der guten Gesellschaft aller Länder stützt. Ich muß zu meinem größten Befremden feststellen, daß auch bei Ihnen der Schein trügt. Sie gehören zu den Leuten vom Schlage der Gräfin Comminges, wie Sie Geneviève zu nennen belieben …

– Pardon: Sie meinen: des Grafen Comminges …

– Desto schlimmer! Ein Mann von Welt präsentiert nicht der Gesellschaft, zu der er gehört, seine offenkundige Geliebte eines Tages als Gattin! Verstehen Sie mich? Solche Dinge mögen in anderen Schichten gang und gäbe sein. Ein Graf de Comminges hat kein Recht, sich so etwas herauszunehmen! Er deklassiert sich dadurch selbst und entwertet die unantastbare Stellung aller jener anderen Gattinnen, die sich nicht unterstanden haben, abenteuernd vorwegzunehmen, was als Glück nur der vollzogenen Ehe vorbehalten ist. Der Aufschub, mein Herr, jawohl, der Aufschub ist in den Kreisen, von denen ich spreche, eine Tugend! Er ist eine dreifache Tugend, wo er ins Ungewisse zielt! Warten zu können, sich nicht zu verschleudern, ist eine große Kraft – und sollte man darüber zur alten Jungfer werden! Ein Land, in dem es solche alten Jungfern nicht mehr gibt, ist verloren! Denken Sie einmal über diese Wahrheit nach! Und wenn Sie sie für richtig befunden haben, dürfen Sie sagen, daß Sie allerhand dazugelernt haben. Pointeau oder Comminges: ich würde immer nur Pointeau wählen: und sollte ich noch vierzig Jahre lang hier in diesem Laden Zettel aufspießen und Geld wechseln! Denn ich weiß, was ich der Überlieferung meiner Familie und Frankreichs schuldig bin! Au revoir, Monsieur, et à bientôt j'espère …


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