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Im sächsischen Landtag 1881 bis 1882

Der Landtag wurde in jenem Jahre ausnahmsweise schon am 1. September eröffnet, um das fünfzigjährige Jubiläum der Verfassung feiern zu können. Nach Konstituierung des Landtags begannen die Verhandlungen mit der Beratung einer Adresse an den König, die Liebknecht und mir die erwünschte Gelegenheit gab, das ganze Regierungssystem einschließlich der Verhängung des Kleinen Belagerungszustandes über Leipzig und Umgegend einer scharfen Kritik zu unterziehen. Ich hatte dabei der Regierung vorgeworfen, sie habe sich durch die preußische Regierung zu der Maßregel drängen lassen. Das bestritt Herr v. Nostiz-Wallwitz. Die Regierung habe aus eigener Entschließung gehandelt und werde weiter so handeln. Eine Entgegnung wurde durch Annahme eines Antrags auf Schluß der Debatte abgeschnitten, ein Mittel, das von jetzt ab fleißig gegen uns in Anwendung kam.

Wir entschlossen uns nunmehr zu einer Interpellation, die lautete: Welche Gründe bestimmten die Königliche Regierung, über das Gebiet der Stadt und Amtshauptmannschaft Leipzig den sogenannten kleinen Belagerungszustand zu verhängen? Die Regierung entzog sich vorläufig der Beantwortung, indem sie am 6. September eiligst den Landtag vertagte, damit, wie die »Dresdener Nachrichten« ausplauderten, die sozialistischen Abgeordneten nicht vor den allgemeinen Reichstagswahlen Brandreden halten könnten.

Solcherart waren die »großen Gesichtspunkte«, nach denen zu jener Zeit in Sachsen regiert wurde, und in dieser Auffassung begegnete sich die übergroße Mehrheit der Kammer mit der Regierung.

Nach dem noch jetzt geltenden Gesetz setzt sich die Zweite Kammer zusammen aus Vertretern der Wahlkreise der Städte und des platten Landes, eine Scheidung zwischen Stadt und Land, nirgends weniger angebracht als in dem industriell hochentwickelten Sachsen. Aber viele Jahrzehnte lang hatte diese Trennung von Stadt und Land für die Regierung den Vorteil, daß sie sich, durch eine entsprechende Wahlkreiseinteilung unterstützt, eine konservative Mehrheit sicherte. Freilich, uns gegenüber bildete die Kammer mit ein paar Ausnahmen eine einzige reaktionäre Masse, stets bereit, alles, was von uns kam, kritiklos zurückzuweisen, und alles, was gegen uns ging, gutzuheißen. Ihrer sozialen Zusammensetzung nach konnte es nicht anders sein. Einen sehr erheblichen Bruchteil der Kammer bildeten die ländlichen Abgeordneten, deren politischer Blick über die Grenzen ihres Wahlkreises kaum hinausreichte, Leute, die von dem Wollen der Sozialdemokratie die lächerlichsten Vorstellungen hatten. Ihnen schlossen sich an eine Anzahl Bürgermeister der kleinen Städte, die in einem spießbürgerlichen Milieu lebten und danach dachten. Den Rest der Abgeordneten bildeten eine Anzahl Regierungsbeamte, einige Fabrikanten und ein größerer Teil Juristen. Mit wenigen Ausnahmen war die Kammer im engherzigsten, sächsischen Partikularismus befangen, wobei sich die sogenannten fortschrittlichen Abgeordneten von den Konservativen nicht unterschieden. In einer solchen Kammer zu sitzen, war mir nicht einen Tag ein Genuß, nur das Pflichtgefühl gegen die Partei hielt mich in ihr fest und die Notwendigkeit, von Zeit zu Zeit ein System zu brandmarken, das ich aus tiefster Seele haßte.

Ich glaube, die Minister haben manchmal im stillen bereut, daß sie den kleinen Belagerungszustand über Leipzig verhängten und so mich veranlaßten, ein Landtagsmandat anzunehmen.

Zur Vervollständigung des Bildes muß ich noch anführen, daß mir in Dresden zweimal die Wohnung gekündigt wurde, weil nach dem eigenen Geständnis der Mietsleute die Polizei sie dazu gedrängt habe. Ein Geschick, das auch Vollmar begegnete, als er zwei Jahre später in den Landtag eintrat. Borniertheit und Feindseligkeit ringsum.

Nach dem Wiederzusammentritt der Kammer Anfang November kam unsere Interpellation zur Verhandlung. Mir fiel die Begründung zu, die einen Sturm der Entrüstung in der Kammer und auf der Ministerbank hervorrief und mir mehrere Ordnungsrufe einbrachte. Als ich eine Anzahl Fälle von roher und gesetzwidriger Behandlung Ausgewiesener durch die Polizeiorgane vortrug, lachte die Mehrheit, worauf ich ihr zurief: »Wenn solche Vorkommnisse der Kammer nicht die Schamröte ins Gesicht treiben, weiß ich nicht, was noch geschehen müßte.«

Mir antwortete Herr v. Nostitz-Wallwitz, der, wie schon erwähnt, bei dieser Gelegenheit den traurigen Mut hatte, zu erklären, daß er meine Wahl, ohne mit dem Gesetz in Widerspruch zu kommen, für ungültig hätte erklären können. Des weiteren stellte er die unsinnige Behauptung auf, man habe in den Beratungen der Leipziger Sozialdemokratie die Frage erörtert, welche Personen eventuell beseitigt werden müßten. Das war offenbar eine lügnerische Behauptung der Berliner Polizeispitzel in Leipzig, die der Minister als glaubwürdig akzeptierte. Diese Behauptung war genau so glaubwürdig wie die andere, die nachher in den offiziösen Zeitungen zur Begründung für den Leipziger Belagerungszustand erschien: bei Beratung des (Heinrichschen) Organisationsplans sei die Eventualität einer allgemeinen Erhebung für den Fall in Betracht gezogen worden, daß man das Asylrecht und andere Freiheiten in der Schweiz aufhebe. Konnte man Blödsinnigeres dem lieben Publikum zumuten?

Eine Antwort auf die ministeriellen Ausführungen wurde uns wiederum durch die Annahme eines Antrags auf Schluß der Debatte unmöglich gemacht. Daß die Kammer damit die Schwäche der Regierung und ihre eigene zugleich zugab, ging über ihren Horizont. Dafür aber bekam der Minister des Inneren am 17. November über seine Ausführungen wegen meiner Wahlfähigkeit die gebührende Antwort, und Otto Freytag beteiligte sich bei dieser Abrechnung.

Liebknecht, in dessen Wahlkreis überwiegend Bergarbeiter wohnten, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, eine dringende Reform des Knappschaftskassenwesens durchzusetzen. Über seinen Antrag kam es am 21. Dezember zu einer großen Debatte. Der Antrag wurde einer Deputation – im sächsischen Landtag werden die Kommissionen Deputationen genannt – überwiesen, die schließlich vorschlug, unseren Antrag der Regierung als Material zu überweisen. Dagegen stellte sie selbst einen Antrag, wonach die Regierung ersucht wurde, in der nächsten Session des Landtags geeignete Vorschläge zu einer Reform des Knappschaftswesens dem Landtag zu unterbreiten. Beide Anträge wurden angenommen, die von uns aufgedeckten Mißstände im Knappschaftswesen konnte der Landtag nicht mehr länger bestehen lassen.

In einer Sitzung Ende Januar 1882 führte ich lebhafte Beschwerde über die Handhabung der Justiz. Die Staatsanwälte gingen mit der Erhebung von Anklagen und die Richter mit der Verhängung der Untersuchungshaft in mißbräuchlichster Weise vor. In Dresden seien in einem Zeitraum von achtzehn Monaten über neunzig Parteigenossen in Untersuchungshaft genommen worden. Die gesamte Untersuchungshaft habe sich auf sechs Jahre fünf Monate belaufen. Von den Verhafteten seien nur dreiundzwanzig, also ein Viertel, verurteilt worden, und zwar insgesamt zu acht Jahren zwei Monaten und sechzehn Tagen Gefängnis. Die Richter hätten im ganzen nur neun Monate Untersuchungshaft bei Verhängung der Strafhaft angerechnet. Unter den aus der Untersuchungshaft und von der Anklage Entlassenen oder Freigesprochenen seien zwölf Fälle, bei denen die unschuldig erlittene Untersuchungshaft sich durchschnittlich auf zweiundfünfzig Tage pro Kopf belaufen habe. Es sei aber auch Untersuchungshaft von achtzehn, vierzehn, zwölf und elf Wochen vorgekommen. Es habe sich um lauter leichte Anklagen gehandelt, bei denen das Strafmaß nur in zehn Fällen über sechs Wochen hätte hinausgehen können, in keinem Fall aber mehr als drei Monate betragen habe. Es sei offenbar, daß in diesen Prozessen richterliche Voreingenommenheit und Parteileidenschaft in Frage gekommen seien. Einer der Angeklagten hatte aus Verzweiflung im Gefängnis Selbstmord durch Erhängen verübt, ein anderer, der nach achtzehnwöchiger Untersuchungshaft freigesprochen werden mußte, war dem Verfolgungswahn verfallen und ertränkte sich in der Elbe. In dem schon anläßlich der Freiberger Wahl erwähnten Falle Sch. hatte der Staatsanwalt erklärt, er wolle nicht verhehlen, daß er Sch. nicht verhaftet hätte, wäre er kein Sozialdemokrat. Der Zutreiber in allen, diesen Prozessen war der Polizeikommissar Paul.

Am 9. Februar machte der Justizminister, Herr v. Abeken, den Versuch, meine Anklagen richtigzustellen. Ich antwortete ausführlich. Darauf erklärte der Präsident plötzlich die Debatte für geschlossen. Herr v. Abeken war im Gegensatz zu seinem Kollegen, dem Minister des Innern, ein kleiner hagerer Mann mit einem kalten, fanatischen Gesicht. Ich bezeichnete ihn den Parteigenossen als ein Gegenstück zum Großinquisitor der spanischen Inquisition, Torquemada. In dessen Zeitalter hätte er gepaßt. Ein äußerst scharfsinniger Jurist, aus dessen ohne Tonfall mit einer scharfen, trockenen Bürokratenstimme vorgetragenen Reden man nur an einem leisen Beben die innere Erregung heraushörte, verteidigte er mit äußerster Konsequenz die Taten seiner Staatsanwälte und Richter. Er wirkte damit im höchsten Grade unheilvoll auf die Justiz seines Landes ein, wie denn für einen erheblichen Teil der Anklagen gegen uns der Justizminister der Anreger war.

In der erwähnten Sitzung hielt auch Liebknecht eine lange Anklagerede, die mit zahlreichen Tatsachen gespickt war und ihm mehrere Ordnungsrufe einbrachte. Ich unterstützte Liebknecht, aber die Annahme des Debatteschlusses verhinderte ein weiteres Vorgehen.

Ein anderer Gegenstand des Angriffs für uns war der Polizeietat der Stadt Dresden, den das Land zu bezahlen hat. In demselben waren unter großer Anerkennung seiner Tätigkeit dem Polizeikommissar Paul jährlich sechshundert Mark persönliche Zulage ausgeworfen worden, bei der Lebensweise Pauls ein Tropfen auf einen heißen Stein. Dieser Kämpfer für Sitte und öffentliche Ordnung, für Ehe, Familie, Religion und Eigentum war einer der gewissenlosesten Menschen, die es geben konnte. Er war ein Trunkenbold, ein Generalschuldenmacher, der sich Nacht für Nacht in den in Dresden geduldeten Bordellen umhertrieb und jeder Bestechung zugänglich war. Ein Sozialistenverfolger aus Sport, der wußte, daß er damit in den Augen seiner Vorgesetzten viele seiner Sünden zudeckte, aber schließlich, gegen Ende des Sozialistengesetzes, zum Selbstmord greifen mußte, da die Staatsanwaltschaft genötigt war, ihn wegen begangener Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen.

Paul hatte sich namentlich auch bei den verflossenen Reichstagswahlen in Dresden wie ein Wüterich benommen. Am Abend der Wahl, den 19. November, drang er, total betrunken, in den Max Kayserschen Tabakladen und in die Restauration von Peters und schlug mit seinem Stock auf das Publikum ein. Auf dem Marktplatz kam es unter seiner Führung zu Gewalttaten der Polizei, die, als das Publikum dagegen protestierte, zu Aufruhrprozessen und schweren Verurteilungen führten.

Die Sitzung, in der wir diese Vorgänge zur Sprache brachten, war die längste und eine der stürmischsten im Landtag.

Eine andere Angelegenheit, die schließlich auch noch den Reichstag beschäftigte, war die Willkür, mit der die sächsische Regierung von dem ihr zustehenden Ausweisungsrecht gegen politisch bestrafte Personen Gebrauch machte. Sie ging hierbei so weit, daß selbst Polizeistrafen dazu dienen mußten, Ausweisungsbefehle zu rechtfertigen. In jener Zeit waren es nicht weniger als drei sächsische Abgeordnete, die von Ausweisungen auf Grund eines Gesetzes vom Jahre 1834 betroffen wurden, Kayser, Liebknecht und Vollmar. Wir beantragten, spätestens dem nächsten Landtag einen Gesetzentwurf vorzulegen, wodurch für die den Polizeibehörden verbliebene Befugnis zu Ausweisungen feste, das bloße Ermessen ausschließende und die Freiheit der Person und das Freizügigkeitsrecht möglichst sichernde Normen aufgestellt würden. Wir hielten uns in diesem Antrag an einen ähnlichen, der schon in den siebziger Jahren von der Kammer angenommen worden war. Die Begründung dieses Antrags fiel mir zu. Ich wies auf die Fälle von Ausweisungen politisch bestrafter Personen hin, die in der letzten Zeit vorkamen, von denen vier geborene Sachsen, vier sogenannte »Fremdlinge« waren, als welchen der Minister Liebknecht und mich in der Sitzung vom 5. September bezeichnet hatte. Wer nicht auf dem geheiligten Boden Sachsens geboren war, war bei ihnen nicht vollwertig, was trotzdem nicht hinderte, daß auch die in seinen Augen vollwertigen Landeskinder, sobald sie Sozialdemokraten waren, schikaniert und drangsaliert wurden. Ich wies ferner nach, daß die Ausweisungen mit dem Freizügigkeitsgesetz in Widerspruch standen, und daß der Minister selbst früher zugegeben habe, daß die Ausweisungen einer anderen, gesetzlichen Basis bedürften. In der Antwort des Ministers gab dieser wieder die Erklärung ab, daß, wenn es uns im Lande nicht gefiele, wir von der Freizügigkeit möglichst ausgedehnten Gebrauch machen sollten, eine Bemerkung, die die Kammer mit wieherndem Gelächter aufnahm. Er bekam von mir die gebührende Antwort.

Wir hatten verlangt, daß unser Antrag der Schlußberatung unterstellt würde, was nach der Geschäftsordnung zulässig war. Die Kammer lehnte den Antrag ab und beschloß, ihn der Gesetzgebungsdeputation zu überweisen. Das hieß: der Antrag wird begraben, denn der Schluß des Landtags stand bevor.

Dies veranlaßte mich, unter dem 21. Oktober 1882 an den Reichstag eine Petition zu senden, in der ich die Ausweisungsmethode der sächsischen Regierung einer gründlichen Kritik unterzog und beantragte, der Reichstag wolle durch eine Deklaration des Absatzes 1 § 3 des Gesetzes über die Freizügigkeit und auf Grund der Bestimmungen des Strafgesetzbuches über den Begriff der Verbrechen, Vergehen und Übertretungen aussprechen, daß die Auslegung, die die Königlich sächsische Regierung dem Absatz 2 des § 19 des sächsischen Heimatgesetzes vom 26. November 1834 gebe, im Widerspruch stehe mit den in Frage kommenden Bestimmungen des Freizügigkeitsgesetzes und des Strafgesetzbuches, und also eine Verletzung der bezüglichen Reichsgesetze enthalte; 2. daß Absatz 4 des § 17 des sächsischen Heimatgesetzes durch die §§ 3 und 12 des deutschen Freizügigkeitsgesetzes aufgehoben sei. Eventuell sollte der Reichstag eine Änderung des Freizügigkeitsgesetzes, § 3, beschließen, wonach Ausweisungen, wie sie in Sachsen vorkämen, künftig unmöglich gemacht würden.

Ich hatte meiner Petition die stenographischen Verhandlungsberichte über die Sitzung vom 21. Februar beigefügt und beides in Separatdruck an die Mitglieder des Reichstags verteilen lassen.

Aus dem ausführlichen gedruckten Bericht, den die Petitionskommission des Reichstags an das Plenum erstattete, ging hervor, daß die sächsische Regierung für ihre Auffassungen in der Petitionskommission auch nicht eine Stimme der Unterstützung fand, obgleich der Kommission mehrere sächsische Abgeordnete angehörten, so unter anderen mein Nachfolger im Dresdener Reichstagsmandat, der Oberbürgermeister Stübel. Einstimmig empfahl die Kommission dem Plenum, zu beschließen, dem Reichskanzler die Petition mit dem Ersuchen zu überweisen, die erforderlichen Maßregeln zu ergreifen, nötigenfalls durch die Vorlage eines darauf bezüglichen Reichsgesetzes, um das sächsische Heimatgesetz vom 26. November 1834 respektive dessen Handhabung mit dem Reichsgesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 in Einklang zu bringen.

Ich konnte mit dem Erfolg zufrieden sein.


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