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IV.

Wir müssen nun in der Zeit bis zu dem Tage zurückgehen, an welchem sich Hugo in München von seinem Freunde Werner trennte.

Du weißt, geneigter Leser, daß während der erstere nach Innsbruck dahinsauste, der letztere ein ganz anderes Ziel verfolgte; nämlich das, die Wohnung der Madame Altmann zu erkunden; was Du aber nicht weißt, wir daher uns beeilen Dir zu erzählen, ist, daß ihm dies schon am Tage der Abreise seines und unsers Freundes gelang, und daß er noch am Abend desselben Tages seine geliebte Ida wiedersah.

Wenn Du etwa befürchten solltest, lieber Leser, daß wir jetzt im Begriff stehen, Dir in vielen pathetischen Worten das Entzücken auszumalen, das die Liebenden empfanden, als sie sich nach einer Trennung von sechs Jahren in die Arme sanken, so magst Du Dich nur beruhigen, denn Dein ergebener Diener weiß so gut wie Du es weißt, daß dies zu den Dingen gehört, die man sich weit lieber selbst sagt, als daß man sie sich sagen läßt, weil uns die eigene Phantasie dieselben viel lebhafter vor Augen führt, als selbst die beste Schilderung es vermöchte, geschweige denn eine sehr unvollkommene.

Selbstverständlich war Werner von jenem Tage an ein täglicher Gast in dem Hause der Madame Altmann, und diese alte würdige Dame nahm an den Freuden und Leiden der Liebenden Theil mit all dem Wohlwollen und der Nächstenliebe, die ihrem Charakter eigen waren, sowie mit jener dem Charakter aller alten Damen eigenthümlichen Sucht, sich in Liebesangelegenheiten anderer Leute zu mischen.

Verzeihen Sie, verehrungswerthe Frau Leserin; das hätt' ich wohl eigentlich nicht schreiben sollen; aber, auf mein Wort, es geschah ganz ohne Absicht, es floß mir nur so aus der Feder. Ich hoffe, daß der Setzer so viel Discretion haben wird, es zu übergehen, sollte er das nicht, so bleibt mir nichts übrig, als Ihnen die Versicherung zu geben, daß ich Sie zu den Ausnahmen zähle, indem ich die feste Ueberzeugung hege, daß Sie sich nie in die Herzensangelegenheiten Anderer eingemengt haben.

Also, Madame Altmann, sagen wir, nahm an den Freuden und Leiden der Liebenden den innigsten Antheil; da indessen die Leiden derselben sehr überwiegend waren, so war ihr Antheil eben kein beneidenswerther.

Wir wissen aus Werners eigenem Munde, durch welches unglückliche Ereigniß seine Hoffnungen einst zertrümmert wurden, und daß dieselben nie wieder aufgebaut werden konnten, wenn ihn nicht ein günstiger Zufall zur Entdeckung und Ueberführung des schlauen und verwegenen Betrügers führte, der ihm zugleich mit einem großen Theil seines damaligen Vermögens auch seinen guten Leumund geraubt hatte.

Daß dieser Gegenstand zunächst es war, um welchen sich das Gespräch der Liebenden drehte, brauchen wir kaum zu sagen. Beide fühlten, daß die Armuth, in welcher Ida's Eltern jetzt lebten, daß die vielen harten Prüfungen und bittern Kränkungen, die sie erduldet, in demselben Maße, wie sie ihren früheren Hochmuth gebrochen haben mußten, sie auch sicher geneigter machen würden, den Bitten und Vorstellungen der Tochter Gehör zu schenken, falls sie dieselben jetzt erneuern würde. Wie viel lebhafter mußte nicht auch der Wunsch der Eltern sein, die Tochter wohl versorgt zu wissen, und um wie viel leichter mochten sie sich also bequemen, über gewisse Bedenklichkeiten hinwegzusehen. Aber beide, Ida sowohl wie Werner, besaßen ein zu hohes Ehrgefühl, um sich eines Vortheils zu bedienen, den ihnen nur das Unglück an die Hand gab, welches die Eltern so hart getroffen hatte. Konnten sie die Eltern nicht von der völligen Unschuld Werners überzeugen, so blieb der schändliche Betrug, dessen Opfer er geworden, für immer ein unübersteigliches Hinderniß für die Erfüllung ihrer heißesten Wünsche.

Waren aber auch ihre eigenen Angelegenheiten in den sechs Jahren, die seit jenem verhängnißvollen Ereignisse verflossen waren, um keinen Schritt vorgerückt, und mußten sie sich auch gestehen, daß sie in dieser Hinsicht von der Zukunft und ihren mannichfaltigen Wechselfällen voraussichtlich nichts zu erwarten, nichts zu hoffen hatten, so schien ihnen anderseits das Schicksal Louisens und Hugo's bei weitem nicht so gänzlich abgeschlossen; vielmehr drängte sich ihnen die Frage auf, ob die Verkettung von Mißverständnissen und Irrthümern, die für diese so unglückliche Folgen hatte, nicht immer noch die Möglichkeit zuließe, eine für Beide günstige Wendung herbeizuführen. Wie dies alsdann zu bewerkstelligen sei, war der Gegenstand mancher ernsten und eifrigen Verhandlung zwischen Ida, Werner und ihrer treuen Verbündeten, Madame Altmann.

Mit einem nicht zu beschreibenden Erstaunen hatten Madame Altmann und Ida von Werner vernommen, daß Hugo sich in Amerika einen großen Reichthum erworben habe; ja es widersprach dies in so hohem Maße ihrer früheren Auffassung und Beurtheilung der Verhältnisse, daß es einer wiederholten Betheurung und langen Auseinandersetzung von Seiten Werner's bedurfte, um die Frauen von der Möglichkeit einer so merkwürdigen Thatsache zu überzeugen.

Die Bedenklichkeiten, die Ida veranlaßt hatten, ihrer Schwester den Rath zu ertheilen, den feurigen Bewerbungen Hugo's nicht ihr Ohr zu leihen, sondern ihm gegenüber eine gewisse Kälte und Zurückhaltung zu beobachten, fielen nun von selbst weg, waren schon damals, als sie diesen zwar wohlgemeinten, aber in seinen Folgen so unglücklichen Rath gab, nur aus falschen Voraussetzungen hervorgegangen und nicht in der Wirklichkeit begründet. Sie machte sich jetzt die bittersten Vorwürfe über ihre Handlungsweise, so lobenswerth diese auch gewesen war, und klagte sich als die Urheberin all der Leiden an, welche die geliebte Schwester hatte erdulden müssen. Das Unheil wieder gut zu machen, welches durch ihre Einmischung entstanden war, das war jetzt ihr innigster Wunsch, und Tag und Nacht sann sie auf die Mittel, diesen Wunsch zu verwirklichen.

Werner seinerseits hatte kaum aus dem Munde Ida's die Bestätigung dessen gehört, was ihm ohnehin als unzweifelhaft erschienen war, und was er gegen Hugo als seine bestimmte Ansicht ausgesprochen hatte – daß nämlich dessen Auffassung von den Verhältnissen in dem Lüders'schen Hause und namentlich von Louisens Gesinnung einzig und allein aus einem unglücklichen Mißverständnisse hervorgegangen sei, als er auch den Wunsch der Geliebten theilte, den Freund über die wahre Sachlage aufzuklären und ihm das Glück wieder zuzuführen, das er von seiner frühesten Jugend an mit so vieler Anstrengung erstrebt und dann, als es schon in seinen Händen war, in einem Augenblicke der Verblendung von sich geworfen hatte.

Madame Altmann endlich war, wie schon gesagt, immer bereit zu thun, was nur im Bereich der Möglichkeit lag, wenn es galt eine Heirath zu bewerkstelligen; wieviel mehr mußte sie es also jetzt sein, wo es sich darum handelte, zwei ihr so nah verwandte und ihrem Herzen so theure Personen in Hymens Ketten zu schmieden.

Nichts wäre nun leichter gewesen, als Hugo durch einen Brief oder auch mündlich – indem nämlich Werner, der Einladung des Grafen Landeck Folge leistend, die Reise nach dem Engadin unternahm – von den wirklichen Verhältnissen der Familie Lüders in Kenntniß zu setzen; und wiederholt war es zwischen den drei Berathenden zur Sprache gekommen, ob man dies nicht unverzüglich thun müsse. Ein Umstand indeß hielt sie davon ab, und dieser Umstand war in der That ein solcher – daß er all ihre Pläne zu nichte machen, all ihre Wünsche vereiteln mußte.

Wir müssen in das Gedächtniß des geneigten Lesers das Gespräch zurückrufen, das Werner mit Hugo am Tage vor dessen Abreise führte, sowie speciell die Schilderung, die Hugo von der jungen Comtesse Amalie entwarf. Wir erinnern ferner daran, daß Werner in der Art und Weise, in welcher Hugo von dem schönen Mädchen sprach, das Geständniß zu erblicken glaubte, daß sein Freund für dasselbe eine innige Neigung gefaßt habe, und endlich heben wir hervor, daß Werner, an der Möglichkeit verzweifelnd, daß das frühere Verhältniß zwischen Louisen und Hugo jemals wieder hergestellt werden könne, diesem den Rath gab, sein Herz nicht neuen Eindrücken zu verschließen, sondern in den Freuden, die ihm die Zukunft verspreche, für die Leiden der Vergangenheit Ersatz zu suchen. Daß Hugo hierauf nichts erwiedert, und daß Werner sein Schweigen als eine Beistimmung ausgelegt hatte, dessen wird sich der Leser nun auch entsinnen.

Indeß halten wir es für mehr als unwahrscheinlich, daß Werner gegen Madame Altmann und Ida seine damals gewonnene Ansicht von den Herzensangelegenheiten seines Freundes geäußert haben würde, wenn nicht ein Umstand eingetreten wäre, der dieselbe in hohem Maße bestätigte, ja bis zur vollsten Ueberzeugung erhob.

In München hatte Werner die Bekanntschaft eines auf der dortigen Universität studirenden jungen Mannes gemacht, der ihm über die Verhältnisse in dem Landeckschen Hause die beste Auskunft zu geben vermochte. Es war dies nämlich der Sohn des protestantischen Pfarrers, von welchem wir wissen, daß er mit der gräflichen Familie einen vertrauten Umgang unterhielt. Hugo hatte dem jungen Manne, als er nach einem Besuche im elterlichen Hause nach München zurückkehrte, einen Brief mitgegeben.

Nun wissen wir aber, daß der Student eine Mutter und eine Schwester hatte, und wir wissen auch, wie geschäftig die Mütter und Schwestern sind, gewisse Combinationen zu bilden. Dazu ist es mehr als genug, daß ein junger, reicher Mann von gutem Aussehen sich acht Tage als Gast in einem Hause aufhält, in welchem sich ein junges, schönes Mädchen befindet. Gleich haben die Mütter und Schwestern dieses errathen, jenes gewittert, hier etwas bemerkt, dort etwas gehört, Alles aber sehr wohl verstanden. O man ist gottlob nicht auf den Kopf gefallen, es ist unmöglich, sich darüber zu täuschen, man müßte blind sein, um es nicht zu sehen, ja, ein Blinder würde es mit dem Stocke fühlen!

Wir wollen den Leser nicht mit den Combinationen behelligen, die der junge Student unserem Werner mittheilte, auch glauben wir genug gesagt zu haben, um zu erklären, wie es kam, daß Werner seiner Geliebten und Madame Altmann, so oft man sich über diesen Punkt berieth, die feste Versicherung gab, daß Hugo's Herz bereits einer Anderen gehöre, und daß es mithin nicht nur unnütz, sondern sogar unverantwortlich sei, ihn durch Enthüllung der Wahrheit in ein Labyrinth von widerstreitenden Empfindungen und unvereinbaren Verbindlichkeiten zu stürzen.

Das hieße nur, fügte er hinzu, Hugo mit sich selbst entzweien, um, ohne das gestörte Lebensglück Louisens wiederherzustellen, das Unglück einer dritten, von dem Allen nichts ahnendem Person herbeiführen.

Es gab noch einen weiteren, nicht weniger peinlichen Gegenstand, über welchen sich unsere drei Verbündeten oft beriethen, nämlich die Besorgniß erregende pecuniäre Lage von Ida's Eltern. Zwar kannte Ida dieselbe nicht genau; denn aus Schonung für die Gefühle der Schwester und auf das ausdrückliche Verlangen ihres Vaters hatte Louise – mit der Ida fast allein correspondirte – sie nie so hoffnungslos und wahrhaft verzweifelt dargestellt, wie sie es in der That war. That ja doch Ida, durch die Güte der Tante mit den Mitteln dazu versehen, ohnehin, was sie vermochte, um den Eltern in ihrer Bedrängniß beizustehen; wozu denn Klagen führen, wo keine weitere Hülfe möglich war?

Aber dennoch wußte Ida genug, um durch ihre Mittheilung Werner's innigste Theilnahme zu erregen, und den sehnlichsten Wunsch in ihm zu erwecken, die Noth der alten Leute zu lindern. Daß Hugo es gewesen, der ihnen früher die Unterstützung von 400 Thalern jährlich hatte zukommen lassen, hörten Ida und Madame Altmann mit tiefer Rührung, und nicht genug konnten sie den unglücklichen Irrthum beklagen, der ihn jetzt davon abhielt, die vermeintlich überflüssig gewordene Spende noch ferner zu reichen. Es war nicht zu bezweifeln, daß es nur eines Wortes bedurft hätte, um von Hugo nicht nur die frühere Unterstützung, sondern eine drei, vier, ja zehnfache zu erlangen; aber konnte man ihm sagen, daß er hinsichtlich der Vermögensumstände der Pflegeeltern in einem Irrthum befangen sei, ohne ihn zugleich über seine sonstigen Irrthümer aufzuklären und ihn so in den Strudel von inneren Zerwürfnissen hineinzureißen, von welchem man ihn fern zu halten wünschte? Und hieß es nicht auch, dem Vater eine gar zu harte Demüthigung auferlegen, wenn man ihm die Wohlthaten eines Sohnes zufließen ließe, den er zweimal so herzlos von sich gestoßen hatte?

Werner selbst hätte Ida's Vater nur zu gern eine hülfreiche Hand geboten, aber wie wäre das möglich gewesen, ohne den Schein auf sich zu laden, als wolle er dessen früher verweigerte Einwilligung zu der Verbindung mit seiner Tochter erkaufen, als wolle er ihm für den Mangel eines ehrlichen Namens klingende Münze bieten. Mußte ein jedes derartige Anerbieten den ungerechten Verdacht des alten Mannes nicht erhöhen, ja, war es zu bezweifeln, daß er dasselbe mit Verachtung zurückweisen würde?

Man sieht, daß in dem kleinen Kreise, in welchen wir den Leser eingeführt haben, keine frohe Stimmung herrschen konnte, da Aller Gedanken mit Angelegenheiten beschäftigt waren, die, je mehr man sie zergliederte und in ihren einzelnen Theilen prüfte, um so unüberwindlichere Hindernisse darboten.

So war denn das einzige Resultat, zu welchem man vor der Hand kam, das eben nicht sehr erhebliche, daß Werner zu der monatlichen Unterstützung, die Ida ihren Eltern schickte, eine Summe legte, die nicht größer war, als daß sie für einen weiteren Beweis der Güte und Mildthätigkeit der Madame Altmann gelten konnte.


Während die drei Personen, mit welchen wir uns jetzt zu beschäftigen haben, den Dingen ihren freien Lauf lassen, weil sie kein Mittel sehen, diesen zu hemmen oder in andere Bahnen zu lenken, wollen wir die Gelegenheit benutzen, die uns durch Werner's Gespräche mit den beiden Damen geboten wird, um dem Leser über Hugo's Erlebnisse in Amerika einige Aufschlüsse zu geben.

Man wird uns vorwerfen können – wir fühlen es sehr wohl – daß diese Aufschlüsse wie der hinkende Bote zu spät kommen, daß man in der Mitte des dritten Theils eines Romans nicht gern Rückblicke gestattet, sondern vielmehr Begebenheiten erwartet, die den Gang der Handlung fördern und die Entwicklung herbeiführen.

Zu unserer Beruhigung dient es indeß, daß wir nie das Versprechen gegeben haben, einen Roman nach allen Regeln der Kunst zu schreiben, ja, daß wir im Gegentheil gleich anfangs erklärten, uns hinsichtlich der Anordnung keinem Zwange unterwerfen zu wollen.

War dieser Entschluß nun auch kein durchaus zu rechtfertigender, so machen wir uns doch jedenfalls keines Wortbruchs schuldig; auch ist zu spät immerhin besser als gar nicht, und wenn es uns überhaupt geglückt sein sollte, für den Helden unserer Erzählung einiges Interesse zu erwecken, so möchte es auch vielleicht manchem Leser nicht ganz unwillkommen sein, über seine früheren Schicksale, wenn auch durch einen hinkenden Boten, einige Mittheilungen zu empfangen, die nicht nur manches dem Leser schon Bekanntes in ein helleres Licht stellen, sondern zum bessern Verständniß des Folgenden sogar nothwendig sein möchten.

Der Abend war die Zeit, zu welcher Werner regelmäßig den beiden Damen seinen Besuch abstattete. Er fand dann gewöhnlich Madame Altmann mit einer Straminstickerei beschäftigt, während ihr Ida vorlas. Die Straminstickerei wurde durch sein Kommen nicht unterbrochen, wohl aber das Vorlesen. Aber Madame Altmann verlor dabei nicht; denn, nachdem die gute Dame, in löblicher Anerkennung der zweien Liebenden zustehenden Rechte, diesen eine halbe Stunde zur Begrüßung und zu vertraulichen Besprechungen eingeräumt hatte, wußte sie sich immer wieder durch »etwas Neues,« das Werner auf ihre allabendlich wiederholte Frage bereitwillig zum Besten gab, für zwei oder drei Kapitel aus »Wartel, das Knechtlein todt und lebendig«, oder aus »die Ritterfrau im Brunnen« mehr als schadlos zu halten.

War dann später der Thee servirt und der Tisch wieder abgeräumt worden, so pflegte Madame Altmann aus einem kleinen Kästchen, welches ihr Ida reichte, zwei Spiele Karten zu nehmen und Patience zu legen, was sie indeß gar nicht verhinderte, der Unterhaltung alle Aufmerksamkeit zu schenken und selbst daran Theil zu nehmen; denn Madame Altmann legte ihre verschiedenen Patiencen auf ihre Weise und zwar so, daß die »Napoleon-Patience«, das »Siebengestirn« oder »Tante Martha« allemal aufgingen, wozu ein kleiner »Hülfshaufen«, den sie aber schlauer Weise hinter dem erwähnten Kasten den Blicken von Unbefugten verbarg, nicht wenig beitrug. Eine kleine Störung konnte so nicht hinderlich sein, ein begangener Fehler leicht redressirt werden.

Gewiß diese kleine List kann den Liebhaberinnen dieser geistreichen Unterhaltung nicht genug empfohlen werden.

»Sie erzählten uns neulich,« begann eines Abends Madame Altmann, nachdem sie die Brille aufgesetzt und die Karten gemischt hatte, um das Siebengestirn zu legen, und nun auch den unentbehrlichen Kasten dicht an die Lampe schob, »Sie erzählten uns neulich, Herr Werner, Einiges von Hugo's Erlebnissen in Amerika, wir möchten aber gern etwas mehr davon hören, könnten Sie wohl unsere Wißbegierde befriedigen?«

»Fast so gut, wie Falkner selbst,« entgegnete Werner.

»Sie kennen das Alles so genau?«

»Ja, denn Falkner und ich unterhielten während mehrerer Jahre in Boston einen vertrauten Umgang und was ich nicht selbst miterlebt habe, hörte ich aus seinem eigenen Munde, oder von seinem Principal und nachmaligen Adoptivvater, dem alten Herrn Friedberg.«

»Sie sagten, wenn ich nicht irre, daß Hugo nur ein Jahr in Rio de Janeiro unter der Obhut des Kaufmanns Grube blieb?« fuhr Madame Altmann fort, indem sie die Karten in Haufen auf den Tisch vertheilte.

»Ganz richtig, gnädige Frau,« erwiederte Werner. »Der ehrgeizige Knabe vermochte die demüthigende Behandlung nicht zu ertragen, die ihm Grube, ein despotischer und engherziger Mann, erwies. Sie fühlten beide, daß sie nicht für einander paßten. Je hartnäckiger Grube darauf bestand, daß ihm Hugo blinden Gehorsam zeige, desto trotziger verweigerte ihn dieser, und als nach manchen heftigen Scenen Hugo endlich den Wunsch äußerte, wieder zur See zu gehen, war Grube froh, ihn los zu werden, ohne sich seiner in einer Weise entledigen zu müssen, die das Mißfallen eines Geschäftsfreundes, des Herrn Lüders, hätte erregen können; er verschaffte also dem Knaben einen Platz auf einem Schiffe, das so eben seine Ladung eingenommen hatte und im Begriff war, nach Ostindien unter Segel zu gehen.

Während mehrerer Jahre erlitt nun der auf sich selbst angewiesene Knabe das härteste Ungemach; denn die Behandlung, die ein armer Schiffsjunge an Bord zu erdulden hat, ist oft eine äußerst rauhe, ja grausame, und die ihm auferlegten schweren Arbeiten übersteigen nicht selten seine Kräfte. In Kalkutta erkrankte Hugo in Folge des tödtlichen Klimas und wurde von seinem hartherzigen Capitain, der ihn schon aufgegeben haben mochte, ohne genügende Geldmittel zurückgelassen. Ich will nicht lange bei diesem Abschnitte seines Lebens verweilen, genug, daß er in dem fernen, fremden Lande, von Allem entblößt, lange an den Folgen seiner Krankheit leidend, in dem ungleichen Kampfe gegen die Unbill des Schicksals hätte erliegen müssen, wenn er an Geist und Körper weniger kräftig gewesen wäre, und wenn ihm nicht ein alter Bootsmann, der ihm wie sein Schatten überallhin folgte, in der Zeit der Noth und Drangsal mit seltener Liebe und Treue Beistand geleistet hätte. In einem ostindischen Hafen nahm Hugo später auf einem Schiffe Dienste, das für Boston Fracht eingenommen hatte, und – – –«

»Und auf diesem Schiffe erlitt er einen Unfall, war es nicht so?«

»Er fiel vom Mastkorb herunter und verrenkte sich den Fuß.«

»Und wurde dann in Boston in das Hospital gebracht. Sie sehen, daß ich nichts vergessen habe. Sie erzählten uns auch, daß er im Hospital den reichen Kaufmann Friedberg kennen lernte, wie kam das?«

»Dem Kaufmann Friedberg gehörte das Schiff, auf welchem Hugo die Reise gemacht hatte; Hugo stand also schon in seinem Dienste.«

»Nun, da war es freilich natürlich, daß Friedberg dort nach ihm sah.«

»Er that noch weit mehr, gnädige Frau; er nahm den Knaben, an dem er gleich großen Gefallen fand, zu sich und ließ ihn in seinem Hause verpflegen. Später beschäftigte er ihn in seinem Comptoir, und da er bald wahrnahm, daß sein Schützling mit einer ungewöhnlichen Auffassungsgabe eine große Wißbegierde verband, so ließ er ihn an dem Unterrichte seines Sohnes, eines Knaben von Hugo's Alter, Theil nehmen. Hugo ergriff mit allem Eifer die ihm gebotene Gelegenheit, etwas Tüchtiges zu lernen, und bald hatte er seinen Kameraden, der ihm anfangs weit voraus war, nicht nur eingeholt, sondern sogar überflügelt. Man hätte nun leicht denken können, daß Eduard, so hieß der Sohn Friedbergs, über die glänzenden Fähigkeiten und die schnellen Fortschritte seines neuen Genossen Neid und Mißgunst empfunden habe; aber dem war nicht so, vielmehr schloß er sich ihm bald mit wahrhaft brüderlicher Liebe an.

Eduard war von Körper klein und schwächlich, oft kränkelnd, von Gemüthsart sanft, schüchtern und unentschlossen, während Hugo zu dem Allen den stärksten Contrast bildete. Er war geistig so selbstständig und zuversichtlich, so kühn und schnell entschlossen, als körperlich weit über sein Alter hinaus groß und kräftig. Fühlte der Eine das Bedürfniß sich auf einen Stärkeren zu stützen, so war der Andere nicht weniger geneigt, einem Schwächeren seinen Schutz angedeihen zu lassen; bewunderte jener die Keckheit und Willensstärke, zu welcher er sich nicht erheben konnte, so fühlte sich dieser durch die Willfährigkeit und sanfte Hingebung angezogen, die ihm selbst fehlte. So war in diesem Falle, wie in so vielen anderen, gerade die Verschiedenheit aller physischen und psychischen Anlagen und Eigenthümlichkeiten das Band, welches zwei Herzen fest und innig an einander knüpfte.

Der alte Friedberg – – –«

»Erlauben Sie, Herr Werner,« fiel Madame Altmann dem Erzähler ins Wort, »Sie sprechen immer nur von dem alten Friedberg, nie von seiner Frau; war er denn Wittwer?«

»Ja, gnädige Frau, er war seit der Geburt Eduard's Wittwer.«

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Sie wollten sagen – – –?«

»Ich wollte sagen, daß der alte Friedberg sich ungemein über das sich täglich brüderlicher gestaltende Verhältniß der beiden Knaben freute; denn er liebte seinen Sohn – er war sein einziges Kind – mit großer Zärtlichkeit und hatte sich schon lange vergeblich nach einem Kameraden für ihn umgesehen, der durch seinen frischeren Muth und durch sein fröhlicheres Temperament belebend und ermunternd auf die fast zur Melancholie sich hinneigende Gemüthsart Eduard's wirken könnte. Was indeß Hugo die Gunst des reichen Mannes in noch höherem Maße sicherte, als der wohlthuende Einfluß, den er auf dessen Sohn übte, war das ihm innewohnende Ehrgefühl, das ihn antrieb, hartnäckig darauf zu bestehen, nicht ausschließlich seinen Studien alle seine Zeit zu widmen, sondern wenigstens einige Stunden täglich seine Geschäfte im Comptoir zu besorgen; denn so, sagte er, thue er doch etwas, wenn auch nur ein Geringes, um die Schuld der Dankbarkeit abzutragen, die ihm Friedberg's Güte auferlegte.

Die Arbeiten, die ein Knabe wie Hugo während drei oder vier Stunden täglich im Comptoir verrichten konnte, waren nun zwar im Verhältniß zu der großen Masse von Geschäften, die hier alle Tage erledigt wurden, wie der Tropfen im Meere, doch, wie gesagt, dem reichen Kaufmann gefiel der Ehrgeiz des Knaben, und er ließ ihn um so lieber gewähren, als Hugo dadurch neben dem Bewußtsein, in seinem Hause nicht das Gnadenbrod zu essen, sich auch in allen kaufmännischen Geschäften immer größere Kenntnisse erwarb.

So vergingen mehrere Jahre. Die Knaben wuchsen zu Jünglingen heran und beendigten unter der Leitung tüchtiger Lehrer ihren Unterrichtscursus. Eduard, der sich ganz den Wissenschaften zu widmen wünschte, bezog nun die Universität zu New-York; Hugo aber, bei dem der Hang zu einem bewegten, abwechslungsreichen Leben aufs Neue und mit verdoppelter Stärke erwacht war, drang so lange mit Bitten in seinen väterlichen Freund und Wohlthäter, daß ihm dieser endlich, wiewohl ungern, gestattete, wieder zur See zu gehen. Auf Friedberg's Schiffen machte er nun viele und lange Reisen, besuchte die Küsten von Nord- und Süd-Amerika, mehrere Häfen am Mittelmeere, ja, wiederum Ostindien und Australien. Daß er sich bei seinem regen Eifer, seiner schnellen Auffassungsgabe und unterstützt von einer unzerstörbaren Gesundheit und herkulischen Leibesstärke bald alle Kenntnisse und technischen Fertigkeiten eines vollendeten Seemanns erwarb, brauche ich kaum zu sagen. Auch machte ihn Friedberg bald zum Supercargo eines seiner größten Schiffe und bot ihm später einen beträchtlichen Antheil des Gewinnes an, den die von ihm geleiteten merkantilischen Unternehmungen abwarfen.

Hugo weigerte sich erst entschieden, diese neue Wohlthat anzunehmen; denn er verdiente mehr, als er brauchte, und sein Stolz erlaubte ihm nicht, sich beschenken zu lassen. Jedoch empfing er gerade zu dieser Zeit aus seiner Heimath Nachrichten, die ihn bewogen, das gütige Anerbieten seines Gönners nicht völlig zurückzuweisen.«

»Nachrichten aus seiner Heimath?« fragte Madame Altmann, als Werner einen Augenblick in seiner Erzählung innehielt.

»Meinen Sie aus Hamburg?«

»Ja, gnädige Frau,« entgegnete Werner zögernd und mit einem Blick auf Ida, »die traurige Nachricht von dem Fallissement des Hauses Lüders u. Comp.«

»Und diese Nachricht bestimmte ihn – – –«

»Sie bestimmte ihn, aus der Freigebigkeit seines Principals zu Gunsten seiner Pflegeeltern Nutzen zu ziehen. Von nun an schickte er denselben eine jährliche Unterstützung von 400 Thalern.«

»Der brave Junge,« sagte Madame Altmann gerührt.

»Mein Gott,« fügte Ida hinzu, indem sie ihren thränenfeuchten Blick zu Werner erhob, »wie sehr haben wir Hugo mißkannt. Wüßten das die Eltern – – – und Louise! O, wie richtig hat sie Hugo's edlen Charakter begriffen, und wie Unrecht hatte ich, als ich ihr Vertrauen zu schwächen versuchte.«

Werner wiederholte, was er seiner Geliebten schon oft gesagt hatte, um ihre ungerechten Selbstvorwürfe zu widerlegen; dann fuhr er auf Madame Altmann's Bitte in seiner Erzählung fort:

»Hugo hatte seinem Principal von der Verwendung seines Geldes nichts gesagt. Erst später und durch einen Zufall erfuhr dieser die Sache, und Sie können sich leicht denken, daß ein solcher Zug von Uneigennützigkeit und Anhänglichkeit an seine Pflegeeltern Hugo in des alten Mannes Achtung und Wohlwollen nur noch höher stellen konnte, als er schon stand.

Um diese Zeit traf den alten Friedberg ein harter Schlag. Ich habe schon gesagt, daß Eduard von äußerst zarter Gesundheit war. Noch nicht volle zwei Jahre war er auf der Universität, als sich die ersten unverkennbaren Symptome von Lungensucht zeigten. Bald darauf mußte er seine Studien aufgeben, und er kehrte nun in das elterliche Haus zurück. Die erfahrensten Aerzte wurden consultirt, alle Mittel wurden angewandt, umsonst! Von Tag zu Tag schwand er mehr hin, und nachdem er noch fast ein Jahr lang ein trauriges Dasein gefristet hatte, starb er in den Armen seines Vaters.

Hugo war damals auf einer langen Reise begriffen; als er wieder nach Boston zurückkehrte, fand er den alten Friedberg tief niedergebeugt.

Friedberg besaß nicht die starre Abgeschlossenheit, die so Vielen eigen ist, welche unter Geschäften ergraut sind, die, wie namentlich die merkantilischen, alle anderen Interessen schwächen, wenn nicht gänzlich ertödten. Er hatte vielmehr ein weiches, gefühlvolles Herz und einen stark ausgeprägten Sinn für häusliche Freuden. Nur zu sehr hatte er erfahren, daß der Reichthum nicht glücklich macht, daß er zwar der Genußsucht, dem Ehrgeiz und der Eitelkeit Thür und Thor öffnet, dagegen aber den stillen Genüssen des Familienlebens oft den Zugang verschließt. Nur zu sehr hatte er empfunden, daß sich dem Reichen, weit mehr noch als dem Armen, die Schwäche der menschlichen Natur in ihren widerlichsten Ausgeburten, der Habgier und Selbstsucht, der Heuchelei und schleichender Truglist, offenbart, nur zu oft hatte er sich gesagt, daß er unter den Hunderten, die sich täglich schmeichelnd um ihn drängten, und sich seine Freunde nannten, keinen einzigen wahren Freund zähle.

So fühlte sich Friedberg bei allem seinen Reichthum, seinem großen Ansehen, seinen vielfachen Verbindungen mit der Welt, doch in dieser nach dem Tode seines Sohnes einsam und verlassen, und er sehnte sich nach der Rückkehr Hugo's. Denn Hugo allein hatte ihm nie geschmeichelt, er allein hatte seine Wohlthaten nicht erbeten, hatte sie vielmehr widerstrebend angenommen, und zwar nur, um früher empfangene Wohlthaten vergelten zu können. Auch er allein hatte den tief betrauerten Eduard aufrichtig und brüderlich geliebt, er allein verstand und theilte den Schmerz des Vaters. Konnte dieser je hoffen, einigen Ersatz für das Verlorene zu finden, so mußte er denselben in der uneigennützigen Ergebenheit und Liebe Hugo's suchen.

Auf Friedberg's Wunsch gab nun Hugo seine Seereisen auf, um sich fortan nicht wieder von dem alten Manne zu trennen. Er gelobte sich selbst, seinem Wohlthäter, so viel wie möglich, den so früh dahingeschiedenen Sohn zu ersetzen; er hielt, was er gelobt und erreichte mehr, als er gehofft hatte. Von nun an nahm er in Friedberg's Hause, weit mehr noch in dessen Herzen, die Stelle eines Sohnes ein, obgleich zwischen den beiden von Adoption oder auch nur von einer besonderen Begünstigung nie die Rede war, Hugo vielmehr im Comptoir, wie jeder andere dort Angestellte, für den herkömmlichen Gehalt arbeitete und in strenger Anciennetätsfolge die verschiedenen Grade bis zu dem Posten eines Disponenten durchlief.

Ich habe Ihnen, glaube ich, nun mitgetheilt, was Sie zu wissen wünschten, gnädige Frau. Sie werden ohne weitere Commentare begreifen, daß Friedberg, der keinen nahen Verwandten hatte, bei seinem vor zwei Jahren erfolgten Tode ein Testament hinterließ, in welchem er Hugo Falkner zum Erben seines gesammten unermeßlichen Vermögens einsetzte.«

»Meine Neugierde ist noch nicht ganz befriedigt,« entgegnete Madame Altmann. »Sie sprachen neulich von einem abenteuerlichen Ereignisse, welches namentlich dazu beigetragen hätte, Hugo die Liebe des alten Friedberg zu gewinnen, einer Gefahr, so viel ich mich entsinne, aus der ihn Hugo errettete; war es nicht so?«

»Allerdings, gnädige Frau; doch getraue ich mich nicht zu behaupten, daß dieses Ereigniß auf Hugo's Schicksal einen so entscheidenden Einfluß geäußert hat, wie Sie zu glauben scheinen; obgleich die gemeinschaftliche Gefahr ohne Zweifel den Menschen während einiger Stunden oder Minuten einander näher bringt, als eine lange Reihe von alltäglichen Begebenheiten.«

»Da Sie so gut unterrichtet sind, Herr Werner, so könnten Sie uns gewiß auch dieses Abenteuer erzählen. Die Zeit vergeht doch gar angenehm, während man einer Erzählung zuhört. Ich theile, wie Sie sehen, den Geschmack des Kalifen von Bagdad – ich erinnere mich seines Namens nicht – dem wir so viele anziehende Märchen verdanken. Bitte erzählen Sie.«

»Nur Schade,« entgegnete Werner lächelnd, »daß ich nicht die Gabe eines Erzählers in dem Maße besitze, wie die schöne Scheherazade. Indeß kann ich doch Ihren Wunsch erfüllen, da ich den Bericht von jenem Abenteuer aus des alten Friedberg's eigenem Munde habe.«

»Ei, das ist ja herrlich!« sagte Madame Altmann, »und nicht wahr, es enthält nicht viel Schauerliches?«

»O ja, einiges wohl.«

»Um so besser,« schmunzelte die alte Dame, deren Siebengestirn mittlerweile aufgegangen war und die, nachdem sie erst aus einer kleinen Dose von Achat verstohlener Weise eine Prise genommen hatte, die Karten abermals mischte, um eine Napoleons-Patience zu legen.

»Da aber meine Erzählung nicht der Bericht eines Augenzeugen ist,« sagte Werner, »werden Sie mir erlauben, gnädige Frau, daß ich meinen Gewährsmann, den verstorbenen Friedberg, als Redenden einführe, indem ich mich befleißigen werde, seine Worte so treu wie möglich wiederzugeben.«

Madame Altmann gab ihre Beistimmung durch ein freundliches Kopfnicken zu erkennen, und Werner begann.

»Ich hatte, erzählt also der Kaufmann Friedberg, auf den Rath meines Arztes, um mich nach einer schweren Krankheit zu erholen, in Begleitung Hugo's eine Reise in das Innere des Landes unternommen und mich längere Zeit an den malerischen Ufern des Ontariosees aufgehalten.

Es war schon spät im Herbst, als ich die Rückreise anzutreten beschloß, jedoch wurde ich durch einen neuen Anfall meiner Krankheit, noch um mehr als sechs Wochen in dem Städtchen Toronto aufgehalten. Der Winter mit seinen Stürmen und Schneegestöbern hatte sich in diesem Jahre ungemein frühzeitig eingefunden, und so kam es denn, daß ich, statt mit dem Dampfschiff die Reise über den See zu machen, wie es ursprünglich meine Absicht gewesen war, eine sehr weite Strecke auf einem Schlitten zurücklegen mußte, um die nächste Eisenbahnstation zu erreichen; denn damals war die Bahn, die sich längs dem nördlichen Ufer desselben erstreckt, noch nicht vorhanden.

Mein Schlitten war aber sehr bequem und mit Pelzwerk ausgeschlagen, auch wurde er von zwei kräftigen Pferden gezogen, die von Hugo trefflich gelenkt wurden; ich hatte somit keinen Grund, mich über meine durch die Noth gebotenen Transportmittel zu beklagen. Im Gegentheil fanden wir beide an dieser uns neuen Art des Reisens großen Gefallen. Die Schellen am Pferdegeschirr erklangen gar lustig, während wir im raschen Trabe über die unabsehbaren Schneegefilde oder durch endlose Wälder dahinfuhren, die in ihrem Winterkleide herrlich prangten, ja oft einen feenhaft schönen Anblick gewährten, wenn die zahllosen von den dunklen Aesten und Zweigen herabhängenden Eiszapfen, gleich ebenso vielen prismatisch geschliffenen Krystallen, das Sonnenlicht brachen.

Die Gasthäuser sind in diesen Gegenden selten, und wir kehrten daher gewöhnlich Abends bei irgend einem Farmer ein, wo wir fast immer mit Gastfreiheit aufgenommen wurden und die nöthige Ruhe und Erquickung fanden, wenn auch das Nachtessen mitunter ein sehr spärliches und das Lager eben nicht mit sybaritischer Ueppigkeit hergerichtet war.

Eines Abends aber fanden wir das gewöhnliche freundliche Entgegenkommen nicht. In unserem letzten Nachtquartier hatte man uns indeß hierauf vorbereitet, und wir waren daher auf das Aergste gefaßt.

Wir hatten bei einer äußerst rauhen Witterung eine lange Fahrt längs dem Ufer des Sees zurückgelegt, als wir nach Dunkelwerden die uns so schlecht empfohlene Farmerwohnung erreichten. Unser Klopfen an die geschlossene Thür wurde lange nur durch ein wüthendes Hundegebell beantwortet; dann aber drehte sich endlich der Schlüssel in dem verrosteten Schlosse, mehrere Riegel wurden zurückgeschoben und die Thür geöffnet; jedoch nicht weiter, als daß die Gestalt des Farmers, eines alten Mannes von riesigem Körperbau, die Oeffnung ausfüllen konnte. Ueber seinen breiten Schultern hinweg sahen wir eine ebenfalls betagte Frau, die eine Laterne hoch emporhielt, um den Schein derselben auf uns fallen zu lassen.

Beide starrten uns mit stummem Erstaunen an, als sie meine Bitte vernahmen, uns für die Nacht ein Obdach zu geben. Des alten Mannes Stirn zog sich in finstere Falten, indem er – was eine gute Weile dauerte – darüber nachzudenken schien, ob er uns nicht die Thür vor der Nase zuwerfen solle; doch endlich gab das Versprechen einer reichlichen Belohnung den Ausschlag, die Thür wurde vollends geöffnet, wir traten ein und fanden im Innern des Hauses mehr Bequemlichkeit und Reinlichkeit, als wir vermuthet hatten.

Der Mann ging nun hinaus um für die Pferde zu sorgen, während die Frau, ein garstiges altes Weib mit einem lauernden, heimtückischen Blicke, das Feuer auf dem Heerde anschürte und unter vielen Kundgebungen ihrer üblen Laune das Abendessen herzurichten begann. Bald war dieses fertig; es bestand aus Schinken, Brod, Butter und weichgekochten Eiern, wozu noch ein großer Kessel mit dampfendem Thee kam. Diesen hätten wir wahrscheinlich entbehren müssen, wenn wir nicht selbst einen hinlänglichen Vorrath bei uns geführt hätten; so aber bedurfte es nur eines Aufgusses von kochendem Wasser, und wir hatten soweit ein zwar einfaches, aber vollkommen genügendes und wohlschmeckendes Mahl.

Wir hatten dieses noch nicht beendigt, als ein abermaliges Bellen der Hunde und dann schwere, im Schnee knarrende Fußtritte vor dem Hause neue Ankömmlinge meldeten. Aber diesmal wurde die Thür mit weniger Umständen geöffnet, als vorhin; denn jetzt waren es, wie uns der alte Mann mürrisch und brummend zu erkennen gab, seine zwei Söhne, die von einer Jagdpartie zurückkehrten.

Der neue Zuwachs der Gesellschaft war, wie wir uns nur zu bald überzeugten, durchaus kein angenehmer. Die Herren Söhne waren große, stämmige, breitschultrige Burschen mit groben Gesichtszügen, in welchen sich in noch weit höherem Grade, als das bei den Eltern der Fall war, eine wilde, trotzige Gemüthsart kundgab. Einen Augenblick blieben sie, uns verdrießlich anglotzend, auf der Schwelle stehen, und als sie dann eintraten, fanden sie es keineswegs nothwendig, uns zu begrüßen. Dagegen hörten wir den einen seinen Vater fragen, ›was zum Henker denn das für zwei Kerle wären.‹ Der Vater antwortete ihm in seiner brummenden Weise, aber wir verstanden nicht, was er sagte.

Die Söhne hingen ihre Kugelbüchsen an die Wand und entledigten sich dann ohne viele Ceremonien ihrer schweren Stiefel und eines Theils ihrer Kleider, worauf sie an dem Tische Platz nahmen und mit dem erstaunlichsten Heißhunger die sämmtlichen, sehr beträchtlichen Reste des Abendbrodes verschlangen. Unser Thee schien ihnen ganz besonders gut zu schmecken, denn sie leerten ohne alle Umstände den Kessel bis auf den letzten Tropfen.

Sowohl Hugo als ich versuchten wiederholt, ein Gespräch anzuknüpfen; aber war es uns nicht geglückt, so lange wir noch mit den beiden Alten allein waren, so wollte es uns jetzt noch weniger gelingen; der Vater war in ein düsteres Schweigen versunken, aus welchem ihn nichts erwecken zu können schien, die Mutter sprach überhaupt nicht, und von Seiten der Söhne war ein unwirsches Knurren, gleich dem eines übelgelaunten Kettenhundes, die einzige Antwort auf jede Bemerkung, die wir äußerten, auf jede Frage, die wir stellten. Wir gaben daher bald das vergebliche Bestreben auf.

Nach dem Essen und während die alte Frau damit beschäftigt war, für uns ein Nachtlager herzurichten, zogen sich die zwei Söhne mit dem Vater in eine Ecke des Zimmers zurück, und es entspann sich nun zwischen den dreien ein Zank, der indeß in einem so dumpfen Geflüster geführt wurde, daß wir nur einzelne Worte deutlich vernahmen, ohne errathen zu können, um was es sich dabei handle. Nur so viel wurde uns klar, daß die Söhne auf etwas drangen, was der Vater nicht zugeben wollte. Dieser gerieth endlich in Zorn und stieß gegen seine Söhne heftige Drohungen aus; schließlich trug die Autorität des unbeugsamen Alten über die Widerspenstigkeit der Söhne den Sieg davon. Diese verließen bald darauf, indem sie uns tückische Blicke zuwarfen, das Zimmer, um, wie wir annahmen, sich in einer anderen Räumlichkeit des Hauses zur Ruhe zu begeben. Auch die beiden Alten zogen sich jetzt zurück, und wir warfen uns auf das für uns bereitete Lager, wo wir, ermüdet von den Anstrengungen des Tages, unbekümmert um die üble Laune unserer Wirthsleute, bald einschliefen.

Wir hätten nur zu gern unsere Reise am nächsten Morgen in aller Frühe fortgesetzt; als wir jedoch die Pferde vor den Schlitten spannen wollten, machte Hugo die verdrießliche Entdeckung, daß dieser, sowie auch das Geschirr, mehrere Beschädigungen erlitten hatten, die mehr oder weniger das Aussehen zeigten, als wären sie nicht zufällig, sondern durch Anwendung gewaltsamer Mittel entstanden, ja hie und da fanden wir Einschnitte, die nur von einem Messer oder einem andern scharfen Instrumente herrühren konnten.

Es hatte ganz den Anschein, als habe man nicht gerade unsere Abreise verhindern, sondern eine Verzögerung unterwegs herbeiführen wollen; denn die Beschädigungen waren durchaus nicht auffällig, und wir hätten sie leicht übersehen können.

Unser Verdacht fiel sogleich auf die zwei Brüder und Hugo's Zorn fing schon an, sich zu regen. Wären jene zugegen gewesen, so hätte es, trotz meiner Vermittlung, wahrscheinlich einen heftigen Streit gegeben; aber wir sahen sie nicht, sie waren noch früher aufgestanden als wir und, wie es hieß, auf die Jagd gegangen.

Der alte Mann hatte offenbar an unserm Mißgeschicke keinen Antheil. Er war vielmehr darüber aufs Äußerste entrüstet und brummte halblaut Flüche und Drohungen vor sich hin, die wir zwar nicht verstanden, die aber, wie wir nicht bezweifeln konnten, gegen die Söhne gerichtet waren. Auch half er uns, so gut er konnte, den Schaden wieder auszubessern; doch, so sehr wir uns auch Alle damit beeilten, waren wir doch erst am Nachmittag im Stande unsere Reise anzutreten.

Es war unser Wunsch, noch an demselben Tage eine entfernte Farm zu erreichen, auf welcher wir, den eingezogenen Erkundigungen zufolge, ein gutes Nachtquartier und eine freundliche Aufnahme erwarten durften; wollten wir aber vor Dunkelwerden dahin gelangen, so mußten wir uns jetzt auch sehr beeilen. Wir nahmen also von unserm Wirthe und dessen Frau einen kurzen Abschied, und schon erhob Hugo die Peitsche, um die Pferde anzutreiben, als der alte Mann, indem er uns bat, noch einen Augenblick zu verweilen, dicht an den Schlitten herantrat.

Sein sonst so finsteres Gesicht hatte fast den Ausdruck freundlichen Wohlwollens angenommen, was vielleicht theilweise davon herrühren mochte, daß die Bezahlung, die er so eben empfangen, gewiß seine Erwartung weit übertroffen hatte.

Er rieth uns sehr eindringlich, den Fahrweg längs dem Seeufer nicht weiter zu verfolgen, als bis zum nahen Walde, dann aber den weit kürzeren quer über die tief in das Land einschneidende Bucht einzuschlagen, was, wie er behauptete, ohne alle Gefahr sei, da er selbst in den letzten Tagen wiederholt mit einem schwer beladenen Wagen die weit in den See hinaus sich erstreckende Eisdecke befahren und ihre Stärke also hinlänglich erprobt hätte.

Aus der unruhigen, dringlichen, fast ängstlichen Weise, in welcher uns der Farmer diesen Vorschlag empfahl, mußten wir schließen, daß er dabei noch einen andern Zweck vor Augen habe, als den, uns einen sehr langen Umweg zu ersparen. Jedoch beachteten wir dies wenig; die Abkürzung des Weges aber war für uns, bei der wenigen Zeit, die wir noch vor uns hatten, ein großer Gewinn; wir beschlossen daher, seinen Rath zu befolgen, dankten ihm und fuhren von dannen.

Als wir kaum den Wald erreicht hatten, sahen wir auch sogleich eine tiefe Schlucht, in welcher sich der Schnee zu ungeheuren Massen angehäuft hatte. Eine Eiskruste hatte sich darüber gebildet, die wir für unser leichtes Fuhrwerk stark genug fanden, und wir folgten daher unbedenklich der Wagenspur, die sich, wie uns der alte Mann gesagt hatte, durch die Schlucht hinunterschlängelte. Bald hatten wir den See erreicht, und der breite längs der ganzen Küste sich erstreckende Eisgürtel lag vor uns. Auch über diesen hin konnten wir auf eine weite Strecke die Wagenspur sehen.

Weiter draußen war der See offen. Die tiefblaue Farbe des Wassers wirkte wohlthuend auf das durch das eintönige Weiß ermüdete und geblendete Auge, und das ferne Rauschen der von einem frischen Winde in Bewegung gesetzten Wogen unterbrach auf eine angenehme Weise die Todtenstille der erstarrten Natur, indem dieselben gegen die scharfe Eiskante anbrandeten, und diese dann hie und da unter lautem Krachen zerbrach, die abgetrennten Blöcke aber mit unwiderstehlicher Gewalt gegen einander geschleudert, oder über einander hingeschoben wurden.

Die Uferstrecke, die wir jetzt verließen, bot in bunter Mannichfaltigkeit höchst malerische, mitunter wahrhaft imposante Ansichten dar. Bald starrten uns schroffe Felswände entgegen, deren zackige Gipfel einzelne vom Winde zerzauste Föhren krönten, bald senkte sich eine sanft abfallende, mit dichtem Walde bewachsene Böschung bis an das Niveau des See's, oder breite Thäler mit Moorgründen und öden Haidestrecken öffneten sich unsern Blicken und boten weite Fernsichten in das flache Land.

Wir erfreuten uns an der Großartigkeit und Neuheit des uns umgebenden Naturgemäldes, während wir in scharfem Trabe über die schneebedeckte Eisfläche dahinfuhren, die Schellen lustig erklangen und die Peitsche knallte, die Pferde aus ihren Nüstern Dampfwolken bliesen und die von ihren Hufen ausgeworfenen Eisnadeln im hellen Sonnenschein wie Diamanten glitzerten und funkelten.

Die Bucht, über welche wir fuhren, zog sich, wie wir jetzt deutlich sehen konnten, mehrere Meilen weit zu unsrer Rechten in das Land hinein, und wir wünschten uns Glück, den Rath befolgt zu haben, einen so beträchtlichen Umweg abzuschneiden. Die Breite der Bucht mochte wenig mehr als eine deutsche Meile betragen.

In dunklen Umrissen lag schon das jenseitige Ufer vor uns, und bei der Schnelligkeit unsrer Fahrt durften wir darauf rechnen, es bald erreicht zu haben; das Ziel unserer Reise, die Farm, war dann auch nicht mehr fern.

Wir hatten übrigens allen Grund, die Pferde zum schnellsten Laufe anzutreiben, denn es begann bereits zu dämmern, auch überzog sich der Himmel jetzt mit dunklen Wolken, und mit dem immer heftiger wehenden Winde stieg die Kälte von Minute zu Minute. Dem offenen Wasser waren wir bald um ein Bedeutendes näher gekommen, und immer stärker drang das mächtige Rauschen seiner Wogen in unser Ohr.

Noch hatten wir nicht die Mitte der Bucht erreicht, als plötzlich ein dumpfes Krachen ähnlich dem Donner einer Artilleriesalve erscholl und über der Eisfläche, oder vielmehr unter dieser hinrollte und, indem es ein tausendfaches Echo in den Bergen ringsumher wach rief, mit diesem vermischt in weiter Ferne verhallte.

Die Pferde wurden scheu, wichen zur Seite und standen dann zitternd und ängstlich schnaubend still. Aber Hugo trieb sie durch kräftige Peitschenhiebe zu verdoppelter Schnelligkeit an, und in rasender Eile ging es in der einmal eingeschlagenen Richtung weiter.

So plötzlich und erschütternd war die Wirkung dieses entsetzlichen Getöses auch auf uns gewesen, daß wir keine Worte fanden, unsere Besorgniß gegen einander zu äußern. Wozu hätten auch viele Worte genützt? Ueber das, was wir zunächst zu thun hatten, blieb uns kein Zweifel; wir mußten vorwärts, so schnell die Pferde laufen konnten; denn woher der furchtbare Donner entstanden war und welche Gefahren er uns verkündete, wußten wir beide nur zu gut. Die Wassermasse des Sees, unter dem Drucke des allmälig zum Sturme angewachsenen Windes in diesem Theile des ungeheuren Beckens vermehrt, hatte die Eiskruste gehoben und gesprengt. Ein weiterer Bruch konnte uns von dem nicht mehr fernen Ufer abschneiden; also vorwärts mit verhängtem Zügel, um es in möglichster Eile zu erreichen, vorwärts so lange noch Rettung möglich ist!

Doch schon in der nächsten Minute erfolgte ein noch gewaltigerer Stoß als der erste und dann ein dritter mit einem so scharfen, betäubenden Knalle, als ob die in wellenförmige Bewegung gesetzte Eisbrücke, die uns trug, auf meilenweite Entfernung hin zertrümmert worden wäre.

Unsere Lage war eine entsetzliche, um so entsetzlicher, als wir genau die Gefahren kannten, die uns hier, vom Ufer noch immer durch eine beträchtliche Strecke getrennt, zwischen aufgebrochenen Eismassen von allen Seiten bedrohten, um so entsetzlicher endlich, als die jetzt schnell einbrechende Nacht und die bleifarbige Wolkenschicht, die sich über den ganzen Himmel verbreitete, zu den schon vorhandenen Schrecknissen noch die mit jeder Minute zunehmende Dunkelheit fügten. Unsere einzige Hoffnung beruhte, wie gesagt, auf der Schnelligkeit unsrer Pferde. Es bedurfte indeß nicht des Zurufes oder der Peitsche, um diese anzutreiben; die kräftigen und klugen Thiere, durch den mächtigen Instinct des Selbsterhaltungstriebes angespornt, sprengten mit vorgestrecktem Halse, die weitgeöffneten Nüstern, wie um die Gefahr zu wittern, hoch erhoben, in sausendem Galopp dahin.

Wir aber spähten mit einer durch die Todesangst fieberhaft gesteigerten Spannung nach allen Richtungen umher, um wo möglich die Spalten im Eise zu entdecken; aber das schon lang gefürchtete Schneegestöber war nun mit aller Macht losgebrochen; der Schnee, der vom Himmel fiel, vermengte sich mit dem Schnee, den der Sturm von der Eisdecke aufwirbelte, und die feinen, spitzen Nadeln wurden uns in's Gesicht getrieben und blendeten uns so, daß wir selbst auf eine kurze Strecke hin keinen Gegenstand deutlich zu unterscheiden vermochten; es blieb uns nichts übrig, als uns auf die schärfere Wahrnehmungsgabe der Pferde zu verlassen.

Plötzlich hielten diese in ihrem rasenden Laufe inne und warfen sich, indem sie zugleich eine kurze Wendung zur Seite machten, mit solcher Gewalt rückwärts in das Geschirr, daß sie es zu zersprengen drohten. Die Schnelligkeit, mit welcher der Schlitten über die glatte Fläche glitt, konnte durch den heftigen Ruck nicht sogleich gehemmt werden; er schwenkte seitwärts und warf um; wir aber wurden hinausgeschleudert und sahen uns zu unsrem Entsetzen dicht vor einem dunklen Streifen wogenden Wassers liegen.

Hugo hatte die Zügel nicht losgelassen; er wurde so noch eine Strecke weit von den Pferden fortgeschleift, ehe es ihm gelang, sie zum Stehen zu bringen.

Wir richteten den Schlitten wieder auf und untersuchten den Spalt im Eise; er war viel zu breit, als daß es möglich gewesen wäre, Pferde und Schlitten hinüber zu bringen. Von dem nun dicht vor unseren Augen liegenden Ufer waren wir somit abgeschnitten und wir schlugen daher eine neue Richtung nach rechts ein, um das tiefer im Lande auslaufende Ende der Bucht zu erreichen. Doch nicht lange hatten wir mit aller Schnelligkeit, deren unsere Pferde fähig waren, diese Richtung verfolgt, als wir auch hier und zwar durch einen noch viel breiteren Spalt aufgehalten wurden, und uns also entschließen mußten, nach dem Ufer zurückzukehren, von wo aus wir die unglückliche Fahrt begonnen hatten.

Nach dieser Richtung zu war der Himmel etwas heller, und wir erkannten noch mit ziemlicher Deutlichkeit eine hügelige Landzunge, die wir schon früher bemerkt hatten und die sich eine bedeutende Strecke weit in den See hinausdehnte. Wir kamen dieser Landzunge schnell näher, schon lag sie dicht vor uns, schon hofften wir aller weiteren Gefahr entronnen zu sein, als sich zu unserm Schrecken auch hier offenes Wasser zeigte, das sich, so weit das Auge reichte, nach beiden Seiten hin längs dem Ufer erstreckte.

Kein Zweifel blieb uns jetzt; wir befanden uns auf einer Eisinsel, die, wie das fortdauernde Krachen nur zu deutlich verrieth, in immer kleinere Schollen zerbrach. Auch gewahrten wir, daß die Strömung diese Schollen in Bewegung zu setzen und in das weite Becken des Sees hinauszutreiben begann.

Wir hielten jetzt die Pferde an und stiegen aus dem Schlitten, um längs dem Ufer, von dem wir nur einige hundert Schritte entfernt waren, eine Stelle zu suchen, wo das Eis möglicherweise noch mit dem Lande im Zusammenhang wäre, oder wo das Wasser eine so geringe Tiefe hätte, daß wir hindurch waten könnten. Ehe wir jedoch den Schlitten verließen, spannten wir die Pferde aus, damit diese, scheu und wild, wie sie jetzt waren, uns denselben nicht entführen möchten.

Wir suchten lange, aber vergeblich. Statt eine Stelle zu finden, wo der Uebergang noch möglich gewesen wäre, sahen wir mit immer wachsender Besorgniß, daß die Eisfläche, auf welcher wir uns befanden, sich schnell vom Lande entfernte; und noch ehe wir den Schlitten wieder erreicht hatten – die Pferde waren nirgends mehr zu sehen – war das offene Wasser, das uns vom Lande trennte, ein breiter, wildtosender Strom geworden. Jede dahinfliehende Secunde erhöhte die Gefahr unserer schrecklichen Lage, und wollten wir noch etwas zu unsrer Rettung unternehmen, so mußte es ohne den mindesten Zeitverlust geschehen. Einen Augenblick hatten wir daran gedacht, die Nacht im Schlitten zuzubringen; denn es schien uns nicht unmöglich, daß das Eis sich an einem entfernteren Punkte der Küste wieder festsetzen könnte; jedoch verwarfen wir nach einer kurzen Ueberlegung diesen Plan gänzlich. Auch hätten wir uns in der That dadurch dem sicheren Tode geweiht, denn besaßen wir auch vielleicht die Mittel uns gegen die grimmige Kälte zu schützen, so wären wir doch, – darüber blieb uns am folgenden Tage kein Zweifel – in den Wellen umgekommen.

Gleich anfangs, als wir den ganzen Umfang der Gefahr erkannten, in welcher wir schwebten, hatte mich Hugo gefragt, ob ich schwimmen könne. Ich hatte diese Frage verneinend beantwortet.

›Es bleibt uns kein anderes Mittel zu unserer Rettung,‹ sagte er jetzt, ›wir müssen an's Land schwimmen.‹

Ich bat ihn dringend, nur an seine Rettung zu denken, indem ich mich dieses Mittels nicht bedienen könnte.

›Vertrauen Sie sich mir an,‹ fuhr er fort, ›ich werde Sie sicher hinüberbringen.‹

›Ich kenne Ihren Muth und Ihre Stärke, Falkner,‹ entgegnete ich, ›aber diese vermögen uns nicht gegen das Erfrieren zu schützen.‹

›Seien Sie unbesorgt,‹ sagte er, ›auf der kurzen Strecke werden wir nicht erfrieren; zögern wir aber länger, so werden wir eine noch viel weitere zurückzulegen haben, und dann allerdings setzen wir uns dieser Gefahr aus. Jedenfalls erwartet uns, Sie räumen es ja selbst ein, ein weit gewisserer, langsamerer und qualvollerer Tod, wenn wir hier noch länger verweilen; unterwerfen Sie sich also, ich beschwöre Sie, unbedenklich meinen Anordnungen.‹

Sein ruhiger Ton, seine entschlossene Haltung weckten aufs Neue meine fast erloschene Hoffnung, und ich versprach ihm, mich unbedingt seinem Willen zu fügen, obgleich der Gedanke, mich in die eisigkalte Fluth zu stürzen, meine Seele mit einem nicht zu beschreibenden Grauen erfüllte.

Hugo nahm schnell aus dem Schlitten mehrere unentbehrliche Gegenstände, worunter sich ein Beutel mit Gold, zwei Terzerole und eine kleine Flasche Rum befanden. Er band sich dies mit einem Strick um den Leib, ergriff dann meine Hand und forderte mich auf, ihm zu folgen.

Als wir den Rand des Eises erreicht hatten, schlang er seinen linken Arm fest um meinen Leib, empfahl mir dringend, keine gewaltsamen Bewegungen zu machen, was ihm hinderlich sein würde, bat mich noch einmal, Muth zu fassen, und stürzte sich mit mir in den schwarzen eisigen Schlund. Die Wogen schlugen über meinem Kopf zusammen; ich verlor die Besinnung.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Ufer. Hugo kniete neben mir und war eifrig damit beschäftigt, meine erstarrten Glieder zu reiben. Ich empfand eigentlich keine Kälte, nur war ich am ganzen Körper gelähmt; auch war mein Geist wie umnebelt, ich konnte mir keine klare Vorstellung bilden, meine Gedanken verwirrten sich, und eine fast unwiderstehliche Neigung zum Schlafen hatte sich meiner bemächtigt.

Doch Hugo's fortgesetzte Bemühungen und seine eindringlichen Bitten und Ermahnungen, mich zu ermannen, hatten endlich die gewünschte Wirkung. Ich begriff, daß meine Rettung davon abhinge, daß ich mit Aufbietung aller meiner Willensstärke die Schlafsucht von mir abwehre, und da sich nun auch, nachdem mir Hugo wiederholt einige Tropfen Rum in den Mund gegossen hatte, eine wohlthuende Wärme in meinem Körper zu verbreiten begann und mit ihr die Beweglichkeit meiner Glieder zurückkehrte, vermochte ich endlich, mich, von Hugo unterstützt, zu erheben. Anfangs konnte ich nur langsam, auf Hugo's Arm gelehnt, gehen; doch bald gewann ich mehr Kraft, und, da ich fühlte, daß nur eine starke Bewegung im Stande sei, den gestockten Blutumlauf wieder herzustellen, zwang ich mich zu einem immer rascheren Gange, bis wir zuletzt fast liefen. Wir wußten, daß in der ganzen Gegend weit und breit kein anderes Obdach für die Nacht zu finden sei, als die Wohnung des alten Farmers, die wir am Nachmittag verlassen hatten. Unter anderen Umständen wäre uns der Gedanke, unter dieses unwirthliche Dach zurückzukehren, ein mehr als peinlicher gewesen; jetzt gewährte er uns Trost, jetzt schloß er alle unsre Hoffnung in sich, und trotz des barschen Wesens ihrer Bewohner hatte diese ärmliche Hütte für uns einen unschätzbaren Werth, denn ohne sie wären wir dem Tode in den Fluthen nur entronnen, um den des Erfrierens zu erleiden.

Wir gingen längs dem Ufer, bis wir mit Hülfe des schwachen Widerscheines, den der Schnee warf, die Spur unsers Schlittens fanden, und, indem wir dieser folgten, gelangten wir in weniger als einer halben Stunde an die verschlossene Thür des Hauses.

Wie gestern mußten wir lange anklopfen, bis sie so weit geöffnet wurde, daß der alte Mann vorsichtig herauslugen konnte, wie gestern stand seine Frau mit empor gehaltner Laterne hinter ihm; aber nicht wie gestern zeigte sich in seinem finsteren Gesichte jene mürrische Abgeneigtheit, Fremde bei sich aufzunehmen; es verbreitete sich vielmehr über seine harten Züge ein Ausdruck freudigen Erstaunens, als er uns erkannte, wie wir, blaß und entstellt, vor Kälte zitternd, mit von Eis starrenden Kleidern und Haaren vor ihm standen.

Wahrscheinlich hatte er von seinen Söhnen vernommen, daß das Eis in der Bucht aufgebrochen sei, und er mußte uns daher für verloren gehalten haben. Vielleicht auch hatte er sich Vorwürfe gemacht, weil er uns durch seinen Rath in eine so große Gefahr gestürzt hatte, und es mochte ihn nun, da er sah, wie wir dieser entronnen waren, ein Stein vom Herzen gefallen sein.

Sei dem, wie ihm wolle, er begrüßte uns mit einem fast herzlichen Grinsen und stotterte, indem er die Thür vollends öffnete und uns einzutreten bat, eine Menge unzusammenhängende Entschuldigungen und betheuerte wiederholt, daß er an unserem Unfalle gänzlich unschuldig sei, da er denselben unmöglich habe voraussehen können.

Seine Frau dagegen schien über unsere Rettung und Zurückkunft weit weniger erfreut zu sein; es lag in ihrem Gesichtsausdruck und ganzem Wesen nichts, als jene stupide, an Stumpfsinn grenzende Gleichgültigkeit, die uns bei unserem ersten Besuche so unangenehm aufgefallen war.

Die zwei Söhne saßen, als wir eintraten, am Heerde. Sie hoben träge und schwerfällig die Köpfe und glotzten uns mit der Miene des äußersten Erstaunens an; dann zog sich ein höhnisches Lächeln um ihre breiten Mäuler, und sie murmelten einige spöttische Bemerkungen in den Bart, indem sie sich auf des Vaters Befehl mürrisch erhoben, um uns ihre warmen Plätze zu überlassen.

Der alte Mann zeigte jetzt eine Rührigkeit, die wir ihm nicht zugetraut hätten; er war in der That unermüdlich in seinen freundlichen Bemühungen. Er half uns, die durchnäßten Kleider ausziehen und versah uns mit trockenen, er warf ein Paar mächtige Scheite auf den Heerd und blies das Feuer an, das bald in hellen Flammen aufloderte, er trieb endlich die Frau, der er befohlen hatte, uns ein Abendessen zu bereiten, fortwährend zur Eile an, indem er ihr die dazu nöthigen Dinge reichte.

Das Alles verhinderte ihn aber nicht, sich mit seinen Söhnen in einen heftigen Zank einzulassen. Einer der letzteren hatte nämlich gegen seinen Bruder halblaut geäußert, man solle doch, ehe man zwei solchen Landstreichern Obdach und Abendessen gebe, erst untersuchen, ob sie auch dafür Zahlung leisten könnten; wahrscheinlich aber hätten wir nebst dem Schlitten, den Pferden und unserem ganzen Gepäck bei der ›dummen Eisfahrt‹ auch all unser Geld eingebüßt. Der Vater hatte diese Bemerkung gehört und erwiederte darauf zornig: er fordere keine Zahlung dafür, daß er zwei Menschen auf der Schwelle seines Hauses nicht vor Hunger und Kälte umkommen lasse, übrigens hätten wir ihn am Morgen für Alles, was wir bei ihm genossen, so reichlich bezahlt, daß noch ein guter Theil mit in den Kauf gehen könne. Darauf war eine trotzige Antwort von Seiten der Söhne erfolgt, ein Wort hatte das andere gegeben, bis endlich der Alte ihnen sehr peremtorisch erklärte, ›daß sie jetzt augenblicklich ihr verdammtes Maul halten sollten.‹

Uns hatte die rohe und menschenfeindliche Gesinnung der Söhne und die schroffe Weise, in welcher sie dieselbe zu erkennen gaben, empört. Hugo wollte gegen sie auffahren, aber ich hielt ihn davon zurück; dagegen erklärte ich, um einer Wiederholung dieser unangenehmen Scene vorzubeugen und die Herren Söhne in Betreff des fraglichen Punktes ein für alle Mal zu beruhigen, daß wir unser Geld nicht eingebüßt hätten und bereit wären, die Mühe und die Kosten, die wir verursachten, zehnfach zu ersetzen. Jedoch bereute ich sogleich, daß ich mich zu dieser Erklärung hatte verleiten lassen; denn ich sah wie sich die beiden Brüder einen vielsagenden, frohlockenden Blick zuwarfen, als wollten sie einander ihre Freude darüber zu erkennen geben, daß sie glücklich herausgebracht, was sie zu wissen wünschten. Der Vater aber schielte mich verstohlen an und machte ein verdrießliches Gesicht.

Die Brüder entfernten sich bald darauf aus dem Zimmer, während wir uns mit einer Tasse heißen Thee gütlich thaten und dem behaglichen Gefühl der Ruhe und Sicherheit überließen, das nach einer glücklich überstandenen Gefahr auf Geist und Körper so wohlthuend wirkt; dann warfen wir uns auf das mittlerweile für uns hergerichtete Lager.

Am nächsten Morgen in aller Frühe, während ich noch in einem unruhigen, fieberhaften Schlafe lag, hatte Hugo einen weiten Gang längs dem Ufer des Sees gemacht, um nach unserem Schlitten und den Pferden zu sehen; denn noch immer hielt er es für nicht ganz unwahrscheinlich, daß sich das Eis an einem entfernten Punkte der Küste, der sich, wie wir gesehen hatten, weit hinaus in den See erstreckte, wieder festgesetzt habe; doch er sah, so weit das Auge reichte, nur offenes Wasser. Daß die Pferde an das Land geschwommen waren, durften wir zwar annehmen, aber wir mußten jede Hoffnung aufgeben, je wieder in ihren Besitz zu gelangen. Der Schlitten war jedenfalls für uns verloren, um so mehr aber wünschten wir uns Glück am gestrigen Abend das einzige Mittel zu unserer Rettung ohne weiteres Zögern ergriffen zu haben.

Uebrigens hätten uns die Pferde und der Schlitten in diesem Augenblicke wenig genützt, denn ich wäre ohnehin außer Stande gewesen, die Reise fortzusetzen. In der Nacht hatte ich nämlich einen heftigen Fieberanfall gehabt, und noch immer war ich so leidend, daß ich mich von meinem Lager nicht zu erheben vermochte.

Es folgten nun mehrere Tage, die, wenn auch nicht zu den traurigsten, so doch zu den unangenehmsten meines Lebens gehören; sie brachten uns eine ununterbrochene Reihe von Leiden und Widerwärtigkeiten aller Art. Ich litt an Gliederschmerzen und häufigen Fieberanfällen, die meine Kräfte gänzlich erschöpften, und auch Hugo hatte sich, trotz seiner eisernen Gesundheit, durch das kalte Bad eine Erkältung zugezogen und klagte über einen stechenden Schmerz in der Brust, der in hohem Grade meine Besorgniß erregte. Dabei entbehrten wir aller Pflege, ja jeder erdenklichen Bequemlichkeit, sogar der nöthigen Ruhe. Und dennoch war dies Alles das kleinste Ungemach, das wir zu erdulden hatten. Dem alten Farmer war unser langer Aufenthalt in seinem Hause offenbar äußerst lästig. Er zeigte sich jetzt wieder mürrischer und verschlossener als je, und wir erkannten nun deutlich, daß das Wohlwollen, welches er uns erwiesen, als er uns so unerwartet vom Tode errettet sah, nur ein plötzlich aufglimmender Funke von Menschenliebe gewesen, der so schnell, wie er entstanden, auch wieder erloschen war.

Seine stumpfsinnige Frau schien ganz unter dem Einfluß ihrer Söhne zu stehen. Uns gab sie selten eine Antwort, wenn wir uns mit einer Bitte direct an sie wandten; nur auf den ausdrücklichen Befehl ihres Mannes konnte sie vermocht werden, das Mindeste für uns zu thun.

Die Söhne endlich zeigten immer offener und in der frechsten Weise ihre feindselige Gesinnung gegen uns. So oft sie sich im Zimmer sehen ließen – zum Glück geschah es nicht häufig und fast nur des Abends – machten sie ihre rohen, hämischen Bemerkungen über uns. Wenn alsdann der Vater nicht zugegen war, so stimmte die Mutter mit ein, und es erfolgte nun gern zwischen den dreien ein Gespräch, das für uns um so irritirender war, da es halblaut und in kurz abgebrochenen Sätzen geführt wurde, die, jeder für sich genommen, keinen Sinn hatten, oder sich nicht unmittelbar auf uns beziehen ließen, die aber auch in ihrer Gesammtheit nicht als ein Angriff aufgefaßt werden konnten, und worauf also eine Erwiederung nicht wohl möglich war.

›Ein Paar nette Gäule,‹ hieß es denn z. B., ›die der Alte sich da zugelegt hat, meinst Du nicht auch, Jack?‹

›Du sprichst von dem alten Grauschimmel, Bill, und dem ungeschlachten, zottelhaarigen Hengstfüllen, he?‹ – Ein Seitenblick auf uns. – ›Na, versteht sich von den beiden.‹ – Abermaliger Seitenblick. – Pause. Mit dem Grauschimmel war, wie wir sehr wohl wußten, ich gemeint, mit dem Hengstfüllen aber Hugo. ›Hol sie beide der Satan.‹ ›Nu, was thäte er mit ihnen?‹ – ›In die Hölle würde er sie bringen.‹ ›Seine Teufel würden sie aber wieder hinausschmeißen.‹ – Gelächter – längere Pause. ›Was sagst Du, Mutter?‹ Nun folgte ein leises Geflüster, von welchem wir nur einzelne Worte auffassen konnten, wie ›Goldfüchse – wäre so übel nicht – – oho, wird schon gehen – nur Geduld.‹

Manchmal entbrannte Hugo's Zorn gegen die beiden Lotterbuben, und es kostete mir mitunter viele Mühe, ihn davon abzuhalten, sich mit ihnen in Streit einzulassen.

War der Vater zugegen, so entspann sich gewöhnlich zwischen ihm und den Söhnen ein Wortwechsel, der in unseren Ohren noch unangenehmer klang, als jene boshaften Sticheleien.

Diese Scenen endigten jedesmal damit, daß der Alte in eine grenzenlose Wuth gerieth und den Söhnen in so ingrimmiger Weise ihre Verruchtheit vorwarf, daß uns bei dem Anhören seiner gräßlichen Flüche, Verwünschungen und Drohungen die Haut schauderte. Es lag dabei in des alten Mannes ganzem Wesen eine wahrhaft erstaunliche Energie. Seine gebeugte, aber herkulische Gestalt richtete sich zu ihrer ganzen Höhe auf, er gesticulirte heftig und jede Bewegung seiner ungeheuren Gliedmaßen zeugte von einer solchen Kraft und Gewandtheit, daß es ganz den Anschein gewann, als könne er es, trotz seines hohen Alters recht wohl mit seinen beiden Söhnen zugleich aufnehmen, so stark sie auch sein mochten. Diese wurden auch jedesmal durch des Vaters Drohungen eingeschüchtert; allerdings nur, um bei der nächsten Gelegenheit den Streit von Neuem zu beginnen.

Wir befürchteten immer, daß der zwischen dem Vater und den Söhnen herrschende grimmige Haß zu einer blutigen Katastrophe führen werde, und eines Abends spät, als wir glaubten, es hätten sich schon längst alle Mitglieder der Familie zur Ruhe begeben, kam es auch wirklich zu Thätlichkeiten.

Wir hatten schon seit mehreren Minuten ein, wie es schien, aus dem vor dem Hause befindlichen Schuppen dringendes, verworrenes Durcheinander zankender Stimmen gehört, ohne jedoch die einzelnen Worte verstehen und weit weniger noch die Ursache des Streites errathen zu können. Aber die Stimmen wurden lauter und wir glaubten in einzelnen Ausrufen, wie ›Schwachkopf! – Alter Narr!‹ die von Jack zu erkennen.

›Verruchter Bube!‹ donnerte plötzlich ganz vernehmlich die Stimme des alten Mannes, ›fahre zur Hölle!‹ Es fiel ein schwerer Schlag, und diesem folgte ein Fall und ein dumpfes Stöhnen, mit gräßlichen Verwünschungen vermischt; dann war wieder Alles still.

Am folgenden Tage zeigte sich Jack mit verbundenem Kopfe, aber mit einer noch trotzigeren Miene, als je zuvor. Unsere Geduld wurde an diesem Tage durch ihn und Bill auf die härteste Probe gestellt. Ihre brutalen Späße über ›die zwei Gäule‹ nahmen kein Ende; ja, sie ließen es sogar nicht an Drohungen fehlen, indem sie uns deutlich genug zu erkennen gaben, daß wir ›das Schmerzengeld‹ zahlen sollten.

Es war natürlich unser sehnlichster Wunsch, so bald wie möglich dieses scheußliche Haus zu verlassen, das, wie wir uns nicht verhehlen konnten, nicht viel besser war, als eine Mörderhöhle. So bald ich mich daher wieder so kräftig fühlte, daß ich die Anstrengung der Reise ertragen zu können glaubte, trafen wir auch sofort unsere Vorbereitungen zum Aufbruch.

Von dem alten Farmer kauften wir einen Schlitten und ein elendes Pferd, das einzige, welches er uns überlassen wollte, obgleich er deren mehrere, recht gute und kräftige besaß, und wir mit dem Gelde nicht geizten. Der Handel brachte ihm außer einem sehr beträchtlichen pecuniären Gewinn – denn wir hatten ihm für Pferd und Schlitten wenigstens den fünffachen Werth gezahlt – auch noch den Vortheil, uns endlich los zu werden, was ihm ohne allen Zweifel sehr erwünscht sein mußte, dennoch aber zeigte er bei der ganzen Verhandlung – namentlich nachdem er unsere volle Börse gesehen hatte – eine störrische Abgeneigtheit, eine filzige, geldgierige Zähigkeit, welche die bessere Meinung, die wir von ihm gefaßt hatten, bedeutend herabstimmte.

Wir waren volle acht Tage in dieser abscheulichen Behausung gewesen, als wir uns endlich eines Morgens bei Tagesanbruch zur Reise rüsten konnten. Das Einspannen ging indeß nur langsam von Statten. Der Schlitten war klein und äußerst unbequem, das Geschirr an mehreren Stellen gerissen und nur ungenügend ausgebessert, nichts paßte, nichts wollte haften und halten. Dazu das alte, steife und lahme Pferd; es war die jammervollste Equipage, die man nur sehen konnte. Dennoch waren wir von Herzen froh, sie zu besitzen; denn sie machte es uns immerhin möglich, von hier fortzukommen. In der nächsten Farm, in welcher wir einkehrten, hofften wir sie durch eine bessere zu ersetzen.

Ich muß gestehen, daß wir in Betreff der beiden Brüder nicht ganz ohne Besorgniß waren. Bei unserm ersten Aufbruch hatten sie sich sehr frühzeitig entfernt, diesmal aber waren sie seit vier und zwanzig Stunden abwesend gewesen.

Daß sie schon damals Böses im Schilde geführt hatten, und daß der Vater, der davon wissen und ihre schändlichen Anschläge zu hintertreiben wünschen mochte, hauptsächlich aus diesem Grunde uns den Rath ertheilt hatte, einen anderen Weg einzuschlagen, diese Vermuthung lag nur zu nahe.

Auch bei der jetzigen Gelegenheit zeigte sich in dem Benehmen des Alten eine gewisse Unschlüssigkeit und Aengstlichkeit, die er hinter einem mürrischen und versteckten Schweigen nur schlecht zu verbergen wußte. Ein Paar Mal, während wir mit den Vorbereitungen zu unserer Abreise beschäftigt waren, schien es auch wirklich, als ob es ihn dränge, uns etwas zu offenbaren, das sein Gemüth beunruhige. Wir machten daher wiederholt Versuche, ihn zum Sprechen zu bewegen, aber dies hatte eine ganz andere Wirkung, als die beabsichtigte, denn er sah uns nur mit einem finstern, argwöhnischen Blicke an, und beharrte nun erst recht bei seinem Schweigen. Sein ganzes jetziges Verhalten zeigte uns deutlich, daß er sich über einen Unfall, falls uns ein solcher träfe, sehr leicht trösten würde, und daß, wenn er überhaupt ein Interesse an unserer Sicherheit nehme, dieses einzig und allein darin bestehe, daß er sie unter seinem Dache nicht gefährdet wissen wolle und auch sonst abgeneigt sei, sich persönlich an einer gegen uns gerichteten gewaltsamen Maßregel zu betheiligen. Daß er im hohen Grade geldgierig sei, hatte er uns, wie gesagt, zur Genüge verrathen, und die große Summe Geldes, die er während der letzten Tage öfters bei mir gesehen hatte, die größte, die er vielleicht in seinem Leben gesehen, konnte ihn wohl auch in Versuchung geführt haben.

Diese verschiedenen Umstände, namentlich aber die letzten Drohworte der Brüder, hatten – ich wiederhole es – unsere Besorgniß erregt. Indeß sprach wiederum so Vieles gegen die Annahme, daß jene Bösewichter einen offenen Angriff auf uns wagen würden, daß wir, die wir von Natur nichts weniger als furchtsam oder ängstlich waren, uns diese Gedanken bald aus dem Sinn schlugen und, nachdem wir von unserem Wirth und seiner stumpfsinnigen Ehehälfte Abschied genommen und unseren lahmen Gaul vermöge einiger kräftiger Peitschenhiebe in einen holperichten Trab gesetzt hatten, wohlgemuth von dannen fuhren. Zwar sprachen wir, während wir über die frischgefallene Schneedecke dahinglitten und uns an den wechselnden Schönheiten der herrlichen Winterlandschaft erfreuten, gegen einander unser Bedauern darüber aus, daß wir bei der unglücklichen Eisfahrt unsere trefflichen Waffen im Schlitten hatten zurücklassen müssen und nun keine anderen bei uns führten, als die zwei Terzerole, die Hugo damals aus demselben mitgenommen hatte. Hierzu fehlte uns aber der Schießbedarf, der uns, wie wir nicht bezweifelten, in der Farm entwendet worden war. Auch kam zwischen uns der verdächtige Umstand zur Sprache, daß der alte Mann entschieden verweigert hatte, uns ein wenig Pulver oder Blei zu überlassen, so theuer wir es ihm auch hatten bezahlen wollen; doch unser Gespräch ging bald auf andere Gegenstände über, die allmählig unsere Gedanken von jeder uns möglicherweise drohenden Gefahr ablenkten.

Hugo war bald in der fröhlichsten Laune und ergötzte mich mit seinen Späßen über unsern Gaul, den er mit Beziehung auf die uns von Jack und Bill beigelegten Spitznamen den Dritten in unserm Bunde nannte, und der mit seinen übrigen liebenswürdigen Eigenschaften eine wirklich belustigende Widerspänstigkeit verband, indem er z. B. nach jedem empfangenen Peitschenhiebe eine starke Neigung verrieth, rückwärts zu gehen und zu uns in den Schlitten zu steigen.

Wir hatten ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt und befanden uns jetzt inmitten eines ungeheuren Waldes. Eine Schlucht zog sich hier zwischen steilen Abhängen hin, und so viel loser Schnee hatte sich darin angehäuft, daß das Pferd nur mühsam und Schritt für Schritt den Schlitten vorwärts zu bringen vermochte.

Die Schlucht machte eine scharfe Biegung, und diese hatten wir so eben erreicht, da fielen plötzlich in dem dichten Gestrüpp, das sich längs des Weges an den schroffen Abhängen hin erstreckte, mehrere Schüsse, und drei Männer sprangen auf uns zu.

Im Nu waren Hugo und ich, entschlossen, uns bis aufs Aeußerste zu vertheidigen, aus dem Schlitten gesprungen. Ich sah wie einer der Räuber dem Pferde in die Zügel fiel, während sich zwischen Hugo und einem zweiten ein Kampf entspann. Ich selbst wurde in dem nämlichen Augenblick von einem dritten gepackt und, trotz meiner heftigen Gegenwehr, zu Boden geworfen. Mein Angreifer war mir fremd; es war keiner der Brüder.

Ich rang mit aller Macht, mich von seinem Griffe los zu machen, jedoch vergeblich. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, als ich bemerkte, daß er, während er mich mit der linken Hand niederhielt, mit der rechten nach etwas, das ihm entfallen war, im Schnee umhertastete, und als ich gleich darauf die breite Klinge eines Messers entdeckte, das zur Hälfte unter mir lag, versuchte ich, mit einem letzten Aufwand aller meiner Kraft ihn zu verhindern, dieses zu ergreifen. Doch der Kampf war zu ungleich. Er schnürte mir so fest die Kehle zu, sein Knie drückte mit solcher Wucht auf meine Brust, daß mir der Athem, fast die Besinnung verging. Schon sah ich das Messer in seiner Hand, schon hob er diese, um es mir ins Herz zu stoßen, da verzerrten sich plötzlich des Räubers wilde Züge in einer grauenhaften Weise, er verdrehte die Augen, daß nur das Weiße darin sichtbar war, und stieß einen durchdringenden Schmerzensschrei aus. Hugo's starke Faust hatte seinen zum Todesstoß erhobenen Arm gepackt und dicht oberhalb des Handgelenkes gebrochen.

In der nächsten Secunde stand ich wieder auf den Füßen und übersah nun mit einem flüchtigen Blicke die schreckliche Scene um mich her. Mit flammenden Augen, Schaum auf den Lippen, Verzweiflung in jedem seiner Züge wälzte sich der Räuber vor rasendem Schmerz im Schnee. Bill aber, der mit Hugo gerungen hatte, lag, von diesem mit Riesenstärke gegen einen Baum geschleudert, wie leblos da, während wir Jack, den dritten unserer Angreifer, der die Flucht ergriffen hatte, sobald er sah, wie es seinen Spießgesellen ergangen war, mit weiten Sätzen durch das Dickicht springen hörten.

Meine Augen fielen nun auf Hugo, und zu meinem Schrecken sah ich, daß er mit Blut bedeckt war. Wahrscheinlich hatten die Räuber, ehe sie über uns herfielen, nur auf ihn geschossen, weil sie von seiner Seite allein einen ernsten Widerstand erwarten mochten. Jedoch hatte ihn nur eine Kugel und zwar an der linken Schulter getroffen. Während des folgenden Kampfes hatte ihm Bill einen Messerstich versetzt, den er aber theilweise abparirte, so daß er nur die Rippen streifte.

Beide Wunden zeigten sich bei näherer Untersuchung durchaus nicht gefährlich. Nur verursachten sie einen starken Blutverlust, und es war daher unsere erste Sorge diesem so schnell wie möglich Einhalt zu thun. Es gelang uns endlich; ein Verband war, so gut es eben gehen wollte, angelegt, und wir konnten unsere Reise fortsetzen.

So lange wir mit dem Verbinden beschäftigt waren, hörte der Räuber, der so nahe daran gewesen war, meinem Leben ein Ende zu machen, nicht auf, unsere Barmherzigkeit anzuflehen; er bettelte in einer so feigen, hündischen Weise um sein elendes Leben, daß das Mitleid, welches wir schon für ihn zu fühlen begannen, dadurch völlig erstickt wurde. Hätte er zu entfliehen versucht, es wäre uns nicht in den Sinn gekommen, ihn zu verfolgen. Er aber mochte wohl denken, daß eine Flucht, die bei seinem jammervollen Zustande eben keine schnelle sein konnte, gänzlich unnütz sei, da wir ihn sogleich würden eingeholt haben. So sah er sich denn unserer Willkür völlig anheimgegeben und mochte das Aergste befürchten.

Wir würdigten ihn keiner Antwort und überließen ihn und Bill, der nach dem betäubenden Schlage noch immer nicht zur Besinnung gekommen war, ihrem Schicksale.

Wenige Stunden später hatten wir die Farm, das Ziel unserer Reise, erreicht; wir fanden dort eine herzliche Aufnahme. Nach einigen Tagen der Ruhe und Pflege, die Hugo's Zustand dringend erheischte, setzten wir in einem von zwei raschen Pferden gezogenen, großen und bequemen Schlitten unsere Reise fort und langten wohlbehalten in Boston an, ohne weitere Unfälle erlitten zu haben.«


Werner's Erzählung war von den Bemerkungen und Fragen der beiden Damen, namentlich der Madame Altmann sehr häufig unterbrochen worden. Nach sorgfältiger Prüfung des vor uns liegenden Manuskriptes haben wir indeß die Ueberzeugung gewonnen, daß jene Bemerkungen für den Leser wenig Interesse bieten würden, und was die Fragen betrifft, so müssen wir sie mit der uns als Autor obliegenden Unparteilichkeit fast alle für solche erklären, die nur aus der Mangelhaftigkeit geographischer Kenntnisse hervorgehen konnten, wie z. B.: ob der Winter denn drüben in Amerika auch so strenge wäre und ob der Ontariosee ein Binnenwasser sei.

Der geneigte Leser wird es uns daher Dank wissen, daß wir die kleine Erzählung ohne jene Unterbrechungen wiedergegeben haben.

Madame Altmann glich nicht nur darin dem Kalifen, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte und der uns leider auch entfallen ist, daß sie sich gern erzählen ließ, sie hatte mit ihm auch die Eigenschaft gemein – wir wünschen sie auch dem Leser – jedesmal, sobald eine Erzählung beendigt war, derselben ihr volles Lob zu spenden. Bei der jetzigen Gelegenheit zeigte sich die gute alte Dame äußerst befriedigt; sie war über die männliche Kraft und Entschlossenheit ihres Neffen Hugo entzückt, nannte ihn einen braven Jungen und versicherte, daß sie ihm, als er noch ein Knabe war und so viele lustige Streiche verübte, ein günstiges Prognostikon gestellt und ihrem Vetter Lüders oft gesagt habe, daß aus seinem Pflegesohne noch etwas Rechtes werden würde.

Die Napoleons-Patience war nun auch glücklich aufgegangen, indem nämlich ein Trefle-Bube, der lange gar nicht »wegzubringen« gewesen war, endlich durch einen kühnen Entschluß der Madame Altmann auf eine sehr einfache Art dadurch weggebracht wurde, daß sie ihn unter eine Carreau-Sieben schob. Napoleon selbst hätte die Frage nicht besser entscheiden können. So blieb für den Abend nichts weiter zu thun übrig, und da es schon spät war, sagte man sich gute Nacht. –



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