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Erich,« rief Joan und noch froher: »komm, wir sollen nach Hause.«
»So?« sagte Erich und sprang auf, »sind wir eingeladen?«
»Wenn Sie uns das Vergnügen machen wollen?« sagte Gerda.
»Herzlich gern,« sagte Erich und kam von der Bühne herunter und trank sein Glas aus, während die Tür geöffnet wurde und Frau Jespersen, von ihrem Mann gefolgt, hereinkam.
»Mein Mann möchte Ihnen auch gern danken,« sagte sie: »er wird es kurz machen.«
»Ja,« sagte der Pastor: »vielen Dank« (und er drückte Joans Hand). »So spielen Sie aber auch nicht alle Tage.«
»Nein, Herr Pastor, das ist wahr,« sagte Joan.
»Vielen Dank, Gerdachen,« sagte der Pastor und drückte auch ihr die Hand, während Frau Raabel, die die Bühnentür offen gesehen hatte, hereingeschlüpft kam, mit hektischer Röte auf den Wangen vor Begeisterung und mit feuchten Mundwinkeln.
»Unsere Erwartungen sind nicht enttäuscht worden,« sagte sie: »das war Weltkunst, Weltkunst.« Und sie behielt Joans Hände etwas reichlich lange in den ihren.
Der Doktor war ihr gefolgt und Kaufmann Johansen hielt dem Direktor und Herrn und Frau Lorentzen die Tür offen. Der ganze Raum war voll und alle dankten.
»Es war eine schöne Stunde,« sagte der Direktor: »die dänischen Töne taten wohl, die liegen uns doch am nächsten.«
»Ja, es waren Herzenstöne,« sagte Frau Lorentzen.
Graf Holstein winkte sich den Berliner heran:
»Zwei Flaschen,« sagte er und zeigte auf den Champagner.
Pastor Jespersen war vor ihm stehen geblieben:
»Sie sollten Ihre Gaben pflegen, Herr Graf.«
»Pflegen und pflegen, Herr Pastor.«
»Ich finde, es bereichert einen selbst,« sagte der Geistliche.
Frau Raabel aber sagte zu Joan und recht laut:
»Wir Musikleute dürfen wohl bekennen, daß wir Mendelssohn vorziehen ..!«
Doktor Raabel stand vor Herrn Lorentzen:
»Mein lieber Lorentzen,« sagte er, »ich habe die ganze Zeit nur eines denken müssen: das ist die Welt, dachte ich, die plötzlich über uns hereinbricht.«
Alle standen dicht beieinander und alle sprachen. Joan war ganz an die Wand zurückgetreten (während er beständig lächelte und zuhörte, ohne zu hören) und Frau Raabel, die ein unaufhörliches Verlangen hatte, seine Hände zu befühlen, sprach von Einzelheiten bei Mendelssohn, Einzelheiten, die der liebe Kapellmusikus allerdings anders wiedergegeben habe.
»Aber das ist natürlich nur Auffassungssache,« sagte sie.
Der Berliner hatte unten in der Wirtsstube Champagner bestellt, den Herr Jensen jetzt im Begriff war, nach oben zu bringen.
»Wer hat ihn bestellt?« schrie Olesen vom Schenktisch hinter ihm her.
»Der Graf,« rief Jensen.
»Welcher Graf?«
Herr Jensen aber war schon draußen.
»Wir schreiben ihn lieber dem Konzertgeber auf die Rechnung,« sagte Olesen zum Stubenmädchen, die zur Hilfe herbeigeholt worden war. Und einige Kunden, die rauchend vor dem Schenktisch saßen, lachten laut.
Graf Holstein schenkte ein:
»Herr Fabrikant.«
»Bitte Herr Direktor.« Der Direktor stand neben Herrn Haacke, der versicherte, daß die alten Melodien ihn tief gerührt hätten:
»Dänische Lieder,« sagte er, »alte dänische Lieder – nicht wahr?«
Frau Raabel, die auch ein Glas Champagner bekommen hatte, sagte zu Gerda, die neben ihrem Vater stand:
»Dank, Fräulein Johansen, tausend Dank – denn man muß sich ja bei Ihnen bedanken, leider. Das nächste Mal aber läßt der Musikverein es sich sicher nicht nehmen. Denn jetzt haben wir Mut gefaßt. Aber,« fuhr sie fort und lächelte Herrn Johansen zu, »nicht allen Händen gelingt es, alles, was sie anfassen, in Gold zu verwandeln.«
An allen Ecken und Enden wurde gesprochen. Man hörte den Direktor, der noch mit Herrn Haacke von den Volksliedern sprach. »Sie sind ja unser eigenstes Eigentum,« sagte er, »und ein Fremder kann wohl kaum ganz« – – da schlug der Doktor an sein Glas: »Er wolle hier an Ort und Stelle, auf dem Wahlplatz noch einmal …«
Der Doktor kam nicht weiter …
Es war der Uhrmacher, der die Treppe herunterpolterte.
»Ja, ich bins,« sagte er und ergriff ein Glas. »Vielen Dank,« rief er Joan zu, »es war prachtvoll … Aber Sie, Graf Holstein, Sie sind ein Held.«
Er hob sein Glas:
»Denn das war 'ne Kost, die uns allen schmeckte,« sagte er, während alle lachten, und Doktor Raabel wollte fortsetzen:
»Wollen wir also hier auf dem Wahlplatz noch einmal …«
»Auf Graf Holsteins Wohl trinken,« fiel Joan ein.
»Bravo, bravo,« rief Larsen.
»Ja, auf den Grafen,« sagte Gerda.
»Natürlich,« sagte Doktor Raabel, der so heftig an seiner Manschette zerrte, daß sie abriß, und Joan schwang sein Glas dreimal wie ein Ungar, der Eljen schreit: »Erich soll hoch leben,« rief er. Alle riefen hoch und stießen mit Graf Holstein an.
»Und nun noch ein Hurra,« rief Larsen, und sie riefen dreimal Hurra.
»Kinder, ich kann nie das Lied von Jungfer Else hören, ohne Tränen in die Augen zu kriegen,« sagte Larsen: »Prost, Herr Konzertgeber.«
Joan hielt sein Glas noch gegen Erichs.
»Ja, ja, du, Dank für den heutigen Tag,« sagte Erich.
Plötzlich ging es wie ein Beben über die Züge des Grafen, er schob die Lippen vor, bevor er trank:
»Denn siehst du, Josse, alleweil gibts ja keine Festtage – hierzulande.«
»Graf Holstein,« es war Frau Raabel, die mit ihrem Glas in der Hand herantrat: »es lag Musik darin … jetzt können Sie sich dem Musikverein nicht länger entziehen.«
Doktor Raabel, der die Flasche hochgehoben hatte, um zu sehen, ob noch was darin war, schenkte sich ein und sagte:
»Es war erstaunlich, ganz erstaunlich. Meine Frau sagte immerwährend: Das ist Musik, das ist wahre Musik.«
Frau Lorentzen, die am Tisch stand, sagte plötzlich zu Frau Raabel hinüber, indem sie langsam und freundlich auf die Hyazinthen zeigte:
»Das sind Fräulein Luckows Hyazinthen … ich erkenne sie an der Farbe.«
»Ja, Frau Lorentzen,« antwortete Frau Raabel, die gerührt schien, »das war Fräulein Luckows letzte Freundschaftsgabe für ihren Arzt. Und jetzt haben sie bei einem kleinen Gelage schmücken helfen, wie ich gehört habe,« fügte sie hinzu und wandte sich an Gerda, die die Blumen hastig aus Herrn Olesens Kühler herausfischte.
»Wollen wir nun nach Hause gehen,« schlug Kaufmann Johansen vor, der lange nichts gesagt hatte.
»Ja,« sagte Joan, »wir wollen nach Hause.«
Die anderen gingen im voraus durch den Saal.
»Hier ist es dunkel,« flüsterte Joan, »nehmen Sie sich in acht.« Und er stieß gegen die Bänke.
»Ich kenn mich hier aus,« sagte Gerda.
»Hier ist eine Bank! …« Und er streckte den Arm aus, als wolle er sie führen.
»Ich halte mich an der Wand.«
»Wo seid ihr?« rief Holstein hinter ihnen.
»Hier,« sagte Joan.
»Warum hat der Kerl denn das Licht ausgemacht,« fluchte Erich.
»Weil es jetzt vorbei ist,« sagte Gerda, die ihre Augen geschlossen hatte.
Joan aber flüsterte neben ihr in der Dunkelheit:
»Nein.«
Er wußte nicht, ob sie es gehört hatte, und ihr Gesicht konnte er nicht sehen.
»Habt ihr die Blumen mitgenommen?« fragte Erich hinter ihnen.
»Ja,« sagte Joan und preßte die Orchideen fester in seiner Hand.
»Woher haben Sie die schönen Blumen?« fragte Joan durch die Dunkelheit.
»Aus Veile.«
»Sie bekommen alles aus Veile.«
»Ja.«
Und plötzlich mit veränderter Stimme, und leise, sagte sie: »Nun ist der Geburtstag Ihrer Mutter bald vorbei.«
»Ja.«
Sie waren dicht an der Tür.
»Wer ist das?« fragte Joan, der eine Männerschulter berührt hatte.
»Der Geschäftsführer!« antwortete eine Stimme, »Kaufmann Johansen schickt mich, um Ihnen den Weg zu zeigen.«
Er entzündete ein Streichholz:
»Hier sind zwei Stufen,« sagte er, und der Schein des Streichholzes fiel auf die drei Gesichter.
»Danke,« sagte Joan und Fräulein Gerda folgte.
Frau Jespersen stand noch draußen, wo es hell war, und zog ihren Mantel an.
»Aber wo ist Herr Haacke?« fragte Gerda plötzlich und sah sich um, als habe das Licht sie wieder zur Wirtin gemacht.
»Ih, den hat Frau Raabel eingeladen.«
»Nach Hause zu sich?« fragte Erich und lachte, während er in seinen Paletotärmel schlüpfte.
»Nein,« sagte Frau Jespersen, die ebenso wie er lachte, »zu Johansens.«
Sie kamen in den Hof hinaus, wo Herren und Damen zwischen den Wagen umherliefen, während die Pferde stampften.
»Guten Abend, Frau Jespersen,« rief eine Damenstimme von einem Wagen; »o, wie war es …«
Und die Dame hielt inne, als sie Joan sah.
Frau Jespersen lachte. »Ja,« sagte sie, »nun kommt die Kehrseite von dem Vergnügen. Jetzt müssen diese Leute meilenweit über Land fahren.«
»Die Ärmsten,« sagte Joan.
»O nein,« sagte die Pastorsfrau, und als ob sie eine ganze Gedankenreihe durchlaufen hätte, fügte sie hinzu:
»Künstler sind eigentlich undankbar.«
»Wieso?«
»Es muß doch ein wahrer Segen sein, anderen so viel Freude geben zu können.«
Es ging wie ein Aufleuchten über Joans Gesicht, und er wandte sich um:
»Fräulein Gerda, wo sind Sie?«
»Hier,« sagte Gerda, die dem Geschäftsführer Bescheid gegeben hatte, welche Sorte Wein für die Herren aus dem Keller geholt werden solle.
Sie kamen auf die Straße hinaus. Die Fenster im »Hotel Dänemark« waren weit geöffnet, so daß die Stimmen hinausdrangen. Die Töne eines Klaviers klangen aus einem hinteren Zimmer.
Joan war stehen geblieben, als man dort oben zu singen anfing:
Wißt ihr die Nacht noch, bevor aus der Burg
wir zogen dem Feinde entgegen,
alles war still, nur die Mitternacht
erscholl laut in wuchtigen Schlägen.
Da rief er: »Kinder, frischauf zur Schlacht,
Um in Kolding zu sein vor der nächsten Nacht.«
Wir hatten gesiegt, eh der Tag sich neigte,
Das Ziel jedoch keiner von uns erreichte.
Denn auf der Wahlstatt schläft Olaf Rye.
»Was singen sie?« fragte Joan, der zwischen Gerda und Frau Jespersen stand.
»Das ist das Lied vom General Olaf Rye,« antwortete Frau Jespersen, »das singen sie immer – die von der anderen Seite der Grenze.«
»Ist er gefallen?«
»Ja.«
Oben wurde der Vers wiederholt, während die drei auf der Straße stehen blieben.
»Wie sind die Worte?« fragte Joan.
Frau Jespersen sagte sie:
Wir hatten gesiegt, eh der Tag sich neigte,
Das Ziel jedoch keiner von uns erreichte.
Denn auf der Wahlstatt schläft Olaf Rye.
»Seht die Sterne,« sagte sie und legte ihren Kopf in den Nacken, »wie viele!«
»Ja,« sagt« Gerda, und ihre feuchten Augen sahen sie nicht.
Sie blieben eine Weile schweigend stehen. Dann sagte Joan, vielleicht nur um etwas zu sagen:
»Wie hell der eine leuchtet.«
»Ja,« sagte Frau Jespersen, und sie standen alle mit aufwärtsgewandten Gesichtern: »das ist die Venus.«
»Ja«,« sagten Gerda und Joan zu gleicher Zeit.
»Nie habe ich die Sterne so schön wie am Bosporus gesehen,« sagte Joan sehr leise.
»Sie sind auch überall gewesen,« sagte Frau Jespersen, die noch immer nach oben blickte.
»Ja …,« und Joan lächelte, »aber jetzt will ich zu Hause bleiben.«
»Zu Hause?« Gerda hatte ihren Kopf gewandt: »weshalb?«
»Weil ich jetzt alle Menschen glücklich machen will,« sagte Joan und sah sie an.
»Kann man Menschen glücklich machen?«
Ein Mann, dessen Schritte hinter ihnen geklungen hatten, strich jetzt hinkend an ihnen vorbei.
»Ich geh zu Ihnen, Fräulein Johansen,« sagte er, »obgleich man mich nicht aufgefordert hat. Aber ich weiß, daß ich Ihrem Vater immer willkommen bin.«
»Ja,« sagte Gerda, die zusammengefahren war, »wir anderen kommen auch.«
Der Hinkende ging weiter, auf Johansens Tür zu.
»Wer ist das?« fragte Joan und sah der buckligen Gestalt nach.
»Das ist der Magister,« antwortete Gerda, die schneller ausschritt.
Joan aber sagte und sah zu Johansens Fenster hinauf:
»Wenn nur nicht so viele da wären.«
»Es sind aber viele da,« sagte Gerda ebenso leise.
Vielleicht glaubten sie, daß Frau Jespersen es nicht gehört hatte, sie aber sagte mit ihrer vollen Stimme:
»Ja, die ganze Gegend ist da. Von der kommt man hier nicht los, Graf Ujhazy.«
Sie traten in den Hauseingang und am Fuß der Treppe sagte Gerda (als ob alle Befürchtungen für den heutigen Abend ihr hier auf der ersten Stufe wieder entgegenkamen), und sie atmete tief auf:
»Sie sind doch alle gekommen, Gott sei Dank«
»Wieso alle?« fragte Joan, der stehen blieb.
»Wir wußten ja nicht,« und Gerda schüttelte den Kopf, »ob die vom Musikverein kommen würden, weil das Konzert nicht dort stattfinden sollte.«
»Wieviel Sie zu bedenken gehabt haben,« sagte Joan.
»Ja,« lächelte Gerda.
Während sie die Treppe hinaufstiegen, sagte er:
»Aber ist es nun auch so gewesen – wie Sie sichs gedacht haben?«
Gerda zögerte:
»Es war anders,« sagte sie, und die Worte stolperten übereinander.
»Aber,« sagte sie, und sie sprach atemlos vor Bewegung oder wegen eines Gefühls, das sie selbst kaum kannte und doch bekämpfte: »aber ich werde es vielleicht erst – in vierzehn Tagen wissen.«
»In vierzehn Tagen?« und Joan lachte ganz still.
»Ja,« sagte Gerda ebenso wie vorhin, »ich meine, … man weiß doch nie, wie etwas war, bevor mans recht durchdacht hat.«
Joan aber sagte, und jedes Wort kam hastig aber deutlich:
»Man weiß aber doch, was geschehen ist.«
Seine Lippen öffneten sich bei seinen starken Atemzügen.
»Ich nicht – – glaube ich,« sagte Gerda, und sie standen vor der Tür.
»Na, Gott sei Dank, das hat geholfen,« sagte Frau Jespersen.
Alle Stuben waren gelüftet, und die Herren saßen bereits bei ihren Erfrischungen. Es war, als ob sie verschnauften und sich reckten und stiller geworden waren.
»Wollen Sie nicht etwas ruhen?« fragte Frau Jespersen.
»Nein, danke,« sagte Joan wie jemand, dessen Gedanken anderwärts waren, und plötzlich sah er alle Gesichter um sich her:
»Hier sind mehr als vorhin.«
»Nein,« sagte Frau Jespersen (deren Blick über die Zimmer schweifte, wo die Damen, die sich zurechtgemacht hatten, gerade hereintraten): »es sind ganz dieselben wie vorhin.«
Sie gingen in Johansens Zimmer, wo niemand war.
»Hier ists still,« sagte Joan und ließ seinen Blick unwillkürlich über die alten und starken Möbel schweifen.
»Ja,« sagte Frau Jespersen, »hier steht der Geldschrank der ganzen Gegend. Und das ist Karen Posts Sofa,« fuhr sie fort und zeigte darauf.
Sie trat ans Fenster. Vom Wirtshaus tönten noch immer Stimmen und Gesang herüber. Noch rollte ein vereinzelter Wagen fort. Die Insassen saßen schweigend auf dem Wagenstuhl.
Frau Jespersen sagte zu Joan, der neben ihr stand:
»Jetzt sitzen sie da und überdenken die Sache.«
»Denken vierzehn Tage,« sagte Joan und Frau Jespersen verstand nicht seinen Tonfall.
»Ach ja, so ein Abend bringt frischen Wind ins Land.«
Joan, der eine Unruhe in seinem Wesen bezwang, sagte:
»Aber ich finde, daß die Leute sich hier doch für alles interessieren.«
»Ja,« sagte Frau Jespersen und sie zog mit ihren Fingern gleichsam einen Kreis auf dem Fensterkreuz: »für all so was. Für Gerda aber ist es eine herrliche Abwechslung gewesen,« sagte sie und sah vor sich hin; »sie kanns auch gebrauchen, denn hier im Hause ist es viel zu einförmig für sie, seit das Unglück geschah.«
»Das Unglück geschah?«
»Ja, seit Emilie sich das Leben nahm.«
»Die Schwester? Hat sich das Leben genommen?«
Frau Jespersen wandte sich um:
»Wußten Sie das nicht … ach, nein, woher sollten Sie es wissen …«
»Aber,« fuhr sie fort und sie sprach sehr langsam: »Gerda ist viel für ihren Vater geworden und sie versteht es, all das Harte in seiner Natur zu dämpfen. Und mein Mann und ich – ach, ich wüßte manchmal nicht, wie ich den Humor aufrechthalten sollte, wenn wir Gerda nicht hätten. So schön es hier auch ist, meines Mannes Stellung ist doch recht schwierig hier in der Gegend.«
Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann, während ihre Gedanken wieder bei Gerda weilten:
»Möchte sie nur glücklicher werden als die anderen Kinder des Hauses! Bist dus, Gerda?« Frau Jespersen wandte sich um.
Fräulein Gerda stand auf der Türschwelle und spritzte mit ihrem Fläschchen.
»Du mit deinem Spritzen, Gerda,« lachte Frau Jespersen.
Joan aber hielt ihr seine Hände entgegen:
»Geben Sie mir ein wenig.«
Gerda kam langsam näher und spritzte Eau de Cologne auf seine Hände.
»Nein, spritz ihm doch ins Gesicht,« sagte Frau Jespersen, »sonst spürt man es ja gar nicht.«
Gerda hob die Flasche und der feine Regen fiel über Joans Wangen.
»Danke, danke,« sagte er und blickte in ihr kleines Gesicht.
»O, o, es brennt in den Augen,« rief er und rieb sie mit den feuchten Händen, daß sie noch mehr schmerzten.
»Das schadet nichts,« lachte Frau Jespersen, »nachher werden sie desto klarer.«
»Bravo!« rief Graf Holstein von der Tür aus, »veranlassen Sie ihn nur, daß er die Augen ordentlich aufmacht, Fräulein Johansen. Alle Ujhazys haben halbgeschlossene Augen.«
»Und in Fräulein Gerdas Familie haben alle große Augen,« sagte Joan, und es war, als wolle seine Stimme sie festhalten, indem sie hinausging.
Erich und Joan blieben allein am Fenster zurück.
Dann sagte Joan, der mit der Hand das Fensterkreuz umfaßte:
»Was war eigentlich – du – mit Fräulein Gerdas Schwester?«
»Mit ihrer Schwester … sie ging ins Wasser. Ich glaube in Espergärde – so heißt ein Ort bei Kopenhagen.«
»Ja – – aber weshalb ging sie ins Wasser?«
»Ich weiß nicht. Es war nichts Schlimmes passiert. Aber sie hatte es durchgesetzt, daß sie studieren durfte. Und nachdem sie ihr Abiturium gemacht hatte und weiterstudieren sollte, sagte man, daß es ihr an Mut fehlte.«
»Und da nahm sie sich das Leben,« sagte Joan langsam.
»Ja,« sagte Erich, »sie ging ins Wasser.«
Erich schwieg einen Augenblick:
»Ja, es war sehr traurig. Für Johansen aber war es so eine Art Strafe – obgleich er schon mit dem Sohn genug gestraft sein mochte. Na –« und Erich blickte auf die Straße hinaus – »wer hat nicht schon daran gedacht, sich das Leben zu nehmen – – wenn man so eines Tages übers Wasser blickt … und übers Leben.«
Joan hatte kaum zugehört, weil er einen anderen Gedankengang verfolgte:
»Arme kleine Gerda,« flüsterte er. Und er machte einige Schritte, als müsse er zu ihr gehen.
»Na,« sagte Erich, der ihm gefolgt war, »sie soll ja nicht ins Examen, über ihr Leben ist wohl entschieden.«
Es ging wie ein Schein über Joans Gesicht.
»So, jetzt bist du gefangen,« flüsterte Erich. Denn in der Tür stießen sie gerade mit Frau Raabel zusammen.
»Ach, wie schön kühl ists hier drinnen,« sagte sie.
»Ja, hier ist Luft,« sagte Erich und drückte sich vorbei.
»Ach ja,« sagte Frau Raabel: »es ist, als ob das Blut einem zu Kopfe stiege bei den vielen Gedanken, die unwillkürlich in einem geweckt werden – an einem solchen Abend.«
»Sie haben selbst Musik studiert, gnädige Frau?« sagte Joan, dessen Augen suchend durch die Zimmer schweiften.
»Ja,« sagte Frau Raabel, »in Leipzig – zwei Jahre. Ach, das war eine herrliche Zeit – da hoffte man noch. Aber es gehört leider auch Glück dazu, selbst wenn man die Gabe hat. Beethoven war mein Großmeister. Und wenn man nicht zu denen gehört, die Konzessionen machen wollen, und wenn man in einem kleinen Lande wohnt, wo viele sich berufen fühlen und die Unberufenen sich bisweilen am meisten vordrängen, dann wird man übergangen.«
»Ja, ja, das mag sein,« sagte Joan zu Frau Raabel, die wie jemand sprach, der lange gewartet hat.
»Und die Gabe ist schließlich daß wenigste,« fuhr sie fort. »Ich konzertierte natürlich auch einige Male … aber schließlich sagt man sich selbst, wenn man keine Konzessionen machen will: verschließe es lieber in deinem Inneren, sagt man, wie dein teures Eigentum … Aber natürlich, bisweilen, wenn man andere hört – Sie, der Sie so viel sogenannte Musik gehört haben, werden mich verstehen, dann denkt man bei sich und es nagt an einem: Ja, die Wege im Leben sind oft sonderbar.«
»Ja,« sagte Joan ( dort sprach Gerda mit Erich): »das Leben führt uns oft sonderbar.«
»Ja,« sagte Frau Raabel und wurde bei Joans Tonfall gleichsam inniger: »das Leben hat Netze … es hat Netze, in denen wir hängen bleiben … das können Sie aber wohl nicht verstehen, denn Sie gehören natürlich zu denen, mit denen das Leben es gut meint. Das konnte man heut abend aus Ihrer Musik heraushören, Herr Graf … denn das Ohr, das hat man sich doch glücklicherweise bewahrt.«
Frau Raabel hielt inne, als wolle sie eine Anerkennung für ihr Ohr haben …
»Aber,« fuhr sie fort, während sie unablässig ihren Kopf hin- und herbewegte, als ob Fliegen ihre Schläfen plagten: »Dann heiratete ich … Für mich ist es besonders schwer gewesen zu wählen, weil ich eine doppelte Gabe besitze, indem ich ja auch male. Bisweilen erwachte ich in der Nacht und dann rief Beethoven mich – – kennen Sie das – ach ja, Sie kennen es gewiß, wenn man so von einem Satz verfolgt wird und ihn nicht loswerden kann … Aber,« fuhr sie fort und ihre Gedanken sprangen wieder zu etwas anderem über: »mein Vater sagte häufig und, Gott, vielleicht hatte er recht, du rennst vom einen zum anderen, mein Kind, weil du den Sprung nicht wagst …«
»Wagen ist alles,« sagte Joan.
»Ja,« sagte Frau Raabel.
»Nun bin ich ja verheiratet,« fing Frau Raabel wieder an, »und wir gehen in den gemeinsamen Interessen auf, denn die haben wir, Gott sei dank.«
»Ja,« sagte Joan (Gerda stand jetzt beim Klavier, wo Erich sich gesetzt hatte).
»Und dann haben wir ja den Musikverein gegründet, auch meines Mannes wegen, denn die Zeiten sind schlecht für Ärzte. Aber leider haben wir ja heute abend nicht die Ehre gehabt, wir wagten es nicht, da die Verhältnisse so klein sind, und außerdem, das muß man sagen, für das kleine Fräulein Johansen war es ja kaum ein Risiko. Wenn Johansens so etwas in die Hand nehmen, fühlen sich ja viele gezwungen mitzumachen, leider – das liegt so in den Verhältnissen – wo der Geldschrank steht und die Pfandverschreibungen aufbewahrt werden, da ist auch die Macht, wenn andere auch die Gabe und den Willen haben.«
Frau Raabels Stimme hatte etwas schärfer geklungen.
»Aber ich rede und rede,« sagte sie und veränderte den Ton, »und lege Beschlag auf Sie und errege wohl nur Neid, weil ich von dem großen Mann und dem Held des Tages so freundlich angehört werde (und Frau Raabel drückte gerührt und für alle sichtbar Joans Hände) … Sie werden mich verstehen: wenn man hier lebt, bekommt man das brennende Verlangen nach einer gleichgestimmten Seele … Ja,« sagte sie, »an Verständnis fehlt es hier und das macht einen manch liebes Mal mutlos im Verein … denn wo kein Verständnis ist, für die Werte, meine ich, die wahren Musikwerte, Sie verstehen, da kann man ja unmöglich zusammenhalten. Und hier in der Gegend … von der Hochschule und denen können wir nichts erwarten. Sie haben ja ihre Lieder gehört – lassen Sie mich davon schweigen … Diese Leute interessieren sich ja nur dafür (Frau Raabel machte mit ihrem handgemalten Fächer einen dicken Grenzstrich durch die Luft) und was über Hartmann hinausgeht, ist vom Übel. Teurer Meister, Sie verstehen, Wagner zu lieben und zwischen Menschen zu leben, die nicht mal bis Beethoven gekommen sind.«
Joan hatte sich gegen den Türpfosten gelehnt. Erich saß noch vorm Klavier, wo Gerda mit »Weyse« in den Händen stand.
Frau Raabel, die einen Augenblick geschwiegen hatte, sagte:
»Man sitzt mit seiner Gabe da – man sitzt da und vertrocknet …«
Erich fing an zu spielen. Es war das Lied vom Ritter Aage und plötzlich bekam Frau Raabel rote Flecken auf den Backenknochen:
»Und heute abend, ich leugne es nicht, vibrierten meine Finger, als Graf Holstein sich auf dem Klavier versuchte. Es war ja ganz hübsch und man konnte wohl nicht mehr verlangen … Die Hände aber sind nur schwach – – selbst wenn Graf Holstein auch etwas Talent hat – gehabt hat …«
Erich spielte noch immer:
Freite um Jungfer Else,
sie war solch holde Maid.
»Aber ich konnte mich ja des Gedankens nicht erwehren, Sie verstehen, Meister, des Gedankens: nur einmal selbst die Freude zu haben …«
Joan hatte drei Schritte gemacht:
Und einen Monat später
da war er kalt und tot.
Frau Raabel war Joans Blick zum Klavier gefolgt und hatte wahrscheinlich sein Lächeln mißverstanden, denn sie sagte, indem sie von Graf Holstein sprach, der dem Verein und ihrem Beethoven gegenüber eine scharfe Zunge hatte:
»Ja, ja,« sagte sie und lächelte verständnisinnig, »es gibt viele Träumer hierzulande und wenn sie halbwegs aus ihren Träumen erwachen, reiben sie sich die Augen und meinen, daß sie Kritiker sind.«
»Ja, gewiß, gnädige Frau, sie sind Kritiker,« sagte Joan plötzlich und ging davon, während Frau Raabel mit ihrem wackelnden Kopf stehen blieb, als habe sie einen Wasserstrahl ins Gesicht bekommen.
Drinnen in den Zimmern unterhielt man sich in Gruppen. Der Direktor, der neben Frau Lorentzen und den beiden nordschleswigschen Frauen gestanden hatte, setzte sich in Tante Anes Stuhl – einen hohen Lehnstuhl mit Heupolsterung und gewebtem Stoff – und sagte:
»Das ist ein Stuhl für mich. Unsereins zieht die harten Sitze vor.«
Und er erzählte von der Tischlerschule, in der ein fröhliches Fortkommen zu spüren sei.
»Ja,« sagte er, »wir kommen nur Schritt für Schritt vorwärts, aber unser Tannenholz mit den alten Mustern gewinnt überall Anklang. Wir haben die Freude, daß unsere hübschen Möbel in vielen Häusern und Gutshöfen im ganzen Lande zu finden sind – – und das mahnt, das ist eben der Kern, er mahnt und belohnt dadurch unser Streben …«
Joan war glücklich an Frau Lorentzen vorbeigekommen, als Pastor Jespersen ihn aufhielt:
»Na, endlich sind Sie losgekommen. Meine Frau schickt mich nämlich, damit ich sie von der »Gabe« befreie.«
Joan lächelte, vielleicht etwas geistesabwesend, plötzlich aber sagte er und ging auf eine Fensternische zu:
»Ihre Frau ist so liebenswürdig – – und wie gut, daß Fräulein Gerda sie gehabt hat.«
Der Kaplan sah ihn einen Augenblick an.
»Ja,« sagte er, »die beiden helfen einander. Man ist auf seine gegenseitige Hilfe angewiesen, Herr Graf. Hier jedenfalls gibt's genug zu tragen – und trügen meine Frau und ich es nicht gemeinsam, dann wäre ich schon lange nicht mehr hier. Aber wenn man zu zweien ist, kann man viel aushalten. Darin liegt ja der große Segen.«
»Das mag wohl sein,« sagte Joan still.
»Teilen heißt Frieden finden,« fuhr der Pastor fort.
»Ja,« sagte Joan und war wieder im Begriff, zum Klavier zu gehen, als der kleine Hinkende seinen Kopf zwischen ihn und Pastor Jespersen schob:
»Die Herren sprechen?« sagte er quakend.
»Von den Kümmernissen des Lebens, Herr Magister.«
»Hm,« sagte der Magister, »dieses Thema ist reichhaltig und hier in der Gegend mannigfach. Aber das ist doch nichts für einen Touristen. Graf Ujhazy, bewahren Sie lieber Ihre Touristeneindrücke über die Weiden des Landes und die Kultur des Volkes … Aber darf ich Ihnen danken. Ich bin nicht musikalisch, aber dank Ihrer Violine schien mir eine Stunde lang die Welt golden und alte Träume wurden wieder in mir wach.«
Joan hob den Kopf.
»Ja, ja, lieber Herr,« sagte der Magister, »Träume sind nicht viel wert. Aber was wir geträumt haben, das kann uns doch niemand nehmen.«
Joan, der einen ganz anderen Gedankengang verfolgte, sagte:
»Dies ist meine letzte Konzerttournee.«
»Ich habe gehört,« sagte der Pastor, »daß Sie nicht mehr spielen wollen.«
»Und weshalb nicht?« fragte der Magister.
Joan sah zum Klavier hinüber:
»Weil ich glaube, daß ich jetzt handeln muß.«
Der Magister blickte durchs Zimmer:
»Welcher Partei wollen Sie beitreten, wenn man fragen darf?« sagte er und drehte sich auf seinem hinkenden Fuß um.
Erich schlug leise Akkorde an, während er noch immer mit Gerda von Joan sprach:
»Nein, in alten Tagen war er nicht so heiter … da war er meistens traurig und verschlossen. Er hatte wohl kein rechtes Heim dort auf der Insel gehabt. Denn die Mutter war ja tot, und ich glaube, daß sie nicht sehr glücklich gewesen ist.«
Gerda sagte hastig: »Sie war nicht sehr glücklich?«
»Tja – ich weiß nicht. Sie war ja aus Veile,« sagte Graf Holstein, als ob er damit eine Erklärung abgäbe.
Und kurz darauf fügte er hinzu, während er aufs Klavier blickte:
»Meine Frau ist nur aus Lauenburg, Fräulein Johansen. – Ich glaube« – und er schlug wieder Akkorde an – »daß die Liebe ein Exportartikel ist, der sich nicht dafür eignet, Grenzen zu passieren.«
Gerda hatte den Kopf gegen das Klavier gestützt, während Erich fortfuhr zu spielen:
»Und dann hat er in all den fremden Ländern gelebt,« sagte sie langsam.
»Ja,« sagte Holstein und drehte sich auf dem Klavierbock um.
»Guten Abend, Herr Magister,« nickte er dem Hinkenden zu; »Fräulein Johansen und ich philosophieren über das, was Menschen erst hinterher wissen.«
»He,« sagte der Magister, »alles weiß man erst hinterher … Wir reden und wissen selbst nicht, aus welchem Winkel der Seele es kommt. Und die Worte, die wir sagen, führen uns immer weiter – einen Schritt weiter einem Ziel entgegen, über was wir uns selbst nicht klar sind …«
»Da haben Sie übrigens recht,« sagte Erich, »das ganze ist wie eine undurchforschbare Dämmerung.«
»Ja,« sagte der Magister, »und die Menschen stoßen zusammen oder laufen aneinander vorbei. Was sagen Sie, Fräulein Johansen?«
»Nichts,« antwortete sie und schüttelte den Kopf. Als der Magister aber davonhinkte, sagte sie und mochte wohl an nichts anderes als an diese Worte gedacht haben:
»Wenn er nun hierbliebe?«
»Wer, ach so – Joan?«
Graf Erich schob die Lippen vor: »Finden Sie wirklich, daß es sich hier so schön lebt – für die, die dazu geboren sind, hier zu leben?«
Im selben Augenblick drehte er sich zu Joan um, der auf sie zukam, und sagte lachend:
»Fräulein Gerda sagt, sie findet, du solltest hierbleiben.«
Und er stand auf.
Ein heller Schein strömte aus Joans Augen, während er sagte:
»Aber hier ist ja nicht mein Platz.«
Gerda hatte ihren Kopf gesenkt.
»Ich muß nach Hause reisen,« sagte Joan und hastig flog es ihm aus dem Munde:
»Aber Dänemark nehme ich mit mir.«
»Das ist recht,« sagte Erich.
Sie sprachen miteinander und Joan wußte kaum, wovon – er hörte nur Erichs und ihre Stimme.
»Wo gehen Sie hin, Fräulein Gerda?« fragte er.
»Ich bin ja Haustochter,« sagte Gerda und versuchte zu lächeln.
»Warum war Fräulein Gerda traurig?« fragte Joan, als sie fort war.
»Ich weiß nicht,« sagte Erich, »aber mich dünkt, wir schwanken heute alle auf und nieder, als wären wir Quecksilber bei einem Erdbeben. – Komm. Wir wollen uns etwas Trinkbares verschaffen … Wo sind die sehr geehrten Flaschen zu finden?« wandte er sich an den Doktor, den er fliehen wollte.
»Hier im Hause,« sagte der Doktor, »sind sie sowohl in der ersten Etage wie im Keller zu finden.« Und er lachte über seinen eigenen Witz.
Als aber Graf Holstein gegangen war, sagte Doktor Raabel so rasch, als griffe er zu, um einen Zahn auszuziehen:
»Sie haben mit Madame gesprochen, Herr Graf – ja, sie hatte ein brennendes Verlangen danach. Na, amüsant ist es ja nicht – und besonders nicht für Madame. Jeder muß diese Bauern nach seinem Temperament zu nehmen verstehen – nicht wahr? Und ich bin glücklicherweise Kopenhagener aus einem Jahrgang, der gelernt hat, alles von der komischen Seite zu nehmen. Und wenn man sich überhaupt entschließt, lieber Herr, in der Institution, die sich Ehe nennt, auszuhalten – hier in der Gegend gibt's übrigens nicht viele, die des Aufrechthaltens wert sind – na, was ich sagen wollte, wenn man einmal drinbleiben muß, nicht wahr, so sind die gemeinsamen Interessen ja immerhin ein Bindeglied … was das andre anbelangt, so kann man als Mann ja nachhelfen, nicht wahr?
Aber andererseits,« hastete Doktor Raabel weiter, während eine gewisse Bedenklichkeit in seine Stimme kam, »andererseits, lieber Herr, wenn so ein Talent wie Madames brachliegt, das nagt ja und verdirbt die Laune, nicht wahr? Mancher findet sich ja hinein … na, Madame hat Ihnen das wohl beredter geschildert …
Ich war für die Opéra comique bestimmt,« platzte es aus ihm heraus. »Kleine Stimme,« sagte er: »aber man sagte mir: schauspielerische Begabung. Aber meine Familie war dagegen … na, Madame hat Ihnen wohl erzählt. Kurz gesagt – ich wurde Arzt.«
Doktor Raabel schob die Lippen vor:
»Hier in dieser Gegend.«
»Besten Dank,« sagte er zur Tante, die Wein herumreichte. Als Joan kein Glas nahm, fügte er mit einem vertraulichen Kopfnicken hinzu (Doktor Raabel war überhaupt ein vertraulicher Mann, der andere und sich selbst wie einen Eingeweihten anredete):
»Hier im Hause soll man nehmen, was einem aus dem hintersten Keller geboten wird.« Und er kehrte zu seinem auf- und niederwogenden Gedankengang zurück und fuhr von seinem ärztlichen Beruf fort:
»Na, wer weiß, wozu es gut war? Lieber Herr, ein kleines Land mit einer großen Hauptstadt und einer merkwürdigen Kultur – einer Kultur, die bis zu einem gewissen Grade über das ganze Land geht, denn dieses Gebrechen (und der Doktor machte eine Kopfbewegung zum Direktor hin) ist wohl auch so eine Art Kultur – ein Land wie dieses wird, kurzgesagt, eine Art Treibhaus. Viele Begabungen, sehen Sie, die zu einer gewissen Höhe hinaufgetrieben werden – eine gewisse Höhe, nicht wahr, und dann nicht weiter. Kritisieren aber können alle und das Resultat, lieber Herr – schweigen wir davon … Aber in einer Ehe … man kennt doch sich selbst, nicht wahr? etwas sozusagen »Verkanntes« bleibt doch immer nach – und zwei Unzufriedene in einer Ehe – schweigen wir davon …
Haben Sie eine glückliche Ehe gesehen?
Ich nicht, Bester,« antwortete der Doktor sich selbst.
»Na, glücklicherweise steht man über den Dingen,« sagte er und trank.
»Aber,« – und wieder sprangen Doktor Raabels Gedanken zu einem anderen Gegenstand über – : »Es war ja bedauerlich für Madame, daß sie nicht die Ehre hatte, mit der »Berühmtheit« zu spielen. Nicht, daß ich Graf Holstein herabsetzen will, das wäre Sünde. Der hat schon genug des Verdrusses – die Gräfin in Potsdam und der »Giftmischer« hier – ich danke …«
Joan sah, wie Fräulein Gerda drinnen auf dem Tisch, auf dem wieder ein Tischtuch lag, Schüsseln herumstellte.
»Sie ist reizend,« sagte der Doktor plötzlich: »und sehr sympathisch. Madame und ich haben uns viel Mühe gegeben, sie in unseren Kreis zu ziehen, wo doch Interessen gepflegt werden. Aber ich weiß nicht, lieber Herr, wenn man mit dem Mädel spricht, ist es, als werfe man feine Worte in einen Brunnen.«
»Das ist wahr,« sagte Joan und sah hastig zu dem Arzt auf.
»Ja, nicht? Sie haben denselben Eindruck empfangen. Überhaupt eine sonderbare Familie – na, ich bin nicht ihr Arzt … ich bin aus Kopenhagen …«
Herr Raabel stieß den Rauch seiner Zigarette durch die Nase und sagte:
»Wollen wir zu den anderen gehen?«
Joan ging ins Eßzimmer.
Die Gesellschaft saß essend hemm, mit Tellern im Schoß, oder sie standen in den Fensternischen, während Gerda und die Tante Schüsseln herumreichten. Graf Holstein stand auf der Türschwelle und balanzierte einen Teller mit Salat.
Die beiden nordschleswigschen Frauen ließen über ihre Teller hinweg ihre scharfen Blicke über die Zimmer und die Einrichtung schweifen, und die eine sagte zu Frau Lorentzen:
»'s gibt mancherlei Sitten im Königreich Dänemark.«
Frau Lorentzen, die langsam aß, weil es ihre Gewohnheit war, das Essen in anderer Leute Häuser mit Nachdenken zu kosten, sagte:
»Sie wollten gern so viele wie möglich bei sich sehen, aber freilich bei uns in der Fabrik halten wir auch darauf, daß alle im Kreis um einen Tisch sitzen …«
»Bei uns auch,« sagte die andere nordschleswigsche Frau und fügte hinzu: »in der dänischen Bevölkerung.«
Der Direktor aber, dem Kandidat Ussing eine frische Schüssel reichte, sagte:
»Fremde Gäste werden mit fremden Sitten gefeiert.«
Johansen, der langsam von einem zum anderen ging, redete Joan an:
»Sie müssen für sich selbst sorgen, Herr Graf.«
»Ja freilich, Sie müssen zugreifen,« sagte der Uhrmacher, der sich geschäftig fortkugelte, um Joan einen Teller zu holen. »He, Gerda, der Herr Konzertgeber hat nichts, und der hat's doch am meisten verdient.«
Fräulein Gerda brachte eine Schüssel und stand vor Joan.
»Was sind Sie für ein tüchtiges Hausmütterchen,« sagte Joan.
»Ja, nicht?« sagte der Uhrmacher, »wer die kriegt, fällt nicht 'rein …«
Gerda glitt weiter, ihr Gesicht war mit einem Lächeln für jeden über die Schüssel gebeugt, einem Lächeln, von dem ihre Augen nichts wußten.
Der Uhrmacher aber, der dazu zurückkehrte, daß Joan es sich verdient habe, sagte:
»Gott, es muß doch fürchterlich anstrengend sein …«
Er meinte das Spielen:
»Das kann nicht jedermann aushalten.«
Sie hatten in einer Ecke Platz genommen.
»Ich sah, daß Sie mit unserem Pastor sprachen,« sagte der Uhrmacher; »ja, ja, das ist 'n herrlicher Mann – was man auch sagen mag. Und ich und mein Bruder gehen auch manchmal zu seinen Predigten. Aber 's ist ja 'n Jammer, da so an zehn Menschen sitzen zu sehen. Ich sag' auch immer zu Johansen: könntest gern hingehen, sag' ich, um zu füllen … denn Johansen ist ja unabhängig und wir auch, wenn man 'n gutes Geschäft hat … Na, die von der Hochschule führen ja keinen ökonomischen Krieg – nicht so offenbar jedenfalls … 's ist ja mehr, daß sie Geschäfte anlegen, um die Macht zu stützen …
Aber,« fuhr der Uhrmacher fort, »um Pastor Jespersen ist's jammerschade. Denn wollen Sie mir bitte sagen, Herr Konzertgeber, was kann es nützen, daß er predigt, wenn niemand seine Predigten hört … auf diese Weise wird ja nichts ausgerichtet. Aber andererseits – denn man muß ja heutzutage die Dinge von allen Seiten betrachten, nicht? Sehen Sie, der Mann nimmt ja nicht Partei, weder für die innere Mission, dieses saure Zeug, noch für die Grundtwigsche Lehre … und wer soll ihn da anhören – hier in der Gegend?«
Der Uhrmacher lachte, und indem seine Gedanken zurückgriffen, sagte er:
»Johansen gehört zu den Leuten, die die Gottesfurcht von ihren Frauenzimmern besorgen lassen …«
Kaufmann Johansen ging vorbei, die Hand in der Tasche. Man konnte die Knöchel sehen, als sei die Hand geballt.
Er blieb stehen und ließ seinen Blick übers Zimmer schweifen:
»Petersen, Sie könnten auch eine Schüssel nehmen.«
Und der Geschäftsführer nahm eine Schüssel vom Tisch und bot sie herum – ( jetzt ging er gerade hinter Fräulein Gerda her) …
Der Uhrmacher sah ihnen nach, während ringsherum gesprochen wurde und Herr Johansen Wein einschenkte.
»Tja,« sagte der Uhrmacher: »ich würd es Johansen gönnen, daß es geht, wie ers sich wünscht … Gerda ist 'n herrliches Mädel und Johansen hats verdient, trotz all seiner Fehler. Denn er ist ja 'n harter Kopf … und die letzten Jahre haben ihn nicht sanftmütiger gemacht … und ich glaub, an dem Bengel in Veile wird Johansen nicht viel Freude erleben …«
Joan, dessen Gesicht einen unruhigen oder fast angespannten Ausdruck bekommen hatte, sagte:
»Weshalb nicht, Herr Petersen?«
»Ich heiße Larsen,« sagte der Uhrmacher und lachte, daß er sich auf die Beine schlug.
»Nee,« sagte er dann, »der Bengel hat kein Rückgrat – was Theodor soll, das mag er nicht; und was er will, dazu hat er keine Ausdauer …
Na, aber jetzt is ja auch einerlei – da Petersen doch mal das Geschäft übernehmen soll …«
»Der Geschäftsführer?«
»Tja, so ist's wohl gemeint,« sagte der Uhrmacher, und indem er sein Glas nahm, sagte er:
»Haben Sie schon mit dem Tabakhändler angestoßen?«
Johansen, der aus einer Flasche Bordeaux einschenkte, war bis zu Graf Holstein gekommen, der neben Frau Jespersen stand.
»Zu diesem Salat, Johansen,« sagte Graf Erich und sprach in einem etwas unbesonnenen Ton, »müßten Sie eigentlich mit Ihrem berühmten Burgunder herausrücken.«
»Recht so, Herr Graf,« sagte der Kaufmann und lachte, wahrend es ganz kurz in seinen Augen aufgeblitzt hatte, »verlangen Sie nur, wenn Sie bei uns Bauern zu Gast sind.«
»Aber,« fuhr er fort und beherrschte seine Stimme, »Sie können den Wein gern bekommen, wenn Sie ihn selbst holen wollen. Sie wissen ja, wo er liegt, Herr Graf.«
Graf Holstein hatte sich in die Lippe gebissen.
»Das ist großartig, Johansen,« sagte er und plötzlich fügte er hinzu:
»Da kann Graf Ujhazy gleich den Keller zu sehen bekommen.«
»Joan,« rief er, »wir beide sollen in den Keller hinunter.«
Und vielleicht als heimliche Erwiderung für Johansen fügte er hinzu:
»Und Fräulein Gerda kann uns wohl leuchten – nicht, Fräulein Gerda?«
Es war einen Augenblick still, während Joan sich erhob.
»Gerda?« sagte Johansen, so daß der kurze Name ganz scharf klang:
»Ja, meinetwegen, leuchte den Herren, Gerda. Frau Jespersen geht wohl mit …«
Der Geschäftsführer war drüben in der Ecke mit der Schüssel in dem ausgestreckten Arm stehen geblieben.
»Danke, wir haben genug,« sagte der Kandidat, der seinem Blick gefolgt war, und er lachte zu Frau Raabel hinüber.
Frau Raabel aber sagte zum Geschäftsführer:
»Ja danke, ich habe auch genug,« worauf sie, die Graf Ujhazys kurzes Abbrechen nicht vergessen hatte, zum Kandidaten gewandt, fortfuhr:
»Aber, lieber Ussing, ich bin ehrlich genug zu gestehen – mitten in der Festfreude – daß es für mich eine Enttäuschung war. Gott bewahre, es war ja Weltkunst – – muß es wohl sein … aber es ist merkwürdig, daß viele von denen, die den Ruf haben, am meisten zu können, dennoch, wenn man ihnen auf den Leib rückt, keinen Begriff von den Werten haben …«
Joan war auf Fräulein Gerda zugegangen:
»Wollen Sie uns leuchten?«
»Ja …« und eine tiefe Röte war ihr ins Gesicht gestiegen.
»Danke.«
»Aber ich komme sonst nie in den Keller hinunter.«
»Warum nicht?« fragte Joan und es war, als wollten seine Augen ihr Gesicht in seinem Blick baden.
»Urgroßmutter hat es nie erlaubt,« sagte Gerda und sie sprach bei seinem strahlenden Blick in einem seltsam gleitenden Ton, der gar nicht zu ihren Worten paßte.
»Gehen wir?« fragte Frau Jespersen, die hinzutrat.
»Wo wollen die denn hin?« sagte Frau Lorentzen sehr laut, indem sie sich umwandte und ihnen nachsah.
Kandidat Ussing aber beugte sich zu Frau Raabel und flüsterte hastig:
»Wann können wir uns treffen?«
»Es sind so wenig Krankheitsfälle in dieser Zeit,« antwortete sie über ihren Teller hinweg.
Die beiden Schleswiger, die am Speisetisch gesessen hatten, waren aufgestanden und gingen schweigend auf und nieder, wie Leute, die warten – vielleicht um Aufmerksamkeit zu erregen.
Frau Raabel wandte den Kopf zu ihnen um und fragte:
»Na, wie hat es Ihnen gefallen, Herr Mathiesen?«
»Es waren ja immerhin dänische Töne,« sagte Herr Mathiesen.
»Ja, verehrter Herr, und ungarische Sauce.«
… Die vier stiegen die Treppe hinunter. Gerda voran mit einem Licht, ihr folgte Joan: wie die Töne ihres Haares im Lichtschein wechselten, von braun zu schwarz. Hinter ihnen sprachen die anderen, während Gerda die Kontortür aufschloß.
»Wir bekommen doch eine Laterne,« sagte Erich.
»Ja,« antwortete Gerda und nahm die Laterne vom Bord, aber sie konnte sie nicht öffnen.
»Lassen Sie mich! …« und Joan öffnete sie.
Das Streichholz zitterte in Gerdas Hand, als sie anzünden wollte.
»Ihre Hand zittert ja, Fräulein Gerda …«
»Ja,« sagte sie und versuchte zu lachen, »ich hab immer solche Angst vorm Keller.«
»Aber weshalb denn?« fragte Joan, der die Laterne anzündete, während Holstein die Kellertür aufschloß.
»Urgroßmutter sagte immer, es spuke dort, damit ich nicht hinuntergehen sollte.«
»Ja, ich gehe jedenfalls nicht mit,« sagte Frau Jespersen.
»Doch,« fiel Gerda hastig ein.
»Nee, ich bleibe hier,« sagte die Pastorsfrau und setzte sich ans Pult, während sie gleichzeitig ausrief:
»Kinder, hier liegt ja ein Telegramm …«
»Gott, nein,« sagte Gerda und machte eine Bewegung, als wolle sie sich die Ohren zuhalten, und hastig fügte sie hinzu:
»Woher ist es?«
»Aus Kopenhagen,« sagte Holstein, der über Frau Jespersens Schulter geguckt hatte.
»Ach so! …« Und Gerda atmete auf.
»Nun wollen wir in die Unterwelt,« sagte Erich laut, wie jemand, der abbrechen will.
»Nimmst du die Laterne, Erich?«
Erich hatte sie genommen und war bereits die ersten Stufen hinabgestiegen.
»Wie ist es hier dunkel,« sagte Joan. »Kommen Sie, Fräulein Gerda.«
»Ja,« sagte Gerda und war einige Stufen hinuntergestiegen.
Die Kellerluft schlug ihnen feucht, mit Weindunst vermischt entgegen, Joan wandte sich im Halbdunkel der Treppe um und streckte ihr seine Hand entgegen:
»Kommen Sie …«
»Ja …«
»Nehmen Sie meine Hand.«
Im Licht der Laterne sah Joan ihr weißes Gesicht.
»Hier ist meine Hand …«
»Ach nein (und plötzlich schüttelte sie den Kopf und es war, als spräche sie durch Tränen, Kindertränen) es ist zu dumm … aber Sie müssen allein gehen.«
»Fräulein Gerda – – – Wie sind Sie furchtsam!«
»Ja,« sagte sie und war die fünf Stufen wieder hinaufgelaufen, als fliehe sie – und die Tür glitt zu.
Joans Hand war herabgefallen, fast als sei sie abgehackt worden.
»Kommst du?« fragte Erich.
Joan wußte nicht, daß er die Treppe vollends hinuntergestiegen war und auf den schimmeligen Fliesen stand.
»Wie ist die Luft schwer.«
»Ja,« sagte Erich und lachte, während er die Laterne hob, so daß die mächtigen Weinfässer im Halbdunkel fast wie Schiffsrümpfe aussahen. »Es ist ja auch nicht lauter reine Traube, die hier in der volkstümlicheren Abteilung lagert …«
Er hob die Lampe höher:
»Aber sieh nur, all die Massen Sprit, großartig, nicht.«
»Hier wird das Gift gemischt.«
Plötzlich wendete er die Lampe um:
»Du, sie glaubte, daß das Telegramm aus Veile sei.«
»Das Telegramm?«
»Ja, vom Bruder … denn von dem pflegen wohl Expreßmitteilungen zu kommen.«
»Was ist denn eigentlich mit ihm?«
»Ich weiß nicht recht,« sagte Holstein und öffnete eine Brettertür: »als er zur See war, konnte er es nicht vertragen, und jetzt, wo er auf dem Lande ist, macht er Dummheiten, weil er nicht zur See ist.
»Hier ist das Allerheiligste,« sagte Erich und setzte die Laterne aus der Hand: »Sieh, alter Freund – dort die Oxhofte … und hier liegen die Flaschen.«
Erich zeigte auf die langen Borte, wo oben und unten Flaschen lagen, Flasche neben Flasche mit vorgestreckten Hälsen.
»Großartig, nicht?« sagte er.
»Aber du bist ganz bleich,« fügte er hinzu und er atmete selbst schwer; »ja, die Luft hier bedrückt einen.« Er schob die Lippen vor, als denke er nach, und sagte:
»Es mag auch die Luft von hier unten sein, die auf die Familie drückt.«
»Wieso?« fragte Joan wie mit einem Ruck.
»Ich meine, so immer und ewig den Dunst von diesem Sprit im Hause zu haben, das kann leicht die Fähigkeiten künstlich in die Höhe treiben – – und gleichzeitig den Willen und dergleichen schwächen.«
»Ja,« sagte Joan, »das verstehe ich.«
»Aber,« fragte er hastiger, »Fräulein Gerda?«
»Die ist allerliebst, aber sie sollte lieber heut wie morgen aus dem Hause.«
»Ja,« sagte Joan und ballte die Faust.
»Na, aber hier haben wir den Burgunder! … nimm du die beiden Flaschen … wir brauchen den Giftmischer nicht zu schonen. Hast du sie? Danke!«
Erich nahm die Laterne:
»Komm,« sagte er.
Sie gingen wieder durch den Keller und Erich schloß die Brettertür.
»Das meiste von diesem Sprit,« sagte Erich und blickte über die gewaltigen Tonnen, »geht übrigens über die Grenze … Und etwas nach Höjerup,« fügte er hinzu, »wenn die Hölle mir zu heiß wird.«
Und plötzlich hatte Erich sich gegen den Boden einer Sprittonne gelehnt, und aufrechtstehend, die Stirn gegen das Holz gestützt, schluchzte er, daß er bebte.
»Erich, Erich,« rief Joan.
»Erich,« sagte er leiser, »Erich, was fehlt dir?«
»Die Hölle wird mir zu heiß! …« Und Erich fuhr fort zu schluchzen.
»Na,« sagte er schließlich und drehte sich um, während die Tränen ihm noch in der Stimme saßen, »es hat nichts zu bedeuten … kümmere dich nur nicht darum.«
Er trocknete sich mit dem Taschentuch das Gesicht.
»So unter der Erde kann man wohl mal Anfechtungen bekommen.«
»Komm,« sagte er, aber nach einigen Schritten blieb er wieder stehen und um von etwas zu sprechen und von etwas anderem, sagte er:
»Aber wenn die Bande (die Worte kamen langsam, als müsse er seine Gedanken erst sammeln) auf Johansen schimpft, der es wohl auch verdient hat, so will ich doch sagen, daß der Fusel des Direktors zehnmal schlimmer ist, als Johansens Gift …«
»Der Direktor der Hochschule?«
»Ja, der Direktor und seine ganze Abzapfungsanstalt von Lebensanschauung ist um kein Haar besser. Und der Gestank von seinem Kultursprit durchzieht das ganze Land …«
Sie hatten die Treppe erreicht. Bei der untersten Stufe legte Erich seine noch zitternde Hand auf Joans Schulter:
»Ja, ja, Josse, für den einen gestaltet sich das Leben fröhlicher als für den andern.«
»Jetzt schnell nach oben,« sagte er und lief die Treppe hinauf.
»Das hat lange gedauert,« sagte Frau Jespersen, »Sie haben wohl alles gesehen.«
»Ja,« sagte Erich.
Gerda aber hatte ihre Augen nur auf Joan gerichtet.
»Und Joan geht mit dem Gewinn davon,« lachte Erich und zeigte auf die Flaschen.
»Nun pusten wir die Laterne aus,« sagte er und blies in die offene Flamme.
»Ja,« flüsterte Gerda und starrte in das verloschene Licht.
»Das Telegramm,« sagte Frau Jespersen und nahm es.
Joan wollte die Laterne auf das Bort setzen, Gerda aber sagte:
»Nein, dort! …« und sie schob sie an eine andere Stelle, während sie mit einer seltsam müden Stimme hinzufügte:
»Hier hat alles seinen bestimmten Platz …«
Holstein hatte oben in der ersten Etage die Tür geöffnet und die Stimmen schlugen ihnen entgegen. Der Kaufmann stand gleich neben der Tür, als habe er gewartet:
»Hier ist der Saft,« sagte Erich und hob die beiden Flaschen hoch.
»Finden Sie nicht, Herr Graf, daß wir anderen auch ein Glas haben sollen?« Und während es ebenso wie vorhin in den Augen des Kaufmanns aufblitzte, befahl er dem Geschäftsführer, mehr zu holen.
»Und Gläser,« sagte er zu Gerda, die mit Joan hereinkam.
»Ja, Vater.«
»Die von der Auktion,« befahl Johansen, während er die Faust wieder in der Tasche hielt.
»Ja, Vater,« sagte Gerda, die angstvoll den Kopf gewandt hatte.
Erich Holstein hatte sich auf den Hacken umgedreht.
Die Gäste hatten die Abendmahlzeit beendigt und gingen plaudernd aus und ein. Alle Zimmer waren voll Tabakrauch.
Joan ging ins Eßzimmer, wo Gerda Gläser auf ein Teebrett setzte. Sie sah sie wohl kaum selbst, während sie sie nebeneinander stellte, Glas neben Glas, mit den breiten goldenen Rändern.
»Woran denken Sie, Fräulein Gerda?«
Gerda sah ihn nicht an:
»Eben dachte ich an Ihre Mutter,« sagte sie.
Joan verharrte eine Weile schweigend.
»Ich glaube, Sie denken an zuviel trübe Dinge,« sagte er dann.
»Trübe?« wiederholte sie.
»Sie sind innerlich so verängstigt,« sagte Joan und ihre Stimmen hatten ganz denselben Klang.
Gerda nickte – einmal.
Und Joan sagte hastig:
»Sie sollten sich von all diesem – freimachen – – – und fortgehen.«
Fräulein Gerda preßte ihre Hand ums Glas.
Aber als fühle er, daß er zu viel und zu heftig gesprochen habe und als wolle er jetzt zu etwas anderem zurückflüchten, sagte er:
»Ihre Schwester, zum Beispiel …«
»Meine Schwester?« er hörte es kaum.
»Ja, ich meine … meine, Sie sollten sich nicht so viele trübe Gedanken darüber machen.«
Seine Augen starrten auf ihre Brust, die sich heftig senkte und hob:
»Jeder Mensch kann frei über sein Leben verfügen,« sagte er.
Und von neuem fügte er heftig hinzu, mit veränderter Stimme:
»Sie auch über das Ihre.«
Einen Augenblick sah es aus, als ob sie fallen würde.
Dann sagte sie und die Worte kamen mühsam, aber deutlich:
»Es ist nicht, weil sie starb.«
Gerda hatte ihr Gesicht halb gehoben:
»Weil sie etwas übernommen hatte, was sie nicht durchführen konnte.«
»Gerda,« sagte Joan und ergriff ihre Hand – und eine Sekunde lang hatte sie seinen Händedruck erwidert, wie ein Ertrinkender.
»Wollen Sie vielleicht einschenken, Frau Raabel,« sagte Gerda zur Frau des Arztes, die von der Türschwelle mit langen Blicken über ihren Fächer spähte.
»Der Geschäftsführer wird Ihnen helfen,« sagte sie, indem sie hinausging.
Frau Raabel begann den Wein einzuschenken, während Joan dabeistand.
Frau Raabel sprach von den herrlichen Gläsern:
»Ja, hier im Hause wird für die Zukunft gesammelt. Diese Gläser sind auf Höjerup erstanden.« Sie lachte: »Das soll wohl eine Art Dank für die Hilfeleistung des Grafen sein …«
Plötzlich sprangen ihre Gedanken ab und sie sagte:
»Wäre jetzt nicht die Zeit gekommen – für etwas Musik?«
Joan, der kaum zugehört hatte, sagte:
»Haben wir nicht schon zu viel Musik gehabt, gnädige Frau?« – und ging hinaus.
Frau Raabel verschüttete Wein auf dem Silbertablett …
Der Pastor stand allein an einem Fenster:
»Ach, Sie sind es, Herr Pastor,« sagte Joan, der plötzlich sein Gesicht sah.
»Ja,« sagte der Pastor, und als eine Art Erklärung für Joans Blässe fügte er hinzu:
»Ja, die Luft unten in den Kellern ist schwer. – Graf Holstein aber« – und er lächelte – »weiß, wo die Weine liegen.«
Joan antwortete nicht und nach einer Weile sagte der Kaplan:
»Meine Frau und ich halten viel von ihm. Er ist stets hilfsbereit und er hilft taktvoll.«
»Und denen,« fuhr er fort, »denen meine Frau und ich gern helfen möchten, ist nicht immer so leicht geholfen. Die stehen fast alle außerhalb – – ebenso wie wir selbst. Aber in Höjerup klopft man nie vergeblich an.«
Da merkte der Pastor, daß Joan nicht zuhörte, aber er fuhr dennoch fort:
»Wenn Sie, Herr Graf, wie meine Frau sagt, einen Sommer wiederkommen –«
»– – Wiederkommen?«
»Ja …«
Der Pastor änderte den Ton:
»Dann könnten Sie vielleicht ein gutes Werk tun …«
»Ein gutes Werk?«
»Darf ich offen mit Ihnen sprechen?« sagte Pastor Jespersen. »Man sieht ja, wieviel Graf Holstein von Ihnen hält – – und ich glaube, wenn Sie einen Sommer in Höjerup Aufenthalt nehmen würden, täten Sie ein gutes Werk. Graf Holstein ist so vielseitig begabt – aber er muß angeregt werden.«
Joan war aufmerksam geworden, und plötzlich fragte er:
»Aber – ja, entschuldigen Sie, Herr Pastor (und er sah Erich wieder vor sich, wie er schluchzend gegen die Weintonne lehnte) … aber was ist denn los auf Höjerup?«
»Man weiß wohl nie,« sagte der Pastor, »ich meine, der eine Mensch weiß nicht, wie sich das Leben eines anderen gestaltet hat. Wir Menschen glauben zu sehen, und sehen doch nicht einmal, was wir gerade vor Augen haben – –«
Joan hatte genickt.
»Die Gräfin ist ja … sie ist allerdings seine Kusine – – aber sie ist doch aus einem anderen Land, das immer ihr Vaterland geblieben ist …«
»Geblieben …«
»Ja,« fuhr Pastor Jespersen fort, »Sie wissen, ihr Vater ist Generaladjutant beim Kaiser. Die Gräfin ist mitten aus einem ganz anderen Kreis … und hier ist sie nie heimisch geworden – auch nicht auf Höjerup – –«
Joan starrte ins Leere:
»Und dann ist Graf Holstein zu viel allein – – und – –«
»Ja,« sagte der Pastor, und auch er starrte ins Leere, »das Glück kann auf so mancherlei Weise für zwei Menschen in Scherben gehen. Und wenn es,« fuhr er nach einer Weile fort, »in einer andern Gegend wäre, wo man einen Mann mit einer eigenen Meinung – denn der Graf hat eine Meinung – aufkommen ließe … Aber hier in der Gegend …«
Frau Jespersen trat zu ihnen.
»Wollen wir nicht das Fenster öffnen,« sagte sie, »der Rauch zieht sich so schrecklich zusammen.«
Der Pastor öffnete das Fenster und seine Frau beugte sich einen Augenblick hinaus.
Drüben vom Hotel Dänemark klang wieder Gesang herüber.
»Die nutzen die Zeit ordentlich aus,« sagte Frau Jespersen.
Joan hatte seinen Kopf gegen die Mauer gelehnt – von drüben klang es:
Wir lieben dich so sehr,
du Land im grünen Laub,
umspült vom blauen Meer.
Und schöne Mädchen, edle Frauen
und Männer, kecke Knaben
Bewohnen deine Gauen.
»Gott, das Telegramm,« sagte Frau Jespersen und griff in ihre Tasche.
»Welches Telegramm?« fragte der Pastor.
»Für Johansen,« sagte seine Frau und eilte fort.
»Was kann das sein?« – … Der Pastor schien unruhig.
»Es ist aus Kopenhagen,« sagte Joan gleichgültig.
»Na, Gott sei Dank, dann sind es nur Geschäfte.«
Drüben wurde gesungen:
In Dänemark ist Herzenssprache Brauch,
und dort ist Wahrheit Männersitte auch.
In Dänemark blüht Treu und Lieben,
Goldäpfel reifen im festlichen Frieden,
den Stein der Weisen findet man dort. – –
Joan Ujhazy lauschte noch immer …
Was ist das? – Was steht drin?« fragte der Uhrmacher Herrn Johansen, dem Frau Jespersen das Telegramm gegeben, und der es dem Direktor reichte, nachdem er es gelesen hatte.
»Es ist die neue Militärvorlage, die angenommen worden ist,« sagte der Direktor.
»Es ist die Solderhöhung, die angenommen worden ist,« wiederholte der Kaufmann.
»O je,« sagte der Uhrmacher und setzte sich wieder, »nu sind wir also glücklich in dem Fahrwasser.«
Frau Lorentzen aber sagte zum Direktor:
»Es ist gekommen, wie wir gehofft hatten.«
Kaufmann Johansen, der das Telegramm zurückbekommen hatte und es wieder und wieder faltete, sagte:
»Jetzt werden die Herren Kopenhagener rasen! …«
Und er ging schneller auf und nieder, während der Direktor Frau Raabel antwortete:
»Natürlich, natürlich hofften wir es. Aber andererseits, wenn man Fühlung mit dem Volk hat wie wir … ein Vorschlag wie dieser ist notwendig, natürlich, er ist notwendig, aber von allen Seiten betrachtet … so etwas zersplittert. Es zersplittert – – jetzt, wo alle guten Kräfte zur Sammlung bereit sein sollten – –«
»Sammlung ist gut,« sagte der Fabrikant hart: »erst die Landesfeinde vor.«
»Lieber Herr Fabrikant,« unterbrach der Direktor, »wir wissen ja, daß Sie zur Rechten gehören …«
»Ist das die Militärvorlage, die angenommen ist?« rief Raabel, der mit einem goldgeränderten Glas in der Hand angestürzt kam.
»Jawohl,« sagte Kaufmann Johansen und ging an ihm vorbei, während Doktor Raabel lachte und sagte:
»Dann gehen wir also mit offenen Augen in den lodernden Wahnsinn hinein. Aber was war von den Herren auch anders zu erwarten?«
Der Fabrikant antwortete und tat, als spräche er mit dem Direktor:
»Die Verteidigungssache hat ihr Gutes. Sie bringt die Landesverderber ans helle Tageslicht.«
»Sprechen Sie mit mir, Herr Fabrikant?« rief Raabel, während der Direktor, der mitten im Kreis stand, sagte:
»Hier an der schleswigschen Grenze wird der Gedanke an ein verteidigungsloses Vaterland ja niemals Boden gewinnen.«
»Wir haben unser altes Programm,« höhnte Ussing aus einer Ecke.
»Wer eine Partei sammeln will, muß ein Programm haben,« antwortete der Direktor.
Raabel machte eine Bewegung mit der Zunge, als sei ihm übel:
»Und nachher kann es zum Abtrocknen der Schüsseln verwendet werden.«
Der Uhrmacher schmunzelte über seinem Glas – und hielt plötzlich inne.
»Wir Jungen tun uns nicht zusammen, um Konzessionen zu machen,« sagte Ussing, der mit den Händen in den Taschen dastand.
»O, hierzulande sind Prämien dafür ausgesetzt.«
Joan hatte plötzlich seinen Kopf gehoben und betrachtete die schreienden Herren.
»Wovon reden sie?« fragte er Erich, als erwache er.
»Sie reden,« antwortete Erich.
»Aber worüber?«
»Vom Verteidigen des Vaterlandes, mein Freund,« sagte Erich, »das nennt man hierzulande Politik.«
Ussing aber, der heftig und mit rotem Kopf sprach, sagte, daß man eines nicht vergessen dürfe, nämlich, daß wir Jungen in den alten Grundsätzen erzogen worden seien.
Frau Lorentzen unterbrach ihn, indem sie das Wort: Grundsätze wiederholte, während ihr Kinn über der Goldkette schwoll und ihre Blicke von Kandidat Ussing zu Frau Raabel schweiften, die auf der Türschwelle erschienen war, wo sie mit dem handgemalten Fächer wie mit einem Stock in der erhobenen Hand dastand.
»Das alte Programm,« sagte Ussing zum Fabrikanten, »war Neutralität, die bei den Großmächten angemeldet wurde, und eine Polizeiwache.«
Der Direktor sagte, daß auch er bei einer so schwierigen Frage auf Schonung hoffe, daß man, woran er nicht zweifle, die Bevölkerung schonend vorbereiten werde.
»Den Volksgeist vorbereiten,« sagte der Direktor, »den Volksgeist, der, wenn er erst geweckt worden ist, nie in Dänemark versagt hat.«
Graf Holstein, der unbeweglich gegen eine Wand gelehnt stand, die Zigarette zwischen den Lippen, übertönte die Stimmen:
»Und während Sie vorbereiten, Herr Direktor?«
Der Direktor drehte sich um:
»In unseren Augen, Herr Graf, hat Gott stets seine bestimmte Meinung mit unserem kleinen Dänemark gehabt.«
»Diese Meinung ist seit einigen hundert Jahren gewesen:
Jeder nehme sich, was er kriegen kann.«
»Mag sein,« sagte der Direktor, dessen Adamsapfel auf- und niederging, »mag sein, daß nicht alle sehen, was bewahrt worden ist.«
»Nein, Herr Direktor!« – und Erich starrte dem Rauch seiner Zigarette nach, »ich weiß es nicht.«
»Aber,« sagte der Direktor inmitten seines Kreises, »vor allen Dingen muß die Liebe zum Vaterland gestärkt werden …«
»Und dann müssen die Kanonen vorrücken,« rief Raabel und lachte, während er schrie: »Und wenn die Kanonen vorgerückt sind, bauen wir Pulvertürme, und wenn wir Pulvertürme gebaut haben, befestigen wir die Wälle und wenn die Wälle befestigt sind – fallen wir fürs Vaterland …«
Er führte seine Hand durch die Luft, als gäbe er jemandem eine Ohrfeige.
»Darauf können Sie sich verlassen. Erinnern Sie sich nicht des Überganges nach Alsen, mein Herr?«
Der Magister hatte sich aus seinem Stuhl in einer Ecke erhoben:
»Das haben Sie sehr spät entdeckt,« sagte der Doktor und es wurde allgemein gelacht.
Joan war fast bis in die Mitte des Zimmers gegangen und es war Gerda, die er wieder fragte und mit derselben Stimme wie vorhin:
»Aber worüber wird denn gesprochen?«
Gerda antwortete:
»Ach, das ist nur Politik.«
»Aber um was handelt es sich denn?«
»Hier in der Gegend handelt es sich immer um die Landesverteidigung,« sagte sie wie jemand, der von etwas spricht, worüber er nie selbst nachgedacht hat.
»Die Verteidigung?« fragte Joan, »die Verteidigung des Landes?«
»Ja,« sagte Gerda, halb überrascht durch etwas in seiner Stimme.
Joan entfernte sich einige Schritte von ihr, mit einem sonderbar gespannten Ausdruck im Gesicht – vielleicht gespannt, um all die fremden Worte zu verstehen.
Der Fabrikant aber sagte quer durchs Zimmer zu Raabel, der noch bei seinen Kanonen war:
»Die Verteidigung aber ist gar nicht die Verteidigung, sondern es ist die Sache, die –«
»Die?« Doktor Raabel erhob sich wie ein Kampfhahn.
»– diejenigen trennt, die für oder gegen uns sind,« sagte Lorentzen.
Es flog ein kleines Lächeln aus dem Auge des Arztes geradeswegs in das Gesicht des Fabrikanten, bevor er sagte:
»In welcher Beziehung, Herr Fabrikant?«
Es war, als ob der Fabrikant plötzlich auf seinem Stiefel ausglitte. Der Direktor aber hatte sich zu Raabel gewandt:
»Freund Lorentzen hat recht,« sagte er; »diese Sache ist die Marke für große Dinge.«
Der Tabakhändler stand hinter Joan:
»Haben Sie gemerkt, wie Lorentzen klein wurde?« sagte er lachend über Joans Schulter, »mit dem kann Raabel es aufnehmen.«
Und der Tabakhändler blieb mitten zwischen den Streitenden stehen, die Hände auf dem Rücken, vor Vergnügen schwitzend.
Raabel aber hatte sich wieder zum Direktor gewandt und schrie mit einem oratorischen Purzelbaum:
»Ich kenne hierzulande kein zweckentsprechenderes Geschäft als die Verräterei …«
Frau Raabel stieß mit ihrem Handgemalten ihren Eheherrn in den Rücken und als er sich umdrehte, flüsterte sie:
»Bist du vollständig verrückt?«
»Scheint so, Madame,« flüsterte er zurück, »da ich Sie geheiratet habe.«
Der Direktor aber hatte sich zu den Schleswigern gewandt, die etwas vereinsamt standen, und er sprach von den Schützenvereinen, in denen er einen Weg zu sehen vermeinte.
»Denn der Tag wird kommen,« sagte er, »an dem Recht vor Macht gehen wird.«
Frau Raabel war durchs Zimmer getänzelt (zwei Haken standen hinten an ihrem Rock offen) und sie glitt an Kandidat Ussing vorbei:
»Ussing,« flüsterte sie, »Sie sollten sich vor Frau Lorentzen in acht nehmen.«
»Ach was, man darf wohl seine Überzeugung haben,« brummte der Kandidat.
»Du willst auch wohl das Nachsehen haben,« sagte Frau Raabel, »du kennst doch das Frauenzimmer.«
»Du solltest dich nicht genieren und noch lauter sprechen,« sagte der Kandidat bissig.
Frau Raabel glitt weiter – auf Joan zu:
»Von all diesem,« sagte sie freundlich (und hoffte noch einmal auf den Sommernachtstraum vierhändig), »verstehen Sie nichts …«
»Nein,« antwortete Joan, noch immer mit demselben Ausdruck im Gesicht, »ich verstehe es nicht.«
»Ich auch nicht,« sagte Frau Raabel und sah zu ihm auf: »Leute von unserer Art fliehen die Wirklichkeit, nicht wahr?«
Man hörte noch immer den gleichmäßigen Wortstrom des Direktors über Schützenvereine, während Raabel drüben in der Ecke schrie und schließlich zum Tabakhändler gewandt sagte:
»Der helle Blödsinn kann doch nicht siegen!«
Plötzlich schlängelte er sich zu Joan durch und fragte:
»Wovon spricht Madame?«
»Wir sprechen davon, daß wir von all dem nichts verstehen,« sagte Frau Raabel.
»Das will ich gern glauben,« sagte der Doktor.
»Ein Fremder, lieber Graf,« und er lachte, »der zufällig in dieses Land kommt, muß ja glauben, daß er in eine Irrenanstalt geraten ist. Hier ist jede gesunde Vernunft tot. Ein Fremder wird sich da kaum hineinversetzen können.«
Er faßte Joan am Rockaufschlag und führte ihn, beständig redend, fort von Madame:
»Eine Landesverteidigung, lieber Graf, haben Sie etwas Ähnliches an Blödsinn schon gehört? Eine Verteidigung dieses Fleckchens Erde – eine Verteidigung mit unseren Soldaten? Haben Sie unsere Soldaten gesehen? Nicht, na, Sie würden Ihren Augen auch nicht trauen. (Und der Doktor lachte): Lieber Herr, wir liegen mitten zwischen zwei Großmächten. Großmächten, mein Lieber, überzeugen Sie sich auf der Landkarte. Und wir sollten daran denken, uns zu verteidigen? Wenn die Herren sich das einreden, nicht wahr! – dann sollte man sie in Zwangsjacken kleiden. Was wir wollen, wir, die wir Grütze im Kopf haben, das ist ganz klar, klar und einfach: Wir wollen das Land offen liegen lassen. Und wenn das Land offen daliegt, wer sollte da auf den Gedanken kommen, es zu besetzen, nicht wahr?
Und wenn es besetzt wird, nicht wahr! – dann reklamiert man eben, lieber Herr, und das gesammelte Europa nimmt sich unsrer an …
In einer Weise aber (Doktor Raabel zog die Schultern hoch), in einer Weise haben die Leute ja eine Entschuldigung. Denn eigentlich nimmt keine Katze im ganzen Land die Sache ernsthaft. Lieber Graf, wir Dänen sind ja, Gott sei Dank, ein Volk von Ironikern. Eine Partei aber muß natürlich eine Sache haben.
Und wir anderen (und der Doktor lachte) müssen doch etwas haben, wogegen wir kämpfen können …«
Er lachte.
»Die Verteidigungssache, lieber Graf, unter uns gesagt, wenn die Verteidigungssache stürbe – das wäre ein Blattschuß für den Radikalismus.«
Doktor Raabel sah Joan an, dessen Gesicht müde oder fast gequält schien, und er sagte:
»Na, all das kennen Sie wohl aus Ihrem eigenen teuren Vaterland …?«
»Ich habe kein Vaterland,« sagte Joan langsam.
»Nein, natürlich,« der Doktor lächelte, »ein Mann wie Sie wird Kosmopolit, das ist klar …«
Und als ob er plötzlich einen Gleichgesinnten gefunden hätte, dem er alles anvertrauen konnte, sagte er:
»Aber, lieber Freund, innerhalb unserer vier Wände sind wir das ja alle, Gott sei Dank. Die Zeit schreitet doch vorwärts, nicht wahr? und wenn ich einen Sohn hätte – Madame hat mir leider nur Töchter geschenkt – dann würde ich … aber so etwas darf man ja beileibe nicht laut werden lassen … dann würde ich ihm aufrichtig wünschen, daß wir schon von Deutschland übergeschluckt wären. Das könnte nur zu seinem Besten sein – ein großes Vaterland, nicht wahr? Das große Land bietet doch große Chancen …
Aber es wird schon noch kommen,« sagte er.
»Unsere Generation hat immerhin Fortschritte gemacht und unsere Kinder (der Doktor schnalzte mit der Zunge) werden nicht sentimental veranlagt sein.«
»Meine Heimatsinsel ist mit Blut bedeckt,« sagte Joan und sprach wie vorhin.
»Was Sie sagen,« bemerkte Raabel, durch Joans Ton gleichsam verwirrt.
»Sie ist mit dem Blut meiner Vorfahren bedeckt.«
Der Doktor lachte, aber mit einem unsicheren Lachen:
»Ja, andere Zeiten, andere Vorstellungen, nicht wahr …
Und eine andere Rasse, andere Rassen, bester Herr.
Aber wir Dänen und Blut, bester Herr Graf, wir Dänen und Blutvergießen. Unsere Fähigkeiten gehen wahrlich nicht in jene Richtung. Sie sollten wissen, wie viele meiner Kollegen das ärztliche Studium aufgeben, weil sie im Operationssaal ohnmächtig werden …
Ja, Sie lachen,« sagte er.
»Sie lachen,« wiederholte er und sah Joan an, der kurz aufgelacht hatte.
Und plötzlich dachte der Doktor bei sich – denn Joan machte ganz den Eindruck, als sei nichts Lebendes in ihm –:
»Der Mensch hat kein Wort verstanden. Der Esel hat keinen Ton kapiert.«
Und ohne daß er etwas zu sagen wußte, starrte Doktor Raabel auf seine Zigarette, bis er sich auf den Hacken umdrehte.
»Er ist ja dumm,« sagte er zu Madame, die in der Tür stand.
»Das hab' ich schon lange bemerkt,« antwortete seine Frau.
»Hoffnungslos dumm,« sagte der Doktor.
Als er sich umwandte, sah er Hans Haacke halb verborgen hinter einer Gardine sitzen und auf seine etwas zu großen Füße starren.
»Sie sind müde,« sagte der Doktor und lachte; »ja, so 'ne Reise ist wohl kein ungemischtes Vergnügen.«
»Besonders nicht für denjenigen, der immer Nummer zwei sein soll,« sagte seine Frau.
»Aber,« fügte sie hinzu, »wenigstens wird wohl nicht an jedem Ort so zwischen den Kulissen spektakelt wie hier. Ich habe für Sie empfunden.«
»Sie meinen, gnädige Frau?« fragte Hans Haacke.
»Ich bewundere Sie, ich mit meinen Nerven hätte bei dem Champagnerlärm nicht spielen können.«
»Man gewöhnt sich an seine Stellung,« sagte Haacke, der gar keinen Lärm gehört hatte, sich aber geschmeichelt fühlte, weil er bedauert wurde.
»Tja, angenehm muß das nicht sein,« sagte der Doktor.
Gerda hatte wieder Wein eingeschenkt und erschien mit einem Teebrett in der Tür, als Frau Jespersen ihr entgegentrat.
»Gerda,« sagte sie leise, »weshalb hast du diese Gläser genommen – Graf Holstein ist doch selbst hier?«
»Vater hat es gewünscht,« antwortete Gerda, ohne die Augen aufzuschlagen.
»Ich dachte es mir,« sagte Frau Jespersen, und zu Joan gewandt, fuhr sie fort:
»Sie werden müde, Herr Graf, aber wenn die Herren erst anfangen, von Politik zu sprechen, gibt's gewöhnlich große Wäsche.«
»Ich denke dabei an so manches andere,« antwortete Joan.
»Ich auch,« sagte Frau Jespersen lachend.
»Und dennoch gab es eine Zeit« – und sie veränderte ihre Stimme – »in der auch ich mich daran beteiligte, für Kanonen zu sammeln. Aber nun ist schon seit zwanzig Jahren von dieser Sache geredet worden.
Und ich weiß nicht, ich glaube, wir Dänen haben eine Veranlagung, eine Sache von allen Seiten zu sehen und gleichzeitig allen und niemandem recht zu geben. Wir winden und winden das Garn, bis das Knäuel im Schoß liegen bleibt und die ganze Garnwinde in Unordnung geraten ist.
Oder,« fuhr Frau Jespersen mit einem Seufzer fort, als gäbe sie die Sache auf: »vielleicht habe ich nur ganz einfach nicht die Kraft, an das zu denken, was in fünfzig Jahren geschehen wird.«
»Nicht die Kraft?« wiederholte Joan.
»Vielleicht fehlt es mir daran,« sagte Frau Jespersen, »es gibt eine Stelle, wo wir Dänen die Kraft zugesetzt haben.«
Joan hatte seine Augen starr auf Gerda geheftet.
Vielleicht von seinem Gedankenstrom beeinflußt, ging Frau Jespersen plötzlich zu etwas anderem über und sagte:
»Gerda hat es auch nicht leicht – sie sitzt mitten zwischen dem Kaufmann und dem Geschäftsführer.«
»Dann muß Fräulein Gerda aufstehen,« sagte Joan und wollte lachen.
Der Direktor war zu seiner Volkserziehung zurückgekehrt:
»Wenn wir nur unsere Verteidigung Friedenswehr nennen und sie zu einem Glied in der richtigen und gesunden Erziehung machen …«
»Das wird ein teures Glied,« sagte Ussing, dessen Augen unausgesetzt Frau Raabel und Haacke folgten.
»Da haben wir's!« verkündigte Frau Jespersen plötzlich, » jetzt hat sie's erreicht.«
Drinnen vom Klavier erklang Musik.
»Gott sei Dank,« sagte der Tabakhändler und schmunzelte, »endlich sitzt sie auf dem Bock – sie hat auch lange genug dahingeschielt …«
Es waren Frau Raabel und Hans Haacke, die vierhändig spielten.
»Das muß ich sehen,« sagte Frau Jespersen und ging zum Klavier.
»Setzen wir uns, Herr Konzertgeber,« schlug der Uhrmacher vor, »denn das wird 'ne längere Sache werden …«
Die Stimmen ringsumher starben hin, während der Doktor durch die Zimmer schoß:
»St«.
Der Tabakhändler stieß Joan mit seinem dicken Ellenbogen an und sagte leise: »Jetzt haben sie sich wohl fertig gezankt; amüsant kann das für'n Fremden nicht gewesen sein.«
Der Tabakhändler lachte leise und leerte sein Glas:
»Na, ich saß' immer, Meinungen und Meinungen – nicht, Herr Konzertgeber? Man hat sein Geschäft und lebt mit seinem Geschäft … das ist das Zentrum … mögen die anderen meinetwegen reden … Na, 'ne Meinung hat man natürlich auch – Gerda, wo hast du die Flasche gelassen? – aber ich sag' immer, Herr Konzertgeber, was hats für'n Zweck, von der Gefahr und immer wieder von der Gefahr zu reden?«
»Gefahr?« sagte Joan und blickte vor sich hin.
Gerda hatte sich dicht neben die Gardine gesetzt und lauschte der Beethovenschen Symphonie.
»Ja, die Gefahr und immer wieder die Gefahr, von der sie in der Rechten reden – denn in meinem Herzen bin ich rechts, Herr Konzertgeber – aber was kann es nützen, alle Tage auf die Gefahr zu lauern, da könnte man ebensogut umhergehen und sein bißchen Lebensfreude drangeben, wenn man immer an seinen Tod und sein Begräbnis denken wollte …«
»St«, sagte Fabrikant Lorentzen.
»Jawohl, jawohl,« sagte Larsen und stieß Joan mit dem Ellenbogen an: »Doktor Raabel kann einen zum Schweigen bringen, was, Lorentzen?«
Alle schwiegen, während die Musik durch die Räume klang.
Plötzlich aber beugte der Tabakhändler sich über sein Glas und flüsterte Joan vertraulich schmunzelnd zu:
»'s ist ja nämlich der Doktor, der helfen muß, wenn die kleinen Fabrikmädchen bei Lorentzen zu rundlich werden.«
Joan hatte sich zwei- oder dreimal mit der Hand über die Augenlider gestrichen, als ob seine Augen ihn schmerzten.
Dann erhob er sich.
Die Töne erklangen noch immer, Joan aber hörte sie nicht.
Dicht neben Fräulein Gerda hatte er seinen Kopf an die Wand gelehnt und starrte auf die Gesichter im Zimmer. Dann schloß er die Augen. Es war, als solle sein Herz stillstehen, übervoll von einer Sehnsucht, für die er keinen Namen wußte.
Es wurde noch immer gespielt.
Gerda hatte ihr Gesicht mit geschlossenen Augen nach aufwärts gewandt.
Joan ließ unter seinen halbgeschlossenen Lidern hervor den Blick auf ihrem Gesicht ruhen.
»Fräulein Gerda,« flüsterte er.
Sie rührte sich nicht und in den stillen Zügen war keine Bewegung.
»Fräulein Gerda,« sagte er wieder.
Zwei Tränen quollen unter ihren Augenwimpern hervor.
Als ob beim Anblick dieser Tränen seine Traurigkeit von einer unbändigen Freude oder einer Hoffnung verdrängt würde, sagte er:
»Weinen Sie nicht.«
Gerda rührte sich nicht. Wie jemand, der gefesselt ist und sich nicht erheben kann, ließ sie die Tränen an ihren Wangen hinabfließen.
»Weshalb weinen Sie?« flüsterte Joan.
Plötzlich aber schwieg er, als habe er sich seine Frage selbst beantwortet, und von neuem wurde er von demselben Schmerz ergriffen, der unüberwindlich und ohnmächtig war.
»Wir haben wohl bald genug Musik gehabt,« sagte Kaufmann Johansen, der auf dem Wege zu seinem Kontor durchs Zimmer ging.
»Wenn die erst mal angefangen hat, hört sie so bald nicht auf,« lachte der Tabakhändler.
Fast mechanisch oder wie im Schlaf gerufen, hatte Gerda sich bei der Stimme ihres Vaters erhoben.
Joan ging durchs Zimmer. Es war ihm, als höre er die Stimmen der Redenden aus weiter Ferne, und dennoch taten sie seinem Ohr weh. Er wußte kaum, daß er neben Pastor Jespersen getreten war, und dennoch hatte es ihn vielleicht zu ihm, als zu einem klugen Freund, hingezogen.
Der Pastor sprach mit dem Magister.
Und Joan, der hinzutrat, hörte den Pastor sagen:
»Ich habe mich herzlich über Ihre Auszeichnung gefreut.«
»Ich weiß nicht,« sagte der Magister, »ob ich mich darüber freuen darf.«
»Lieber Magister,« sagte der Pastor, »es ist doch eure seltene Ehrung, von der französischen Akademie ausgezeichnet zu werden.«
»Ja, gerade deshalb.«
Und indem seine heisere Stimme umschlug, sagte der Magister, ohne einen von ihnen anzusehen:
»Je größer mein Name wird, desto mehr Schaden kann er anrichten.«
Er verzog seinen froschartigen Mund.
»Das ist die Summe meines Lebens.«
»Sie sehen zu schwarz, lieber Herr Magister,« sagte Pastor Jespersen.
»Nein, bester Pastor« – und der Magister schüttelte seinen Kopf, während er in die Luft starrte – »ich sehe nur der Wahrheit ins Auge. Sollte wohl ein Rechenmeister wie ich nicht seine eigene Rechnung abschließen können?«
Der Kaufmann kehrte aus seinem Kontor zurück und blieb stehen.
»Sie sind so schweigsam heut abend, Herr Magister,« sagte er mit der Hand in der Tasche.
»Ja, lieber Johansen,« sagte der Magister und lachte, »der Narr findet keinen Grund zu reden, wenn das Volk selbst das Wort ergreift.«
Und er ging an Johannsens Seite fort.
Joan folgte ihm mit den Augen und fragte:
»Was hat denn diesen Menschen niedergebrochen?«
Der müde Schmerz in Joans Stimme ließ Pastor Jespersen den Kopf wenden.
»Niedergebrochen, ja, das ist er,« sagte er und er schien selbst bewegt.
Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort:
»Und was das Schlimmste ist: eigentlich durch sich selbst gebrochen.«
»Durch sich selbst?«
»Ja, ich meine,« sagte der Pastor, »durch das, was er nicht vermochte – durch das, was er nicht bewältigte. Der Magister gehörte zu denen, die in den Jahren, als die Losung europäische Kultur und Bauen nur auf Kultur war, an der Spitze standen. Und als er fast der Berühmteste von allen geworden war, wurde er natürlich eine Fahne in der Partei, die mit seinem Namen und seiner Berühmtheit hin- und herschwenkte – er ist Mathematiker …«
»Und dann?« fragte Joan.
»Dann veränderte er seine Anschauungen über Kultur, als er anfing, ihre Wirkungen zu sehen. Und ich weiß nicht recht, wie es zuging, denn ich war damals nicht in Kopenhagen und ich bin ja auch jünger als er – aber ich glaube, er bekannte seinen Abfall in einer Versammlung, seinen Abfall besonders in dieser unseligen Verteidigungssache. Er hielt verschiedene Zusammenkünfte, und seine Partei, die die Waffe wählen mußte, die hierzulande am sichersten trifft – lachte ihn aus …«
»Und,« fuhr der Pastor fort, »vor dem Gelächter floh er. Er ging und ließ das Ganze im Stich.
Jetzt wohnt er hier, außerhalb der Stadt in einem kleinen Hause, das er sich hat bauen lassen. Und seine alte Partei hat nach und nach seinen Namen wieder hineingeschmuggelt und gebraucht ihn als Waffe für das, was er selbst nicht mehr meint, und er schweigt – und ist gebrochen …«
Joan sagte nichts und der Pastor fügte hinzu:
»Ja, ja, das Gelächter hat viele Kräfte hier im Lande fortgeschwemmt.«
Joan, der seine letzten Worte nicht gehört haben mochte, sagte wie zu sich selbst:
»Es gibt hier so viele Unentschlossene.«
Und plötzlich lächelte der Pastor und sagte:
»Ach, da fällt mir etwas ein … ein Mann wie Sie, Graf Ujhazy, wird wohl auf seinem Wege von vielen schnurrigen Fragen überfallen. Aber wir gewöhnlichen Menschen sitzen ja in unseren Winkeln und brüten über unseren Gedanken, bis wir bei Gelegenheit damit herausplatzen … Es war Hamlet, an den ich gerade denken mußte …«
»Hamlet? …« Joan mußte unwillkürlich lächeln.
»Ja, in meiner Jugend habe ich mich viel mit dem Studium dieser Gestalt beschäftigt – es ist nicht immer meine Absicht gewesen, Geistlicher zu werden – und das Verhältnis zwischen Hamlet und Ophelia ist mir immer am schwersten verständlich gewesen …«
»Ophelia?« sagte Joan und sah den Pastor an – hastig.
»Ja, man kann sich so lange mit einer dichterischen Figur beschäftigen, nicht wahr, bis man gleichsam alles von ihr wissen möchte. Und ich meine, ob es nicht Hamlets größte Niederlage war, daß er (Pastor Jespersen suchte einen Augenblick nach einem passenden Wort, als sei er ängstlich geworden) Ophelia nicht zu eigen nahm …«
»Wenn sie sich nehmen ließ,« sagte Joan.
Als er aber die Worte gesagt hatte, leuchtete ein plötzliches Lächeln auf seinem Gesicht.
»Ob sie nicht gerade starb, weil er sie nicht genommen hatte?« fuhr Pastor Jespersen fort.
Und plötzlich fügte er hinzu, etwas verwirrt und als ob der Pastor in ihm eine Art Entschuldigung machen müsse:
»Ja, sehen Sie, es ist der alte Ästhetiker, der aus mir spricht. Im Grunde unseres Herzens sind wir alle Ästhetiker hierzulande.«
Als Joan noch immer nichts antwortete, wandte der Pastor sich um und sagte, vielleicht um von Hamlet und Ophelia fortzukommen:
»Frau Raabel besitzt viel Fingerfertigkeit.«
»Ja,« sagte Joan, der plötzlich hörte, daß noch immer gespielt wurde, »ich habe übrigens kaum zugehört.«
Und hastig fügte er hinzu:
»Wollen wir uns nicht setzen?« und er trat zu den Damen, die in einem Halbkreis unter der Hängelampe saßen.
Doktor Raabel hatte Joans Worte gehört und verließ seinen Platz am Türpfosten.
»Wissen Sie,« sagte er zu Ussing, »es müßte doch Grenzen geben selbst für einen Salon-Zigeuner.«
»Ihr Mann und ich,« sagte Joan, der sich neben Frau Jespersen setzte, »haben von Hamlet gesprochen ..«
»Von Hamlet und Ophelia.«
Gerda stand gegen einen Stuhl gelehnt.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte Joan und sie setzte sich.
Es wurde noch immer musiziert, als Frau Jespersen sich zu Joan beugte und leise sagte:
»Graf Ujhazy, Sie könnten Gerda eine große Freude machen.«
»Welche?«
»Wenn Sie ihr diesen Ring zeigten,« sagte Frau Jespersen und wies auf Joans kleinen Finger; »sie schwärmt so für Steine und Ringe.«
»Aber Frau Jespersen,« flüsterte Gerda.
Joan lachte, etwas zu laut, so daß Frau Raabel am Klavier ihren Rücken aufrichtete.
»Wenn wir in Veile sind, ist sie nicht von den Juwelierfenstern fortzubringen.«
»Hier ist er,« sagte Joan und reichte Gerda den Ring.
»Wie ist er herrlich! ..« Und Gerda betrachtete den Brillanten, den Ring selbst aber hielt sie zwischen den Fingern, als sei er etwas Fremdes oder zu schwer.
»Ja, er ist wundervoll,« sagte Frau Jespersen.
»Schwärmen Sie wirklich so für Edelsteine?« fragte Joan, der nur Gerdas Gesicht sah.
»Ja.«
»Weshalb?«
»O, das ist so eine romantische Vererbung,« lachte Frau Jespersen.
»Sieh mal, Henrik,« sagte sie zu ihrem Mann, der den Ring nahm und ihn vergnügt wie ein Kenner betrachtete.
»Ja, der ist rein in seinem Feuer,« sagte Joan.
»Selten,« sagte Pastor Jespersen.
»Ich hab' ihn von einem Freund bekommen, der kürzlich gestorben ist,« sagte Joan.
Und plötzlich fügte er hinzu, etwas lauter und wie jemand, der eine bestimmte Absicht verfolgt:
»Er fiel in einem Duell.«
Gerda hatte ihren Blick gehoben.
»In einem Duell?« fragte Frau Jespersen.
»Ja, er wurde getötet. Er war der letzte Herzog von Monthieu.«
»Getötet?« rief Gerda aus.
»Von wem denn?« fragte Frau Jespersen.
»Von einem großen Maler,« sagte Joan, dessen Stimme sich nur an eine wandte, »dem Maler Adelskjold, dessen Frau er liebte.«
Frau Lorentzen hatte sich den Ring geben lassen und hielt ihn wie eine Zwiebel von sich ab.
Joan aber fuhr fort und es war, als ob seine halbflüsternde Stimme den Tönen des Klaviers folgte:
»Es gab eine alte Prophezeiung in François' Geschlecht, daß der letzte der Monthieus sein Lebensglück mit dem Tode bezahlen solle.«
Frau Lorentzen gab die Zwiebel an den Direktor weiter, der herangetreten war.
»Wie alt war er?« fragte Frau Jespersen leise, indem sie sich vorbeugte.
»So alt wie ich,« sagte Joan und sah nur Gerda, deren Blick ins Weite gerichtet war, als wende sie die Seiten eines Buches, in dem sie las.
Der Vorsteher, der den Ring betrachtet hatte, gab ihn weiter und sagte:
»Unser kleines Land ist nicht an solche Kostbarkeiten und solche Verhältnisse gewöhnt.«
»Nein,« sagte Frau Jespersen mit einem Lächeln, das der Direktor nicht sah, »so etwas liegt uns zu fern.«
»Es war wohl in Paris,« sagte Frau Lorentzen, als ob alle Buchstaben dieser Stadt stänken.
Joan aber, dessen Stimme noch immer leise zu rufen schien, fuhr fort, in dem seltsamen Verlangen, seinen toten Freund oder vielleicht sich selbst beste Licht zu setzen:
»Monthieu war der vornehmste Mensch, den ich gekannt habe. Er war ein Freund von Guy de Maupassant …«
»Haben Sie auch Maupassant gekannt?« fragte Frau Jespersen.
»Guy de Maupassant? ja, ich lernte ihn einige Jahre vor seinem Tode kennen.«
»Haben Sie seine Bücher gelesen?« fragte er Gerda.
»Ja,« antwortete sie, mit demselben fernen Ausdruck in ihren Augen.
Kaufmann Johansen, der Joans Ring betrachtet hatte, gab ihn zurück und sagte – mit dem Mißmut des Geldmannes über einen unrentablen Wert:
»In dergleichen legt man ja im Auslande viel Geld an.«
»Wir haben keinen Blick dafür,« sagte der Direktor.
»Fräulein Gerda schwärmt doch sehr für edle Steine,« sagte Joan und lächelte. Er hatte gesehen, wie ihre Augen dem Ring folgten, als er wieder über seinen Finger glitt.
»Das liegt in ihrer Natur,« sagte der Kaufmann, mit derselben halb zornigen Stimme.
Die Töne der Musik klangen stärker, während Frau Jespersen, die das Kinn in die Hände gestützt hatte, sagte:
»Es ist merkwürdig, daß so viele Romanschriftsteller ihren Verstand verlieren.«
»Das liegt wohl an dem Leben, das sie führen,« sagte Frau Lorentzen, deren Mund einem zusammengezogenen Wurstende glich, »man weiß doch, wie in den welschen Ländern gelebt wird.«
Frau Jespersen schien es überhört zu haben, denn sie nannte mit derselben ehrerbietig stillen Stimme Dostojewskys Namen.
»Der hat in einem Kopenhagener Feuilleton gestanden,« sagte die eine Schleswigerin.
Frau Lorentzen aber sagte von ihrem Platz aus, wo die Damen gleichsam eine Front bildeten:
»Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß man in der Kaplanwohnung an mancherlei Dingen Geschmack findet.«
Der Direktor griff ein:
»Unsere Skalden sind glücklicherweise gesund. Und ich gestehe, mich interessiert nicht viel von dem, was augenblicklich über die Grenze kommt. Die Sitten dort draußen sind so andersartig, und geistig gesehen, wird wenig Neues geboten.«
Frau Jespersen aber, die dem Gespräch eine andere Richtung geben wollte, schlug plötzlich Gerda aufs Knie und sagte lachend:
»Schläfst du, Gerda?
Denn Gerda,« fuhr sie zu Joan gewandt fort, »fällt manchmal wie Dornröschen in Schlaf.«
Joans Gesicht zitterte eine Sekunde:
»Hinter der hohen Hecke,« sagte er.
Die Musik verstummte plötzlich und alle schwiegen wie mit einem Ruck, so daß man Frau Raabel, die sich vom Klavier erhob, zu Herrn Haacke, der in Schweiß gebadet war, sagen hörte:
»Ja, man fühlt, wo die echten Musikwerte sitzen,« und als sie in die Tür trat, sagte sie mit einem Lächeln, das ein ganz klein wenig bebte:
»Für die Zuhörer aber war es zu lang.«
Alle waren aufgestanden und umdrängten Frau Raabel und dankten sehr laut, mit vielen Worten – Frau Lorentzen an der Spitze. Die Lobreden zogen gleichsam einen Kreis um Hans Haacke und Frau Raabel, während Frau Lorentzen ihnen die Hände drückte wie bei einer Freundesbegegnung und die Rücken der Schleswiger waren Joan wie zwei schwarze Striche zugekehrt.
Joan hatte sich stehend vor Frau Raabel verbeugt.
Und der Doktor, der es gesehen hatte, sagte ziemlich laut:
»Ja, was man nicht gehört hat, darüber muß man sich ja lieber nicht äußern.«
Frau Lorentzen aber, deren unbewußt angesammelte Galle sich in zuckersüßem Honig über Frau Raabel ergoß, sagte:
»Sie sollten sich doch häufiger unserem Kreis in der Fabrik zugesellen.«
Frau Raabel, die bescheiden ihren Kopf mit dem Levkojenstrauß hinterm Ohr schüttelte, sagte:
»Ja, ja, wir Ärmsten hierzulande können vielleicht auch ein wenig.«
Der Direktor, der einen Augenblick über Frau Lorentzens Herzlichkeit gegen Frau Raabel verwirrt war, beeilte sich zu sagen:
»Ja, unsere heimatliche Kunst erfassen wir mit dem Herzen.«
Joan aber, der sich hastig gesetzt hatte und jetzt, wo alle fort waren, sprechen wollte, sagte zu Gerda:
»Weshalb sagen Sie nie Ihre Meinung?«
»Was meinen Sie damit?«
»Ihre Meinung?« wiederholte Joan nur.
Gerda, die noch immer mit vorgebeugtem Kopf dasaß – die Gestalt aber schien in dem Stuhl ganz 311 verschwinden – sagte:
»Meine Meinung … ich hab' wohl gar keine … nur was ich so denke …«
»Dornröschen,« lachte Frau Jespersen mit einem Lachen, das nicht ganz froh war, »Dornröschen.«
Dann aber sagte sie:
»Glauben Sie nicht, Graf Ujhazy, daß die persönliche Meinung eines Menschen versiegen kann?«
Und indem sie vor sich hin blickte, sagte sie:
»Hierzulande gibt es, glaube ich, nur fünf oder sechs Meinungen – für mehr ist kein Platz da. Und alles andere kommt nicht auf.«
»Nein,« sagte der Pastor, der sich neben seine Frau gestellt hatte, »hierzulande schweigen viele von den Besten und die Unbedeutendsten lachen.«
»Lachen?«
»Das heißt,« sagte der Pastor, »hier in der Gegend wird nur gelächelt Aber das Lächeln kann dasselbe ausrichten.«
Frau Jespersen hatte ihre Hand über ihre Schulter hinaufgereicht:
»Du Lieber.«
Und die beiden begegneten sich in einem Händedruck.
Joan war mit den Augen ihren Händen gefolgt. Und als ob er sich mit einem Sprung in seine eigenen Worte hineinstürzte, begann er von François de Monthieu zu erzählen und von Guy de Maupassant und von Paul Hervieu, seinem Freunde, dessen Rede er in der Akademie gehört, und von Mme. Viardot, von der Turgenjew gesungen habe: Sie war siebzig Jahre und noch schön.
Und er erzählte von Versailles, wo er so gern mit Monthieu und dem jüngsten Mac Mahon gegangen sei. Es wäre so schön dort im Oktober in den Kastanienalleen, unter den Kastanienbäumen, deren Blätter dufteten, wenn sie fielen.
Dort wohnte Frau de Monthieu, als François noch lebte.
Joan erzählte von dem Fest im Hause der Herzogin, wo die Mediceer eine Nacht zugebracht hätten und wo Frau Adelskjold im weinroten Sammetkleid, mit den Edelsteinen der Rohans geschmückt, von der Florentiner Jugend mit erhobenen Klingen begrüßt worden sei.
Joan fuhr fort zu erzählen, hastig, als wolle er mit seinen Worten, wie mit einem goldenen Stab, das Leben in der Luft zeichnen, das Leben dort draußen, das das der Größten war, und seines …
Frau Jespersen hatte ihren Kopf gesenkt.
Gerda saß noch da wie vorhin. Nur ihre Schultern sanken zusammen, als würde sie kleiner, während Joan kein Auge von ihrem Gesicht verwandte.
Und er erzählte weiter. Von Berlin, wo alle Türen des Lebens offenstanden und Osten und Westen sich begegneten, wo man Asiens Männer sähe und Frauen, die über den Atlantischen Ozean gekommen seien.
Er sprach hastiger, mischte die Sprachen durcheinander, ohne die richtigen Worte zu finden, fuhr unaufhaltsam fort – und sah nur ihr Gesicht, das ferner und ferner wurde vor seinen Augen. Und dennoch fuhr er fort. Und in seinem Inneren, irgendwo in seinem Inneren fragte er sich plötzlich selbst: weshalb sprichst du von all dem, was du selbst verabscheust? Und er wußte weshalb; und wußte – wußte plötzlich mit Sicherheit, daß es vergeblich sein würde; vergeblich, ganz vergeblich. Und dennoch fuhr er fort, vor ihr (und sie glich einem zusammengesunkenen Kinde) zu sprechen und zu fangen.
Bis er einen Augenblick innehielt und Erich sagen hörte – wie jemand, der unterbrechen will:
»Ja, das alles liegt nun weit, weit fort.«
Joan richtete plötzlich feine Augen auf die, die ringsherum zuhörten, während er über seine eigenen Worte stolperte … und Erich fing an zu lachen, entweder weil er ihn gutmütig decken oder weil er ihm Einhalt tun wollte.
Joan sah das Gesicht des Direktors, das mit einem Lächeln über dem ererbten nationalliberalen Schlips ruhte, und den Tabakhändler, der ihn mit hochgezogener Lippe anschielte, so daß seine Augen ganz verschwanden, und den Kandidaten, der ein Gesicht zu Frau Lorentzen hinüber schnitt, während der Doktor lachte und sagte:
»Sprechen Sie deutsch, Herr Graf, das geht besser.« Bei diesem Lachen war es ihm, als ob in einem Augenblick, in weniger als einer Minute, seine Erinnerungen, seine Kindheit, seine Jugend und alle Erinnerungen seines Lebens auf ihn eindrangen, auf ihn, Joan
Ujhazy – ausgelacht, ausgestoßen, verhöhnt, Joan Ujhazy, zwischen lauter Fremden.
Und als ob der Schmerz ihm noch einmal zwanzig Ohren verliehe, hörte er Frau Raabel zu Hans Haacke sagen, während sie kurz auflachte:
»Jetzt will er uns Arme überholen.«
Der Direktor sagte über seinen Schlips hinweg zum Fabrikanten:
»Ja, ja, das ist Europa, wie man so sagt.«
Ussing aber hatte die Schultern hochgezogen und sagte zu Frau Lorentzen:
»Diese Ungarn tragen immer reichlich viel Zierat auf ihren Röcken.«
Frau Jespersen aber, die nichts gehört hatte, hob ihren Kopf und sagte:
»Das sind Dinge, die wir beide, Gerda, nie zu sehen bekommen werden.«
Gerdas Augen waren geschlossen.
Plötzlich aber hatte Johansen seine geballte Hand erhoben (erriet sein starkes Gehirn das Gewebe hier im Zimmer, das Gewebe zwischen zwei Menschen?) und er sagte zornig:
»Nein, wir bedürfen hier nicht solcher großen Triebräder.«
Als plötzlich alle schwiegen, hörte man Frau Lorentzen Herrn Haacke inständig bitten, daß er noch etwas spielen möge, bevor man aufbrechen müßte – –
»Ja, nun müssen wir wohl gehen,« sagte Erich.
Das eine Wort hatte Joan wie ein Schlag getroffen.
»Ja,« sagte er und versuchte aufzustehen.
Der Doktor, der neben dem Uhrmacher auf der Türschwelle stand, betrachtete ihn und sagte:
»Was hat der Mensch getrunken?«
»Ich weiß nicht,« sagte der Uhrmacher und kicherte, »aber Johansens Gebräu pflegt ja nicht ganz harmlos zu sein, nicht?«
Hans Haacke war zum Klavier gegangen und begann die Mazurka zu spielen.
Alle saßen still, vielleicht weil sie zeigen wollten, daß sie jetzt zuhörten. Johansen stand mitten im Zimmer.
Seine geballte Faust ruhte im Ärmelloch.
Und vorwärtsgetrieben, fast ohne seine eigenen Worte zu hören oder sie zu fassen, sprach Joan von neuem, von der »Insel« – von der Insel der Verfluchten, wo er Glück schaffen wolle …
Und er sprach davon, wie sie eine Freistätte werden solle für die Gequälten; und die Unglücklichen sollten dort Aufnahme finden und Verbrecher, die geflohen seien, und die Vielen, denen das Leben Wunden geschlagen habe, sie alle sollten dort aufgenommen werden …
Er sprach und wußte selbst nicht, woher er seine vielen Gedanken bekam – von einem Hospital sprach er, das neben der Mühle seiner Mutter gebaut werden und das Veilesruh heißen solle …
Gerdas Augen ruhten stumm auf seinem Gesicht.
»Veilesruh soll es heißen – –«
Er hielt inne.
»Zur Erinnerung an Ihre Mutter,« sagte Frau Jespersen ebenso leise wie er.
»Ja, zur Erinnerung,« sagte Joan plötzlich – und es war ihm, als hätte er mit seinen Händen einen ganzen Baum entblättert.
Frau Jespersen aber zog plötzlich fröstelnd die Schultern zusammen (empfand auch sie, daß hier etwas geschah, wo nichts geschah?)
»In dieser Mazurka tanzen die Geister,« sagte sie.
Der Pastor, der noch immer hinter seiner Frau stand, sagte langsam:
»Wie die Kunst doch reich ist. Mir ist, als hätten wir heut abend ein ganzes Leben als Geschenk empfangen.«
»Das haben Sie vielleicht auch, Herr Pastor,« sagte Joan und stand auf.
Der Kaufmann hatte keinen Blick von seiner Tochter verwandt.
Die Mazurka war zu Ende.
Johansen hatte seinen Geschäftsführer gerufen:
»Schenken Sie noch einmal ein und Gerda soll Ihnen helfen.«
Joan hatte sich eine Sekunde gegen Erichs Schulter gestützt.
»Du hast zuviel gesprochen,« sagte dieser, als er Joans Körper so schwer gegen den seinen fühlte.
»Und man soll sich in acht nehmen, bevor man sich hingibt,« sagte er und lachte.
Und bei seinem Gelächter lachte auch Joan – laut und kurz.
Der Doktor flüsterte Johansen zu, in dessen Gesicht eine Flamme emporgeschlagen war:
»Jetzt lachen die Herren Grafen über den Pöbel.«
»Mag sein,« sagte der Kaufmann und führte plötzlich seine Faust wie einen Hammer durch die Luft.
»Aber es gibt wohl jemanden, der ihnen das Lachen vergehen lassen kann,« sagte Doktor Raabel einschmeichelnd.
Johansen antwortete nicht, sondern ging nur, die Augen noch immer auf die Tochter gerichtet, auf eine Gruppe Damen zu, die sich zum Aufbruch zu bereiten schienen.
»Wollen Sie bereits aufbrechen, meine Damen?« fragte er.
Frau Jespersen war auf Joan zugegangen:
»Mein Mann und ich müssen jetzt gehen,« sagte sie.
»Und nun sehen wir uns vielleicht nie wieder,« fügte sie hinzu und sah vor sich hin.
Joan konnte nicht antworten. Frau Jespersen aber folgte der Richtung seines Blickes:
»Ja, ja, alle müßten jetzt aufbrechen. Die arme Gerda sieht aus, als ob sie sich nicht mehr aufrecht halten kann.«
Sie wandte den Kopf und sah Joan an:
»Aber Sie sind auch müde, Graf Ujhazy, und müssen sich ausruhen.«
»Ja,« sagte Joan, »jetzt werde ich Zeit haben, mich auszuruhen.«
Er ergriff Frau Jespersens Hand:
»Mögen Sie recht glücklich werden,« sagte er.
»Glück ist ein großes Wort,« sagte sie. »Gute Nacht und schlafen Sie wohl, Graf Ujhazy.«
»Wollen wir nun aufbrechen,« sagte Erich zu Joan hinüber.
»Ja,« sagte Joan, ohne seinen Kopf zu bewegen:
»Nun will ich Lebewohl sagen.«
Und hoch aufgerichtet, wie ein Gespenst gehen würde, so schritt er durch die Zimmer. Die Menschen sah er nicht und hörte nicht ihre Worte. Die Räume aber sah er, während es war, als ob alles Blut sein Herz verlassen hatte. Dort stand Johansens Schrank und dort war sein Platz, wo er mit seinen schweren Büchern saß. Eines Tages sollte der Geschäftsführer sie weiterführen.
Dort hatten sie gesessen. Es war die Festtafel. Jetzt waren die Tischtücher besteckt.
Hundert Jahre – hundert Jahre waren seit damals vergangen.
Hier war Urgroßmutters Stuhl … und dort hingen alle Bilder … die von Veile.
Dort hatte die »Dämmerung« gehangen. Morgen würde sie wieder an ihren Platz kommen.
Morgen.
Es war, als ob Joan seine Augen aufrisse: morgen.
Aber dann gab er allen die Hand und sah keine Gesichter und redete alle auf französisch an, obgleich niemand ihn verstand; und kam erst zu sich, als er neben dem Klavier stand, wo der Tabakhändler saß und mit einem Finger die Melodie zu »Ritter Aage« zu spielen versuchte.
»Soll's jetzt sein?« sagte Larsen: »aber es war ein herrlicher Tag.«
Larsen fing an zu lachen, so daß die runden Augen ganz verschwanden:
»Sie sind 'n Schlauberger, Herr Konzertgeber,« sagte er und schlug wieder mit dem einen Finger auf »Jungfer« an: »denn mit dieser Überraschung bekommen Sie zwei Monate lang volle Häuser in ganz Jütland.«
Joan hatte verstanden, was er meinte, und eine Blutwelle schoß ihm ins Gesicht.
»Glauben Sie?« sagte er nur und ging weiter.
Dort stand sie, an der Tür, durch die er hinausgehen mußte …
»Kommst du,« sagte Erich.
»Ja, ich komme,« sagte Joan.
Sie rührte sich nicht – er mußte die letzten Schritte gehen.
Jetzt war er da (und fühlte, daß alles Licht auf seinem Gesicht lag, während sie das ihre verbarg):
»Leben Sie wohl, Fräulein Gerda.«
»Leben Sie wohl.«
Da aber tauchte der Magister neben ihnen auf und sagte mit seiner Vogelstimme:
»Wir werden uns lange Ihrer erinnern …«
Joan sah Gerda an:
»Sie auch?«
Eine Sekunde (mit dem Blick einer Hindin, die, in ihrer Lende getroffen, verblutet) hatte Gerda die Augen zu ihm aufgehoben.
Und Joan war gegangen und die Tür hatte sich hinter ihm geschlossen. Und er wußte, daß er die Worte »Sie auch?« bereuen und daß es ihn gleichzeitig glücklich machen würde, sie gesagt zu haben – sein ganzes Leben lang.
Erich und er kamen auf die Straße hinunter, die dunkel war, und plötzlich hörten sie Lärm oben aus den Fenstern. Es waren die Gäste, die zu den Fenstern geströmt waren. Frau Raabel hatte die halbverwelkten Blumen vom Speisetisch ergriffen und, über Kandidat Ussing gelehnt, warf sie sie auf Joan herab, während Raabel, auf einem Stuhl stehend, ein Hurra über die Straße schrie, so daß drüben in »Dänemark« alle Leute an die Fenster stürzten.
»Komm schnell,« sagte Erich, und als ob er einen schlechten Geschmack im Munde habe, fügte er hinzu:
»Huh, was ist dieses Land für ein verfluchtes Theater. Und die Gemeinheit sitzt im Souffleurkasten.«
Hinter ihnen wurde noch immer Hurra gerufen, während sie durch Hotel »Dänemarks« gähnendes Torloch gingen.
In dem Saal des Hinterhauses wurde getanzt. Durch die Fenster sah man die dicht aneinandergedrängten Paare über den staubbedeckten Fußboden walzen.
»Ja, ja,« sagte Herr Jensen, der vor Erich die Treppe hinauftänzelte und dessen Kleider so saßen, als wären sie im Laufe des Abends zehnmal aus- und angezogen worden:
»Das sind die Temperenzler. Die müssen ja auch was haben und darum haben sie sich dort eingerichtet.«
Herr Jensen wandte sich wieder um und lachte:
»Die Treppe schaukelt von der vielen Bewegung. Das liegt am Grund.
Bitte,« sagte er und riß die Tür zu Joans Zimmer auf.
Herr Jensen ging und Erich setzte sich aufs Sofa. Der Lärm im Hause schlug durch den schlecht gefügten Fußboden wie der Spektakel eines Jahrmarktes zu ihnen herauf.
Joan stand am Fenster.
»Wonach schaust du aus?« fragte Holstein und erhob sich müde.
Joan hatte zu Johansens herabgelassenen Gardinen hinübergestarrt.
»Nach den Schatten,« sagte er.
Der Violinkasten stand auf dem Tisch und Joan öffnete den Deckel:
»Nun habe ich zum letztenmal gespielt,« sagte er.
»Was soll das heißen?«
Joan blickte die Violine an, aber in seinen leeren Augen war kein Schmerz:
»Daß ich nicht mehr spielen werde.«
»Aber, Mensch, du sollst ja morgen in Esbjerg spielen,« sagte Erich, der nicht wußte, ob Joan seine fünf Sinne beisammen habe.
Joan aber schüttelte still den Kopf:
»Nein, hier hat die Reise ihr Ende gefunden.«
Erich, der kein Wort begriff, schwieg einen Augenblick und sagte dann:
»Was willst du dann anfangen?«
»Ich reise nach Hause,« sagte Joan und schloß den Violinkasten.
Es war still im Zimmer. Ein Wagen fuhr im Hof vor.
Erich sagte und hatte sich wieder gesetzt:
Joan antwortete nicht und Holstein fragte wieder und schob die Lippen vor:
»Willst du deine »Hospitäler« bauen?«
Joan schüttelte den Kopf:
»Die werden nie gebaut.«
Er stand eine Weile schweigend da. Dann sagte er:
»Wollen wir einen Augenblick ins Freie gehen. Die Luft ist schlecht hier im Zimmer.«
Als sie in den Hof hinunterkamen, fuhr der Wagen gerade fort. Es war ein Bankwagen mit vielen Menschen. Auf der dunklen Straße fingen sie an zu singen, so daß es durch die Dunkelheit schallte:
Es ist ein herrlich Land.
Es braust mit breiten Wogen
Zum grünen Ostseestrand,
Zum grünen Ostseestrand.
Es buchtet sich in Berg und Tal,
Dänemark ist sein Name,
Und es ist Frejas Saal,
Und es ist Frejas Saal.
»Das sind die Nordschleswiger,« sagte Erich.
»Ja,« sagte Joan, und während das Lied ihm plötzlich ins Bewußtsein drang, sah er Ane vor sich, wenn sie daheim singend am Grabe seiner Mutter saß.
»Ja,« sagte er: »das Lied kenne ich.«
Und um überhaupt etwas zu sagen und zu sprechen, fügte Erich hinzu, dem zumute war, als habe der Weg plötzlich einen Riß bekommen:
»Und nun singen sie bis zum Grenzpfahl und dann hört die Wache sie – – und dann schikaniert man sie … ein andermal.«
Joan antwortete nicht. Während der Gesang auf den Feldern hinstarb, gingen sie schweigend nebeneinander her.
»Laß uns auf den Berg hinaufgehen,« sagte Joan.
Sie gingen längs des Pfades. Der Himmel war noch blau mit vielen Sternen.
»Es ist fast wie eine Herbstnacht,« sagte Erich.
Joan antwortete nicht. Vielleicht dachte er an all die hundert Dinge; vielleicht hatte er bereits alles begraben.
Sie kamen zum Rande der kleinen Anhöhe. Der Blick reichte in der Dunkelheit nicht weit.
Erich, der gern sprechen wollte, nur um dieses tote Schweigen zu unterbrechen, sagte:
»Bis hierher reichte einst mein Grund und Boden.«
»Reichte?« fragte Joan, der plötzlich zuhörte.
»Ja, bevor ich anfangen mußte zu verkaufen …«
»Weshalb mußte?« fragte Joan und hatte seinen eigenen Schmerz vergessen. »Ist der Boden schlecht?«
»Nein,« sagte Erich, »aber es steht schlecht um mich.«
»Wieso denn, Erich?«
Es war ihm entfahren, und dann hielt er inne – so hastig wie jemand, der nach etwas gefragt hat, das er bereits weiß.
»Hm,« sagte Erich, »du weißt es gewiß schon. Hierzulande ist man keine drei Stunden mit den Freunden eines Freundes zusammen, ohne Bescheid zu wissen.«
Er verharrte eine Weile schweigend. Dann sagte er und seine Stimme zitterte durch die Luft:
»Ich möchte wissen, ob es hierzulande einen Rücken gibt, der nicht von dem Hieb eines Freundes blutet.«
Und als ob Joans schweigendes Gesicht, das auf ihn gerichtet war, fragte, sagte Erich:
»Das ist so Landessitte. Wir sind scherzhaft veranlagt hier in unserem Dänemark. Und am scherzhaftesten beschäftigen wir uns mit dem Ruf und dem Leben unseres Nächsten …«
»Aber du hast sie doch so lieb,« sagte Joan, und dachte nur an Erichs Frau.
»Ja, … und sie mich vielleicht auch. Und dennoch,« fuhr er fort: »für mich gibt's keine Rettung mehr.«
»Erich,« flüsterte Joan, und beide starrten in die Dunkelheit.
Sie schwiegen wieder, bis Joan die Stille unterbrach, indem er fragte:
»Wer kaufte dein Land?«
»Johansen.«
» Er?«
»Ja,« sagte Erich: »er hat eine starke Hand und … wird auch wohl den Rest nehmen. Wir Gutsbesitzer hängen hier nur von der Gnade des Bauernkaufmannes ab.«
Er schwieg eine Weile. Dann sagte er:
»Und eines Tages soll der Geschäftsführer das Geschäft übernehmen – aber erst muß er sieben Jahre dienen.«
»So hab ich's auch verstanden,« sagte Joan in die Dunkelheit hinein.
Erich wandte beim Klang seiner Stimme den Kopf. Aber er sprach noch nicht gleich. Über den Feldern war ein fernes Sausen zu hören.
»Du aber, Joan – wir sind ja noch nicht alt – weshalb suchst du dir keine Frau?«
»Ich?« sagte Joan.
Beide sahen dem Nachtzuge entgegen und dem Licht der Lokomotive, das wie ein Feuerauge durch die Dunkelheit auf sie gerichtet war.
»Ich?« sagte Joan und seine Stimme war so bleich wie sein Antlitz:
»Erich, ich muß allein sterben.«
»Aber weshalb denn?«
»Die Insel hat keine Frauen. Welche sollte ich lieben?« Und lauter, wie in einem unergründlichen Schmerz, fügte er hinzu:
»Und wenn ich liebte, wie sollte ich sprechen können? Ich habe ja keine Muttersprache.«
Erich hatte ihm beide Hände entgegengestreckt:
»Joan.«
Er fand keine Worte, nur seinen Namen. Eine Weile nachher aber sagte er:
»Und du willst nicht mehr spielen?«
»Nein,« sagte Joan und er sprach wieder ganz ruhig: »dies war meine letzte Reise und mit heute ist es vorbei.«
»Aber weshalb, du?«
»Weil ich einen Größeren gehört habe.«
Erich sah ihn an:
»Und du wolltest »der Größte« sein?«
»Nein, aber der andere spielt von dem Größeren.«
»Von einem neuen Jubel.«
Erich sah ihn an, wie jemand, der nicht versteht.
Joan aber sagte nur:
»Er sprengte über die Dornenhecke.«
Die Dunkelheit umhüllte sie wie Mäntel, die ihre Gestalten verbargen.
»Aber was willst du denn jetzt beginnen?«
Joan antwortete durch die Dunkelheit:
»Wir alle, die den Namen Ujhazy tragen, müssen auf der Insel bleiben und auf der Insel sterben.«
Erich aber sagte und seine Stimme zitterte:
»Aber hier, Joan, hier war doch die Heimat deiner Mutter – such dir hier ein Vaterland.«
Joans Stimme klang härter, als er langsam antwortete:
»Wenn dies ein Vaterland ist, so ist es nicht das meine.« Und schmerzlicher, während er in die Nacht hinausstarrte, fügte er hinzu:
»Sie lieben es nicht, weil sie es noch besitzen. Und wenn einer käme, der es lieben würde, dann würden sie ihn steinigen.«
Er verharrte eine Weile schweigend.
»Komm, wir müssen gehen,« sagte er dann.
»Laß mich dich führen,« sagte Erich und nahm seinen Arm.
Sie gingen schweigend nebeneinander her. Jeder fühlte, daß des anderen Körper bebte – wie vor Kälte.
Sie kamen an der Kirchhofsmauer vorbei.
»Das ist der Kirchhof,« sagte Erich.
»Ob die Frieden gefunden haben?« sagte Erich.
Joan antwortete nicht und sie sprachen nicht mehr.
Als sie aber vor dem Tor des Hotel »Dänemark« standen, sagte Erich und die Worte drängten sich hervor:
»Joan, ich finde es zu traurig.«
»Was?« fragte Joan.
Und während er lächelte, fuhr er fort:
»Wenn ich nun schweige, wie ich's so lange gewünscht habe, ist nur wenig verloren. Was hab' ich denn den Menschen gegeben, das bestehen wird?«
»Aber das Leben, Joan, das Leben?«
Joan hatte seine Augen auf das dunkle Haus des Kaufmannes gerichtet:
»So dänisch war vielleicht auch ich, Erich, daß ich eine kurze Weile von Glück träumen konnte – – träumen, es für andere zu schaffen.«
Es zuckte in Erichs Gesicht:
»Sehen wir uns nie wieder?«
»Vielleicht.«
Joan beugte sich vor und drückte seinen Mund auf Erichs Wange.
»Gute Nacht,« sagte er und ging hinein.
Der Lärm im Hause war verstummt. Nur aus dem Hinterhause hörte man noch einige Männerstimmen.
Als Joan in sein Zimmer kam, saß Hans Haacke auf einem Stuhl.
»Sind Sie noch nicht zu Bett?«
Das Blut schoß Hans Haacke in das runde Gesicht:
»Nein,« platzte er heraus: »denn ich wollte Ihnen gleich etwas sagen, Graf Ujhazy. Wenn man auch nur Konzertbegleiter ist, so kann man doch ein Künstler sein, und ich will mir Ihre Verhöhnung nicht länger gefallen lassen …«
»Verhöhnung, bester Haacke.«
»Ja, Verhöhnung … es ist keine Art und Weise, Champagnergelage abzuhalten, wenn ich spiele.«
»Lieber Haacke, Sie sind hier im Lande ganz verstört geworden.«
»Ja,« sagte Hans Haacke: »weil ich hier Freunde gefunden habe, die mir über die Behandlung, die mir zuteil wird, die Wahrheit gesagt haben.«
Joan hatte gelächelt:
»Ja,« sagte er langsam: »Die Dänen sagen die Wahrheit. Darin haben Sie recht.«
Er hatte geklingelt.
»Wir sprechen morgen weiter miteinander, bester Haacke,« sagte er.
Herr Haacke wollte etwas sagen, ging dann aber hinaus.
Als der Berliner hereingekommen war, sagte Joan:
»Wir reisen morgen um halb acht Uhr.«
»Halb acht?« sagte der Berliner: »halb acht … das ist der Zug nach Deutschland.«
»Ja.«
»Wollen wir denn … nach Deutschland?«
»Wir wollen fort,« sagte Joan.
Der Berliner hatte die beiden Wachslichter beim Bett angezündet.
»Gute Nacht,« sagte er und ging hinaus.
Joan Ujhazy entkleidete sich. Im Hause war alles still. Ein letzter Wagen rollte durch die Straße. Es waren die letzten Nordschleswiger und sie sangen.
Joan lag auf seinem Bett. Der Schein der Wachskerze fiel gelb auf sein Gesicht.
Und wißt ihr die Nacht noch, bevor aus der Burg
Wir zogen dem Feinde entgegen,
Und alles verstummt', als die Mitternacht
Laut erscholl in wuchtigen Schlägen.
Da rief er: Kinder, frischauf zur Schlacht
Um in Kolding zu sein vor der nächsten Nacht …
Wir hatten gesiegt, eh' der Tag sich neigte,
Das Ziel jedoch keiner von uns erreichte …
Der Gesang starb dahin.
Joan hatte seine Arme zum Kopfende des Bettes hinaufgestreckt. Die Handflächen waren im Schein des Lichtes nach oben gewandt.
Ende