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Erster Teil


Erstes Kapitel

Joan Ujhazy sah zum Kupeefenster hinaus. Es war immer dasselbe Bild. Während der Zug sich rumpelnd in Bewegung setzte, hob der Bahnhofswärter die Eimer und ging mit schweren Füßen über den nassen Perron. Dort wohnte der Schneider und der Schuhmacher und dort ein Uhrmacher. Eine Uhr hing in seinem Fenster: Hm, die Lote gingen, die große Scheibe aber war leer und ohne Zeiger. Und dort wohnte der Tischler. Sein Schild war ein schwarzer Sarg. Der eine Schornstein aber gehörte zur Meierei. Dann bogen die Telephondrähte wieder auf Felder ein, deren Erde ohne Farbe war. Sie hingen so schlaff unterm Regen, als hätten sie sich von Pfahl zu Pfahl, von Stange zu Stange nicht viel auf dem Felde zu erzählen. Joan Ujhazy fuhr fort, wie es seine Gewohnheit war, die Worte für das, was er sah, in der Sprache seiner Mutter vor sich hin zu sagen: »Felder, Felder, flache Felder; ein Haus, niedriges Haus; zwei Vögel, zwei graue Vögel … und Regen.« Und plötzlich in einer anderen Sprache Zuflucht suchend und beide Arme zum Himmel reckend, sagte er: » Ah, la pluie, cette pluie morne

Als er den Kopf wandte, fiel sein Blick auf Hans Haacke, der in der entgegengesetzten Ecke saß, die weißen Klavierhände gefaltet und mit runden Augen vor sich hinstarrend – er war, wie gewöhnlich, in Gedanken zu Hause in Brüx, bei der Bäckerstochter, der Nachbarstochter in Brüx, seiner Braut. Joan Ujhazy wandte wieder den etwas zu kleinen Kopf und blickte auf dieselben Felder hinaus. »Felder, Felder, flache Felder. Drei Vögel – graue Vögel.« Er fuhr noch fort, die dänischen Worte in Gedanken zu wiederholen – die Worte in der Sprache seiner Mutter. Wie seltsam, daß er es vergessen konnte und daß er es erst zufällig auf der Hotelrechnung heute morgen gesehen hatte, daß heut der achte März war.

Jetzt war Ane daheim schon mit ihren Kränzen zur Stadt gefahren, wie sie es an jedem Geburtstag der Mutter zu tun pflegte. Sie band sie aus Veilchen, die so üppig auf der Wiese unterhalb des Abhanges blühten, wo Dmeters Weinstöcke standen. Und dann war sie gebückt und gebrochen zum Friedhof gepilgert, hatte auf der kleinen eisernen Bank an der Mauer unter dem Wappen gesessen und ihre Psalmen übers Grab hinaus gesungen. Ane kannte zwei. Sie hatten keine Töne und keine Melodie, Ane aber saß unbeweglich an der Mauer und sang unentwegt:

Weihnachtsfreude, ewige Freude,
Heiliger Sang mit himmlischem Klang.
Engel erschienen der Hirtenschar,
Als der Herr geboren war.
Der Sang der Engel ist ewiglich,
Der Sang der Engel ist ewiglich.

Als Joan klein war, saß er immer neben Ane auf der Bank. Er fand, daß es fast so klang, als ob Nik, der russische Windhund, bellte, der gestorben war, weil ihn im Winter immer so fror. Die ruthenischen Mädchen, die am Stadtbrunnen wuschen, guckten über die niedrige Mauer auf Ane herab, und die rumänische Frau des Zollverwalters, die oben in ihrem Fenster lag, die nackten Arme auf die schmutzigen Fensterkissen gestützt, lachte zu den ungarischen Gendarmen herab. Ane aber fuhr fort, während sie ihre Hände ballte, den andern Psalm, oder es war ja gar kein Psalm, das andere Lied, das andere Lied, das sie kannte, übers Grab hinaus zu singen:

Es ist ein herrlich Land,
Es braust mit breiten Wogen
Zum grünen Ostseestrand,
Zum grünen Ostseestrand.
Es buchtet sich in Berg und Tal,
Dänemark ist sein Name,
Und es ist Frejas Saal
Und es ist Frejas Saal.

Die ruthenischen Mädchen schlugen lachend ihre Waschhölzer gegen die Mauer, Ane aber hörte sie nicht.

Es buchtet sich in Berg und Tal,
Dänemark ist sein Name …

Die Mädchen schrien und klapperten mit den Hölzern und trällerten und lachten, während sie in ihrer Sprache sangen:

Da nahm Fedor Susanna,
Susanna, Susanna,
Susanna mit der weißen Brust,
      Susanna.

Sie klatschten in die Hände und schabten Rübchen:

Susanna, Susanna,
Susanna mit der weißen Brust

»Sing mit, sing mit,« riefen die Mädchen von der Mauer herunter, die sie zur Hälfte erklettert hatten, und die lachenden Gendarmen stimmten mit ein und übertäubten Ane, während sie in ihre großen Fäuste klatschten:

Sie wurden zwei,
Und wurden drei
Susanna mit der Liebesbrust,
Susanna.

Anes Hand lag auf Joans Kopf. Tränen schlichen über ihre Wangen – es war, als hätte Anes Gesicht Rinnen, in denen die Tränen hinabliefen – während sie sang:

Und es ist Frejas Saal,
Und es ist Frejas Saal.

Ane schwieg und plaudernd waren die Mädchen zu ihrem Brunnen zurückgekehrt, während die Dunkelheit so plötzlich hereinbrach, als würde ein schwarzes Schleppnetz aus dem Fluß heraufgezogen.

»Nun müssen wir gehen,« sagte Ane, »denn jetzt wird die gnädige Frau es nicht vergessen.«

»Was wird Mutter nicht vergessen?« fragte Joan.

Ane aber antwortete nicht. »Komm,« sagte sie nur, und führte ihn zwischen die Gräber hindurch, wo seine Füße gegen die perlenbesetzten Kränze stießen.

Sie fuhren zum »Schloß« zurück. Ane sprach nicht und Joan mußte ja so laut schreien, wenn er sich ihr verständlich machen wollte. Es war, als wenn sie seit dem Tode seiner Mutter das Gehör verloren habe, als verstände sie nicht, was all die fremden Menschen sprachen. Zu Hause aber stand die englische Gouvernante auf der Steintreppe zwischen den Säulen und schalt, weil sie so spät kamen …

… Joan Ujhazy hatte seinen rumänischen Kopf abermals gewandt. Wenn er so mit geschlossenen Augen dasaß, konnte er seine Mutter deutlich vor sich sehen – wie sie in ihrem niedrigen Stuhl auf Dmeters Abhang zwischen den leuchtenden Weinstöcken in der Sonne gesessen hatte. Ihr Gesicht war so klein und das Haar lag glatt um ihre Schläfen wie auf den alten Bildern, und Ane und Joan saßen zu ihren Füßen. Joan lehnte seinen Kopf gegen den Stuhl der Mutter und sie strich ihm sanft mit der Hand übers Haar – sie hatte so viele Ringe an ihren Fingern und sah sie nie an: »Was er für dichtes Haar hat,« sagte sie.

»Das ist ungarisches Haar,« sagte Ane.

»Ja,« sagte die Mutter und die Hand auf seinem Haar wurde still.

Der Vater trat zwischen den Weinstöcken hervor. Er hielt eine Traube in der Hand. »Sieh, wie schön sie ist,« sagte er und legte sie gelb und schwer in den Schoß der Mutter.

»Ja, sie ist schön.«

Der Vater stand noch und betrachtete die gelbe Traube im Schoß der Mutter: »So sehen ungeschliffene Topasen aus,« sagte er.

»Ja,« sagte sie und blickte auf.

»Heut ist's doch warm hier zwischen den Weinstöcken,« sagte der Vater. Er sprach so deutlich zur Mutter, wie man zu einem Kind spricht, oder so laut, wie zu jemanden, der nicht gut hört.

Die Mutter nickte, während der Vater mit der Hand über ihre Halskette aus Perlen strich – sie hatte viele Ketten und bekam immer neue: »Sie sind so hübsch,« sagte sie mit einer Stimme, die immer anderwärts zu sein schien als ihre Worte, und sie befühlte die Perlen an ihrem Handgelenk. Der Vater aber beugte sich herab und küßte sie hastig aufs Haar.

»Hast du geritten?« fragte sie.

»Ja,« sagte er und schlug mit der Peitsche gegen seine ungarischen Stiefel, die er zu tragen pflegte, seit er in Budapest bei dem zweiten Husarenregiment gestanden hatte.

»Du bist nicht lange fortgewesen.«

»Hier hat man die Runde bald geritten,« sagte der Vater, und seine Augen hatten einen anderen Ausdruck angenommen.

Sie schwiegen alle, während der Vater zwischen den Weinstöcken davonging. Die Sonne glitzerte und funkelte über Mutters Kette und in allen Steinen ihrer Ringe. Sie starrte mit ihren abwesenden Augen lange über das Wasser des Flusses.

»Ane,« sagte sie, ohne sich zu rühren, »erinnerst du dich, wie blau der Fjord daheim bei Veile war.«

Ane hatte den Kopf gewandt: »Und der kleine Dampfer, der darauf fuhr,« sagte sie und ihre Augen leuchteten plötzlich auf.

»Ach ja, die ›Schwalbe‹,« sagte die Mutter. »Wie dicht gedrängt wir oft des Sonntags darauf standen.«

»Und sie schaukelte, wenn das Wasser bewegt war – aber nur kurz vor der Anlegestelle.«

Die Mutter lächelte ebenso wie Ane: »Nein, da war keine Gefahr,« sagte sie.

Ane aber sagte: »Und wie die Musikkapelle spielte.«

Die Mutter antwortete nicht mehr, sondern blickte nur wieder auf den Fluß, der zu ihren Füßen vorbeiglitt.

»Gib mir das Tuch, Ane,« sagte sie.

»Friert dich, Mutter?« sagte Joan und hob seine großen Augen

»Ja, ein wenig …«

Ane hatte ein Tuch genommen und es der Mutter um die Füße gelegt.

»Weißt du, Ane,« sagte sie, »hier spendet die Sonne gar keine rechte Wärme.«

»Nein,« sagte Ane, »hier sticht sie nur.«

Joan zog die Decke fester um die Mutter, während er ihr ins Gesicht sah – es kam immer solch großes und starres Kinderentsetzen in seine Augen, wenn Mutter fror und »weiß im Gesicht« wurde. »So, so,« sagte er und fuhr fort, die dicke Decke um sie herumzustopfen, soweit er mit seinen Händen reichen konnte.

»Danke, danke, kleiner Josse,« sagte die Mutter, »jetzt sitze ich sehr gut.«

Joan hatte sich wieder gesetzt, aber er fuhr fort, verstohlen zur Mutter hinaufzublicken, denn sie blieb noch immer weiß im Gesicht.

»Ane,« sagte die Mutter, »morgen wollen wir zur Mühle hinausfahren, wenn die Sonne scheint.«

»Ja, gnädige Frau.«

»Es war ein schöner Sommer damals, als Thomsen die Mühle baute.«

»Das wars,« sagte Ane, »Thomsen war solch lustiger Mensch. – Aber er war ja auch ein Däne.«

»Ja,« nickte die Mutter, »er war aus Slagelse. Alle Thomsens stammen von dort.«

Sie saßen wieder schweigend da und blickten auf das Wasser des Flusses. Ignaz und Dmeter kamen von den Weinstöcken und nahmen im Vorbeigehen ihre großen Hüte ab.

»Laßt uns jetzt ins Haus gehen,« sagte die Mutter. Sie stützte sich ein wenig auf Ane, während sie Joan an ihrer ringschweren Hand führte.

»Weißt du, Ane,« sagte sie und es ging ein plötzliches Aufleuchten über ihr Gesicht, »heute abend heizen wir unseren – unseren eigenen Ofen.«

Der alte Ignaz und Dmeter schlugen den Ruhestuhl zusammen, auf dem die gnädige Frau gesessen hatte.

»Wies wohl eigentlich steht?« sagte Ignaz und sah den Dahingehenden nach.

»Ja,« sagte Dmeter.

»Sie sitzt immer so still,« sagte Ignaz.

»Ja,« sagte Dmeter. »Sie sitzt so still wie die Heiligenbilder.«

Der Diener Ignaz sprach oft von der Gnädigen und den Heiligenbildern in einem Atem – vielleicht weil Veronika, die Heilige mit den Wunden in der Kirche, auch so viel Gold und Ketten um den Hals und an ihren Wachsfingern trug.

»Aber,« sagte er und kaute auf seiner Holzpfeife, »es ist, wie ich immer gesagt hab, ein Frauenzimmer soll nicht so weit fortreisen.«

»Nee,« sagte Dmeter.

Ignaz trug den Ruhestuhl nach oben.

Abends wurde im Ofen Feuer angelegt, in dem großen schwarzen Ofen, der auf Füßen stand. Die Mutter saß und starrte in das gelbrote Feuer. Joan hatte es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht. Der Vater kam herein und setzte sich neben sie.

»Jetzt hast dus doch gut,« sagte er und lachte, »hier vor deinem eigenen Ofen.«

Die Mutter lehnte ihr kleines Gesicht an seine Schulter. »Ja,« sagte sie, »jetzt ists hier herrlich – ganz wie daheim.«

»Ja«, sagte er und entzog sein Gesicht dem Schein des Feuers, so daß es im Dunkeln lag.

Sie saßen lange dicht aneinandergeschmiegt. Joan war zum Schoß des Vaters übergesiedelt. Er schlief, das Gesicht unterm Rockaufschlag verborgen.

»Joan, Joan,« sagte die Mutter und legte ihre Hand um seinen Nacken, »nun mußt du zu Bett.«

Joan war mit einem Ruck wach und hatte ihr ins Gesicht gesehen: »Mutter friert,« sagte er.

»Friert dich?« fragte der Vater ebenso hastig.

»Ja, Mutter friert,« sagte Joan, der ihre Hand ergriffen hatte.

»Nein, nein,« sagte die Mutter und zog ihre Hände zurück: »Nun muß Joan zu Bett.«

»Gute Nacht. Gute Nacht.«

Aber auch ihre Lippen waren kalt, als sie ihn küßte, und Joan fuhr fort, ihr ins Gesicht zu blicken: »Gute Nacht,« sagte er, und es war, als stiege ein Schluchzen in seiner Kehle auf.

»Nein,« sagte die Mutter, »ein artiges Kind weint nicht, wenn es zu Bett soll.«

Joan aber biß die Zähne zusammen und folgte Miß Teker. Miß Teker entkleidete ihn und sprach das englische Abendgebet, während sie auf seinem Bettrand saß. Dann setzte sie sich neben die Lampe und stickte an ihrer großen Straminarbeit. Joan lag mit großen, offenen Augen da und starrte in den weiten weißen Kreis über der Lampe. – Miß Teker hob ihren Kopf: »Joan muß jetzt schlafen.« »Ja.« Aber er fuhr fort wachzuliegen und zu starren; die Decken entglitten ihm, weil er unruhig lag, und Miß Teker mußte ihn wieder zudecken. »Schlaf nun,« sagte sie.

Joan aber sagte – und plötzlich sprach er rumänisch: »Warum friert Mutter immer?«

»Du weißt doch, daß du englisch sprechen sollst.«

» Yes.« Und Joan wiederholte, mechanisch und sofort, in dem gleichen Tonfall: » Why does mamma always feel cold?«

»Du sollst schlafen, Joan,« antwortete Miß Teker. Und kurz darauf hörte sie, daß er schlief, als wären ihm seine Augenlider mit einem Schlage zugefallen.

So war es immer mit Joan, er sprach nicht viel, saß meistens so eigenartig still da mit seinem Spielzeug oder mit gar nichts. Plötzlich aber wurde eine Frage in ihm lebendig: »Warum?« Und mit dieser Frage ging er zu allen, durchs ganze Haus, als ob in seinem Gehirn nichts andres lebte als diese Frage – er lief damit zum Vater, zur Mutter, zur Gouvernante und zu den beiden Stallknechten und zum Küchenpersonal und zur alten Hana. Hana war die serbische Kartoffelschälerin. Sie saß in dem Raum vor der Küche. Sie war nicht recht klug und ihre Nase lief immer. Sie bewegte den Kopf immer hin und her und sang leise dazu. Es waren alte Weisen, serbische Weisen von den Flüssen. Joan nahm einen Holzschemel und setzte sich zu Hana. So konnte er viele Stunden sitzen, während sie sang. Sein Kopf ging ebenso wie Hanas hin und her. Plötzlich aber sagte er und sah Hana ebenso an wie Miß Teker: »Hana.«

»Ja.«

»Hana, warum wird Mutter in Tücher gepackt?«

Hana sah ihn an und verstand ihn nicht. »Ja, hier ist der Turm von Babylon,« sagte sie und fing wieder an zu singen.

Die beiden rumänischen Köche liefen ein und aus. Ihre Münder standen keinen Augenblick still und sie aßen immer Tomaten, die ebenso rot waren wie ihre Lippen. Miß Teker zog durchs ganze Haus und konnte Joan nicht finden. Schließlich fand sie ihn bei Hana. Er durfte dort nicht sein und Miß Teker sagte, um ihn zu schrecken, daß Ratten bei Hana seien. Ratten waren das Schrecklichste, was Joan sich denken konnte. Am Fluß waren so viele, große, mit langen, fetten Schwänzen.

Joan lernte bei Miß Teker buchstabieren, aber Ane kam häufig und holte ihn zur gnädigen Frau. Die Mutter kam nicht mehr ins Freie, denn es war Winter geworden und der Fluß hatte hohe Wogen, wenn Joan aus dem Fenster sah. Die Mutter saß immer vorm Ofen und Ane durfte nie von ihr gehen.

»Du mußt still sitzen,« sagte Ane zu Joan.

»Ja,« flüsterte der Knabe.

Die Mutter kroch unter ihrer Decke zusammen. »Buchenholz wärmt mehr,« sagte sie.

»Ja, ohne Zweifel,« sagte Ane.

»Bei Veile,« sagte die Mutter, »waren die Buchen so dick.«

Joan hob den Kopf vom Bilderbuch auf: »Warum sprichst du immer von Dänemark, Mutter?«

»Weil das Mutters Heimat ist, kleiner Josse.«

Die Stimme der Mutter klang so leise, und während sie ins Feuer sah, legte sie die Fingerspitzen gegeneinander, wie Marinka, die Kammerzofe, des Sonntags zu tun pflegte. Plötzlich aber hob sie den Kopf und sagte mit einer ganz anderen Stimme, einer ganz munteren Stimme: »Jetzt sollst du singen, Josse.«

»Ja,« sagte Joan.

Der Mutter vorsingen war das Beste, was es für Joan gab. Er begann mit einer kleinen, reinen Stimme zu fingen, ins Feuer hinein, er sang alle Hanas-Weisen – während er mit den Füßen den Takt dazu schlug. Worte aber waren nicht dabei, denn er verstand ja kein Serbisch.

»So singt Hana,« sagte er, und lauter und lauter sang er ins Feuer hinein. Die Mutter hatte die Augen geschlossen. Hin und wieder aber öffnete sie sie und betrachtete alle ihre Bilder, die so dicht um ihren eigenen Ofen herumhingen – alle Bilder aus Veile und dann »die Dämmerung«.

»Nun kommen Mutters Lieder,« sagte er und mit derselben klaren Stimme begann er mit den Dämmerungsliedern, die die Mutter zu singen pflegte, während er mit beiden Füßen den Takt schlug. Worte aber gebrauchte er auch hier nicht, denn beim Singen konnte er sich der dänischen Worte nicht erinnern. Ein Lächeln glitt über das Gesicht der Mutter: »Ja, ja, das ist das Lied,« sagte sie. »Das ist es.«

Und fast ohne es selbst zu wissen, flüsterte sie die Worte, während Joan die Melodie sang:

Es war ein Ritter Aage,
Der ritt im Harnischkleid,
Er freite um Jungfer Else,
Sie war solch holde Maid.

»Was bedeutet das eigentlich?« fragte Joan, der plötzlich aufhörte zu singen.

»Das ist das Lied vom Ritter Aage,« sagte die Mutter.

»Aber was bedeutet es denn?« fragte Joan.

Die Mutter strich ihm übers Haar: »Das verstehst du nicht,« sagte sie. »Das war in Dänemark.«

Joan aber stimmte wieder an und sang – ins Feuer hinein:

Er freite um Jungfer Else
In ihrem Gold so rot,
Und einen Monat später
Da war er kalt und tot.

»St!« flüsterte Ane, »nun muß Josse still sein.«

Der Mutter waren die Augen zugefallen. Sie schlummerte mit den Händen in ihrem Schoß, das blonde Haar lag längs den Schläfen.

»Komm, Mutter schläft,« sagte Ane.

Die Tür ging. Es war der Vater, der hereinkam: »Still,« flüsterte Joan, »Mutter schläft.« Joan blieb an der Tür stehen und fuhr fort, mit dem Finger an seiner Nase Schweigen zu gebieten, während der Vater durchs Zimmer ging und das Antlitz der Mutter betrachtete. Es sah aus, als sei es aus Wachs, wie es dort vom Feuer beschienen wurde.

So, wie sie an jenem Tage mit den Ringen in ihrem Schoß dagesessen hatte, so auch an dem Tage, als Ane plötzlich aufsprang, wobei sie ihren Stuhl umwarf und die Mutter am Arm rüttelte und schrie: »Gnädige Frau, gnädige Frau!« und schrie und lief durchs Zimmer und ließ alle Türen offenstehen und rief: »Gnädiger Herr, gnädiger Herr!«

Joan aber ergriff die Hände der Mutter: »Schläft Mutter?« Und die Hände rührten sich nicht: »Schläft Mutter? schläft Mutter?« Und das Gesicht bewegte sich nicht. »Schläft Mutter?« Und plötzlich ließ er die Hände los und konnte nicht schreien, aber er lief mit von sich gestreckten Armen hinter Ane her und fiel auf der Treppe hin und blieb liegen – während Ane über den Hof stürzte: »Herr, Herr!«

Sie schwang die Arme wie zwei schwingende Räder – an den Pferden vorbei, die scheuten und sich von Joseph losrissen, und lief weiter: »Herr, Herr!« schrie sie über die Felder.

»Was ist los, was ist los?« rief Joseph; »verfluchtes Weibsbild, was ist los?« und er sandte einen Schwall von ungarischen Schimpfworten hinter Ane her, die schrie: »Herr, Herr …«

»Dänische Vettel,« schrie Joseph, der mit den Pferden kämpfte, bis die Halbblutaraber sich losrissen und in den Stall flüchteten; an den ganzen blanken Körpern zitternd, und mit Schaum vor den zitternden Mäulern, drängten sie sich bebend im Dunkel des Standes aneinander. Miß Teker rannte die Treppe hinab und in die Halle, ihr Haar war aufgelöst und sie hielt die Haarbürste in der Hand und warf sie von sich und schrie: » She is dead, Mistress is dead«; während Marinka mit starren Augen die weißen Hände der Toten rieb, als wolle sie sie wärmen – und sie wußte selbst nicht, was sie tat und sagte ganz wirr: »Bringt sie wieder zu sich, bringt sie wieder zu sich,« sagte sie und plötzlich begann sie zu schluchzen, den Kopf gegen den umgeworfenen Stuhl gestützt. Und stand wieder auf und lief durch die Halle und nahm Miß Tekers Bürste auf und lief an Hana vorbei und schrie wie Ane: »Herr, Herr!«

»Was ist los, was ist los?« Es waren die Köche, die aus ihrem Zimmer stürzten, halbwach, in ihrem Mittagsschlaf gestört, nackt: »Was ist los?«

Aus dem Fenster aber, in dem die Gardinen wehten, rief Miß Teker über den Hof hinaus: » She is dead – she is dead …« »Der Herr, der Herr …«

Joan war aufgestanden; unüberlegt, so furchtsam wie in der Nacht, wenn er im Dunkeln erwachte, schlich er sich hinauf und betrachtete die tote Mutter – durch die Türspalte. Dann kam der Vater und schob Marinka beiseite und den Gärtner, der hereingelaufen war, und Ignaz. Er hob die Mutter auf seine Arme, hoch auf seine Arme und trug sie ins Schlafzimmer.

Es war still geworden im Hause. Im Schlafzimmer hing Ane weiße Tücher an den Wänden auf. Hin und wieder stieg sie von der Leiter herab und betrachtete die Tote. Die Augenlider waren von den gebrochenen Augen zurückgeglitten. Ane ging in ihre Kammer hinauf und öffnete ihre Kommode. Sie nahm zwei alte Schillinge heraus. Sie waren aus Friedrich des Siebenten Zeit. In beiden war ein Loch. Als Ane sie in die Hand nahm, begann sie zu schluchzen. Dann ging sie wieder hinunter, zur Toten hinein und schloß die Tür hinter sich zu. Und während sie weinte, so daß ihre Tränen auf die weißen Hände fielen, legte sie die Schillinge auf die zugedrückten Augen der Toten.

Joan, um den sich niemand kümmerte, saß bei Hana. In der Küche war es still, als ob für niemanden gekocht würde.

»Hana,« flüsterte Joan.

»Junger Herr.«

»Hana,« flüsterte er und sah ihr ins Gesicht, »warum ist Mutter tot?«

Und er sagte tot, wie ein fremdes Wort, wie einen Laut, den man nicht versteht.

»Junger Herr,« antwortete Hana nur und starrte mit ihren halbblinden Augen durchs Zimmer.

Plötzlich aber kam Marinka gelaufen. Sie war ganz in Schwarz. »Der Pater kommt,« rief sie und lief weiter.

Joan war ihr gefolgt. Er hielt die Arme ganz dicht an den Körper gedrückt. Die beiden Chorknaben gingen in ihren weißen Hemden hinter dem Priester. Und Marinka riß alle Türen auf und klopfte an die letzte. Sie klopfte wieder: »Ana, Ana.« Aber die Tür blieb geschlossen. »Ana, Ana,« rief sie lauter, »Ana, der Pater ist da.« Plötzlich aber hatte Ane die Tür aufgerissen, und mitten auf der Schwelle stehend, wie eine Wahnsinnige, während sie mit beiden Armen die Pfosten gepackt hielt, als ob ihre ganze Verzweiflung sich in der Wut gegen den fremden Mann mit der Tonsur entladen müsse – schrie sie dem Priester einen Strom von wilden Flüchen entgegen, auf dänisch und auf gebrochenem Ungarisch – und schlug die Tür zu, während die leeren Weihrauchpfannen in den Händen der Knaben zitterten.

Joan war fortgestürzt. Am ganzen Körper zitternd, drängte er sich gegen Hanas Knie: »Hana, Hana, warum ist der Pater fortgegangen?«

»Junger Herr, junger Herr.«

Dann reiste der Vater fort, und Joan bekam das französische Fräulein. Ane aber betete mit ihm des Abends.

»Ane, wo ist Vater?« fragte Joan mitten im »Vaterunser«.

»Der reist umher,« sagte Ane und fuhr fort zu beten. »Vergib mir meine Schuld, wie ich vergebe meinen Schuldigern.«

»Warum?« fragte Joan und dachte an den Vater.

»Führe uns nicht in Versuchung, sondern befreie uns vom Übel,« fuhr sie fort.

»Warum?« fragte Joan wieder und war mit einem Mal eingeschlafen.

Joan verstand nicht mehr recht, was Ane sagte, denn seit die Mutter nicht mehr da war, vergaß er die dänische Sprache. Bisweilen wachte Joan wieder auf und er hörte Ane, die bei der Lampe saß und weinte.

»Warum weinst du?« fragte er und richtete den Kopf auf.

Ane fuhr in die Höhe: »Josse soll schlafen,« sagte sie.

»Aber warum weinst du?«

Ane strich die Tränen mit dem Rücken ihrer Hand fort. »Ich weine nicht, kleiner Josse,« sagte sie, »ich sitze nur und nähe …«

Tagsüber saß Joan meist bei Hana oder bei Joseph im Stall, denn der konnte die Violine spielen.

Im Sommer kam der Lehrer. Es war ein Grieche und so lang, daß er den Kopf beugen mußte, wenn er durch die Tür der Schulstube ging. Als der Vater zu Hause war, schrieb er eine große Stundentabelle über alles, was Joan lernen solle. Aber Herr Christopulos vergaß oft zu unterrichten. Er saß nur mit Joan auf seinem Schoß und strich wieder und wieder über dessen Haar und starrte ins Leere. Joan hatte nie solche Augen gesehen wie Herrn Christopulos' – so groß und so blau und niemals waren sie fröhlich.

»Aber wir müssen jetzt lernen, Joan,« sagte er und er begann von all den Orten auf der Landkarte zu erzählen.

»Wo wohnst du?« fragte Joan.

»Ich? ich wohne in Hellas.«

»Wo ist das?«

Herr Christopulos zeigte mit seiner schmalen Hand auf Griechenland. »Das ist Hellas,« sagte er.

»Hm.« Und Joan betrachtete Hellas. »Und wo wohne ich?« fragte er.

Herr Christopulos sagte, daß er nach der »Insel« gesucht habe. »Aber deine Heimat ist nicht auf der Karte angegeben.«

»Warum?«

Der Lehrer aber antwortete nicht. Er betrachtete Griechenland, während seine Hand über Joans Haar strich.

»Spiel jetzt etwas,« sagte Joan.

Herr Christopulos ging zum Klavier und begann zu spielen. Die Töne schwollen unter seinen langen und schmalen Händen, während seine Augen in weite Fernen zu blicken schienen. Joan saß mit dem Kopf gegen das Klavier gelehnt. Bald aber lag er lang auf dem Boden ausgestreckt, wie er im Sommer vor den Weinstöcken in der Sonne zu liegen pflegte.

»Spiel mehr,« sagte er.

Im Stall bei Joseph spielte er selbst. Seine Arme waren zu klein für Josephs große Violine, die Melodien aber quollen hervor, eine nach der anderen, Hanas Lieder und die Lieder der Mutter, er trennte sie nicht, sondern sie flossen ineinander, während er so rot und heiß dabei wurde, als ritte er auf ›Caprice‹ mit seinem Vater. Wenn Vater zu Hause war, ritten sie jeden Tag. Das Pony konnte sich nicht strecken, sondern lief wie ein großer Hund neben ›Amour‹. Sie ritten längs des Flusses, an Holzbauten vorbei und über Felder. Die Bauern grüßten und der Vater nannte sie beim Namen und Joan nickte.

Carol, der Dorfschulze, stand vor seinem rotgemalten Giebel und nahm den Hut ab:

»Wie geht's, Carol?« fragte der Vater.

»'s geht schlecht, Herr,« sagte Carol und stand mit dem Hut in der Hand, »der ganze Leib ist geschwollen.«

Carol sprach von seiner Frau, die krank war.

»Du solltest den Arzt holen,« sagte der Vater.

Carol drehte an seiner Mütze: »Es kostet zwanzig Gulden, ihn über den Fluß zu bringen, Herr,« sagte er.

»Ja, ja. – Nun, was lindern kann, kannst du oben bei uns holen.« Sie ritten weiter längs des Flusses.

»Vater,« sagte Joan, »warum hat Carol so große Silberknöpfe an seiner Jacke?«

»Weil er ein Rumäne ist,« sagte der Vater.

Iwo stand auf der Koppel vor seinem niedrigen grauen Haus, mitten zwischen seinen Schweinen:

»Deine Schweine sind wohl bald gemästet,« sagte der Vater.

»Ja freilich,« antwortete Iwo.

»Dann sollen sie wohl bald auf den Markt?«

»Der Fluß ist zu wild, Herr,« sagte Iwo und ließ den Blick über die Schweine schweifen, »es ist zu gefährlich, sie hinüberzubringen.«

»Das mag sein,« sagte der Vater.

Die Mutter des Winzers Dmeter stand am Grabenrand in ihrem bunten Rock.

»Wie der junge Herr wächst, gnädiger Herr,« sagte sie.

»Ja,« sagte der Vater und betrachtete Joan, der sehr gerade auf seinem Pony saß; »aber er ist ja auch schon acht Jahre …«

»Und er sieht wie sein Vater aus, Herr,« sagte die Alte, »fremdes Blut macht sich nie in dem Geschlecht der Ujhazys geltend.«

Es ging wie ein Schatten über des Vaters Gesicht: »Das mag wahr sein,« sagte er, und sie ritten weiter, während Dmeters Mutter knickste.

Der Weg führte hart am Fluß entlang, der stark und düster dahinfloß. Sie ritten zur Ostspitze der Insel, die schmal wie ein Riff war. Auf beiden Seiten brauste der Strom des Flusses. Der Vater hielt lange auf seinem Pferde und starrte aufs Wasser.

»Vater,« sagte Joan, »Vater, warum ist das Wasser so schwarz?«

»Weil der Fluß so tief ist,« sagte der Vater.

Als sie die Pferde aber wieder in Trab setzten, sah Joan den Hausierer Simon, der mit seinem großen Kasten auf dem Rücken dahergegangen kam, und er rief – denn der Hausierer mit all seinen Sachen, Uhren und Tüchern und Pfeifen und Mützen und Ketten interessierte ihn sehr: »Vater, Vater, da ist Simon.«

Simon war auf dem Felde stehen geblieben und er verneigte sich so tief, daß sein langer Rock ganz auf dem Gras lag. Der Vater aber ritt achtlos an ihm vorbei.

»Vater, Vater,« fuhr Joan fort, »das war Simon. Das war Simon aus Orsowa.«

Der Vater aber beachtete Simon nicht. Joan fuhr fort, sich auf dem Pony umzudrehen, während Simon aus Orsowa weitergegangen war.

Sie schwenkten vom Fluß ab und ritten über Felder ganz bis hinters Gehölz, wo all das Pack und die Schmuggler hausten, wie Joseph sagte. Als sie die »Burg« erreicht hatten, stieg der Vater vom Pferd und band Amour und Caprice fest. Joan faßte des Vaters Hand, als sie zur Ruine gingen. Das tat er immer. Es standen nur noch drei dicke Mauern. Von der vierten waren nichts als einige Sandhaufen übrig, wie Berge so hoch. Der Vater stieg die zerbröckelte Steintreppe hinauf und stützte die Arme auf die Kante der Mauer.

»Darf ich bei dir sitzen?« sagte Joan und der Vater hob ihn auf den Mauerrand. Joan saß und sah sich um, dort lag Carols Hof und dort in dem schmutzigen Haus wohnte Josephs Braut und dort waren Herrn Christopulos' Fenster im Schloß. Hier sah man die ganze Insel und alle Häuser bis zu »Mutters Mühle.« Der Vater starrte lange zu den trägen Flügeln hinüber.

»Dort saß Mutter immer,« sagte Joan und zeigte auf die Bank vor dem Müllerhaus.

»Ja,« flüsterte der Vater. Dort unten aber, gerade unten, lag die Stadt mit der Kirche in ihrer Mitte. Dort an der Tür war Mutters Grab.

Joan sah zu dem Grab der Mutter herab. »Vater,« sagte er, »willst du auch begraben werden, wo Mutter liegt?«

»Ja.«

»Soll ich auch begraben werden, wo ihr liegt?«

»Ja – dereinst.«

»Warum?« fragte Joan.

Der Vater blickte starr über den Fluß hinüber: »Weil dort alle Ujhazys liegen.« Und kurz darauf fügte er hinzu – und wußte vielleicht selbst nicht, daß er sprach: »Wo man geboren ist, muß man begraben werden.«

Joan hörte ihn nicht mehr. Sein Knabengehirn war plötzlich wieder zu Simon übergesprungen – warum Vater ihm nicht guten Tag gesagt hatte!

Dann aber hielt er wieder Ausschau. Dort in weiter Ferne hinter dem Gehölz waren die Häuser der Schmuggler. Sie hatten solch winzig kleine Fenster.

»Warum reiten wir nie an den Häusern der Schmuggler vorbei?« fragte Joan.

Der Vater antwortete nicht.

Plötzlich aber platzte es aus Joan heraus: »Joseph sagt, daß die Schmuggler die hübschesten Bräute nehmen.«

Der Vater drehte sich zu ihm um: »Ich habe dir doch gesagt, daß du nicht im Stall sein sollst.«

»Ja,« sagte Joan kleinlaut. Kurz darauf aber sagte er, vielleicht um die Aufmerksamkeit von Joseph und den Schmugglerbräuten abzulenken: »Peter Georgewitschs Haus ist groß.« Und er sah auf Peter Georgewitschs Haus herab, das breit und lang mit seinen beiden Säulen der Kirche gegenüberlag.

»Ja, es ist groß.«

»Ist es größer als das ›Schloss‹?« fragte Joan.

»Nein, das Schloß ist am größten.«

»So.« Joan dachte eine Weile nach. Dann sagte er: »Aber damals, als die Türken kamen, war die Burg am größten?«

»Ja, da war die Burg am größten.«

Joan aber fragte nach den Türken und nach dem Pascha, den man gehängt hatte, denn er war überwunden worden, und alle seine Leute, alle Türken mußten fliehen.

»Wohin flüchteten sie denn?« fragte Joan.

»Über den Fluß,« sagte der Vater.

»Wer schlug die Türken?«

»Joan Ujhazy schlug sie.«

»Joan Ujhazy,« wiederholte der Knabe leise. Er war ganz blaß geworden. »Und hat er den Pascha aufgehängt?« fragte er wie vorhin.

»Ja.«

Die Sonne stand tief am Himmel. Die Häuser warfen ihre langen Schatten über die graue Insel.

Joan fror es auf dem Mauerrand und er sagte wie früher: »Vater, wie ist der Fluß schwarz.«

»Ja.«

»Und er geht rings herum.«

»Ja,« sagte der Vater und ballte beide Hände gegen die Mauer der Ujhazys.

Joan fuhr fort, den Fluß mit seinen großen Augen anzustarren. Dann sagte er plötzlich: »Vater, der Fluß gleicht dem Tuch auf dem Boden.«

»Welchem Tuch?« sagte der Vater.

Joan aber antwortete nicht. Es war, als ob er plötzlich eingeschüchtert worden sei. Denn das Tuch auf dem Boden war ja die große Rolle, die über Fußböden und Treppen gebreitet worden war, als Mutter tot hinausgetragen wurde – Ignaz ging voran, als sie den weißen Sarg hinaustrugen.

»Komm,« sagte der Vater, »wir müssen jetzt nach Haus.«

Sie stiegen von der Burg herab. Joan aber dachte wieder an Simon aus Orsowa, den der Vater nicht gegrüßt hatte. Als sie nach Haus kamen, bekam Joan zwei Stück Zucker für Caprice von dem jüngsten Koch. Er schlich sich unter den Fenstern vorbei zum Stall, wo Caprice den Zucker bekam.

»Wir sind Simon begegnet,« sagte Joan.

»So,« sagte Joseph, »rennt der hier wieder mit seinem bunten Plunder herum? Na, hier auf der Insel haben die Mädchen übrigens Schürzen nötig für ihre Leiber.«

Joan dachte einen Augenblick nach. »Du, Joseph,« sagte er, »warum sagt Vater Simon aus Orsowa nicht guten Tag?«

»Nein,« sagte Joseph, »das tut der Herr nicht. Denn Simon ist ein Jude. Und kein ordentlicher Christenmensch grüßt das Judenpack.«

Joan verharrte eine Weile, bis er sagte, und er sprach leiser: »Joseph, weißt du, daß der, der den Pascha erhängte, Joan hieß?«

Da ertönte ein furchtbarer Schrei über den Hof und Joseph lief zur Stalltür. Es waren die beiden rumänischen Köche, die sich mit den Hirtenknaben schlugen. Das Blut lief den Serben aus der Nase. Alle Waschmädchen rannten mit hochgeschürzten Röcken herbei und schrien, während der Dampf aus dem Waschkessel über den Hof zog. Die Rumänen stürzten sich wie ein paar Katzen auf die serbischen Jungen, während die ruthenischen Waschmädchen kreischten.

»Haltets Maul, ihr ruthenischen Dirnen,« schrie Joseph.

»Nur zu, nur zu,« rief Dmeter und lief den Köchen zur Hilfe.

»Haut sie, haut sie,« schrie Joseph und begrub die Hände in seinen ungarischen Hosen, »haut sie tüchtig, die serbischen Schweine.«

Die Serben heulten auf, denn die Rumänen hatten sie in ihre nackten Arme gebissen.

»Haut sie, haut sie …«

»Hilfe, Hilfe.« Es waren die Mädchen, die riefen.

» Still.« – »Seid ihr toll?« Es war des Vaters Stimme, die oben aus einem Fenster den Lärm übertönte. Und plötzlich hörte man Anes Stimme, die aus einem anderen Fenster in der Dämmerung durch den Tumult schrie: »Josse, Josse.«

»Wo ist Herr Joan?« rief der Vater.

Es war still geworden. Wie Schatten schlichen sie alle durch die Dunkelheit davon. Joan aber lief furchtsam die Treppe hinauf zu Herrn Christopulos ins Zimmer.

»Josse, Josse.« Es war Ane, die gegen die Tür schlug. Und nach dem sie sie geöffnet hatte, packte sie ihn am Arm und riß ihn fast mit sich durch den langen Korridor in sein Zimmer.

»Hab ich dir nicht gesagt, daß du nicht 'rumstrolchen sollst, daß unsereins sich halb totängstigen kann. Prügel verdienst du, daß du mit dem gottverlassenen Teufelspack rennst … zieh die Strümpfe aus, hab ich gesagt. Die selige Frau sollte ahnen, in was für 'ner Pfütze wir hier mit unseren Füßen waten … zieh die Strümpfe aus, hab ich gesagt, die selige Frau aber kehrte heim zum lieben Gott und das war auch das Klügste, was sie tun konnte … denn hier ist das verfluchte Land und das Tal der Seuchen, wie geschrieben steht. Die selige Frau aber ging ein zum Frieden in Jesu, zieh die Strümpfe aus.« Plötzlich fing sie an zu weinen und kniete vorm Bett nieder: »Und unsereins muß hierbleiben! Und was kann man tun? Nichts kann man tun, und ist ein Krüppel auf Gottes Erde, nichts anderes als beten kann man … Josse, Josse, verstehst du, was ich sage …«

»Ja,« flüsterte Joan, »ja …« Er weinte selbst vor Schreck und Furcht, so daß die Tränen an seinen Wangen hinabliefen.

»Nein, nein, du verstehst mich nicht,« – und Ane weinte lauter – »er versteht nicht die Sprache seiner Mutter –«. »Die Sprache seiner Mutter, die Sprache seiner Mutter,« wiederholte sie immer wieder.

Und sie sprach zu ihm mit den fremden Brocken, die sie konnte, mischte serbische, ungarische, rumänische und ruthenische Worte von den Zänkereien des Waschkellers durcheinander. Und wieder sprach sie Dänisch und verfluchte sowohl die Heiden wie die Juden und die Griechen, die ihr ihren Josse nahmen.

»Und was kann unsereins tun, was kann unsereins tun, ein einsames Geschöpf, das auf Erden zurückgelassen worden ist.« Sie sprach wie ein Buch, sie, die sonst nie sprach, und sie vermischte ihre Worte mit den Sprüchen der Bibel, der Bibel, die ihre einzige Lektüre war. Sie wickelte Joan in die Bettdecke ein und sie deckte ihn zu und wickelte ihn ein und weinte über die selige Frau in ihrem Himmel. »Und wir, wir, die wir in der Verbannung sind,« sagte sie. Joan schlief nicht. Unter den zitternden Augenlidern hervor starrte er auf Ane, die bei der Lampe saß, vor der großen Bibel. Sie setzte die Brille auf und nahm sie wieder ab, denn die Worte verschwammen vor ihren tränengeblendeten Augen: »Siehe, ich will Schwert, Hunger und Pestilenz unter sie schicken, und will mit ihnen umgehen, wie mit den bösen Feigen, davor einem ekelt zu essen; und ich will hinter ihnen her sein mit Schwert, Hunger und Pestilenz, und will sie in keinem Königreich auf Erden bleiben lassen, daß sie sollen zum Fluch, zum Wunder, zum Hohn und zum Spott unter allen Völkern werden …«

Ane las lauter und blätterte in dem großen Buch, wo viele Zeichen von rotem und weißem Band lagen: ›Darum fürchte du dich nicht, mein Knecht Jakob, spricht der Herr, und entsetze dich nicht, Israel! Denn siehe, ich will dir helfen aus fernen Landen und deinem Samen aus dem Lande ihres Gefängnisses, daß Jakob soll wiederkommen, in Frieden leben und Genüge haben, und niemand soll ihn erschrecken.‹« Anes Weinen hatte nachgelassen und sie faltete die Hände. »O Gott, du, mein Herz, o Gott, du, mein Herz,« sagte sie. Joan schlief ein. Aber noch im Schlaf gingen leise Zuckungen durch seinen Körper.

Wenn der Vater aber wieder fort war, fuhr Mademoiselle über den Fluß nach Orsowa und nahm Joan mit und sie besuchten alle Mademoiselles Freundinnen. Am häufigsten aber kamen sie zur Frau des Kommandanten, deren Kleider lang auf der Erde schleppten und die gelbes Haar hatte und große rote Flecke auf den Backen. Joan saß am Fenster, den Kopf auf beide Hände gestützt, und sah auf die Soldaten herab, die weiß und gelb und rot waren, mit sehr viel Gold. Der Sohn des Kommandanten, der rotes Haar hatte, stand neben ihm. Er hatte solche spitze Nägel, die er, verstohlen, in Joans Beine grub. Die Frau des Kommandanten und Mademoiselle saßen hinten im Zimmer in den großen Stühlen – aber die Bezüge waren zerrissen – und lachten und flüsterten und tranken aus kleinen Gläsern und saßen so dicht am Feuer, daß es sie sengte. Sie bekamen auch Kuchen mit vielen Korinthen und die Frau Kommandantin rief Joan herbei, daß er schmecken solle. »C'est bon ça, c'est bon,« sagte sie und stopfte ihm den Kuchen in den Mund. »Ah, qu'il est beau, le petit Sans-patrie,« sagte sie und hob ihn auf ihre nackten Arme, vor denen Joan sich fürchtete. Und Joan kehrte zum Fenster zurück und sah auf die Soldaten herab, die beständig auf- und abgingen. »Pfui,« sagte die Frau des Kommandanten zu ihrem eigenen aufgeschossenen Sprößling, »geh weg, mit deiner sommersprossigen Fratze.«

Bisweilen aber waren sie drüben bei Marinka, die auf der anderen Seite des Marktplatzes wohnte. Ihre Fenster waren die größten in ganz Orsowa und dort standen Ananas mit grünen Büscheln und Glasschalen und weiße Flaschen. Drinnen aber war es voll von Offizieren, die Tee tranken und mit denen Mademoiselle sprach. Und der Tee wurde von zwei Mädchen herumgereicht, die ganz weiß im Gesicht waren und die von den Offizieren geküßt wurden. Marinka aber hatte schwarze Augenbrauen und stand hinter einem weißen Ladentisch mit silbernen Schalen und kleinen Tonnen auf silbernen Füßen und alles blitzte.

Mademoiselle verschwand häufig in ein kleines Zimmer, vor dem eine Tür war, und Joan ging allein umher und betrachtete die Offiziere, die Karten spielten. Einer aber war da, der nie sprach, sondern immer nur in der Ecke neben dem Ladentisch saß und Marinka jedesmal auf alle fünf Finger küßte, wenn sie an ihm vorbeiging. Joan stellte sich neben seinen Tisch und sah ihn an – weil er nie etwas sagte.

»Sind Sie im Krieg gewesen?« sagte Joan.

»Ja,« antwortete der junge Mann.

»So.« – »Gegen wen?« fragte Joan wieder.

»Gegen die Türken,« antwortete der Offizier.

»So.« Kurz darauf sagte Joan und stemmte seine Hände gegen den Ledergürtel seiner gendarmblauen Bluse: »Ich will auch Soldat werden.« Der junge Mann sah ihn mit seinen länglichen Augen an: »Du bist ja kein Serbe,« sagte er.

Das französische Fräulein kam aus dem kleinen Zimmer. Sie hatte einen ganz roten Kopf: »Dépêche-toi,« sagte sie, »Dépêche-toi, nous sommes pressés.«

Es war dunkel auf dem Fluß, bevor sie nach Hause kamen. Joan schlich zum Stall hinüber. Er kroch auf die Haferkiste vor Amours Stand.

»Joseph,« sagte er.

»Ja.«

»Hat Marinka einen Mann?« fragte Joan.

»Die hat wohl viele Männer,« sagte Joseph und spuckte zwischen seinen spitzen Zähnen aus.

Joan überlegte eine Weile. Und aus dem eigenartigen Gedankengang eines Kindes heraus sagte er: »Aber Marinka ist doch bei uns gewesen?«

»Ja, das stimmt, denn hier landen all die Frauenzimmer, die ihr eigenes Land verlassen müssen.«

»Warum?« sagte Joan.

»Weil es nun mal so ist,« sagte Joseph und setzte sich auf die Haferkiste.

»Dépêche-toi … Allons, nous sommes pressés …« Mademoiselle war böse. Es war viel zu spät geworden und sie lief fast über den Marktplatz, um noch vor Dunkelwerden nach Haus zu kommen. »Schnell, schnell,« sie knuffte Joan in die Schläfe.

Plötzlich aber kam ihnen eine Schar Jungen entgegen, viele Jungen, Hunderte von Jungen, und sie schrien und johlten, und voran lief David, Simons Sohn, und all sein Zeug hing in Fetzen: »Der Jude, der Jude,« schrien sie. »Der Jude, der Jude,« schrien sie und pfiffen auf ihren Fingern. David aber wandte sich um, gerade vor Joan, und ballte seine erhobenen Hände vor ihnen allen, vor all den Hunderten. »Der Jude, der Jude, peitscht den Juden.« »Peitscht den Juden,« schrien sie. Und plötzlich sangen alle Knaben es wie einen Refrain: »Peitscht ihn, peitscht ihn, peitscht den Juden.« Und David lief weiter, mit erhobenen Händen, und klammerte sich an Mademoiselle, die laut schrie, während die Knaben kreischten: »Werft ihn mit Tomaten, peitscht den Juden. Werft ihn mit Tomaten, peitscht den Juden.« David war ausgeglitten, während die Tomaten flogen; sie zerplatzten an seinem nackten Körper, an seinem Gesicht, an seinem Haar, so daß es aussah, als ob sein Blut flösse: »Peitscht ihn, peitscht ihn, peitscht den Juden.«

»Komm, komm,« schrie Mademoiselle und stolperte – gedrückt, geschubst, gepufft wie sie von den Knaben wurde, die auf sie eindrängten: »Komm, komm!«

»Peitscht ihn, peitscht ihn, haut den Juden.« David lag auf der Erde; seine Hände waren mit gespreizten Fingern hochgehoben. »Haut ihn, haut ihn, den Eselsjuden.« Sie hauten, sie stießen ihn, sie traten ihn mit Füßen.

»Komm, komm,« schrie Mademoiselle.

Plötzlich aber bohrte Joan sich durch die Masse, zwischen die Beine der Knaben, zwischen ihre erhobenen Hände, bis er neben David stand: »Lauf, lauf« schrie er. »Lauf,« schrie er, während alles an ihm zitterte, das Gesicht, die geballten Hände und seine Beine unter ihm; »lauf.« Und David entschlüpfte, wie ein Aal, wie eine Schlange, entschlüpfte auf der Erde zwischen ihren Beinen, während die Knaben wieder johlten und schrien, und Mademoiselle davon lief, Marinkas Treppe hinauf, und der weiße Offizier, der nie sprach, nahm Joan auf seine Arme und trug ihn hinein: » Il est fou

» Il est fou, le Sans-patrie,« schrie Mademoiselle, die wütend war, denn alle ihre Kleider waren beschmutzt.

Joan sprach kein Wort auf der Heimfahrt. Der weiße Offizier hatte sie zum Boot begleitet und Joan mit einer großen Decke zugedeckt. Darunter lag er und zitterte noch. Zu Haus am Strande standen Joseph und Herr Christopulos und Ignaz und riefen durch die Dunkelheit dem Boot entgegen.

Mademoiselle aber sagte nur: »Da sind wir ja.« Und sie ließ plötzlich eine Sündflut von Pariser Schimpfworten über die Wartenden ergehen.

Es mochte eine Woche vergangen sein. Als sie sich des Nachmittags mit dem Boot Orsowa näherten und an die Mole herankamen, wo die Knaben mit ihren Angelruten lagen, riefen einige von ihnen: »Da sind sie …« »Da sind die Leute von der Insel.«

Der lange Sohn des Böttchers sprang von seiner Angel auf: »Ja, da sind sie, das Pack von der Insel.« Und er lief, von den anderen gefolgt, zur Steintreppe, wo alle Knaben in einem Haufen beisammen standen, als Joan die Stufen hinaufkam. Der Sohn des Böttchers stieß wie zufällig an Joans Schulter und der Junge des Schneiders trat ihm auf den Fuß. Joan ging ruhig hinter dem Fräulein her, die Hände um seinen Ledergürtel geballt. Die Augen hielt er halb geschlossen. Als Joan sich ein Stück entfernt hatte, begann der Schneiderjunge auf seinen Fingern zu pfeifen, und die anderen johlten.

Der Böttchersohn aber war wie gekocht in seinem flachen Gesicht und schrie: »Was bildet der verfluchte Kerl mit seinen geschlossenen Augen sich ein!« Sie fuhren fort zu schreien, bis Joan um die Ecke gebogen war.

Von dem Tage an lauerten die Knaben dem Boot auf, und wenn sie es sahen, begannen sie auf ihren Fingern zu pfeifen: »Da sind sie, da ist er –.« Und sie warfen mit Sand und Steinen nach dem Boot. Mademoiselle war blaß unter ihrer dicken Puderschicht, Joan aber stand aufrecht im Boot.

»Legt an,« sagte er und ging an den johlenden Knaben vorbei, mit seinen halb geschlossenen Lidern. Sie schrien hinter ihm her. Mademoiselle zitterten die Knie. Sie lief fast über den Marktplatz.

»Rackerprinz, Rackerprinz,« schrien die Jungen über den Marktplatz.

» Viens, viens,« rief Mademoiselle Joan zu.

»Der von der Insel, der von der Insel.«

» Viens, viens

»Rackerprinz, Racker.«

» Viens, parbleu, viens, Sans-patrie,« rief Mademoiselle und lief Marinkas Treppe hinauf, wo der rote Sohn des Kommandanten sich aufs Gitter geschwungen hatte: »Haut ihn, haut ihn – den Vaterlandslosen.«

Die Fistelstimme des Kommandantensprößlings gellte über den Platz: »Haut ihn, haut ihn, den ohne Vaterland.«

Und als wäre damit das Wort gefunden und der Name gegeben und die Schande gestempelt, riefen sie alle gellend: »Haut ihn, haut ihn, den Vaterlandslosen.« Allen voran war der Sohn des Böttchers.

»Wirst du wohl deine Augen aufmachen,« schrie er und jagte Joan seine Böttcherfäuste in den Nacken.

»Krümm seinen Rücken,« brüllte der Sohn des Kommandanten:

»Prinz ohne Vaterland.« »Prinz ohne Vaterland, Prinz ohne Vaterland.«

Sie stürmten die Treppe hinauf und sie sprangen über das Geländer, während sie pfiffen und schrien. Der Sohn des Böttchers lag über dem gefallenen Joan.

Marinka kam ans Fenster gestürzt: »Helft Herrn Joan, helft ihm, helft ihm.«

Die Offiziere drinnen aber schwenkten sie herum, während sie lachten: »Haut ihn, haut ihn, ihr Serben,« riefen sie und schüttelten sich vor Lachen. »Haut ihn, haut ihn, den Prinzen ohne Vaterland.« Joan verschwand unter der Last der stolpernden Knaben, und sie schlugen ihn und sie traten ihn und sie schlugen ihn.

Die Frau des Obersten hatte ihr Fenster aufgerissen und fuchtelte mit ihren nackten Armen: » Sans-patrie, armer Sans-patrie,« rief sie über den Platz.

»Schämt euch, schämt euch,« rief Marinka, und sie war zur Tür hinaus und zur Treppe gestürzt. »Herr Joan, Herr Joan,« rief sie und stieß mit der Hand nach den sich wälzenden Knabenhaufen.

»Prinz ohne Vaterland, ohne Vaterland.«

Plötzlich aber hatte Joan sich unter dem Körper des Böttcherjungen hervorgewunden und sich emporgeschwungen, so daß er auf der obersten Stufe zu stehen kam. Das Blut rann ihm von seiner entblößten Brust über den Gürtel, an den Armen hinab. Da ergriff Marinka ihn, hob ihn mit ihren beiden zitternden Armen hoch und trug ihn hinein. Als Joan erwachte, saß der weiße Offizier an seinem Bett.

»Lieg still,« sagte er, »lieg still.«

Joan preßte die Lippen aufeinander. »Ich will nach Haus,« sagte er und plötzlich begann er zu schluchzen, als ob sein ganzer Knabenkörper gesprengt werden sollte.

»Ja, du sollst nach Haus,« sagte der weiße Offizier.

Mademoiselle war zu Bett gegangen und wollte nicht wieder aufstehen. Marinka und der weiße Offizier brachten Joan zum Boot hinunter. Jetzt lag er auf dessen Boden, mit Tüchern zugedeckt, während Dmeter und Ignaz ruderten. Als sie zu Hause angekommen waren, trugen sie Joan auf einer Bahre zum Schloß hinauf.

Ane kam vom Grabe der gnädigen Frau: »Großer Gott im Himmel, was ist geschehen? was ist geschehen? O, lieber Jesus, sie haben ihn totgeschlagen, sie haben ihn totgeschlagen. Josse, Josse, sie haben ihn totgeschlagen …« Und sie warf sich übers Bett, heulend wie ein Hund über eine Leiche. Joan sprach nicht. Er strich nur mit der heißen Hand über seine linke Brust, auf und nieder, als sei es sein klopfendes Herz, das ihn brenne.

»Laß ihn liegen,« sagte Herr Christopulos. »Er soll ruhig liegen.«

Des Nachts hatte Joan Fieber. Er schlummerte und er wachte. Ane saß bei der Lampe vor ihrer großen Bibel. Sie las so laut, daß der Fluch der Propheten sich mit dem Halbschlaf des Fiebernden vermischte. »Und wird Gestank für guten Geruch sein und ein loses Band für einen Gürtel und eine Glatze für ein krauses Haar und für einen weiten Mantel ein enger Sack. Solches alles anstatt deiner Schöne. Dein Pöbel wird durch das Schwert fallen und deine Krieger im Streit …« »Was ist, Josse? Josse, tuts weh?«

»Nicht sehr.«

Ane legte ihren Kopf auf Joans Kopfkissen.

»Es tut gut, wenn ich weine,« sagte Joan und schlang die Arme um ihren Hals.

Als Joan wieder erwachte, war es Vormittag. Ane saß noch immer an seinem Bett. Joan lag ganz still, mit großen und starren Augen. Aber dann wurde er unruhig.

»Ane, ich will aufstehen,« sagte er und wollte aus dem Bett.

»Das darfst du nicht, Josse, du mußt stilliegen.«

»Nein, ich will aufstehen.« Ane half ihm beim Ankleiden. Er war so unruhig, seine Augen aber waren rund und ganz aufgerissen. »Ich will lesen,« sagte er. Er las immer von den großen Musikern in den roten Bänden, die aus Budapest kamen. Aber er ließ das Buch mit geistesabwesenden Händen sinken: »Ich will hinaufgehen,« sagte er.

»Wohin?« sagte Ane und erhob sich. Ihr war ganz angst zumute, denn Joans Gesicht war wie erstarrt.

»Ich gehe nach oben,« sagte er.

Joan klopfte leise an Herrn Christopulos' Tür.

»Bist dus?« sagte Herr Christopulos, und hastig fügte er hinzu – denn Joans Augen waren so seltsam, als sähen sie gar nichts, und es war, als sei er kleiner geworden in seinen Kleidern: »Wie geht es dir, Joan?«

»Danke,« sagte Joan. Er setzte sich auf den Fußboden und stützte seinen Kopf – der so schwer war –, gegen den Fuß des Klaviers. »Wollen Sie nicht etwas spielen?« sagte er.

»Gern,« sagte Herr Christopulos. Und er begann zu spielen, während Joan zu ihm aufsah, um sich gleichsam zum Zuhören zu zwingen. – Nein. Es war nur das eine. Nur das eine, das ihn so schmerzte, in seinem Kopf, in seinem ganzen Innern schmerzte – es war nur das eine: Sie hatten ihn verhöhnt, wie sie David verhöhnt hatten. Sie hatten ihm die Kleider vom Leibe gerissen, wie sie sie Simon, Davids Sohn, vom Leibe gerissen hatten. »Ohne Vaterland.« »Ohne Vaterland.« – Ja – ebenso wie David – –.

Es war, als ob er gar nicht denken könne, als ob sein Kopf so groß geworden sei, daß er nicht mehr denken könne. Wenn er aber den Kopf gegen das Klavierbein stützte, das kalt war, dann schien es, als kehrten die Gedanken zurück. – Denn Joseph hatte gesagt, Joseph im Stall: »Hier läuft ja all das Pack herum, das kein Vaterland hat.« Das hatte Joseph gesagt. Und Mademoiselle hatte es gesagt. Und Ane. Und die Frau des Kommandanten: » Petit sans-patrie« hatten sie gesagt.

»Fehlt dir etwas, Joan?« fragte Herr Christoputos, der aufhörte zu spielen. »Fehlt dir etwas, Joan?«

»Nein, nichts,« sagte Joan und sah ihn mit Augen an, die nichts sahen.

»Weshalb seufzst du denn?«

Joan schüttelte leise den Kopf.

»Tut dir deine Brust weh?«

»Nein.«

»Aber was fehlt dir denn?« Herr Christopulos strich ihm übers Haar.

Joan aber schob die Hand fort, als schmerze ihn der Kopf: – Ohne Vaterland. – Ja, das hatte die Frau des Kommandanten gesagt. Und Joseph. – So war es – so war es also wahr. – Aber warum – warum? – Sie hatten es gerufen. Sie hatten ihn verhöhnt wie David, Simons Sohn. Sie hatten ihm die Kleider vom Leibe gerissen wie Simons Sohn. Ane aber hatte ihm gesagt, weshalb sie David verhöhnt hatten: »Denn er ist des Juden Sohn und das ist eine Schande.« Und Mademoiselle hatte es gesagt und dabei den Mund verzogen: » Ah, fi donc, le juif.« Und Joseph hatte es im Stall gesagt und die Knaben hatten es gepfiffen, alle Knaben in Orsowa: »Der Jude, der Jude …« – Denn es war eine Schande.

»Joan, weshalb weinst du?«

»Ich weine nicht.«

Joan rührte sich nicht. Es war, als säße in seinen Augen hinter den Tränen eine große, eine entsetzliche Angst.

»Tut deine Brust so weh?«

»Ja, jetzt tut meine Brust weh.«

Joan saß unbeweglich und starrte mit denselben Augen vor sich hin: Der Sohn des Kommandanten hatte angefangen ihm entgegen zu schreien: Sans-patrie – Sans-patrie … Und die Offiziere – alle die, die bei Marinka Karten spielten, hatten ihm entgegengeschrien: Sans-patrie – Sans-patrie … und gelacht hatten sie – gelacht, wie die Knechte über den Buckligen lachten, über Peter, Peter mit dem Buckel, den seine drei Bräute sitzen gelassen hatten, weil er so mißgestaltet war. – Wie David, des Juden Sohn und wie den buckligen Peter, so hatten sie auch ihn gehöhnt …

»Joan, du mußt zu Bett. Du hast ja Fieber. Du mußt zu Bett.«

Joan fuhr zusammen. »Nein, nein,« und er schüttelte den Kopf: »ich will nicht zu Bett.«

»Dann wollen wir etwas an die Luft gehen,« sagte Herr Christopulos.

»Ja, wir wollen an die Luft gehen.«

Ane stand unten in der Halle an der Treppe: »Wo will er hin? wo will er hin?« jammerte sie wie vorher.

»Wir gehen etwas an die Luft,« sagte Herr Christopulos.

»Aber, aber geht nicht zu weit,« bat Ane, »o, gehen Sie nicht zu weit mit ihm, denn er kanns nicht vertragen.«

Sie gingen schweigend vorm Schloß auf und ab.

Plötzlich fragte Joan und sah den Lehrer an: »Ist alles auf der Landkarte angegeben?«

Der Grieche fuhr zusammen: »Ja,« sagte er: »auf der Landkarte ist alles angegeben.«

»Alle Länder?« fragte Joan wieder.

»Ja, alle Länder.«

Joan verstummte wieder. So war es also wahr. Denn Herr Christopulos hatte es gesagt, das wußte er genau, Herr Christopulos hatte gesagt – dreimal: die Insel, auf der du wohnst, Joan, steht nicht auf der Karte. – Ohne Vaterland – ohne Vaterland … – Sans-patrie.

Es ging jemand an ihnen vorbei und Herr Christopulos grüßte: »Das war Peter,« sagte er. Herr Christopulos aber griff nach Joan, der so weiß geworden war wie die Mauer. »Komm, Joan,« sagte er und führte ihn ins Haus, »du wirst krank werden.« Sie aßen in dem großen Eßsaal, die beiden allein, und sie sprachen nicht.

»Wo ist Mademoiselle?« fragte Joan.

»In Orsowa,« antwortete Herr Christopulos.

Es zuckte über Joans Gesicht.

Sie stiegen wieder die Treppe hinauf und gingen in Herrn Christopulos Zimmer. Joan setzte sich an dieselbe Stelle wie vorhin. Es begann zu dämmern und Schatten lagen im Zimmer. Herr Christopulos erhob sich und legte das Buch aus der Hand.

Da sagte Joan durch die Dunkelheit: »Herr Christopulos.«

»Ja.«

Einen Augenblick war es still, dann aber kam es sehr hastig: »Haben die Rumänen ein Vaterland?«

»Gewiß, sie haben ja Rumänien.«

»Und die Serben – haben Serbien?«

»Ja, die haben Serbien.«

Wieder wurde es still, bis Joan von neuem fragte – und Herrn Christopulos schien es, als ob der Knabe wie im Schlaf zu ihm spräche, oder wie durch ein Telephon: »Und Mutter hatte Dänemark?«

»Ja, sie hatte Dänemark. Aber sie reiste ja fort.«

Joan dachte einen Augenblick nach. Und plötzlich fragte er, hastig – von einem der seltsamen Gedanken ergriffen, die jünger oder älter waren als seine Jahre –: »Ist sie deshalb gestorben?«

»Deine Mutter wurde ja krank,« sagte Herr Christopulos.

»So.« Und kurz darauf sagte er und hob den Kopf »Und die Juden – haben die Juden auch ein Vaterland?«

»Nein,« antwortete der Grieche, »die Juden haben kein Vaterland.«

»Warum?«

Herr Christopulos sagte: »Du weißt doch, daß die Juden von Gott verflucht wurden.«

»Ja,« sagte Joan ganz still und fast tonlos.

»Ich will die Lampe anzünden,« sagte Herr Christopulos, dem plötzlich bei dem Ja und allen Fragen Joans ganz ängstlich zu Mute geworden war. Und während er sie anzündete, sagte er: »Joan, worüber gerietst du eigentlich mit den Knaben in Orsowa in Streit?«

Joan aber antwortete nicht. – Sie wurden von Gott verflucht. Sein Gesicht war ganz unbeweglich, wie er so dasaß. – Sie wurden von Gott verflucht.

»Nun mußt du zu Bett gehen,« sagte Herr Christopulos und legte seine Hand auf Joans Schulter.

»Setzen Sie sich zu mir ans Bett,« bat Joan.

»Ja, ich werde mich zu dir setzen.«

Sie gingen in Joans Zimmer. Als Joan in seinem Bett lag, schlief er ein, plötzlich, in einer Sekunde, wie jemand, der einen Schlag bekommen hat.

Als er aber am nächsten Morgen erwachte, richtete er sich mit einem Ruck auf, als ob jemand neben seiner Wange ihm ins Ohr gesagt hätte: »Von Gott verflucht.« »Du weißt doch, daß sie von Gott verflucht wurden.« Ja, er wußte – und Joan nickte angstvoll ins Leere – daß sie verflucht waren. Von ihnen las Ane laut des Nachts in der großen Bibel, von allen Strafen. Und über sie weinte sie, über die Juden, weil sie verflucht waren und Gott ihnen ihr Vaterland genommen hatte. – Ihr Vaterland genommen. Wem Gott fluchte, dem nahm er das Vaterland. Wem Gott fluchte, dem gab er kein Vaterland … sondern der wurde verhöhnt und mit Füßen getreten und in die Seite gekniffen und in die Brust gestoßen – wie er, wie er von den Knaben in Orsowa. – Von Gott verflucht. Von Gott verflucht. Und plötzlich erhob er sich und warf sich auf die Knie; während Tränen um Tränen aus seinen weitaufgerissenen Augen flossen, kroch und wühlte er in seinem Bett umher und betete und betete und wußte keine Gebete mehr und mischte alle Sprachen durcheinander und flehte: »O, lieber Gott und alle Heiligen … und Joseph und Maria und Stephan … Stephan und Maria und Joseph … denn ich will nicht verflucht sein, ich will nicht verflucht sein …« Und plötzlich stieg er aus dem Bett und legte sich auf die nackte Erde, wie Ane es zu tun pflegte, und er betete mit gefalteten Händen wie Ane. Er betete wie Ane, betete zu Gott und zum Vater unser, der du bist im Himmel, und zu Joseph und dem heiligen Iwo und Barbara, die in der Kirche saßen, und zu Gott – daß sie ihm ein Vaterland geben möchten, damit er nicht verflucht zu sein brauchte. Er weinte wieder und er betete wieder: »O, lieber Gott, lieber Gott und die heilige Jungfrau mit dem Kinde – willst du mir nicht helfen, Vater unser, der du bist im Himmel … willst du mir nicht helfen, Vater unser, willst du mir nicht helfen.« Schließlich stand er auf und trocknete seine Tränen. Seine Knie schmerzten ihn und er war so müde. – Aber wem Gott fluchte, dem nahm er sein Vaterland.

… Jetzt war es Schulzeit und er sammelte seine Bücher zusammen.

»Wie schnell du gestern abend einschliefst,« sagte Herr Christopulos, als Joan hereinkam.

»Ja,« sagte Joan und setzte sich an den Tisch. Herr Christopulos drehte den Globus mit seinen schlanken Händen und erzählte von den Ozeanen, deren Tiefe niemand kannte, und von der Erde, die voll von Feuer war, und von den Polen, wo die großen Meere erstarrten und zu Eis würden.

»Und Gott hat alles erschaffen?« sagte Joan leise.

»Ja,« sagte Herr Christopulos und ließ seinen Blick über den Globus schweifen: »der große Gott hat alle Welten erschaffen.«

Joan saß eine Weile nachdenklich, während Herr Christopulos weiter erzählte. Dann sagte er plötzlich und sah den Griechen an: »Kann Gott alles?«

»Ja.«

»Kann er uns alles geben?« sagte Joan und sah den Griechen noch immer an. Herr Christopulos antwortete nicht. Joan aber fuhr fort: »Ane sagt, er kann es, wenn wir nur beten.«

Herr Christopulos sah ihn an – es lag wie eine große Qual oder wie eine große Anstrengung in Joans Augen. »Ja, Joan,« sagte er, »der große Gott kann alles.«

Es war, als ob Joan ruhiger würde. Aber während er las und schrieb und alle Verben hersagte, dachte er nur, daß er beten wolle, beten und immer beten zu Gott und zu allen Heiligen und zu der heiligen Jungfrau und zu Barbara, die in der Kirche saß, und zu der heiligen Anna, zu der Ignaz betete, und zu Joseph. Mademoiselle aber hatte einen Rosenkranz, der in dem Schrein zwischen ihren Riechfläschchen lag. Mademoiselle betete immer, wenn sie in Orsowa gewesen war, dann weinte sie und betete alle Perlen ab. Nachher aber war sie wieder vergnügt und scherzte mit den rumänischen Köchen. Joan wollte Mademoiselles Rosenkranz leihen und alle Perlen abbeten wie Mademoiselle, wenn sie aus Orsowa kam. Denn er wollte, er wollte ein Vaterland haben – wie alle Serben und Rumänen und wie Hans Siebenbürgen es hatte; und seine Mutter hatte Dänemark gehabt und konnte doch nicht verflucht sein. Und er betete des Morgens und er betete des Abends, wenn Ane betend neben seinem Bett lag: »Vater unser, der du bist im Himmel.« »Vater unser, der du bist im Himmel,« wiederholte Joan und angestrengt sagte er die halbvergessenen dänischen Worte.

»Geheiligt sei dein Name,« sagte Ane.

»Sei dein Name,« flüsterte Joan.

»In Ewigkeit, Amen,« schloß Ane.

Joan lag ganz still. Dann wandte er den Kopf: »Ane,« sagte er, »beten die Juden?«

Ane dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie: »Es nützt ihnen doch nichts.«

»Warum?« sagte Joan, während seine Augen an den ihren hingen.

»Weil Gott sie für ewige Zeiten verflucht hat.«

Joan erwachte aus einem kurzen Schlummer und die Lampe war verlöscht. Nur die kleine Nachtlampe brannte. Joan setzte sich in seinem Bette hin, zusammengekauert, den Kopf auf die Knie gebeugt; es war, als ob sein ganzer Körper sich unter einem stöhnenden Schmerz wand: – es nützte ihnen nichts. Und er hob seinen Kopf und schüttelte ihn. – Es nützte nichts, es nützte nichts. – Denn sie waren von Gott verflucht – für ewige Zeiten. Plötzlich stand er auf und zündete mit zitternden Händen die Lampe an und nahm die große Bibel und schlug sie auf und las dort, wo Anes Zeichen lagen, die roten und die weißen. Er las, aber er verstand den Sinn nicht und er las laut wie Ane, und fing den bekannten Laut der Worte auf – vor allen Flüche Gottes und wie der Herr den Juden ihr Vaterland nahm … Joan kehrte zum Bett zurück. Die Bibel lag noch aufgeschlagen und mit ihren roten und weißen Zeichen. Plötzlich aber sagte er laut und gellend und verzweifelt durchs Zimmer: »Mutter, Mutter, Mutter …« Und schluchzte, den Kopf gegen die kalte Wand gepreßt.

… Einige Tage später sagte Herr Christopulos in der Stunde: »Ich fahre nach Orsowa. Willst du mit?«

Joan beugte hastig den Kopf und es ging ein Beben über sein Gesicht. »Ja,« sagte er. »Ja, danke.«

»Wir brechen um zwei Uhr auf.«

»Ja, danke,« wiederholte Joan.

Joan war ganz ruhig – so still und ruhig wie damals, als er beim Augenarzt in Budapest geschnitten wurde. Er saß im Boot und hörte jeden Ruderschlag. Jetzt sah er die Boje und jetzt sah er die Mole.

»Friert dich, Joan?« fragte Herr Christopulos.

»Nein,« sagte Joan.

Jetzt sah er die Knaben, die bei ihren Angelruten lagen.

»Du bist so bleich, Joan.«

Die Knaben aber erhoben sich nicht und blieben bei ihren Angeln.

»Sitz still, Joan.«

»Ja«

Da war der Sohn des Böttchers.

»Was willst du, Joan?«

»Ich will mich nur auf die andere Seite setzen.«

Jetzt ruderten sie vorbei und legten an.

»Kommst du, Joan?«

»Ja.«

Joan stieg aus dem Boot und stand auf der Treppe.

Da kam es. Es war der Sohn des Schneiders, der es rief, und es traf Joan wie einen geschleuderten Stein im Rücken – während das gellende Lachen ihm entgegenschlug. Joan hatte im ersten Augenblick seine Fingerspitzen gegeneinandergelegt, dann aber ballte er die Hände.

»Was rufen die Knaben?« fragte Herr Christopulos, der kein Serbisch verstand.

»Ich weiß es nicht,« sagte Joan und sie gingen weiter. Sie kamen über den Marktplatz. Aber niemand rief hinter ihnen her. Auf dem Fußsteig aber, gerade vor Marinkas Treppe, gingen zwei kleine Mädchen vorbei, mit Blumen im Haar. Und die eine stieß plötzlich die andere in die Seite: »Sieh nur, sieh, das ist der Vaterlandslose.« Joan drückte sich dicht an die Mauer. Offiziere kamen vorbei und Damen kamen vorbei. Sie tuschelten miteinander.

»Weshalb sehen uns denn alle Leute so an?« sagte Herr Christopulos und lachte.

»Ich weiß es nicht,« antwortete Joan. Er sah gar nicht auf.

… Monate vergingen. Herr Christopulos sah Joan jeden Nachmittag mit einem Bukett Blumen in der Hand über den Hof gehen, die er sich in den Treibhäusern geholt hatte. Eines Tages öffnete der Grieche sein Fenster: »Wohin gehst du, Joan?«

»Ich geh zum Kirchhof.«

Joan ging über die Felder zum Städtchen. Über den Kirchhof lief er fast und in die Kirche hinein. Drinnen, wo all die Heiligen auf ihren Altären saßen, war es halbdunkel. Joan trat ganz leise auf, und legte die Blumen bei der heiligen Anna nieder. Auf allen Altären lagen Blumen. Einige waren etwas welk. Joan hatte sie alle gebracht. Joan hatte seinen Kopf über ein Betpult gebeugt. Er betete nicht mehr laut, sondern flüsterte nur seine Gebete.

Wenn er nach Hause kam, musizierte er mit Herrn Christopulos. Er hatte eine alte Violine in einem der Zimmer gefunden, wo seit dem Tode der Mutter nie mehr die Vorhänge zurückgezogen wurden. Herr Christopulos übte viele Stunden mit ihm.

Herr Christopulos sah Joan prüfend an. Er stand aufrecht, während er spielte, sein Kopf aber war gebeugt.

»Man sollte glauben, du trügst einen Kummer in deinem Herzen,« sagte Herr Christopulos.

Joan antwortete nicht. Es zitterte nur immer so eigen um seine Lippen, wenn er spielte. Wenn Joan zu den Treibhäusern ging, kam er beim Holzhauerschuppen vorbei. Es war so still drinnen, die Säge ließ sich nicht hören. Eines Tages schlich Joan hinein.

»Peter!« rief er, »Peter, bist du da?«

Niemand antwortete.

»Peter,« sagte Joan, und ihm wurde ganz ängstlich zu Mut, denn von dem Hobelspanhaufen her klang es, als ob etwas jammerte oder winselte – als ob ein Hund oder sonst etwas wimmerte, nur kein Mensch.

»Peter,« flüsterte Joan, und der Name blieb ihm in der Kehle stecken. Denn es war Peter, der dort auf dem Rücken lag, in die Hobelspähne hineingebohrt, den Kopf unter den Spänen, so daß nichts anderes als ein buckliger Rücken auftauchte …

»Peter,« wiederholte Joan. Die Späne aber fuhren fort, unter dem Schluchzen des Buckels zu beben.

Joan hatte sich abgewandt und ging hinaus. Die Blumen, die für die Kirche bestimmt waren, entfielen seiner Hand. Er ging zum Stall hinüber, wo Joseph stand und ›Amour‹ striegelte.

»Ist eigentlich gar nicht nötig, da der Herr doch nie zu Hause ist,« sagte Joseph; »hier mag's der Teufel aushalten. Wo ist der Herr jetzt eigentlich?«

»Vater ist in London,« sagte Joan.

»London?« sagte Joseph, »das ist weit fort.« Und kurz darauf fügte er hinzu, während er striegelte: »Ja, die Welt ist groß und ins Grab müssen wir doch alle.«

Joan saß auf der Haferkiste: »Joseph,« sagte er, »was fehlt Peter?«

»Dem fehlt wohl, was ihm immer fehlt,« sagte Joseph und striegelte weiter …

»Jetzt ist's Iwona.«

»Iwona ist hübsch,« sagte Joan.

»Ja,« sagte Joseph, »wundervoll« – und er führte den Striegel langsam an seinem eigenen ungarischen Bein entlang – »wenn man sie so gesehen hat.« Er striegelte wieder Amours glänzenden Körper, bis er sagte: »Man kann es einem Frauenzimmer ja nicht verdenken, daß sie mit so'n Krüppel nicht gehen mag; so wie der von Gott gezeichnet ist.«

Joan stieg von der Haferkiste herunter.

»Herr Joan reitet auch nie mehr,« sagte Joseph.

Er hatte unwillkürlich »Herr« Joan gesagt, indem sein Blick auf Joans Gesicht fiel. Joan aber war bereits über den Hof gegangen und die Treppe zu den verhängten Zimmern hinaufgestiegen.

Eines Tages, als Joan über seine Bücher gebeugt saß, klopfte es an die Tür.

»Herein,« rief er.

Als die Tür aufging, stand Peter davor. Er hatte seine Stiefel ausgezogen und die viel zu langen Arme hingen ihm schlaff am Körper, ganz bis an die Knie herunter.

»Was willst du, Peter?« fragte Joan.

Peter kam auf seinen Socken zwei Schritte näher: »Ich wollt gern … wollt gern Herrn Joan sagen, weil der Herr nicht da ist … wollt sagen, daß …« Peter blickte auf – seine Stimme klang so seltsam, wie durch einen Phonographen –: »Sagen, daß ich fort muß.«

»Du willst fort, Peter?«

Der Bucklige blieb in derselben Stellung stehen, nur war es, als sänke seine schiefe Schulter noch tiefer herab:

»Ja, ich muß fort.«

Er sprach mit derselben Stimme und auf seinen Backen brannten zwei Flecke.

»Wo willst du denn hin?« sagte Joan, der einige Schritte auf ihn zugegangen war.

Peter hatte seinen Kopf gewandt, wie ein Tier bei einem plötzlichen Laut, den es nicht erwartet hat.

»Wo willst du denn hin?«

Der Bucklige besann sich einen Augenblick. »Ich will nach Hause,« sagte er, »in meine Heimat.«

Joans Augen hatten sich weit geöffnet – einen Augenblick.

»Ich muß von hier fort,« sagte Peter vor sich hin.

Plötzlich aber hatte er sich auf die Erde geworfen und er richtete sich halb wieder auf und saß zusammengekauert da, das Kinn auf die spitzen Knie gestützt und die Arme um das ungekämmte Haar geschlungen, und schluchzte und schluchzte, als ob er röchelte.

Und zwischen seinem Schluchzen murmelte er einen Strom von Worten: »Ach, hilf mir, junger Herr, hilf mir, junger Herr, hilf mir.«

Joan wußte selbst nicht, was er sagte: »Steh doch auf – steh doch auf. Peter, Peter, steh doch auf.«

Er wollte auf ihn zugehen und ihn umfassen, plötzlich aber von der Angst oder dem Ekel der Jugend vor allem, was mißgestaltet ist, ergriffen, blieb er wieder stehen und sagte mit erschreckter Stimme: »Steh auf, steh auf.«

Verwirrt, aber wie einer, der ans Gehorchen gewöhnt ist, erhob Peter sich vom Fußboden: »Ja, ja,« sagte er schwer, und die langen Arme fielen wieder vorn an ihm herab, schlaff wie vorher. Plötzlich aber sich besinnend, weshalb er eigentlich gekommen sei, begann er zu jammern – mit dem fachmäßigen Jammern der Armen: Ach, junger Herr, er besäße nichts, und er wäre wie ein Unbekleideter auf dem Felde … Herr, wie ein Unbekleideter auf dem Felde … Aber wenn der junge Herr so gnädig und gut sein, so gnädig und gut, und ihm etwas für ein Wams geben würde – ein Wams für die Reise …

Als wenn dieses eine Wort all seine früheren Gedanken zurückriefe, begann er wieder zu schluchzen, während die Augen ihm aus dem Kopf traten, als würden sie von den Schlägen seines Herzens aus dem Kopf herausgetrieben.

»O, hilf mir, junger Herr, hilf mir, junger Herr, hilf mir.«

Er umfaßte mit seinen mißgestalteten Händen Joans Ellenbogen – und Joan sagte und konnte fast nicht sprechen: »Ja, ja, wir werden dir helfen, wir werden dir helfen.«

Und als Peter fortfuhr zu weinen, sagte er und wollte ihn trösten und stand doch noch drei Schritte von ihm entfernt: »Hörst du, hörst du, wir werden alles in Orsowa kaufen.« Und plötzlich, von dem Drang zu trösten fortgerissen, sprach er weiter: »Ein Wams und einen Mantel werden wir kaufen – heute in Orsowa – wir werden hinüberfahren und dir alles kaufen.« »Heute nachmittag, in Orsowa.«

Der Bucklige war gegangen. Er hatte fast nichts gesagt. Hatte sich nur einen Augenblick an dem Türpfosten festgehalten. Joan aber rief nach Joseph und rief nach Dmeter und bestellte das Boot, plötzlich von einer Art Eifer ergriffen, weil er alles wie ein Erwachsener anordnen konnte.

»Wo willst du hin?« fragte Ane, die in die Halle gelaufen kam.

»Wir wollen nach Orsowa,« sagte Joan.

»Wer – was soll das heißen? Wozu?«

Ane sah, wie er sich den Mantel anzog, und plötzlich sagte er: »Peter und ich.«

»Dann will ich mit. Ich will mit. Du bekommst keine Erlaubnis, allein zu fahren.« »Ich komme mit,« sagte sie und lief die Treppen hinauf, während Joan auf den Hof hinausging.

Dort stand Peter bereits. Er hatte einen schmutzigen Pelz an, der mit einem Strick zusammengebunden war. Wie er dort stand, glich er einem Sack mit Sägemehl.

»Der Strom ist stark, Herr Joan,« sagte Joseph, der im Boot wartete.

»Nehmen Sie sich in acht, Herr,« sagte Dmeter und half Joan.

Oben auf dem Weg kam Ane gelaufen. Sie war wie zum Kirchgang in Veile ausstaffiert.

»Soll sie mit?« fragte Joseph.

»Ja,« sagte Joan.

Sie hatten alle im Boot Platz gefunden. Der Strom war so stark, daß das Boot sich fast mit ihnen umdrehte. Ane hielt die Hände in den schwarzen Handschuhen gefaltet. Ihr Hut saß durch den Wind schief auf dem Kopf. Peter rührte sich nicht. Sein breites Gesicht tauchte so unbeweglich aus der schmutzigen Wolle des Pelzes hervor, als sei es tot.

Auf der Mole saßen nur zwei alte Männer und betrachteten ihre eigenen spitzen Knie. Die Schildwachen auf der Bastion aber wandten sich um und sahen ihnen nach. Joan ging neben dem Buckligen, Ane kam hinterher. Der Wind auf dem Flusse hatte an ihrem Haar gezerrt, so daß es in Strähnen unter dem Hut hervorhing. Peter ging so wunderlich wie ein wackelndes Tier, das an einer Schnur gezogen wird. Kein Mensch ließ sich in der Gasse blicken. Plötzlich aber kam der Junge des Schneiders aus einer Haustür gestürzt und blieb mit offenem Mund vor Joan und Peter stehen, bevor er an der Wache vorbei zum Marktplatz lief.

»Hei, hei, jetzt kommt Ohne-Vaterland.«

Der Sohn des Schneiders schrie es: »Halloh, halloh, er ist mit seiner Bevölkerung ausgerückt.«

Einige Sergeanten aus der Wache traten ans Fenster und fingen an zu lachen, während die Soldaten mit den Händen in der Tasche auf die Straße liefen und kicherten. Der eine Sergeant hatte das Fenster aufgemacht und lachte so, daß er sich am Fensterrahmen festhalten mußte. »Er rückt aus, er rückt mit seiner Garde aus,« rief er. Und die Soldaten, die so lachten, daß sie sich die Seiten halten mußten, riefen die Worte ihres Vorgesetzten: »Seht, die Garde von der Insel, die Garde von der Insel.« Der Sohn des Böttchers war auf die Treppe hinausgekommen und rief mit gellender Stimme über die Straße: »Seht, seht, das ist die verrückte Jungfer – seht, seht, die Verrückte und der Bucklige.« »Hurra, hurra für die Garde von Ohne-Vaterland.« Die Soldaten riefen es zuerst – dann schrie der Sohn des Böttchers es: »Hurra, hurra für Ohne-Vaterlands Garde.« Joans Füße konnten den Erdboden nicht recht finden, aber er ging weiter.

Da drängte der Sohn des Schneiders sich zu ihm durch und seine Mütze schwingend, als schwenke er eine Fahne, schrie er Joan gerade ins Gesicht: »Hurra für Ohne-Vaterlands Garde.«

Ane war stehen geblieben, mit dem schiefen Hut und den fliegenden Haarsträhnen stand sie da wie eine Irre, bis sie sich mit erhobener Hand auf den Sohn des Schneiders stürzte und schrie: »Frecher Lümmel.«

Joan aber hatte ihre Hand ergriffen: »Ane, laß ihn.« Und Ane ließ die Hand sinken und hatte gefühlt, daß Joan zitterte wie einer, der bis in sein innerstes Herz hinein bebt.

»Hurra für die Garde.« Sie pfiffen und sie sangen.

»Josse, Josse,« sagte Ane. Sie war plötzlich ganz still geworden: »Josse, laß uns umkehren, laß uns umkehren.«

Aber vor ihnen und hinter ihnen und von den Treppen wurde geschrien: »Seht die verrückte Jungfer. Das ist seine Amme, das ist Ohne-Vaterlands Amme.«

Joan hatte von neuem Anes Hand ergriffen.

»Komm,« sagte er. Er wußte nicht, daß Tränen aus seinen Augen rannen und erstarrten, weil seine Wangen so kalt waren.

»Josse, kleiner Josse.«

»Hurra der Garde.«

Joan betrachtete die Steine des Bodens, über die seine Füße gehen sollten. Ja, er mußte über diese Steine gehen. Aber dennoch sah er – und wußte nicht, wie es kam – alle Fenster, die Fenster des Obersten und die des Kommandanten und Marinkas Fenster, wo alle Gesichter lachten. Und plötzlich hob er seinen Kopf, und in weniger als einer Sekunde sah er aus Fenstern und Türen lachende Menschengesichter auf sich gerichtet – wie einen Ring, während der Bucklige langsam hinter ihm herging. Plötzlich aber blieb Joan stehen und öffnete seinen Mund wie derjenige, der schreien will, und schrie doch nicht, oder vielleicht gab er einen Schrei von sich, der niemals zu einem Laut wurde: – Dort an der Ecke, an Simons Ecke, dort an der Ecke stand Simons Frau, Simons dicke Frau, und David – – und sie riefen – und das Jüngste kreischte – und alle schrien sie: »Seht ihn, seht ihn, Ohne-Vaterland.« Sie riefen am lautesten: »Seht ihn, seht ihn, Ohne-Vaterland mit seiner Garde.« Der Jude Simon, David und alle Judenkinder. Es war, als ob Joan nichts mehr sähe und hörte. Doch, Anes leises Weinen hörte er noch.

Schließlich stand er auf der Treppe zum Kleidermagazin. Die beiden jungen Leute hinterm Ladentisch lachten sich in einem Spiegel zu, während sie höflich bedienten. Joan ging mit ihnen zwischen den Ständern umher, wo die Kleider in langen Reihen hingen. Ane ergriff seine Hände.

»Josse, Josse,« sagte sie, »können wir nicht hierbleiben, bis es dunkel wird?«

Joan aber riß sich los.

Die Ladentür ging, es war der weiße Offizier, der hereinkam.

»Guten Tag, Graf Joan,« sagte er und reichte Joan seine schmale Hand mit einem Druck.

Als Joan den Druck der anderen Hand spürte, ging es wie ein Ruck durch seine Schultern, und eine Sekunde fiel sein Kopf gegen den Arm des andern – so schwer wie der eines Toten. Der Offizier aber ließ Joans Hand los – vielleicht fürchtete er, daß Joan sonst in Tränen ausbrechen würde – und sagte: »Ich möchte gern ein Paar Handschuhe haben,« und er prüfte lange das Leder der Handschuhe.

»Gehen Sie zum Boot hinunter, Graf Joan?« fragte er, als alles für den Buckligen eingekauft war.

»Ja,« sagte Joan und plötzlich umklammerten seine Hände die Kante des Ladentisches, wie vorhin den Rand des Bootes.

»Dann können wir zusammengehen,« sagte der Offizier, »ich will desselben Weges.«

Sie gingen zusammen hinaus. Joan wußte selbst nicht, daß er so aufrecht wie ein Soldat in Reih und Glied neben dem weißen Offizier über den Marktplatz schritt. Peter ging hinterher mit seinem Paket neuer Kleider unterm Arm. Ane hielt ihre Augen starr auf Joans Rücken gerichtet. Mitten auf dem Marktplatz blieb Joan stehen.

»Lebe wohl, Peter,« sagte er mit einer deutlichen und gekünstelten Stimme.

Der weiße Offizier betrachtete Joan. An wen erinnert er mich? schoß es ihm durch den Kopf, und im selben Augenblick dachte er an die junge Majestät.

»Lebe wohl und reise glücklich,« sagte Joan und drückte die Hand des Buckligen, vor der er sich sonst stets gefürchtet hatte: »Adieu.«

Peter wollte sprechen, Joan aber war bereits weitergegangen – während der Bucklige mitten auf dem Marktplatz stand und sein Bündel zu schwingen begann, entweder aus einer Art Verzweiflung oder vielleicht aus endloser Freude.

Die Soldaten bei der Wache hatten vor dem weißen Offizier Honneur gemacht, der stehengeblieben war, während seine Augen über die Kette der gaffenden Köpfe an den Fenstern schweiften.

»Adieu, Graf Joan,« sagte er, »ich reise jetzt fort von hier.«

»Wohin reisen Sie?«

»Fort von hier.«

Und kurz darauf sagte der weiße Leutnant: »Mein Vater ist tot, und ich bin jetzt so reich, daß ich flüchten kann – –«

»Flüchten?« sagte Joan und verstand ihn nicht.

»Ja,« sagte der Leutnant und hob seinen Blick zu der lachenden Gesichtskette, die sich von Haus zu Haus spann: »Vor diesen Tieren flüchten, die sich Menschen nennen.« »Adieu, Graf Joan,« sagte er und gab Joan Ujhazy unwillkürlich einen Handschlag wie einem Kameraden im Leibregiment Seiner Majestät.

Joan versuchte ihn zu verstehen und hatte vor angestrengtem Denken die Augen geschlossen. »Adieu,« sagte er dann. Und obgleich er nicht laufen wollte, lief er doch die letzten Schritte zum Boot.

»Komm, Ane.«

»Ja, Josse, ja, Josse.«

Sie saßen wieder im Boot. Aber so plötzlich, als wären sie aus der Erde geschossen, liefen plötzlich alle Jungen, der ganze Schwarm, auf der Mole zusammen und sandten im Chor ein einziges zischendes Pfeifen hinter dem Boot her – als ob Kugeln ins Wasser prasselten. Joan saß in der Mitte des Bootes mit erhobenem Gesicht, während seine geballten Hände auf seinen Knien lagen.

»Es lebe die verrückte Amme, es lebe die verrückte Amme.« Und sie pfiffen wieder, während Joseph und Dmeter wie zum Schlage ihre Ruder hoben.

»Rudert,« sagte Joan.

»Ja,« sagte Joseph und sie ruderten.

So hatte Joseph den jungen Herrn noch nie gesehen. Joan rührte sich nicht. Er hielt beständig sein Antlitz nach aufwärts gerichtet und seine Augen waren so weit geöffnet, als wolle er in das Herz des Himmels starren.

»Rudert zum Städtchen,« sagte er, ohne seinen Blick zu verändern.

»Ja, Graf Joan,« sagte Joseph.

Die Rufe vom Lande starben hin.

»Wo sollen wir denn hin?« jammerte Ane, deren Gesicht von Angst und Kälte so geschwollen war, als ob sie Zahnschmerzen hätte: »Wo sollen wir hin?«

»Du sollst nach Hause gehen,« sagte Joan.

Sie legten bei der Brücke des Städtchens an.

»Geh nach Hause,« sagte Joan zu Ane.

Sie wagte nicht zu antworten. Joan schritt sicher und hocherhobenen Hauptes dahin. Er ging über den Platz und öffnete die Tür des Kirchhofes. Es war dunkel in der Kirche, aber er achtete dessen nicht und den Weg kannte er. Mit kalten Händen nahm er Stück für Stück die Blumenbukette von den toten Altären, wobei er den Heiligen in ihre gemalten Gesichter sah. Dann ging er nach Hause.

»Wie lange ihr fortgewesen seid,« sagte Herr Christopulos, der versuchen wollte, ob Joan von all dem sprechen würde, was Ane schon berichtet hatte.

»Ja,« sagte Joan nur und setzte sich. Mehr sagte er nicht. Plötzlich aber blickte er auf und sah Herrn Christopulos an.

»Sind wir eigentlich reich?« sagte er.

Herr Christopulos wurde ganz erstaunt »Ja,« sagte er, »ihr seid reich.«

»Sehr reich?« fragte Joan wieder.

»Ja, sehr reich.«

»So,« sagte Joan und sprach nicht mehr.

 

Aber es wurde Sommer. Herr Christopulos reiste fort, und zum Herbst sollte Joan in die Kostschule, in Herrn Dupierres Kostschule in Paris.

Joan ritt neben seinem Vater. Sie ritten um die Insel herum. Der Abend begann sich herabzusenken und der Fluß wurde dunkel. Die Bauern, die mit ihren Pfeifen vor ihren Häusern saßen, erhoben sich und neigten sich so tief zum Gruß, daß ihre Röcke fast den Boden erreichten.

Es war der Dorfschulze, der seine Mütze abnahm: »Adieu, Herr.«

»Lebe wohl, Carol.«

Joan nickte ihnen allen zu. Die alte Maria aber stieg über ihr Gitter und küßte Joan die Hand. »Leb wohl, Maria.« Zwei Mädchen wuschen am Fluß, und ihre Waschhölzer klapperten. Am äußersten Ende der Landzunge führte »Mutters Mühle« ihre segelbehangenen Flügel langsam durch die dämmernde Luft des Abends. Joan hatte sein Antlitz erhoben. Die Akazien über seinem Kopf dufteten so süß. Im Schatten der Bäume flossen die Tränen still an seinen Wangen hinab.

Sie ritten Burg hinauf und banden ihre Pferde fest. Joan erstieg den Schutthaufen neben der Mauer und ließ seine Blicke von den Häusern der Schmuggler über die Stadt und die Kirche und vom »Schloß« bis zur Mühle schweifen.

»Was ist das?« sagte Joan und hatte seinen Kopf gedreht, während der Vater sich über die Mauer beugte:

»Ruhe,« rief er. »Ruhe – kann hier denn nie Frieden gehalten werden?« rief er, während gellende Stimmen fortfuhren zu schreien: »Haut ihn, haut ihn, das serbische Schwein –« und ein Haufe rumänischer Burschen stürmte unten auf dem Wege hinter Ignaz her.

»Ruhe,« rief der Vater wieder, und die Burschen hoben ihre Köpfe und duckten sie wieder, als hätten sie einen Schlag in den Nacken bekommen, und sie schlichen weiter, einer nach dem anderen an der Mauer vorbei, wo der Vater stand.

»Vater,« sagte Joan, »Ignaz war ganz blutig im Gesicht.«

»Ja,« antwortete der Vater und ballte seine Faust, »hier kratzen wir einander die Augen aus, bis wir alle blind sind.« Er wandte sich ab. »Komm, wir müssen nach Hause.«

Sie bestiegen die Pferde und ritten schweigend, bis der Vater sagte, als schlösse er damit einen langen und heimlichen Gedankengang ab: »Aber nun kommst du ja von hier fort.« Joan antwortete nicht. Seine Kehle bebte hinter seinem hohen Kragen. Der Vater fuhr fort, während er geradeaus über den Kopf des Pferdes blickte: »Und in Frankreich ist man freundlich gegen Fremde.«

Joan faßte die Zügel fester in seiner Hand, und leise fragte er: »Vater, wo reist du hin – diesen Winter?«

Es war, als hätte der Vater die Frage überhört. Er schwieg einen Augenblick. Dann aber sagte er: »Ich bleibe hier; jetzt bin ich zurückgekehrt – für immer zurückgekehrt.«

Joan hatte seinen Vater nie so stammeln hören, und er wollte seinen Arm ergreifen und tat es doch nicht; seine Hand fiel nur schlaff herab. Plötzlich aber, während ihm eine Woge von Blut in die Kehle strömte, sagte er – und seine Stimme klang, als presse er die Worte hervor: »Vater, weshalb haben wir kein Vaterland?«

Der Vater hatte geantwortet: »Die Ujhazys haben keins bekommen.« Mehr wurde nicht gesprochen. Auf der Treppe zwischen den Säulen schieden sie voneinander.

Joan ging in sein Zimmer. Der Mond war aufgegangen und sein Licht fiel durch den Raum. Joan stand mit dem Rücken zum Fenster. Der alte Schreibtisch aus Veile und der Veile-Fjord an der Wand und die weiße Lampe und die »Dämmerung« und Anes Spruch überm Bett – alles wurde so deutlich im Schein des Mondes, wie Allzufernes bisweilen deutlich werden kann, oder auch wie etwas, das man durch Tränen sieht. Joan sah ein jedes Ding und ein jedes Bild. Wie hoch die Säulen des Pantheons waren. Dort war Herr Christopulos nun wieder – in seinem Vaterland. Joan wandte sich zum Fenster um. Wie klar das Mondlicht war. Nur die Schatten der Pappeln reckten sich über den Hof dem Hause entgegen, wie zwei dunkle und ausgestreckte Arme. Joan ging zu Bett, aber er schlief nicht. Waren es die Holzflöße, die er hörte? Ja, in mondhellen Nächten glitten sie den Fluß hinab. Wie groß der Schreibtisch wurde, wenn der Mond schien – als wenn er doppelt so groß wäre. Als seine Mutter lebte, lagen kleine, verwelkte Kränze in allen Schubladen, kleine, verwelkte Kränze zwischen ihren Kleidungsstücken … Sie weinte oft, wenn sie unter den Mühlenflügeln saß und den Holzflößen nachsah – den Flößen, die den Fluß hinabtrieben …

Die Tür wurde leise geöffnet. Es war Ane. Sie schlich auf Strumpffüßen durch die halbgeöffnete Tür über den Fußboden. Joan aber – und er wußte selbst nicht, weshalb er es tat – hatte die Augen geschlossen. Er hörte, wie sie wieder über den Fußboden ging, und öffnete die Augen. Ane hatte sich niedergesetzt, auf die bloße Erde hatte sie sich niedergesetzt, den Rücken gegen den Sekretär gestützt. Und mit den zusammengesunkenen Schultern, unbeweglich im Mondenschein – glich sie einem zerschlagenen Gefäß aus Ton.

Zweites Kapitel

Der Garten von Luxembourg war auch der Garten von Herrn Dupierres Schülern. Joan pflegte in der Mittagsstunde dort unter den Bäumen zu sitzen. Zuerst war es noch still und die Tauben gurrten auf den Steinkronen der Königinnen, während weiße Kinder am Rande des Bassins kleine Schiffe in der Sonne segeln ließen und Bonnen kerzengerade mit stillen Gesichtern ringsherum im Schatten saßen. Nach und nach aber kamen Schwärme von Studenten herein, die plauderten und lachten und alle möglichen Landessprachen durcheinandermischten – und die jungen Leute aus der englischen Kostschule kamen und die Akademieschüler. Letztere waren in Uniform.

Joan saß allein. Die Gesichter der Menschen aber waren ihm von einem zum andern Tag bekannt. Sie lösten sich voneinander los und gingen paarweise plaudernd unter den Bäumen. Jene beiden waren Griechen, ja, Joan hatte gehört, daß sie Herrn Christopulos' Sprache redeten. Herrn Christopulos', der nun tot war. Er hatte damals so oft gesagt: »Joan, das Griechenblut ist das röteste in der Welt.« Nun hatten sie ihn unten in Mazedonien getötet und er hatte sein Blut hergeben müssen. Daheim waren viele gestorben – auch Joseph aus dem Stall war tot. Wer wohl das Geld geerbt, das er sich erspart hatte, um einst in seiner ungarischen Heimat heiraten zu können?

Da gingen die beiden Japaner. Prinz Chira aber war nicht dabei. Hm, ja, alle Japaner trugen Brillen. Herr Lemaistre sagte, sie täten es, um ihre Augen zu verbergen.

Alles plauderte ringsumher. Die Plättmamsells aus der Rue de l'Abbé de l'Epée zogen wie ein weißer Schwarm vorbei. Sie trugen Veilchen an der Brust. Wie sie ihre Köpfe drehten und wendeten, während sie dahintrippelten. Daheim unter den Weinstöcken waren die Veilchen gewiß schon verblüht.

»Joan.«

Joan Ujhazy wandte seinen Kopf. Es war Harald Nielsen, der rief: »Die Flagge ist gekommen. Hier ist sie.« Harald Nielsen schwang ein Paket in seiner Hand.

»Komm mit nach Hause,« sagte er, »wir wollen sie aufhängen.«

»Ja, gleich,« sagte Joan, Harald aber lief weiter und, indem er sein weißes Paket schwang, rief er allen, die er kannte – und Harald Nielsen kannte Hunderte – zu: »Ich habe meine Flagge bekommen – ich habe meine Flagge bekommen.« »Oui, oui, le drapeau de la Norvège.«

Einige Studenten, die vorbeigingen, hörten es.

Sie riefen und lachten: »Hei, hei, zeig sie uns.« Und einige andere lachten: »Ja, ja, zeig sie uns.«

»Gern, gern,« rief Harald.

Die Waschmädchen kamen herbeigelaufen und einige Studenten, viele Studenten.

»Wir wollen sie sehen,« riefen sie.

»Gern,« rief Harald, »gern« – er hatte die Flagge aus dem Papier gerissen und sprang auf eine Bank hinauf. Er hielt die Flagge in seinen hocherhobenen Armen und schwang sie über den Köpfen der anderen in der Sonne. »Das ist die norwegische Flagge,« rief er und warf den Kopf, der so blond wie eine Ähre war, in den Nacken, »das ist die norwegische Flagge.«

Studenten und Damen und Mädchen lachten und riefen: »Es lebe die norwegische Flagge – – Vive la Norvège

»Ja, sie lebe, sie lebe,« rief Harald aus vollem Halse, bis vier junge Leute ihn von der Bank rissen und auf ihre Schultern hoben und ihn unter die Kastanien trugen, während sie sangen und die ganze Schar lachte. »Vive le drapeau de la Norvège.« Harald aber sprang herab und lief mit seiner Flagge davon.

Joan hatte sich erhoben und starrte das entfaltete Banner an. Dann beugte er sein Haupt und ging – geradeswegs gegen einige Menschen an.

»Sie sind wohl blind?« sagte der eine.

Joan aber hörte es nicht und ging nur weiter. Er bog in Wege ein, wo niemand war – wo nur einige Arbeiter auf den Bänken den blauen Rauch ihrer Zigaretten in die blaue Luft bliesen. Auf den hellgrünen Rasen hatten die Gärtner ihre Arbeit verlassen und nur einige Palmen warteten noch in ihren großen weißen Kübeln darauf, daß man sie der Frühjahrserde übergeben würde. Nur ein vereinzelter Gärtner ging noch musternd um eine Palmengruppe herum, während er, bald vor- und bald zurücktretend, das Licht und den Schatten der Bäume beurteilte. Er grüßte Joan. Joan liebte die Bäume. Sie standen so still. Sie nahmen Sonne und nahmen Regen in Empfang und waren so still. Joan unterhielt sich mit ihrem Gärtner und kannte sie alle.

»Wie hübsch ist es hier,« sagte Joan.

»Ja,« sagte der junge Mann, »hübsch ist es hier, aber die Parke in London sind doch viel schöner. Ja, man hätte bester daran getan, in England zu bleiben. Dort verdiente ich das Doppelte in der Woche …«

»Weshalb sind Sie denn nicht in England geblieben?«

Der junge Gärtner sann einen Augenblick nach.

»Ich weiß nicht, wie es sein kann,« sagte er und plötzlich lächelte er in die helle Luft: »aber ein Franzose fühlt sich doch nur in Frankreich wohl.«

Sie schwiegen eine Weile.

Dann sagte Joan: »Sollen diese Palmen jetzt eingepflanzt werden?«

»Das sollen sie. Hübsch sind sie ja, und trotzdem, was sind das für Bäume … Nein, in Algier, da gibts Palmen.«

»Sind Sie auch in Algier gewesen?« sagte Joan.

»Ja, freilich,« – und der junge Mann erzählte redselig, stolz wie alle Franzosen, die ein fremdes Land gesehen haben –, »ich bin dort acht Monate gewesen.«

»Das ist eine lange Zeit.«

»Aber,« fuhr der Gärtner fort, »man sollte Bäume nie aus ihrer heimatlichen Erde verpflanzen. Alles müßte bleiben, wo es einmal hingehört.«

»Das ist wahr,« sagte Joan, während der junge Mann durch etwas in Joans Stimme aufmerksam gemacht, ihn plötzlich ansah: »Was für Bäume wachsen in Ihrem Vaterland?«

»Mein Land,« sagte Joan, »mein Land ist so weit von hier entfernt.«

Und der Gärtner grüßte ihn wieder. »Bon jour, monsieur,« sagte er.

Joan ging durch die Gittertür hinaus und über die Straße in das Haus der Kostschule. Die Klassenzimmer waren leer und die Steintreppen froren noch nach der langen Kälte des Winters.

Die Tür zum Sprechzimmer stand offen und Joan sah Joseph Aponyi vor einer Dame sitzen, deren graue Schleppe auf dem Fußboden lag. Harald Nielsen stand auf dem nächsten Treppenabsatz.

»Wo bleibst du denn?« sagte er. »Wir wollen die Flagge aufhängen. Sie soll über meinem Bett hängen.«

»Das darf sie nicht,« sagte Joan.

»Weshalb nicht?«

Joan lief an den Zimmern der Schüler vorbei: »Herr Dupierre erlaubt es nicht.«

»Ach was,« sagte Harald, »sie soll da hängen.«

Er riß eine Tür auf.

»Holstein, Holstein,« rief er, »wir hängen die Flagge auf.«

»Was für 'ne Flagge?« sagte Holstein, der in der Tür erschien. Er hatte so eigenartige Körperbewegungen, als ob er sich reckte.

»Die norwegische.«

»Ist sie rein?«

»Halt den Mund.«

Harald war drinnen im Schlafsaal auf sein Bett gesprungen.

»Hier soll sie hängen,« sagte er und hielt das Flaggentuch mit beiden Armen gegen die weiße Wand.

»Du hast ja keine Nägel,« neckte Holstein, der seinen Körper auf einem Bettpfosten balancierte, wie auf der Spitze eines Pfahles.

Joan aber hatte Nägel geholt.

»Hier sind welche,« sagte er und sprach ganz leise.

»Danke.« »Hilf mir,« sagte Harald, der auf die Nägel loshämmerte, »halt die Flagge.«

Joan sprang aufs Bett. Er hielt die Flagge so fest wie mit einer Klaue.

»Ganz hübsche Flagge,« sagte Holstein vom Bettpfosten aus, auf dem er sich wiegte.

»Es ist die schönste Flagge der Welt,« sagte Harald und hämmerte.

»So, nun hängt sie.«

Harald sprang herab und betrachtete das ausgespannte Tuch: »Alle unsere Dichter haben die Flagge über ihrem Bett hängen.«

»Eure Dichter,« sagte Holstein und schwang sich mit einem Satz vom Pfosten ins Bett, wo er mit einem Plumps niederfiel und auf dem Rücken liegen blieb, »eure Dichter sind mir zu verwickelt.«

»Die norwegischen Dichter sind die größten in der Welt,« sagte Harald und schlug mit den Hacken gegen das Bett, auf dem er saß.

»Hm,« sagte Holstein, der lang ausgestreckt lag, »wir Dänen prahlen nicht so laut, nicht Joan …«

Hitzig, vielleicht von der unbewußten Eifersucht ergriffen, die sie alle in ihrem Verhältnis zu Joan fühlten, rief Harald: »Joan ist kein Däne.«

»Seine Mutter war doch dänisch,« antwortete Holstein.

»Man hat kein halbes Vaterland,« sagte Harald und streckte sich ebenso wie Holstein aufs Bett.

Joan hatte nichts gesagt und sich nicht gerührt. Wie er dort auf dem Fußende von Haralds Bett saß, fiel der Schein des fremden Flaggentuches wie eine dunkle Röte über sein Gesicht. Dann sagte er, als habe er nicht gehört, was zuletzt gesprochen wurde:

»Aber weshalb leben sie nicht in ihrem Vaterland?«

»Wer?« sagte Harald.

»Die Dichter.«

Harald spitzte den Mund, wie er immer tat, wenn er von seinem Vater, dem großen Maler, sprach: »Vater sagt, daß man nur höchste Kunst schaffen kann, wenn man sich sehnt. Darum wohnen alle, die etwas bedeuten, im Ausland.«

Joan stemmte seine gefalteten Hände gegen sein Knie, und Holstein, der plötzlich seinen Kopf wandte (wenn er wach war, drehte er seinen Kopf bald nach rechts und bald nach links, als gelte es hundert Dinge in einer Minute zu sehen), sagte: »Joans Hände sind so hübsch.«

Harald neckte: »Ich möchte wissen, was du an Joan nicht hübsch findest.«

»Unsinn,« sagte Holstein.

Harald aber sagte langsamer: »Übrigens sagt Vater auch, daß Joan merkwürdige Hände hat. Er sagt, daß er sie bisweilen so plötzlich zusammenpreßt, als wenn ihm irgendwo was weh täte.«

Holstein drehte hastig den Kopf: »Das ist wahr,« und seinen Kopf wieder wendend und seine eigenen Tatzen, die weiß, aber allzugroß waren, in die Höhe reckend, sagte er: »Wir vom dänischen Landadel haben alle Bauernhände.«

Er schwieg eine Weile und plötzlich zu den Dichtern zurückkehrend – die Gedanken sprangen in seinem Gehirn immer wie Grashüpfer hin und her – sagte er:

»Wenn sie dort nicht wohnen, ist der Hauptgrund wohl der, daß Christiania ein gräßliches Loch ist.«

»So – du bist ja noch nie dagewesen …«

»Nee, Gott sei dank nicht.«

Joan sagte und sah vor sich hin: »Im Winter soll ja das ganze Land weiß sein.«

Holstein wippte seine strammen und geraden Beine. Dann sagte er: »Na, jeder hält wohl am meisten von seinem Vaterland.«

»Das ist wahr,« sagte Harald in einem Ton, als schlösse er Frieden.

Sie schwiegen alle drei. Harald und Erich starrten zur Decke hinauf. Der Schein der großen Bäume von der Avenue füllte das Zimmer mit einer grünlichen Dämmerung, durch die nur die Farben der Flagge leuchteten, und die die Gesichter ganz bleich machte.

Harald sagte und sprach halblaut: »Nirgends in der Welt gibts so viel Flaggen wie in Bergen – am siebzehnten Mai.«

Erichs Augen erschienen größer und veilchenblau in dem bleichen, nach aufwärts gewandten Gesicht, als er sagte: »Hübsch ists auch daheim im Sommer, wenn wir mit der Yacht unterwegs sind und der Matrose die Flagge beim Sonnenuntergang deppt und wir die Mützen abnehmen … dann ists so still, während die Flagge gesenkt wird … zu hübsch.«

Erich schwieg und es wurde wieder still, während Joan sein Haupt senkte.

Eine gellende Glocke ertönte durchs Haus und mit einem Satz sprang Harald aus dem Bett.

»Wir haben Strafstunde in Deutsch,« sagte er.

»Wann?« fragte Holstein, der noch auf dem Bett lag.

»Dreiviertel auf acht – mit Stilübungen,« sagte Harald, der schon an der Tür war.

Dort aber wandte er sich um.

»Ja, da hängt sie fein,« sagte er und winkte seiner Flagge zu, bevor er ging.

»Hast du Musikstunde?« fragte Holstein, der seine Beine schüttelte.

»Erst morgen,« antwortete Joan.

Holstein stand da, beide Hände in den Hosentaschen: »Wenn wir alle über unseren Betten flaggen würden, jeder mit seinem Lappen, würd' es ein buntes Zelt geben.«

»Revoir,« sagte er.

Und er ging. Joan stand mitten in dem leeren Zimmer. Und plötzlich hob er beide Arme zu dem schweigenden Raum empor – bis sie wie mit einem Schlage wieder an seinem Körper herabfielen.

Er ging auf den Korridor hinaus. Prinz Chiras Tür stand offen. Den Nacken gegen die Mauer gestützt, saß der junge Inder und starrte mit regungslosen Augen auf die grünen Bäume.

»Chira,« sagte Joan, »es hat geläutet.«

Der Inder wandte seinen Kopf, in dem sich kein Zug veränderte.

»Es hat geläutet, Chira,« sagte Joan wieder und er umfaßte die Hände des Inders, die immer kalt waren. Und als ob seine Traurigkeit plötzlich bei der Berührung dieser anderen frierenden Hand überfließen wollte, beugte Joan sich einen Augenblick gegen die Schulter des Asiaten.

»Ich danke dir,« sagte Chira und richtete seine dunklen Augen auf Joan.

Joan stieg die Treppe zu den Klassen hinab. Im Vestibül stand die junge Dame, die Joseph Aponyi besucht hatte. Sie wandte sich an Joan und sagte auf französisch: »Jetzt fängt der Unterricht wohl an?«

Und Joan, der an ihrer Aussprache hörte, daß sie eine Magyarin sei, antwortete auf ungarisch: »Ja, gnädige Frau, die Stunde fängt gleich an.«

Die junge Dame lächelte: »Sie sind Ungar?«

»Ja, gnädige Frau.«

Hastig sagte sie und machte einige Schritte auf ihn zu: »Aus welcher Gegend in Ungarn?«

Joan antwortete und die Worte überstürzten sich: »Aus dem südlichen Teil Ungarns.«

Joseph Aponyi, der den Wagen seiner Kusine geholt hatte, erschien in der Tür und Joan verbeugte sich zum Abschied. »Adieu, gnädige Frau.«

Und war einige Schritte gegangen, nur fünf oder sechs, als er Joseph Aponyi laut sagen hörte: »Hat er dich angeredet?«

»Ich habe den jungen Mann nach etwas gefragt … er ist Ungar.«

Joseph aber sagte und noch lauter – und Joan griff mit beiden Händen vor sich durch die Luft –: »Der ist kein Ungar. Das ist ein Ujhazy von der Insel der Verbannten.«

Sie hatten die Tür erreicht und ihre Stimmen starben hin. Joan stützte sich mit den gespreizten Handflächen gegen die kalte Steinwand wie einer, dem es schwindelt und der im Begriff ist, zu fallen, und das Herz klopfte ihm in der Brust wie ein kalter und schwerer Stein, um dann wieder stillzustehen, als solle es für ewig stillstehen. – Kein Ungar – ein Ujhazy von der Insel der Verbannten, Joans Augen wurden dunkler wie unter einer Glut von Schmerzen; so tot wurden sie, wie die Augen eines Blinden, wie ein Bündel von Sehnen, ein totes Sehnenbündel – während er sich noch einmal, noch einmal des ersten Tages erinnerte, als Aponyi in die Kostschule kam und Herr Dupierre in seinem schwarzen Rock zu ihm sagte und vor Joan stehen blieb: »Hier haben wir einen Landsmann von Ihnen, Graf Aponyi – das ist Joan Ujhazy.« Und Joseph Aponyi, der wußte, wer er war und daß er hier sei, öffnete kaum seine breiten Lippen, als er antwortete: »Ujhazy, Sie irren sich, mein Herr, er ist weder ein Magyar noch mein Landsmann.«

Jetzt erklangen Schritte. Es war Joseph Aponyi, der zurückkam. Und in einer Sekunde war Joan auf ihn losgestürzt und schlug ihn mit seinen Händen, die wie Kugeln geballt waren, ins Gesicht, auf Hals und Nacken, wieder ins Gesicht – in einer unbändigen Wut: »Schuft, Schuft, Schuft,« schrie er und schlug weiter – bis er ihn losließ und in die Klasse ging. Und Joseph Aponyi hatte nicht einmal daran gedacht sich zu wehren.

»Sie kommen zu spät,« sagte der Lehrer, als Joan in die Klasse kam.

»Ja,« antwortete Joan und setzte sich auf seinen Platz.

»Wo ist Aponyi?« fragte der Lehrer.

»Er hat Besuch,« sagte Harald.

Der Lehrer sagte übers Buch gebeugt: »Diese Schule scheint nicht dazu da zu sein, daß die Schüler etwas lernen.«

»Nein,« murmelte Holstein, »sie ist dazu da, daß Herr Dupierre etwas verdient.«

Joseph Aponyi kam nicht.

»Warum spielst du nicht?« sagte Holstein, als die Unterrichtsstunden vorbei waren und er ins Musikzimmer kam.

Joan, der am Fenster stand, wendete sich nicht um.

»Phantasier etwas,« fuhr Holstein fort und setzte sich an den Flügel.

Joan hatte seine Violine genommen. Er wußte nicht, daß es Hanas Lieder waren, die er spielte, während Holstein ihn mit Akkorden begleitete.

»Wo ist eigentlich Aponyi?« fragte Holstein, während er weiterspielte.

»Ich weiß es nicht.«

»Er ist bei Herrn Dupierre gewesen und ist dann fortgegangen,« sagte Holstein und fuhr fort zu spielen.

Joan antwortete nicht. Die Melodie hatte gewechselt. Jetzt war es eines von den Liedern der Mutter, das still von weit her zu kommen schien.

»Ja, spiel das,« sagte Holstein, und ohne zu wissen, weshalb seine Gedanken bei Joseph Aponyi blieben, fuhr er fort: »Aponyi ist ein Wichtigtuer.«

Zum drittenmal hörte Joan Aponyis Namen und empfand es wie einen Nadelstich unter seinen Nägeln. Er wußte nicht, daß er immer wieder dasselbe Lied spielte, nur wilder, mit heftigeren Griffen, als wolle die Melodie ihre eigenen Ufer sprengen – unter einem Druck von Schmerzen oder einem Strudel von Trotz.

Holstein hob seinen Blick. Musik und Frauen entzündeten in der Tiefe seiner Augen fast denselben Funken von Wahnsinn. Joan fuhr fort, die Lieder seiner Mutter zu spielen. Es war, als werfe er sie von sich, wie ein Schiffer Ballast von Bord seines Schiffes wirft. Holstein begleitete ihn, wobei die Töne leise Zuckungen über sein Antlitz jagten, und er sagte mit seiner Stimme, die stets so seltsam belegt klang, entweder aus Trägheit oder aus unterdrückter Erregung: »Du spielst dänisch, aber du spielst es wie ein Zigeuner.«

Joan hielt plötzlich mit einem so grellen Ton inne, daß er die Saiten zu sprengen schien. »Findest du?« sagte er und wandte sich ab.

Holstein aber, der fortfuhr, Akkorde anzuschlagen, sagte, indem seine Gedanken zu Haralds Flagge und dem Schlafsaal zurückkehrten: »Die Norweger machen immer so viel Aufhebens wegen dieses Norwegens.«

Joan schwieg und Holstein sagte: »Du könntest eigentlich Heimatsrecht in Dänemark erwerben.«

»Heimatsrecht?«

»Ja,« sagte Holstein, der noch immer spielte, »das kann man lösen. Und Dänemark ist doch fast dein Vaterland.«

Joan, der Holstein noch immer den Rücken zukehrte, bog seinen Bogen plötzlich wie eine Rute.

»Aber deinen Grafentitel wirst du kaum anerkannt bekommen, weil die Grafschaft ungarisch ist.«

Holstein verstummte, bis er plötzlich seine großen Hände auf die Tasten fallen ließ: »Du, vom Vaterland spricht man. Aber unsere wunde Stelle sitzt wo anders.«

»Wo gehst du hin?« sagte er, und die Worte blieben ihm fast im Hals stecken, als er Joans Gesicht sah.

»Hinaus,« antwortete Joan und ging.

Harald lief auf dem Korridor an ihm vorbei: »Wo in aller Welt ist Aponyi?« rief er und lief weiter.

Joan ging durchs Vestibül und über die Straße in den Garten des Luxembourg. Es war öde auf den Wegen, und Frankreichs Steinköniginnen waren allein. Joan ging unter den Kastanien zu Marie von Medicis Fontäne. Als er seinen Blick hob, sah er Chira auf der Steinkante sitzen. Sein Hut lag vor ihm auf der Erde. Der Inder beugte sein junges Haupt zu seinem gewohnten langsamen Gruß, langsam als grüße er einen Untertan. Und in der grünen Dämmerung, die über den Wassern der Fontäne lag, saßen sie schweigend beieinander.

»Chira, warum sitzt du immer hier?« fragte Joan und er sprach leise.

Der Inder antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Hier ist es dunkel und der Ort ist alt. So ist es in unseren Wäldern.«

Er schwieg wieder, während sie der rinnenden Fontäne zuhörten.

»Chira,« sagte Joan, »warum bist du so weit gereist, wenn du dich so sehr sehnst?«

Der Inder wandte seinen Kopf: »Weil ich mußte.«

»Mußte?«

»Ja.«

Sie schwiegen wieder, bis Joan sich auf der Steinbank vorbeugte: »Chira, warum sprichst du dich nie aus? Du verzehrst dich und verbrennst, weil du dich nie aussprichst.«

Der Inder antwortete ihm nicht und starrte nur auf das schäumende Wasser.

»Vertrau dich mir nur an,« flüsterte Joan, »ich bin heimatloser als du.«

Die Augen des Inders richteten sich auf ihn, hastiger: »Ja,« sagte er, »weshalb bist du ein Gelber zwischen Weißen?«

Joan hatte seine Augen aufgerissen und sie plötzlich wieder halb geschlossen. »Ja,« sagte er, »das bin ich. Ein Gelber zwischen Weißen.«

Der junge Fürst betrachtete Joan, während er sagte: »Weshalb ich mußte? … Wir gehen nicht aus eigener Wahl. Die Brüderschaft sendet uns. Es gibt keinen Fleck und keinen Winkel auf asiatischem Boden, von wo wir nicht kommen. Die Brüderschaft schickt uns und wir gehorchen.«

Joan schüttelte seinen Kopf und sagte: »Ich verstehe dich nicht.«

Plötzlich lachte der Inder – kurz, wie Europa ihn zu lachen gelehrt hatte: »Nein,« sagte er, »ihr versteht nicht.« »Aber,« sagte er und seine Nasenflügel weiteten sich und bebten, »der Tag wird kommen, an dem ihr verstanden habt und wo es zu spät sein wird.«

»Die Brüderschaft?« sagte Joan, »was meinst du damit und wo ist sie zu finden?«

»In unserem Vaterland,« sagte der Inder. Der Fürst hob sein Antlitz und es schien wie aus Bronze auf einer uralten Münze geprägt: »Indien,« sagte er, »ist nur meine Heimat. Mein Vaterland ist Asien.«

»Asien?«

Der Inder hörte ihn nicht. Während er auf den glitzernden Strom der Fontäne starrte, sprach er langsam und seine Lippen wölbten sich um die weißen Zähne: »Wir waren alt. Nur der Gott ist älter. Gleichgültig, wie die Alten sind, sahen wir den weißen Ameisen zu und rührten uns nicht. Zehn Jahrtausende sind lang und unser Tag war noch nicht gekommen. Die Weißen nahmen unsere Felder und auf der Schwelle der Tempel verhöhnten sie Asiens geduldigen Gott, und unsere Schultern beugten sie unter dem Eisenjoch. Wir aber rührten uns nicht. Und sie jagten die Löwen in unseren Wäldern und rotteten die Elefanten mit Schlingen aus, und deren Blut mahnte uns nicht, obgleich sie uns heilig waren. Bis der Tag kam.«

»Der Tag?«

Der Inder sprach schneller, seltsam gurgelnd, als ob er unterdrückte und stöhnende Drohungen ausspräche: »Und ihr habt keine Augen zu sehen und keine Ohren zu hören. Die Zedern aber reden und die Brüderschaft ist um ihre Stämme versammelt und Millionen ballen ihre emporgereckten Hände und heben die schwörenden Arme. Weshalb ich mußte? Die Brüderschaft schickt uns, damit wir euch bestehlen können. Ihr stahlt unsere Reiche mit blutigen Händen und die Felder stahlt ihr und den Erdboden. Und die Flüsse, die wir liebten, mußten unter euren eitlen Lasten stöhnen. Jetzt stehlen wir euer triefendes Handwerk, und euer geschliffenes Glas setzen wir vor unsere Augen, damit ihr den Blick der Schiefäugigen, der über euch ist, nicht seht. Weshalb ich mußte? Wir sind Tausende und wir sind Zehntausende und wir sind Asiens Lehrlinge. Die Weißen stahlen alles, nur den Gott ließen sie in seinen Tempeln. Denn er war zu alt. Jetzt ist Asien der Dieb, der an der Arbeit ist. Und die Weißen lassen die Sonne in Eitelkeit aufgehen und sehen nicht die Zeichen, die an den Mauern geschrieben stehen.«

Joan war bleich geworden: »Chira,« sagte er, »was will denn dein Asien?«

Der Inder schüttelte seinen Kopf, so daß sein dunkles Haar sich wie eine Krone von Eisen über seine Stirn legte: »Euer Gott hat es gesehen. In euren heiligen Schriften habe ich gelesen, daß er es gewußt hat. Jammer und Elend verkündete er von den Bergen und die Zeiten, wo die Sonne verlöschen solle. Die Augen eures Gottes aber wurden blind von Tränen und doch kannte er die Schrecken des Tages nicht bis zur Neige. Denn die Flüsse werden von Blut schäumen und Leichen werden auf euren Meeren schwimmen und euer geschwätziger Gott wird seinen lebenden Mund vor Entsetzen schließen. Die weißen Füße werden auf der frierenden Erde erstarren und eure Öfen werden wir wie kleine Lichter verlöschen und eure Taten werden brennen wie Spanholz in einem Scheiterhaufen.« Der Inder schwieg. Ein leichter Schaum stand ihm vor den Zähnen: »Euer Gott wußte es. Ihr aber hörtet ihn nicht. Jetzt aber werden die Raben über eure Felder kommen und eure Mauern sollen nicht stehen, sondern Schutthaufen sein.«

Fürst Chira schwieg und Joan wagte nicht zu sprechen. Schließlich aber sagte er: »Weißt du denn, daß ihr siegen werdet?«

Der Inder sagte: »Männer siegen. Sind die Weißen Männer? Ihr habt Weiber in euern Adern, damit sie euch das Blut ausbrennen.«

»Und ihr?« sagte Joan.

Prinz Chira antwortete: »Wir haben viele Frauen, um nicht von einer zugrunde gerichtet zu werden. Euer Herz sitzt zu tief in eurem Körper. Deshalb werden wir siegen.«

Joan fragte, aber nicht gleich: »Glaubst du, daß du es erleben wirst?«

»Das Vaterland wird es erleben,« antwortete Chira.

»Asien,« sagte Joan.

»Ja.«

Joan war zumute, als sei ihm schwindlig und als habe alles Blut sein Gehirn verlassen: »An das denkst du, Chira?« sagte er.

»Ja, daran denken wir.«

Joan hatte sich erhoben.

»An was aber denkst du?« fragte Chira und richtete seine Augen auf den Weißen.

Joan wurde durch die plötzliche Frage verwirrt und fast ohne zu wissen, was er antwortete, sagte er: »Ich? An kleine Dinge.«

Der junge Inder lächelte mit einem Lächeln, das Joan nicht sah.

Joan aber sagte und fand in der neuen Frage gleichsam eine Stütze in seiner Verwirrung: »Wenn ihr aber gesiegt habt – was dann?«

Der Inder sah zu dem grünen Laubdach hinauf: »Dann wird es still werden,« sagte er, »und der Gott wird Frieden haben in seinen Tempeln. Ihr störtet uns in unsern Gedanken. Dann werdet ihr uns nicht mehr stören.«

Joan aber sagte: »Aber dann – was wird dann geschehen

Chira lächelte: »Du bist doch ein echter Weißer, Joan. Es wird nichts geschehen. Das Kurzweilige ist tot.« »Gehst du nach Hause?« fragte er, als Joan sich zum Gehen wandte.

»Ja,« sagte Joan und er ging davon, während der Inder sein Haupt beugte wie vorher.

Plötzlich aber rief Chira: »Joan, Joan.«

»Was willst du?«

Der Inder war aufgestanden und hatte Joan Ujhazys Hände ergriffen: »Ich habe gesprochen. Weshalb willst du nicht auch sprechen? Der Asiate würde dich vielleicht verstehen.«

Joan schloß seine Augenlider über zwei Tränen und machte sich von den zarten und gelben Händen des Inders frei: »Nein,« sagte er, »auch du nicht.« Und er ging davon.

Als Joan nach Hause und in den Speisesaal kam, saßen die Kostgänger bereits beim Mittagessen. Joan setzte sich auf seinen Platz neben Erich Holstein.

Erich bewegte seinen Kopf bald nach rechts und bald nach links. »Wo ist Aponyi?« sagte er und sah zu Josephs leerem Kuvert hinüber, während er seinen Kopf unablässig bewegte, als sei er von einer Bremse gestochen.

»Und Chira, wo ist Chira?« sagte er.

»Prinz Chira kommt,« antwortete Joan, und er wußte selbst nicht, daß er »Prinz« vor den Namen des Kameraden setzte.

»Diese Asiaten kommen immer zu spät,« sagte Erich und streckte seine Beine von sich.

Joan lachte plötzlich auf.

»Zum Donnerwetter, worüber lachst du?« platzte Holstein heraus.

»Über dich,« sagte Joan und wurde mit einem Schlage ernst.

»So-o? Kannst du mir vielleicht sagen, woran Chira denkt, wenn er so vor sich hin glotzt?«

»Er denkt vielleicht an die Zukunft,« sagte Joan und während er es sagte, wurde er bleich wie jemand, den es friert – ebenso wie vorhin am Bassin.

»Das tut wohl jeder von uns,« sagte Erich.

»Wie denkst du dir die Zukunft?« sagte Joan.

Erich Holstein dachte einen Augenblick nach: »Ich denke oft, wer wohl meine Frau werden wird.«

Joan lachte wieder und sagte: »Wie ›weiß‹ du bist.«

»Ich bin ein Däne,« sagte Holstein und aß weiter.

»Da ist Chira,« sagte Holstein, als der Inder hereinkam. »Wo ist aber Aponyi?« sagte er wieder und blickte zu Josephs Platz hinüber, wo Aponyis böhmisches Tischglas mit den eingelegten Granaten prangte: »Was fürn schönes Glas,« spottete er.

Sie aßen schließlich die Torte und die Früchte, ohne daß Aponyi erschienen war.

Als sie zur Strafstunde in die Klasse kamen, stand er bereits dort. Er hatte einen Smoking an und war so eingeschnürt in seine schwarze Samtweste, wie ein Budapester Reiterleutnant in seine Uniform. Sein Kinn war geschwollen.

»Hast du dich gestoßen?« sagte Holstein, während sie sich setzten.

Joseph Aponyi antwortete nicht.

Der Lehrer kam herein, ein Reserveleutnant aus den Rheinprovinzen, lang und blond, der erst seit kurzem an der Schule angestellt war und der zur Klasse sprach, als kommandiere er eine Abteilung. Die jungen Herren antworteten mit der äußersten Spitze ihrer Lippen.

»Sprechen Sie lauter, mein Herr.«

Die jungen Herren sprachen noch undeutlicher.

»Graf Holstein hat sich nicht gebessert.«

»Nee, da hat er Recht,« sagte Holstein auf dänisch.

Der Lehrer sprang mit seinen Fragen von einem zum andern. Sie antworteten alle verkehrt, mit den gleichen unbeweglichen Gesichtern.

»Sie wollen also noch eine Strafstunde haben,« schrie der Reserveleutnant über die Abteilung hin.

»Noch sechs,« sagte Baron Albutieri sehr laut, mitten in der Klasse.

Und alle lachten. Die Augen des Lehrers wurden blaß: »Ruhe,« donnerte er. Es wurde »Konversation« im Deutschen vorgenommen. Er richtete seine Fragen an Joan: »He,« sagte er, »erzählen Sie uns etwas …«

Joseph Aponyi erhob sich und trat vor. Die Hände in den Taschen starrte er Joan gerade ins Gesicht.

»Von … von den Bevölkerungsverhältnissen in Ihrem Vaterland?«

Der Inder hatte seinen Blick gehoben und sah von Aponyi zu Joan. Joan hatte die Lippen geöffnet, um zu antworten. Aponyi aber lachte wieder, nur fünf Schritte von ihm entfernt. Und stammelnd und in seinem unterdrückten Zorn fehlgreifend sagte Joan:

»Ich habe die Kenntnissen nicht …«

Und wieder hörte er Aponyi lachen – er sah ihn nicht, denn gelbe Kugeln flimmerten ihm vor den Augen.

»Kenntnisse,« rief der Leutnant: »kennen Sie Ihre eigene Muttersprache nicht einmal?«

Wieder lachte Aponyi und plötzlich sagte er, so blitzschnell als führe er eine Klinge: »Muttersprache? Deutsch ist auch nicht seine Muttersprache.« Und indem er plötzlich beide Hände aus der Tasche riß und sie wie die Magnaten bei ihrem Eljen hob, sagte er: »Ein Ujhazy hat keine Muttersprache.«

»Scheint so,« sagte der Leutnant.

Joan verstand nicht.

»Graf Aponyi,« sagte der Lehrer, »übernehmen Sie das Thema.«

Und Joan hörte Aponyi sprechen, und geweckt, verstehend, begreifend, sah er in einer Sekunde – treffend und deutlich, einander überstürzend, flimmernd, als seien es Bilder, die auf einer Decke vorüberglitten und durcheinandergeworfen wurden – sah er sein ganzes Leben vor sich: Mutter und Ane, die in der Dämmerung beisammen saßen. Was sagt er, was sagt er, fragte Ane und verstand ihn nicht. Und Hana, im weißen Haar, mit rinnenden Augen, nahm seinen Kopf in ihre Hände und sagte: Ich versteh nicht – wenn er auf serbisch zu ihr sprechen wollte. Und Mademoiselle rief ihm über die Schulter zu: Drück dich deutlich aus. Und Herr Christopulos hob seine Augen vom Buch: Ist das ungarisch, was du sprichst? Sprich englisch, damit ich dich verstehen kann. Wie hatte Marinka über ihn gelacht. Nein, wie er ruthenisch radebrecht, hatte sie gesagt. Die Rumänen lachten, wenn Joan ihnen etwas auf rumänisch erklären wollte. Und Joseph lachte, so daß er sich die Seiten hielt. Soll das ungarisch sein? sagte er. In den Läden lachten sie und alle in Orsowa, wenn er serbisch sprach … wie eine Kette lachten sie, alle, alle, Gesicht neben Gesicht, Mund an Mund, Zähne neben Zähnen … Denn er hatte nicht ihre Sprache. Alle lachten sie, die Köche, Joseph und Marinka, Serben und Rumänen und Ruthenen und der Dorfschulze mit seinem Hut. Und Ane und Mutter. – Denn er kannte ihre Sprachet nicht. – Er hatte keine Sprache.

Er wußte selbst nicht, daß er noch stand. Er hatte nicht gehört, daß dreimal gesagt worden war: »Professor Dupierre wünscht Graf Ujhazy nach der Stunde zu sprechen.« Als es aber zum vierten Male gesagt wurde, ging er auf die Tür zu, und der Lehrer rief: »Nach der Stunde! Sind Sie taub geworden?« Und er kehrte zurück, und es war nicht mehr Bewußtsein in ihm als in einem Frosch, der noch springt, nachdem man ihm seinen Kopf abgehauen hat. – Keine Sprache. – Er hatte keine Muttersprache.

Plötzlich faltete er seine Hände und wußte es selbst nicht. Und er wußte nicht, daß er einen Gott suchte und suchte … einen Gott – den Gott, den er vergessen hatte …

Plötzlich sah er die Kirche daheim vor sich und sich selbst. Damals. Damals, als man ihm sein Vaterland genommen hatte. Er hatte gebetet und gebetet und wieder gebetet – ja, in allen Sprachen, die er kannte … Und Gott hatte ihn nicht erhört, weil er verflucht war. Verflucht, daß er kein Vaterland hatte. Gott hatte ihm wohl auch seine Sprache genommen, damit keine Bitten ihn erreichen konnten. Er hatte auch keine Muttersprache …

Erich hatte ihn schon zweimal angestoßen: »Du sollst ja zum Alten kommen,« sagte er, »wie sitzt du denn da?«

»Ja,« sagte Joan und wußte gar nicht, um was es sich handelte. Dann entsann er sich und ging zu Herrn Dupierre.

Herr Dupierre saß in seinem Arbeitszimmer, mit den grünen Schirmen über den elektrischen Flammen. Er zeigte auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches und sagte, während er seine Hände betrachtete, die er vor seiner Brust gespreizt hielt: »Graf Ujhazy, ich habe Sie rufen lassen müssen,« und er fügte hinzu, wobei sein Blick Joan suchte: »Sie –« worauf er plötzlich innehielt: »Sie werden mich verstehen.«

Joan verstand nicht. Herr Dupierre rückte unruhig auf seinem Stuhl und veränderte seine Beinstellung. (Diese Geschichte war unangenehm, sehr … höchst unangenehm … aber man mußte zur Sache kommen … höchst, außerordentlich peinlich.) Er sagte: »Es ist ein Auftritt vorgefallen – ein sehr unangenehmer Auftritt.« Und er schwieg wieder, ohne daß Joan antwortete. Plötzlich aber erbittert (– weil er fühlte, daß er in die Enge getrieben war), sagte er heftig und sehr laut: »Sie werden begreifen, daß ich Gewalttätigkeiten in meinem Institut nicht dulden kann.«

Joan antwortete und rührte sich nicht: »Ich kann die Schule sofort verlassen.«

Herr Dupierre fuhr beinah in die Höhe – entweder aus Verlegenheit oder aus Freude – und er sagte: »Lieber, junger Mann … Sie müssen ja begreifen, daß …« Aber unter einem hastigen Andrang von Berechnungen (das Geschlecht der Aponyis war eine der Stützen des Instituts, einem Aponyi hatte Herr Dupierre seinen ungarischen Orden zu verdanken) sagte er: »Wo wollen Sie denn hin?«

Joan antwortete wie vorhin: »Professor Legat hat Kostgänger.«

Er erhob sich – es war etwas über ihm, als sei er ein Zinnsoldat, der sich bewegen wolle: »Ich gehe noch heute abend.«

Auch Herr Dupierre hatte sich erhoben. Er war ganz verwirrt: »Aber, mein lieber junger Freund … man muß doch … Ihr Herr Vater …« Und gleichzeitig dachte er bei sich, daß er Comte d'Aponyi père schreiben wolle: »Eure Exzellenz werden begreifen, daß ich unverzüglich die Entfernung des jungen Mannes forderte.«

Joan war durchs Zimmer gegangen. »Adieu,« sagte er. Herr Dupierre hatte seine außerordentlich wohlgepflegte Hand ausgestreckt. Joan aber sah sie nicht. Er war schon draußen.

Er ging auf sein Zimmer und nahm eine lange Seidenbörse aus seinem Pult. Er zählte das Geld. Heut nacht konnte er im Grand-Hotel wohnen, wo er bekannt war. Und morgen konnte er zu Professor Legat ziehen, der es ihm immer angeboten hatte. Dann war es auch gleichzeitig abgemacht, daß er sich ganz der Musik widmete. Er blieb einen Augenblick mit den Goldstücken in der Hand stehen. – Gut, so war es also entschieden, daß er ausgebildet wurde. Er dachte nur rein praktisch. Packte einige Sachen zusammen und nahm seinen Handkoffer. Trinkgelder konnte er schicken, Erich und Harald wollte er schreiben. Er ging mit seinem Koffer in der Hand hinaus und begegnete niemandem. Im Vestibül stand der Inder. Er wandte den Kopf: »Wo willst du hin?« fragte er.

»Fort,« sagte Joan, dessen Stimme plötzlich bei dem einen Wort zitterte.

Der Inder sagte nur: »Worüber habt ihr euch gestritten?«

Joan betrachtete sein schönes Gesicht: »Du würdest es doch nicht verstehen.«

Plötzlich aber sagte der Fürst: »Warte auf der Straße. Ich werde dich begleiten.«

Als Chira kam, stiegen sie an der Straßenecke in einen Wagen. Sie fuhren über die Seinebrücke durch den Hof des Louvre. Die goldenen Kugeln leuchteten still auf ihren Säulen. Sie sprachen nicht. Dann sagte Joan: »Wann reist du?«

»Wann?«

»Ja, nach Hause. Nach Indien?«

»Es ist nicht sicher, daß ich nach Indien reise.«

»Wohin denn?«

Der Inder antwortete: »Wohin das Vaterland mich schickt.«

Wie etwas, das zerbricht, von einer Axt durchspalten wird, so fiel Joans Körper über den des Inders, und plötzlich schluchzte er – als wolle er sein ganzes Leben in Tränen herausschluchzen.

Der Inder strich mit seinen Händen über Joans Haar: »Joan weshalb weinst du?« sagte er, »alles dies wird doch einst vernichtet werden.«

Joan hörte ihn nicht. Um sie herum glänzten die Lichter des Boulevards.

Joan hatte Unterricht bei Professor Legat. Der alte Mann war beim Zuhören in sich zusammengesunken. Das schwere graue Haar fiel wie ein Schirm über sein Obergesicht. Dann erhob er hastig den Kopf, wie es seine Gewohnheit war: »Du erzählst deiner Violine heut so viel, Joan,« sagte er.

»Wie meinen Sie das, Meister?«

»Du vertraust ihr so viel Schmerz an …« Herr Legat sah ihn forschend an: »Aber … ich verstehe deinen Schmerz nicht recht.« Herr Legat erhob sich: »Das mag seinen Grund darin haben, daß ich ein Franzose bin und du« – er lächelte – »bist so verzweifelt wie ein Ungar.«

»Ich bin kein Ungar,« sagte Joan.

Herr Legat lachte: »Was bist du denn? … Na, spiel weiter.«

Joan aber blieb unbeweglich stehen, den stummen Bogen in seiner Hand.

Drittes Kapitel

Der Kellner meldete zum zweitenmal das Mittagessen und Joan erhob sich von dem Sofa seines Abteils und ging durch die klappernden Wagen des Orientzuges.

Sein Konzertbegleiter, der Australier Henry Collyett, stand an der Tür des Speisewagens und wartete auf ihn: »Wissen Sie schon?« sagte er, »Jens Lund ist im Zuge. Er ist in München eingestiegen.«

Joan machte über seinem hohen Stehkragen eine hastige Bewegung mit dem Kopf: »So,« sagte er, und etwas langsamer fügte er hinzu: »Wo soll er spielen?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Australier, und indem er seine runden und blauen Augen weit aufriß, sagte er: »Er sah seltsam aus. Sein Gesicht ist wie in das Holz eines Kirchenstuhles geschnitzt.«

Joan antwortete geistesabwesend: »Das ist wahr.« Plötzlich sagte er und nickte vor sich hin: »Ja. Sein Wille hat es geschnitzt.«

Henry Collyett hatte die Tür zum Speisewagen geöffnet: »Aber er ist viel zu geputzt,« sagte er. Und indem seine Gedanken eine andere Richtung nahmen, fügte er hinzu – den Tonfall von Joans letzten Worten noch im Ohr: »Wie Sie ihn bewundern.«

Es glitt ein Lächeln oder vielleicht nur ein Zittern über Joans Gesicht: »Ja,« sagte er. Und sie nahmen Platz.

Joan ließ seinen Blick über die leeren Tische gleiten und er grüßte Herrn Bizot, der drüben in der Ecke neben seiner Frau saß.

Der Komponist, der bereits seit zehn Minuten auf das Essen wartete, sagte mit einer Stimme, die von einem Halskatarrh, den er sich ein Menschenalter hindurch in drei Weltteilen zusammengeholt hatte, krächzte: »So weit wären wir also glücklich gekommen.« Er warf seinen viel zu großen Kopf über dem kleinen Kleiderbündel, das seinen Körper vorstellte, ärgerlich hin und her: »Und nun soll man also das liebe Publikum wiedersehen,« sagte er.

Frau Bizot sagte mit einem Lächeln, das an das einer bekümmerten Hausfrau erinnerte – sie hatte seit siebenundzwanzig Jahren der Zubereitung von Herrn Bizots Weltruf vorgestanden –: »Mein Lieber, wir haben doch so viele Freunde in Wien.«

Herr Bizot hielt seine immer weißgefrorenen Hände über den Tisch, als wärme er sie vergebens an dem Feuer seiner eigenen Berühmtheit, das am Verlöschen war: »Freunde, Freunde,« sagte er, »ja, Frau Bizot bewahrt die Gesichter derselben fürsorglich in ihren Albums auf, um die Teuren wiedererkennen zu können, wenn sie ihrer von neuem bedarf.«

»Aber liebster Freund, wie sprichst du,« sagte Frau Bizot und hielt ihrem Mann scherzend den Mund zu, während sie zu Joan hinüberlächelte.

Aber brummig – in dem Tonfall, der das Entzücken der hinausgeworfenen Interviewer war und einen Teil seines Weltrufes ausmachte – sagte Herr Bizot: »Spar dein Lächeln auf. Wir sind noch nicht da. Frau Bizot braucht erst dem Gepäckträger entgegenzulächeln.«

Als die Tür geöffnet wurde, unterbrach Herr Bizot sich selbst und fragte den Kellner, der mitten im Wagen wartete, weshalb man zu Tisch gerufen würde, wenn man doch nichts zu essen bekäme. Joan, der in der entgegengesetzten Ecke, dem Australier gegenüber Platz genommen hatte, erhob sich wieder und verbeugte sich vor einer sehr schlanken Dame, die hereingekommen war, von einer langen Boa umschlungen, deren Enden fast den Boden erreichten.

»Ah, sieh da, Graf Ujhazy,« sagte sie, »wir machen die Reise zusammen. Ich bin in München eingestiegen. Wir waren in Cap Martin.«

»Hoheit pflegen dort jeden Winter zu verweilen,« sagte Joan, der sich in seinem Nachmittagsdreß sehr gerade hielt (vielleicht etwas zu gerade, wie es seine Gewohnheit war, wenn er Leuten aus dem Kreise begegnete, in dem er geboren, von dem seine Stellung ihn aber entfernte): »Cap Martin ist auch der ruhigste Ort an der ganzen Küste.«

Die Prinzessin antwortete mit einigen Worten und sagte, indem sie weiterging: »Aber ich freue mich auf Ihre Konzerte daheim. Sowie ich ›La Roumanie‹ gelesen hatte, habe ich telegraphisch Billette bestellt.«

Joan sagte mit einer Neigung des Kopfes, die so unmerklich war, daß er nur die Augenlider zu senken schien: »Hoheit sind zu liebenswürdig.« Und die Prinzessin nahm an einem der Tische mit ihren beiden Damen Platz.

Der Saal war bereits voll, und alle Sprachen schwirrten durcheinander, während die Kellner Bouillon in Tassen herumreichten.

Herr Haagemester, der in Begleitung seines blutjungen norddeutschen Cellisten, dessen Mund nicht größer als eine Kirsche war, hereinkam, konnte keinen Platz finden und bat Joan, ob er sich an seinen Tisch setzen dürfe. Er sagte, während er sein seidenes Taschentuch aus dem Ärmel zog: »Der Käfig scheint ja voll von geehrten Kollegen zu sein« (er sprach mit einer Betonung, als wären die Herren Kollegen Gegenstände, die zur gefälligen Betrachtung in Spiritus ausgestellt seien), und er grüßte zu dem deutschen Gesandten aus Bukarest hinüber, den er vom kronprinzlichen Hof in Potsdam kannte – während die Frau des Ministers, die ihren Mann nach seinem Namen gefragt hatte, Herrn Haagemester durch das Lorgnon betrachtete, als ob er schon auf dem Podium die ersten Töne zu Brahms Variationen über Händel angeschlagen habe.

Jean Roy von der Pariser Oper übertönte alle anderen. Er schliefe in einem Schlafwagen ausgezeichnet – brillant. Und er wüßte überhaupt nicht, weshalb man in einem Waggon-Lit nicht ebenso gut schlafen könne, wie in einem Hotel. Was ihn aber ärgere, mehr als er sagen könne – so führte er sehr laut aus – das sei, daß die Waggon-lits nicht mehr französisch wären.

Madame de Stein, seine Konzertbegleiterin, deren Gesicht von Puder bedeckt war, der sogar in ihren Augenbrauen hing, sagte: »Die Gesellschaft wohnt doch in Brüssel.«

Herr Roy aber antwortete: »Nein, nein, das ist es ja gerade – ganz leise, ganz leise ist sie nach Berlin gezogen, wie alles, alles nach Berlin zieht.« Joan beugte den Kopf über seinen Teller, während der deutsche Gesandte den Kellner gedämpft, in deutscher Sprache, um noch zwei Gabeln bat.

Das Gespräch verbreitete sich über Hotels und Schlafwagen und Mademoiselle de Stein sagte: »Mir ist es ganz einerlei, wo ich schlafe« – und sie sah Herrn Roy gerade ins Gesicht – »man kann genau dieselben Annehmlichkeiten auf einer Eisenbahn haben.« Als aber Henry Collyett den Cellisten um seine Schlafwagenmeinung befragte, sagte der junge Mann, der früher ein Wunderkind gewesen war: »Ich bin zwei Jahre lang auf Tourneen gewesen.«

Joan hatte, vielleicht um den Betten zu entgehen, eine Frage an Herrn Haagemester gerichtet, der mit einem goldenen Bleistift Zierate auf seine Serviette zeichnete. Die Zierate verwandelten sich zu verborgenen Zahlenstellen und Engagementsangeboten, die er heimlich zusammenzählte.

Der Pianist ließ sein Rechenexempel im Stich und antwortete auf Joans Frage: »Nein, ich spiele nie in der Jagdsaison.« Und er begann – während er den Gesandten ins Gespräch zu ziehen versuchte – von seiner letzten Jagd in Galizien zu erzählen, wo er beim Erzherzog Paul zu Gast gewesen war.

Der Gesandte aber, der Herrn Haagemester mit einem Lächeln auswich, sagte, zu Joan gewandt: »Graf Ujhazy, nicht wahr, ich weiß bereits, daß wir das Vergnügen haben werden, Sie in Bukarest zu hören.«

Kurz darauf aber hörte Joan, der in der äußersten Ecke saß, die Frau des Gesandten zu ihrem Mann sagen: »Ist er auch ein Virtuose?« In einem Ton, als ob sie ihn in der Stille für etwas Vorteilhafteres gehalten habe. Es war, als ob Joans Fingerspitzen schmerzten, indem sie das Tischtuch berührten.

Die Prinzessin sagte oben an ihrem Tisch, der zwischen dem des Gesandten und Herrn und Frau Bizots stand, und wo das Gespräch sich noch um Hotelbetten und Eisenbahnbetten drehte: »Gut schlafen, gnädige Frau, kann ich eigentlich nur in Rumänien.«

»Ach ja,« sagte Frau Bizot, und ein plötzliches Lächeln glitt über ihr Gesicht, »da haben Sie Recht, wenn ich richtig ausschlafen soll, muß es in Le Bourg sein.«

»Madame Bizot schläft überall wie ein Feldstein,« sagte Herr Bizot.

»Ja, ja, mein Freund,« sagte Frau Bizot wie mit einem Ruck; und sie versicherte der Prinzessin, daß sie nur deshalb ruhig schlafen könne, weil sie stets ein Kopfkissen mit sich führe, das mit Kräutern gefüllt sei, die sie selbst auf einer Wiese an der Seine, neben ihrer Villa, gepflückt habe.

Haagemester, der sich erhoben und bei der Prinzessin, die er als Ehrendame bei der Königin Elisabeth kennen gelernt, in Erinnerung gebracht hatte, kehrte an seinen Platz zurück und sagte: »Die Frau braucht wahrlich kein anderes Schlafmittel als die Musik ihres Mannes.« Und er begann von neufranzösischer Tonkunst zu sprechen, die ihm ein Beweis von der französischen Dekadenz sei. »Sie sind doch meiner Ansicht, nicht wahr?« sagte er sehr laut zu Joan.

Joan antwortete: »Ich bin in Frankreich erzogen worden.«

Und vielleicht verdrossen über etwas in Joans Ton, sagte Herr Haagemester ihm direkt ins Gesicht: »Ja, das hört man.«

Henry Collyett, der beständig die Tür im Auge behielt, sagte zu Joan: »Ob Herr Jens Lund nicht mitißt?«

Jean Roy, der Haagemesters Worte gehört hatte und feuerrot geworden war, sagte sehr laut: »Wen Gott strafen will, den läßt er als Holländer zur Welt kommen.«

Und Mademoiselle de Stein lachte, daß sie das Gold in ihren Zähnen mit ihrer Serviette verdecken mußte.

Herr Haagemester, dessen Stirn sich einen Augenblick zu einer Falte zusammenzog, sagte zu Joan: »Und die »Oper« ist der Grabstein über Frankreichs Dekadenz.«

Joan antwortete mit derselben kühlen Höflichkeit: »Sie beherbergt doch einige der größten Künstler der Gegenwart.«

»Die Meister Bizots Opern singen, jawohl,« sagte Herr Haagemester, der noch immer recht laut sprach, während Jean Roy, die Serviette um den Hals, mit beiden Händen auf den Tisch trommelte.

Die Prinzessin, die augenscheinlich sprechen wollte, um die lauten Stimmen zu dämpfen, wandte ihren Stuhl halb zum Gesandten um und sagte: »Sie kennen mich gewiß nicht mehr, Herr von Benckendorf, und Frau von Benckendorf habe ich nie das Vergnügen gehabt zu treffen.« Der Gesandte erhob sich halb: Er habe Ihre Hoheit gleich wiedererkannt, sagte er und stellte seine Frau vor, während Jean Roy sich von seinem Stuhl erhob und mit dem Glas in der Hand auf das Ehepaar Bizot zuging: »Auf Frankreichs Meisterschaft«, sagte er und stieß mit Herrn Bizot an, während zwei junge Rumänen, die in der gegenüberliegenden Ecke saßen und in ihren Smokings ganz unbekleidet wirkten, die ringgeschmückten Hände wie zu einer Art Applaus zusammenschlugen.

Herr Bizot hatte sich erhoben, und indem er die beiden Rumänier in seinem Dank mit einschloß und so sprach, als beantworte er einen Toast bei einem Festmahl, sagte er mit einer Handbewegung: »Mein lieber Mitarbeiter, wir machen die langen Reisen, um unsere Führerschaft zu behaupten.«

Der Gesandte beugte sich lächelnd zur Prinzessin und sagte: »Man befindet sich hier fast wie en route in einem diplomatischen Korps.«

»Abgesehen von den Formen«, sagte seine Frau und sie lachten alle drei, während die Prinzessin sagte: »Ach, ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen, als wenn wir auf die Dauer dem diplomatischen Dienst angehört hätten …« »Nicht wahr«, fuhr sie fort, »die Heimat bleibt doch immer die Heimat. Und außerdem – wenn man so von Ort zu Ort reist und an jedem neuen Ort neuen Lächerlichkeiten begegnet, dann wird einem zuletzt die ganze Menschheit lächerlich …

Joan, der die Worte der Prinzessin hörte, starrte sie einen Augenblick an, und der Gesandte sagte plötzlich ernst: »Das ist sehr wahr. Unser Leben hat etwas vom ›Fluch‹ an sich. Aber«, fuhr er im selben Ton fort, »das Land, dem man nach besten Kräften dient, fragt nicht nach dem Preis, den der Dienst uns kostet.« Joan blickte noch immer zu dem Tisch des Gesandten hinüber, während die feinen Falten um seine Augen leise zitterten.

»Das ist wahr,« antwortete die Prinzessin, »ich bin nur froh, daß Paul Rumänien dadurch dienen kann, daß er Rübenzuckerfabriken anlegt.«

»Ach, Hoheit,« sagte Frau von Benckendorf, »es ist nicht so schlimm, wie Sie glauben. Und außerdem wollen wir natürlich in Darmstadt sterben. Wenn mein Mann sechzig Jahre alt ist, kaufen wir uns ein Haus in der ›Prinzessin-Allee‹ und züchten Spargel.«

»Das ist der Traum meiner Frau,« sagte der Gesandte.

»Gott, wie ich Sie verstehe,« sagte Frau Bizot plötzlich hinter der Prinzessin, »für mich gibts auch keine größere Freude als meine Artischocken in Le Bourg.«

Die Frau des Gesandten wendete sich, während sie ihr Lorgnon fallen ließ, plötzlich zur Prinzessin und sagte leise: »Wissen Sie, Hoheit, der junge Mann dort tut mir leid.« Die Prinzessin war ihrem Blick gefolgt und auch ihre Augen streiften Joan, während Frau von Benckendorf sagte: »Er ist also arm?«

Die Prinzessin antwortete: »O, durchaus nicht. Aber ich glaube, er trauert um seinen Vater.«

Joan hatte seinen Namen gehört und mit einer etwas zu hastigen Bewegung beugte er sich zu Henry Collyett, der mit dem Cellisten sprach, und fragte ihn: »Was erzählt Mr. Collyett Ihnen?«

Der Cellist, dessen auffallend kleines Gesicht unablässig die Farbe wechselte, sagte: »Mr. Collyett sagt, daß er sich alles ansieht, wenn er reist, Museen und dergleichen. Und ich sehe gar nichts … denn man muß doch üben, nicht wahr?«

Joan lächelte: »Ich will Ihnen sagen, Henry sieht auch gar nichts. Er übt zehn Stunden lang – und wenn er auf die Straße kommt, sagt er, daß er sich nach Melbourne sehnt.«

Herr Haagemester, der aß, sagte über den Tisch hinüber: »Und wonach kann man sich in Melbourne sehnen?«

Henry hob seinen Kopf: »Nach der Sonne,« sagte er und öffnete seinen Mund weit, »die scheint nirgends so wie in Melbourne.«

»Dann sollten Sie lieber in der Sonne bleiben,« sagte der Holländer, der zu jungen Kollegen in einem Ton sprach, als seien sie die Treibjäger seiner fürstlichen Jagdbekanntschaften.

»Ja,« sagte Henry Collyett, »das will ich auch – wenn ich gesiegt habe.«

Der Holländer blickte bei dem Ton seiner Worte auf: »Und wen wollen Sie besiegen?«

»Weshalb nicht zum Beispiel Sie,« sagte Joan, der wieder vor sich hinstarrte.

»Ich wünsche guten Erfolg,« sagte der Pianist und legte seinen goldenen Bleistift auf einen anderen Platz.

Henry Collyett aber sagte rasch – und man sah, daß seine runden Augen Metallfarbe bekommen konnten –: »Aber die, die gesiegt haben, verstehen nie, daß andere auch siegen wollen.«

Joan sagte und seine Stimme klang gedämpft: »Und die Besiegten verstehen auch nicht, Henry, daß sie selbst gewollt haben, und daß die anderen wollen.«

Der Cellist kehrte Joan hastig sein junges Gesicht zu: »Sieg ist doch Sieg,« sagte er und über seinen eigenen Tonfall erschrocken, errötete er ganz bis zum Hals hinunter.

»Und Geld,« platzte es aus Henry heraus, der sein Haar schüttelte.

Das hatte Roy gehört und er lachte laut: »Der Australier ist weise.« Und während er fortfuhr zu lachen, daß der kleine Tisch bebte, rief er durch den Wagen: »Prost, Herr Bizot.« Er lachte noch immer und sagte, zu Mademoiselle de Stein gewandt: »Mutter Bizots Artischocken haben goldene Blätter und Frankreichs Bank hat einen tiefen Keller.«

Mademoiselle de Stein aber wendete ihren Stuhl halb um und sagte: »Graf Ujhazy, Sie als Ungar müssen doch – das ist wahr – von diesen Papieren Bescheid wissen.« Und sie fing an, von gewissen Aktien und Werten in Galizien zu sprechen.

Auf einmal sprachen alle die geehrten Kollegen von Geld und Anlegen von Geldern und Bons und Papieren und Prozenten. Alle Stimmen sammelten sich um Börsen und Transaktionen, nur Joan verblieb stumm vor dem Lorgnon der Frau des Gesandten, das erstaunt von dem einen Börsenjobber auf den anderen – auf seine Kollegen gerichtet wurde. Mademoiselle de Stein hatte ihren Stuhl ganz zu Herrn Haagemester umgedreht, der Montanaktien empfahl oder Ankauf von Russen.

Jean Roy schob seinen Teller von sich, weit aufs Tischtuch hinaus, und sagte zu Joan hinüber, daß nichts, nichts auf die Dauer so vorteilhaft sei wie Bodenankauf in New York. »Mein Lieber«, sagte er, »Amerika ist die Zukunft. Wir werden den Tag erleben, wo New York größer ist als London.« Und er sprach von Straßen und Avenues und Bauplätzen und Wolkenkratzern, als habe er eine Karte von New York ausgebreitet vor sich auf dem Tisch liegen.

Herr Haagemester sagte Kurse her und nahm einen Kurszettel aus seinem Hendschel und breitete ihn auf einem Teller aus. Mademoiselle de Stein glaubte ihm nicht, und erhob sich von ihrem Platz, um sich selbst zu überzeugen. Sie verbreitete, während sie aufstand, einen starken Blossom-Duft im ganzen Wagen und studierte den Kurszettel Seite an Seite mit dem Holländer, der ihren etwas mitgenommenen Busen betrachtete, der durch die Spitzenborten ihrer Rosabluse schimmerte. Jean Roy fuhr fort, von Amerika zu sprechen. Es gäbe auch Leute, die auf New Orleans schwörten. Aber man solle nie Geld in einem Terrain anlegen, das man nicht kenne.

Herr Haagemester las noch immer Kurse vor, während Mademoiselle de Stein mit ihrem Taschenbuch angestürzt kam, das in Gold gebunden war. »Lieber Freund,« sagte sie zum Holländer, »Sie sind ein Mann mit Verstand.« Und sie begann Aktien nach Herrn Haagemesters Diktat zu schreiben.

Der ganze Wagen war angefüllt mit Zahlen, die wie ein Mückenschwarm über die Tische schwirrten, während Herr Bizot die gespreizten Finger seiner blaugefrorenen Hände unablässig auf der Tischplatte hin- und herführte, als schabe er unsichtbare Geldhaufen zusammen – vielleicht die Monatsmiete von den öffentlichen Häusern, die der Komponist der Cäcilia-Legende in den südfranzösischen Provinzstädten besaß.

Herr Haagemester faltete die Kursliste zusammen und sagte: »Die ganze Kunst zu spekulieren, gnädige Frau, besteht darin, wirkliche politische Verbindungen zu haben« – der Gesandte hörte es, so daß es ihm entging, wie die Prinzessin zu ihm sagte: »Nichts in der Welt ist mir gräßlicher als Geld. Ich kann keine Mark von einem Frank unterscheiden.«

»Graf Ujhazy, da ist er.« Es war der Australier, der es geflüstert und sich fast gleichzeitig erhoben hatte.

Joan hatte den Kopf gedreht und Jens Lund gesehen, er stand in der offenen Tür. Seine Hand war gegen den Türrahmen gestemmt. Joan fuhr fort, diese Hand zu betrachten, sie war geformt, als sei sie gewöhnt, einen Griff zu umfassen.

»Er hat dennoch kein Gesicht,« sagte Henry, der sich ganz über den Tisch beugte. Joan, der den Blick von Jens Lunds Hand zu seinem Kopf erhoben hatte, betrachtete das Gesicht, das durch unablässig und heftig arbeitende Gedanken in starre Unbeweglichkeit versetzt zu sein schien.

»Sein Gesicht ist nach innen gekehrt, Henry.«

»Ja,« antwortete der Australier.

Und als Jens Lund an ihnen vorbei durch den Wagen ging – er hielt beide Hände geballt – sagte Joan: »Er hat Hände wie ein Rudergast.«

»Das ist wahr,« sagte Henry und wieder von dem Klang in Graf Ujhazys Stimme betroffen, sagte der junge Australier, ebenso wie vorhin: »Wie Sie ihn bewundern.« Und mit einem plötzlichen Übergang fügte er hinzu: »Ich bin froh, daß es keinen Pianisten gibt, den ich so bewundere.«

»Warum?«

»Weil ich dann –«, sagte der Australier und lachte und hörte wieder auf zu lachen, »– weil ich dann aufhören würde zu spielen.«

Joan sah hastig zu Henry Collyett auf. Dann schlug er die Augen nieder und hörte Mademoiselle de Stein sagen: »Sie interessieren sich wohl nicht für Kurse, Graf Ujhazy?«

Joan sagte und wandte sich zu ihr: »Nein, gnädige Frau, ich spekuliere nie – und außerdem habe ich wenig Künstler gekannt, die reich gestorben sind.«

Es trat ein plötzliches Schweigen an allen Tischen ein. Mademoiselle de Stein machte eine Bewegung mit ihrer Hand, als wolle sie ein Haar aus der Stirn streichen, wo gar kein Haar war – während der keuchende Lärm des Zuges plötzlich über allen Anwesenden zusammenschlug und man das klirrende Rütteln des Wagens, der Türen und Fenster vernahm.

Da sagte Jean Roy, dessen großes und offenes, obgleich etwas zu fettes Gesicht alle Gemütsbewegungen widerspiegelte: »Ja, das ist wahr – und seltsam.« Und durch eine Ideenverbindung begann er von einem berühmten Kameraden zu erzählen, einem Sänger, der vor kurzem gestorben war. »Ja,« sagte er, »er war ein merkwürdiger Mensch. Ganz plötzlich zog er sich zurück. Mitten in einer Tournee in Amerika brach er ab – – – und setzte sich zur Ruhe. Er wollte nicht mehr.«

»Er war wohl krank,« meinte Herr Haagemester.

»Keine Spur. Er wollte nur nicht mehr. Und dann lebte er fünfzehn Jahre in einer kleinen Stadt fünf Stunden von New York entfernt … tat nichts, stand nur auf und ging zu Bett unter Fremden.«

Zwei Falten hatten sich in Joans Stirn eingegraben, wie bei jemandem, der gewaltsam einen Gedanken zu verfolgen sucht.

»Aber nach seinem Tode,« sagte Jean Roy, »wollte er nach Frankreich gebracht werden. Denn wie weit man auch in der Welt herumkommt, auf dem Père Lachaise will man doch mal ausruhen.«

Mademoiselle de Stein sagte – mit einer leisen Sentimentalität für Kirchhöfe –: »Père Lachaise ist aber auch der schönste Ort in der Welt. Ach, mein Lieblingsmonument ist das mit dem trauernden Genius … das ist ein ganzes Drama … ein junger Mann – ein junger Mann aus dem Kaiserreich – der einzige Sohn … ich habe gehört, daß der Vater Minister war. Und eines Tages erschoß er sich – ohne Grund – keiner wußte den Grund und er war dreiundzwanzig Jahre.«

Joan hatte seinen Kopf in der stützenden Hand gedreht: »Wissen Sie, wie er hieß?« sagte er.

»Nein,« sagte Mademoiselle de Stein, »aber es ist der geheimste Wunsch von uns Frauen, mal solchen Mann gekannt zu haben.«

Jean Roy lachte. Mademoiselle de Stein aber sagte: »Ach ja, es ist schön, jung zu sterben.«

Jean Roy sagte und fuhr fort zu lachen: » Chère, das können Sie ja noch erreichen.«

Mademoiselle de Stein machte eine Bewegung mit ihrer Schulter: »Pfui, spotten Sie nicht. Ich sage Ihnen, ich kann bisweilen in der Nacht erwachen, vor Angst, daß ich im selben Augenblick und in einem Hotel sterben muß.« Frau von Benckendorf wendete sich halb um, so hastig, daß ihr Arm die Serviette vom Tisch riß.

»Madame,« sagte Jean Roy und legte sie wieder auf den Tisch des Gesandten. »Schöne Freundin,« sagte er zu Mademoiselle de Stein: »Sie sterben als Achtzigjährige – in fünfundfünfzig Jahren.«

Mademoiselle de Stein wandte sich wieder an Joan und sagte: »Graf Ujhazy, wann möchten Sie am liebsten sterben?«

Joan konnte, an allen anderen vorbei, Jens Lund sehen, der an dem Tisch der beiden Rumänen saß und aß. Er aß wie jemand, der sich Mühe gibt, hübsch zu essen, und es bisweilen vergißt. »Ich?« sagte er, »ich möchte an einem Tage sterben, an dem ich noch bei voller Vernunft bin.«

Mademoiselle de Stein machte dieselbe hastige Bewegung mit den Schultern wie vorhin: »Graf Ujhazy ich weiß gar nicht … Sie sagen Dinge, als wären Sie das Gespenst in einer Komödie.«

Herr Haagemester hatte sich plötzlich mit seiner linken Hand dreimal über die Stirn gestrichen – während Jean Roy Joan gerade ins Gesicht sah. »Wissen Sie,« sagte er und es trat ein Ausdruck von Angst in seine Augen, die er im nächsten Augenblick wieder verjagte, »ich war in dem Londoner Theater zugegen, wo Mr. Thomson plötzlich verrückt wurde. Er spielte, spielte sehr vernünftig und plötzlich in einer Szene … mitten im Dialog stand er von seinem Stuhl auf und ging in die Kulissen hinaus – – und war verrückt.« »Ich werde es nie vergessen,« schloß er. Jens Lund hatte aufgehört zu essen. Er saß mit vorgestrecktem Kopf da und mit einem Ausdruck in den Augen wie ein witternder Windhund.

Die Prinzessin sagte zu Jean Roy hinüber: »Ja – es soll furchtbar gewesen sein. Meine Kusine hat mir davon erzählt – sie war auch da.«

»Hoheit,« sagte der Sänger, »es war entsetzlich.« Und indem er fast mit Gewalt den Ton änderte, sagte er, daß er Ihre Hoheit Prinzessin Stourdza sehr gut von der Oper kenne, »wo wir alle unsere Abonnenten kennen.« Die Oper sei nicht der einzige Ort, wo sie Herrn Roy gehört habe, sagte die Prinzessin. Überall, wo es ihr möglich gewesen sei, habe sie seinen »Lohengrin« gehört. Jean Roy verbeugte sich und plötzlich fing er so herzlich an zu lachen, daß auch der Gesandte lächeln mußte. »Man hat in England eine Karikatur von meinem ›Lohengrin‹ gezeichnet. Das ist das Köstlichste, was ich jemals gesehen habe.«

Auch Frau von Benckendorf hatte die englische Karikatur gesehen und mußte unwillkürlich lachen, während die Prinzessin sagte: »Aber meine Kusine, Gräfin Greffulhe hat mir von Ihren eigenen Zeichnungen erzählt, Herr Roy.«

»Ach ja,« sagte Jean Roy, »ich kritzle ja selbst so'n bißchen auf Papier.«

Frau Bizot, die beständig der Prinzessin zulächelte, deren Namen sie gehört hatte, sagte – und sie platzte damit heraus, wie jemand, der gar nicht gefragt worden ist: »Herrn Roys Albums sind in ganz Paris berühmt.«

Mademoiselle de Stein sagte: »Herr Roy hat sie in seinen Koffern.«

»Sie können sie gern zu sehen bekommen,« sagte Herr Roy ohne Formalitäten und ging hinaus, um die Bücher zu holen, während Herr Haagemester zu Joan sagte: »Sänger können immer für so vielerlei Dinge Zeit finden … wenn sie selbst Zeit finden.«

Und Frau Bizot, auf deren Gesicht noch immer dasselbe verlegene Lächeln lag, begann Prinzessin Stourdza zu erzählen, daß ihr Mann, Herr Adolphe Bizot – und sie machte eine Bewegung, als stelle sie ihren Mann vor – daß seine ganze Zeit vom Niederschreiben seiner Erinnerungen in Anspruch genommen sei. »Aber das Schlimmste ist,« sagte Frau Bizot, »daß man uns nie in Ruhe läßt. Wie ich so oft sage, wir hätten gar nicht mit dem Dirigieren anfangen sollen.«

Die Prinzessin, die nicht recht wußte, was sie antworten sollte, sagte: »Rumänien hat leider noch nie die Ehre eines Besuches von Herrn Bizot gehabt.«

»Nein,« sagte Frau Bizot, und sie machte eine Bewegung mit ihrem schmächtigen Oberkörper, als zöge sie ihre sonntägliche Angelschnur auf der Seine zu sich heran: »Dort sind wir nicht gewesen. Aber wir haben beide so viel von Ihrem schönen Land gehört.« »Das herrliche Rumänien,« sagte Frau Bizot.

Jean Roy kehrte mit seinen Skizzenbüchern zurück und reichte eines davon der Prinzessin. Sie öffnete es: »O,« sagte sie: »das ist aus Rumänien,« und nachdem sie einige Blätter umgeschlagen hatte, fing sie an zu lachen: »Herr Roy, das ist ausgezeichnet, das ist brillant. Gerade solchen Ausdruck hat Ihre Majestät, wenn sie ihren Hofdamen ihre Operntexte vorliest.«

Frau von Benckendorf wollte auch sehen und sie lachten beide, über das Bild gebeugt, auf dem Carmen Sylva, hinter einem Gitter mitten im Schloßhof, auf einem Dreifuß saß, mit einer Toga bekleidet, lorbeerbekränzt, während sie dem rumänischen Adel auf einer Harmonika etwas vorspielte, der, entzückt und in Nationalkostümen, die Beine schwang, so daß man den Boden der durchlöcherten Sandalen sah.

»Herr Roy, Sie müßten in Bukarest ausstellen,« sagte die Prinzessin und lachte noch lauter. Als sie aber den Kopf hob und ihr Blick auf ihre Smoking-Landsleute fiel, die die Ohren spitzten – den einen kannte sie: er war der Sohn eines Branntweinhändlers in Konstanza – sagte sie: »Sie haben ganz recht, Herr Roy, Ihre Majestät ist ungewöhnlich musikalisch.« Und sie und Frau von Benckendorf bekamen im selben Augenblick genau denselben Ausdruck im Gesicht. Die Skizzenbücher gingen an den Tischen von Hand zu Hand und alle lachten über die Lächerlichkeiten aller Nationen.

»O ja, o ja,« rief Collyett und schlug sich vor Lachen auf seine Sportsbeine: »Von diesem Bild hab ich gehört … Sehen Sie doch, bitte, Graf Ujhazy, sehen Sie …« Es war Mr. Schürmanns Karussell, bei dem Herr Schürmann Janitschar war und Herr Strakosch die Trompete blies, während Engländer und Yankees und Spanier und Deutsche das Karussell stürmten. Zuletzt kamen zwei Holländer.

»Sehen Sie nur die Trommel,« rief Collyett, »die Trommel ist dänisch.« Die Trommel wurde von einem winzig kleinen Mann geschlagen, dem Haare in die Stirn und Schweißtropfen unter der Nase hingen. Er trommelte mit seinen eigenen schiefen Beinen. Auf der Trommel stand: Die dänische Presse.

Alles lachte, jeder in ein Buch vertieft. Die Kellner, die Stangenspargel herumreichten, blieben stehen und schielten über die Schultern der Damen und Herren auf die Zeichnungen.

»Das ist sündhaft,« sagte Mademoiselle de Stein, »Dänemark ist charmant. Das einzige Land, wo die Presse die Kunst zu schätzen weiß.«

Jean Roy lachte: »Ich wage zu behaupten,« sagte er, »daß es das einzige Land ist, wo man Mademoiselle de Stein ernst genommen hat.«

»Jean …«

Jean Roy aber fuhr fort. »So wenig Ernsthaftes hat man dortzulande zu denken …«

Henry Collyett wandte sich Mademoiselle de Stein zu und hatte plötzlich aufgehört zu lachen: »Ist es wahr,« sagte er: »ich habe gehört, daß man Kopenhagen vor Amerika nehmen soll.«

»Das sollen Preußen sein, nicht wahr,« sagte der Gesandte zu Jean Roy, indem er auf eine Karikatur zeigte, wo eine Reihe Mannsleute in gleichem Tritt und gleichen Anzügen, mit gleichen Rücken und gleichen Bärten, wie nach einem unhörbaren Kommando geradeaus marschierten. Der Cellist aus Norddeutschland lachte über eine Zeichnung, die Bachbegeisterung hieß, und wo ein Logenrand von gähnenden Gentlemen Herrn Borwick applaudierte, der so hingehaucht spielte, daß seine Finger die Tasten gar nicht berührten.

Jean Roy aber sagte: »In Wirklichkeit bewundere ich die Deutschen.«

»Doch nicht blindlings,« sagte der Gesandte und lächelte.

»Es ist leicht sehend zu sein,« sagte Jean Roy, »bis zu einem gewissen Grad sehend, wenn man alles von einem Hotelfenster aus betrachtet.« »Nicht wahr, Ujhazy,« fuhr er fort und wandte sein Gesicht Joan zu: »Wir, die wir immer umherziehen, sehen stets die Lächerlichkeiten, weil wir die Gefühle der anderen nie ganz verstehen.«

Joan nickte und Frau von Benckendorf sagte zu Jean Roy: »Ich glaube wohl, daß Sie recht haben.«

»Herr von Benckendorf,« sagte Jean Roy und sein starkes und frohes Gesicht erschien plötzlich müde, während er auf die aufgeschlagenen Skizzenbücher zeigte: »Daß man alles dies hier sehen kann – das macht einen heimatlos auf Erden.«

»Jeder hat doch sein Vaterland, zu dem er zurückkehrt,« sagte der Gesandte.

Joan schloß das Skizzenbuch, das vor ihm lag, ohne es zu wissen, es war plötzlich rings herum still geworden – als Jean Roy sagte: »Ja, Mademoiselle de Stein ist in der Rue de l'Abbé de l'Epée geboren, und sie sagt, daß sie sich dort in der Straße ein Dach kaufen will, um darunter zu sterben.«

»Lieber Freund,« sagte Mademoiselle de Stein: »das ist durchaus nicht lächerlich. Rue de l'Abbé de l'Epée liegt gleich neben dem Garten des Luxembourg, wo ich als kleines Mädchen spielte.« Joan hatte seinen Kopf gegen die Wand gelehnt und die Augen geschlossen. Seine langen Wimpern lagen wie ein breiter, schwarzer Rand unter den weißen Augenlidern.

»Nun ja, nun ja, Mademoiselle de Stein,« sagte Jean Roy, »dann besuchen Sie mich wohl eines Tages in Marseille. Dort kaufe ich mir nämlich ein Haus – unten am Hafen, auf einem Abhang rechts, ich weiß die Stelle genau …« Er veränderte den Ton: »Ich bin nämlich aus Marseille, Hoheit,« sagte er und beugte den Oberkörper vor: »Und glauben Sie mir, wenn ich am besten singe, dann ist es mir immer, als hörte ich eine alte südfranzösische Weise … die mir tief drinnen in meiner Brust souffliert …«

»Auch im Lohengrin?« sagte die Prinzessin lächelnd »Auf Ehre, ja,« sagte Jean Roy, »und darum ist Don José meine liebste Rolle.«

Der Gesandte und seine Frau hatten sich erhoben, und Herr von Benckendorf reichte Jean Roy die Hand.

»Auf Wiedersehen,« sagte Herr von Benckendorf und lächelte Joan zu, der zusammenfuhr, als würde er geweckt. Und Herr und Frau von Benckendorf gingen hinaus.

»Er ist eigentlich sehr ansprechend,« sagte Frau von Benckendorf von Jean Roy, als sie durch den Korridor gingen. »Aber Graf Ujhazy,« fuhr sie fort, »tut mir leid. Man muß auf die Dauer ja ganz verrückt werden in solcher Gesellschaft.«

Die Prinzessin hatte sich erhoben und grüßte (jetzt, da die Mahlzeit im Eisenbahnwagen beendet war) ganz fremd nach beiden Seiten, als habe sie mit all diesen Damen und Herren keine fünf Worte gewechselt. Plötzlich aber wandte sie sich, als sie die Tür bereits erreicht hatte, an eine ihrer Damen und sagte: »Ach, es wäre nett, eine Aufnahme zu machen.« Und in demselben munteren und freimütigen Ton, wie während der Mahlzeit, sagte sie: »Meine Damen und Herren, darf ich meinen Apparat holen.« Joan war zusammengezuckt. »Es kommt selten vor,« fuhr die Prinzessin fort, »daß man mit so vielen europäischen Berühmtheiten zusammen ist …«

Alle antworteten durcheinander, während eine der Damen den Apparat holte, und die Prinzessin sagte zu dem Sohn des Branntweinhändlers, mit dem sie so höflich sprach wie zu einem Gepäckträger auf einem Bahnsteig: »Herr Brazzi, wenn Sie sehr fest stehen, kann ich den Apparat auf Ihrem Rücken halten.« Der Photographieapparat kam, während alle Blicke auf den Rumänen gewandt waren, den die Prinzessin stellte und hinpflanzte, als sei er ein Stativ von Eisen. Herr und Frau Bizot mußten ihren Platz wechseln und sich an den verlassenen Tisch der Prinzessin setzen, wo Frau Bizot sich dicht an den Meister drückte, beide Hände auf seiner Schulter. »Es wird ausgezeichnet, ausgezeichnet – höchst interessant,« sagte die Fürstin, die in den kleinen Spiegel des Apparates sah, und sie wandte sich zu dem anderen Smoking: »Sie sorgen also für das Licht,« sagte sie: »das haben Sie wohl schon früher getan«. Der junge Mann sollte das Magnesiumlicht abbrennen und seine Finger zitterten. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet,« rief die Prinzessin wieder. Die Damen und Herren waren aufgestellt. Am obersten Tisch hatte der junge Cellist sein in der Mitte gescheiteltes Haupt wie eine Magdalena gesenkt, während Mademoiselle de Stein die Lippen in ihrem aufwärtsgewandten runden Gesicht, wie den Mund in der tragischen Maske öffnete, und sich mit der linken erhobenen Hand gegen einen unsichtbaren Schleier zu wehren schien. Jens Lund aber, der noch nicht mit seiner Mahlzeit fertig war, hatte wie zufällig, mitten im Essen, innegehalten und steckte die Hände in die gespreizten Taschen, als hielte er in beiden einen Totschläger. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet,« rief die Prinzessin und beugte sich wieder herab, – um in den Spiegel zu sehen. Der Australier, der mit Vorliebe seine Sportsbeine photographieren ließ, weil er in den Reklamen nun einmal als Sportsmann galt, hatte sie endlich über dem Rücken eines Stuhles angebracht. »Aber Sie, Graf Ujhazy, Sie,« sagte die Prinzessin eifrig – und hielt plötzlich inne. Joan war nicht zu sehen. Nur seine Schulter. Vielleicht wußte er nicht, daß der Sportsmann-Australier ihn verdeckte.

»Jetzt,« rief die Prinzessin. Alle zuckten zusammen, als das Licht aufblitzte, und Mademoiselle de Stein schrie auf. Dichter Rauch zog durch den Wagen und die Prinzessin lief mit einem »vielen Dank meine Herren«, womit sie gleichsam eine Tür hinter sich zuschlug – hinaus, als habe sie keine Ahnung von der Störung, die sie hervorgerufen hatte.

»Hm,« sagte Jean Roy und schützte seinen Tenor mit einem batistenen Taschentuch: »das muß man sich also gefallen lassen, wenn man sich Bukarest offen halten will.« Und plötzlich wütend (und von dem Rauch und dem Zug gereizt) – wütend über die heimliche Demütigung, die sie unbestimmt empfanden und der sie sich als die Professionals, die sie waren, ausgesetzt hatten, sprachen sie alle durcheinander, während der Rumäne seine geschwärzten Finger zu säubern versuchte.

Mademoiselle de Stein sagte so laut, daß die Damen der Prinzessin, die ihr den Kasten nachtrugen, es hören konnten: »Gott, ich wünschte, man könnte lernen, nur halb so unverschämt zu sein wie diese Art Menschen.«

Als Jean Roy aber an Herrn Haagemester vorbeiging, sagte er zum Holländer: »Sie, mein Herr sind wohl daran gewöhnt – an Höfen photographiert zu werden.«

Als Joan und der Australier durch den Korridor zurückkehrten, schoß der Impresario Ledock auf sie zu. Er war in Pelz und Wollhemd. Zeit zum essen hatte er nie. Auf Reisen erledigte er Zeitungsausschnitte und seine Korrespondenz: »Kann man ein Schnitzel in diesem verfluchten Zug bekommen?« rief er und stürzte weiter.

Herr und Frau Bizot zankten sich laut hinter einer halbgeschlossenen Tür, während sie ihr Gepäck ordneten, das hauptsächlich aus einer Unendlichkeit von gestreiften wollenen Tüchern zu bestehen schien, die wie Leibwärmer aussahen.

»Aber es ist, wie ich immer sage,« schrie Herr Bizot: »hab ich mich ihr vielleicht aufgedrängt? Man achtet sich selbst oder man tut es nicht. Diese Art Leute behandeln einen, als sei man ein Krokodil im Jardin des Plantes.«

»Lieber Bizot … reisen wir vielleicht zu unserem Vergnügen? … Ihr Onkel ist Präsident in der ›Gesellschaft für Musik‹«.

»Unsinn. Woher weißt du das?«

»Adolphe, du weißt doch, daß ich ein gutes Gedächtnis habe … ich hörte ihren Namen und wir haben ja voriges Jahr mit diesen Leuten korrespondiert.«

Der Australier fing an zu lachen, während Joan weiterging. Die Prinzessin saß bei offener Tür, in einem Meer von lila Seidenkissen. Das ganze Kupee duftete nach Verveine, worin sie sich gewaschen hatte, um nicht mehr vom Rauchgeruch behaftet zu sein. Sie hob ihr Gesicht vom Buch auf und sagte, als sie Joan sah: »Es war nicht hübsch von Ihnen, Graf Ujhazy, daß Sie nicht mit auf mein Bild wollten.«

Joan antwortete: »Hoheit, ich gehöre nicht zu Europas Berühmtheiten.«

Die Prinzessin lächelte und sagte – und es sollte ein Kompliment sein: »Wohin gehören Sie sonst?«

Es ging wie ein plötzliches Zittern über Joans Gesicht und er sagte: »Das ist wahr, Hoheit: nirgends.«

Prinzessin Stourdza wollte ihn zurückhalten, rief ihn – von irgend etwas in seiner Stimme berührt. Joan aber war weitergegangen.

Er saß mit einem Buch in der Hand, als Henry Collyett hereinkam. Der Australier setzte sich, bewegte seine Sportsbeine unruhig hin und her und schlug sie übereinander. »Lesen Sie?« sagte er und bewegte noch immer seine Beine.

»Nein.«

»Was für 'ne Masse Unsinn geschwatzt wurde.«

»Ja.«

»Aber Roy ist ein großartiger Zeichner.«

»Ja.«

»Er würde davon leben können.«

»Sicher.«

Der Australier scharrte noch immer mit seinen Füßen. »Wissen Sie, was ich so dachte, während wir aßen?«

»Nein.«

»Daß Sie eigentlich an dem Tisch der anderen sitzen müßten.«

»Warum?«

»Weil Sie doch ein Graf sind – obgleich Sie spielen.«

Joan starrte nur vor sich hin. Dann sagte er: »Dort war wohl auch kein Platz für mich.«

Alle Gesprächsthemas vom Mittagessen schwirrten in Henry Collyetts behendem Gehirn durcheinander. Und indem seine Gedanken wieder zu Jean Roy zurückkehrten und zu dem, was er von den südfranzösischen Weisen gesagt hatte, die in ihm sangen, sagte er: »Australien wird auch einst seine Musik bekommen … Musik wächst aus der Erde – aus der Erde in die Menschen hinein, nicht? Aber es wird lange dauern, denn Menschen müssen erst lange an einem Ort gewohnt haben.«

Henry Collyett betrachtete seine eigenen Stiefel: »Aber,« sagte er, »solange die australischen Töne nicht aus der Erde kommen, solange werden die Australier auch keine richtigen Musiker sein – nicht? Oder verstehen Sie nicht, was ich meine?«

Joan starrte ins Leere: »Doch, Henry,« sagte er, ohne sich zu rühren.

Der Australier schlug die Hacken zusammen: »Aber darum kann man doch ganz gut ein berühmter Klavierspieler werden,« sagte er.

Er schwieg eine Weile, bis er, noch immer mit dem Mittagsgespräch im Kopf, sagte: »Man müßte vielleicht daran denken, Kopenhagen zu gewinnen –«

»Ich habe nie in Dänemark gespielt,« sagte Joan, der noch immer vor sich hinstarrte.

»Wie merkwürdig, da Sie doch ein halber Däne sind.«

Es verging eine Weile. Dann sagte Joan: »Dort will ich – zuletzt spielen.«

Henry Collyett scharrte wieder mit seinen Sportsbeinen und während seine Gedanken weiter eilten, sagte er und war beim photographieren: »Wir sind ja aber auch allesamt Gaukler.«

Plötzlich lächelte Joan: »Ja, Collyett,« sagte er und stand auf.

»Die anderen sind es aber auch,« sagte Henry etwas heftig.

»Möglich,« sagte Joan. »Aber sie spielen ihre Rollen besser und machen weniger Lärm.«

Der Australier sann einen Augenblick nach: »Ja,« sagte er dann: »das mag sein. Aber schließlich bleibt man doch das, als was man geboren worden ist.«

Joan stützte einen Augenblick seinen Ellenbogen gegen Collyetts Schulter: »Sie sprechen heut so weise, Collyett … Aber sehen Sie, Henry, es gibt Menschen, die als Krüppel zur Welt kommen. Und die hätten lieber gar nicht geboren werden sollen.«

Ein starkes und weißes Licht fiel auf ihre Gesichter. Es kam von den Bogenlampen auf dem Bahnsteig in Wien. Die Schaffner liefen ein und aus und ließen die Kupeefenster herunter, während die Gepäckträger Plaids und Handtaschen und Koffer und Pelze durch die Fenster hineinwarfen. Die Passagiere stiegen aus, um ihre Beine auf der festen Erde zu rühren, und Bruchstücke aller Sprachen schwirrten in dem Zugwind der offenstehenden Türen durcheinander. Jean Roy stand, ein Taschentuch um den Hals und im flatternden Mantelkragen, ohne Hut, mitten im Gewimmel und schälte eine Apfelsine, während er laut zu der leeren Luft sprach, wie ein Lastträger in dem Hafen seines Marseille. Mademoiselle de Stein (die Joan zunickte und sagte: Ah, monsieur, on se promène) setzte ihre Pariser Stiefel mit Messingabsätzen trippelnd auf den Asphalt und ließ ihre seidenbekleideten Beine etwas hoch oben in dem Gewirr ihrer Röcke verschwinden.

Frau Bizot, die Gummischuhe trug, suchte die Herren vom Vorstand mit den Augen, während sie unablässig lächelte. »Denn sie empfangen uns natürlich,« sagte sie: »sie sind hier, mein Adolphe, sei überzeugt, daß sie hier sind.« Und Herr Bizot, dessen Pelz mit einem grauen Wolltuch zusammengebunden war, sagte so wütend, daß seine Augen wie auf Stielen standen: »Das ist mir ganz einerlei. Laß uns von hier fortkommen – wie heißt unsere Schenke?«

»Das goldene Lamm, Adolphe, das goldene Lamm. Aber sie sind hier, mein Freund, sie sind sicher hier.«

Der Impresario lief mit siebzehn Depeschen in der Hand an ihnen vorbei: »Alter Herr,« sagte er zu Herrn Bizot: »da sind einige Personen, die nach Ihnen suchen.« Und er rannte weiter, während er Reklamen und Zeitungen aus seinen vollgestopften Taschen verlor, wie ein Ochse seinen Dünger.

»Machen Sie Ihren Mantel zu,« rief er Jean Roy zu, während Herr Bizot mit der Hand um das Wolltuch geballt stehen blieb, martialisch und zahnlos, wie ein Liliputoberst aus einem Panoptikum.

»Adolphe, Adolphe,« Frau Bizot sang es fast; sie hatte die »beiden Personen« wiedererkannt, neben denen Herr Haagemester, in seinem Jagdpelz mit Schnüren, einem gleichfalls erschienenen Mitglied der bayrischen Gesandtschaft die Hand drückte, während dieser sagte: »Ja, Seine königliche Hoheit hat gleich an die Erzherzogin Valerie …«

Der Impresario kam mit leeren Händen zurückgelaufen und mitten im Gewühl, wo eine trauergekleidete Familie von sieben Schwarzverschleierten einen blonden Jüngling in ihren Kreis eingeschlossen hatte, der unter Ankunftsküssen verschwand, als würde er von einer Mühle herumgewirbelt – bemerkte er, daß seine Nägel einer Reinigung bedurften, und er fing an, sie mit einem Stahlmesser auszukratzen. Dann raste er weiter, grüßend, alle kennend, rufend, als wäre er ein Stationsvorsteher, der bei einem Zusammenstoß kommandierte. Die beiden Rumänen balancierten ihre Nacktheit unbekümmert auf einem amerikanischen Koffer und Mademoiselle de Stein war an Jean Roys Arm gelandet, wo sie ihre Frauenreize wie eine Venusfigur aus der Verfallzeit wiegte. »O nein, meine Herren, Herr Bizot ist gar nicht müde. Wenn man nach Wien kommt, ist man nur glücklich,« sang Frau Bizot, und man hörte den jungen Bayern von der Gesandtschaft sagen: »Nichts ist angenehmer, als seinen Freunden einen Dienst erweisen zu können. Erzherzogin Valerie wird Sie sofort empfangen.«

Joan hatte nicht gesprochen und sich nicht gerührt. Den Kopf gegen den Rahmen der Kupeetür gestützt, stand er unbeweglich und starrte auf den Bahnsteig hinaus. Und plötzlich hörte er wieder die Stimme des Impresarios, die alle anderen übertönte: »Liebe Herren, meine Herren, habe die Ehre, gehe nach Budapest mit Herrn Jean Roy. Aber man muß immer Geschäfte machen. Meine Herren, Kunst heißt, sich der Zukunft bemächtigen. Ich habe ihn in der Eisenbahn gefangen, meine Herren, im Zuge. Das neue Phänomen, mein Herr, ich sage Phänomen, denn Künstler haben wir genug … mit all den Herrschaften, die sich auf den Tribünen zeigen, kann man Schweine füttern. Aber Herr Jens Lund, meine Herren, wollen Sie ihn sehen? Wenn ich Herrn Jean Roy abgeliefert habe, widme ich mich Herrn Lund während der nächsten drei Jahre. Aber, meine Herren, er ist teuer, er ist sehr teuer. Wir leben in einer Zeit, in der die Genies Geschäftsleute geworden sind. Die Börsenkurse, meine Herren, hängen ihnen aus dem Hals … Dort ist er, meine Herren … dort im Kupee … er sieht Sie nicht (Herr Jens Lund saß an seinem Fenster und studierte einen Courier universel, seine einzige Lektüre), er ist ein lesender Geist, meine Herren, ein Geist für sich; in jeder Hauptstadt Europas erwarten ihn Bücherpakete, Bücherhaufen.«

Die beiden Gentlemen, die der Presse angehörten, wurden plötzlich Joans ansichtig und grüßten. »Ja,« sagte der Impresario ebenso laut wie vorher: »das ist der.« Und er ging vorbei, ohne Joan auch nur eines halben Blickes zu würdigen. Joan war bei dem Ton seines »der« so dunkelrot geworden, als habe eine Faust ihm ins Gesicht geschlagen.

Er hatte nicht bemerkt, daß der Zug sich in Bewegung setzte.

»Wollen wir nicht das Fenster schließen?« sagte der Australier hinter ihm.

Und Henry Collyett zog das Fenster herauf, während Joan sich setzte.

»Sie sind heut so schweigsam,« sagte der Australier, der immer etwas sagen mußte.

»Ich habe während der letzten Stunden so viel zugehört und so mancherlei gedacht,« sagte Joan.

»Was haben Sie gedacht?« fragte der Australier und scharrte mit seinen Beinen.

»So mancherlei,« sagte Joan und schloß die Augen.

Die Tür des Abteils wurde aufgerissen. Es war Jens Lund. Joan zuckte zusammen. Dann dachte er, während der andere in der Tür stand: »Wie klein ist er eigentlich.«

»Sie sind Ujhazy,« sagte Jens Lund und nickte.

»Ich darf mich wohl setzen.« Die Hand reichte er ihm nicht.

Joan sagte: »Das ist Herr Henry Collyett.«

Jens Lund nickte wieder: »Ein Klavier,« sagte er, »ist das übelste Instrument, das es gibt. Ich glaube fast, daß selbst ein Genie auf einem Klavier kein Talent beweisen kann. Ich bin froh, daß ich auf einem Schiff geboren wurde. Dort war kein Platz für so'n Ding.« »Lesen Sie?« fragte er und ließ seinen Blick über Joans Bücher schweifen, die überall herumlagen.

»Ja, man muß seinen Geist doch mit etwas beschäftigen,« sagte Joan.

Jens Lund hatte seine Arme untereinandergeschlagen: »Es gibt nur wenige, die Geist haben,« sagte er und wollte entweder unverschämt sein oder wußte nicht, daß er es war: »Ich lese nie. Wenn Menschen lesen, geschieht es nur, weil sie sich leer fühlen. Ich bedarf keiner Bücher. Ich habe mich selbst. Übrigens spreche ich auch mit keinem.«

Herr Jens Lund sprach in einem sonderbaren Stakkato, das jeden Satz gleichsam abhackte und isolierte: »Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, mit wem man sprechen soll. Die meisten Menschen, die leben, haben ja seit einem Menschenalter zu leben aufgehört. Wo wollen Sie hin?« fragte er plötzlich und sah Joan an.

»Ich will nach Bukarest,« antwortete Joan.

»Und Sie auch?« wandte Jens Lund sich an Collyett.

»Ja.«

Jens Lund, der noch immer die Arme verschränkt hielt, sagte: »Ich habe Sie noch nie spielen hören, darum kann ich Ihnen auch keine Komplimente machen.«

»Das ist auch nicht nötig,« sagte Joan, der wußte, daß Lund log. Und während er fortfuhr, Jens Lunds Gesicht zu betrachten, fühlte er von neuem – und so heftig, daß es ihn fast schwindeln machte – die unsinnige Angst, die er an jenem Abend in London empfunden hatte, als sein Impresario zu ihm sagte: »Wissen Sie, wer hier ist? Jens Lund hat sich in einer Loge verborgen.« Und es war Joan gewesen, als ob seine Finger mit Leim zusammenklebten und seine Seele machtlos in seinem Halse geknebelt würde …

Ohne etwas zu hören, fuhr er fort, Lunds Gesicht zu betrachten, in dem die Zähne leuchteten, als bissen sie grimmig in die Worte, die er sagte. Joan dachte an den anderen Abend, den Abend in Brüssel, als er, seine Knöchel blutig beißend, von Jens Lunds Konzert nach Hause gefahren war. Auf seinen Knien hatte er im Wagen gelegen und hatte gewußt, daß er besiegt sei. Geschluchzt hatte er, während er seinen eigenen Nacken mit Fäusten schlug. Und außer sich in seiner Machtlosigkeit, hatte er gesagt: »Ich will nicht mehr spielen.« Und während dreier Tage und Nächte war er wie ein betrunkener Mann gewesen – trunken vor Demütigung … Trunken von der Gewißheit, daß er nicht der Größte sei. Daß er nie der Größte werden würde. Wie war es sonderbar, daß die Kunst, die ihm nie Freude gebracht hatte – – ihm soviel Schmerz bereiten konnte. Und doch hatte er fortgefahren zu spielen – – Joan hörte Jens Lund mit Collyett sprechen und Jens Lund sagte: »Melbourne, Melbourne, Vaterland – Vaterland, ich werde rasend, wenn ich von diesem ewigen Vaterland faseln höre. Weshalb bin ich der Größte? Weil ich kein Vaterland habe. Entschuldigen Sie, Herr Klavierspieler, daß ich von mir selbst spreche, aber ich bin so aufrichtig, zu gestehen, daß es das Einzige ist, was mich interessiert. Wofür interessieren Sie sich? Frauenzimmer? Gut, des Nachts. Aber wovon spielt man? Von sich selbst

Und indem seine Gedanken zurückwanderten, sagte er und lachte kurz: »Vaterland? Meine Eltern waren vernünftiger. Sie haben mir keines gegeben. Der Vaterlandslose ist der Freie, und ich bin auf dem Ozean geboren, der alle Welten verbindet. Vaterland – was ist das? Trabrennen um denselben Tisch, wo wir den Daumen in einer Ritze vorwärtsschieben, die von den Daumen unserer Vorfahren gegraben ist. Ich habe ein Vaterland, mein Herr, und das heißt ich. Und dort bin ich sowohl König wie Volk und ratgebende Versammlung und Gesetzgeber. Ich bin mein Vaterland, wo ich selbst regiere.« Jens Lund drehte seinen Kopf plötzlich zu Joan um: »Ihnen ergeht es ebenso wie mir – Sie hören nie zu.«

»Doch,« sagte Joan: »ich höre.«

»Das scheint mir nicht so,« sagte Jens Lund und lachte wieder. »Ich mag Europa nicht. In wieviele Kirchspiele ist es eingeteilt? Man müßte den Rassen nach zusammengeschüttelt werden. Ich spiele den Weißen etwas vor. Das nehme ich auf mich. In China habe ich vielleicht einen Ebenbürtigen, der den Gelben etwas vorspielt und ihnen zuruft: ›Hört zu, zum Donnerwetter, hier spiele ich, mein eigener König und mein eigener Gott, mein eigenes Reich und mein eigenes Leben – ich.‹ Na, zum Kuckuck, Sie sagen nichts –«

»Nein, ich höre zu,« sagte Joan, und er dachte immer dasselbe: – Jetzt will ich aufhören zu spielen – – und er hatte doch weitergespielt.

Jens Lund hatte einen Augenblick geschwiegen. Dann sagte er: »Übrigens wurde mir vorhin beim Mittagessen eine Überraschung zuteil. Ich glaubte nicht, daß meine Kollegen so klug seien, daß sie sich davor fürchteten, verrückt zu werden.«

Joan antwortete nicht. Er sah noch einmal den Eßsaal mit seinen Mitbrüdern, die von Prinzeß Stourdza photographiert wurden, und den Perron, wo die Damen und Herren sich bei offenem Vorhang vor einem Parterre von zwei Journalisten zeigten. – Jetzt will ich nicht mehr spielen …

Jens Lund aber, der immer dasselbe wiederholte, sagte zu Collyett: »Vaterland, Herr, wie heißen Sie doch noch? Vaterland – mein Ich ist meine Flagge und mein Ziel – und wenn die Menschen lächerlich sind, so ist mir das gleichgültig …« Und zum erstenmal lachte er lange und herzlich: »Denn vielleicht sind sie nicht lächerlicher als ich selbst.« »Aber Vaterland? Meine Mutter gebar mich unterm Äquator und mein Vater war die Hebamme, die ihr half. Ein Vaterland?« – und Jens Lund erhob sich und plötzlich war es, als ob eine Maske von seinem Gesicht fiele, die Adern sprangen aus seiner lebensvollen Stirn hervor, während seine Lippen sich krümmten und breit wurden unter seinem Spott –: »Ein Vaterland? Das ist eine zehndoppelte Kette, die unsere Vorfahren uns um Hals und Füße schmiedeten. Ein Vaterland – das sind Gesetze, die unsere Knie blutig reißen und unsere Augen mit Blindheit schlagen. Vaterland – Vaterland ist ein Gefängnis und ein Brunnen. Vaterland – ja, das ist die Manege, wo wir mit Striemen auf unseren geschwollenen Rücken Spießruten laufen. Vaterland, pfui Teufel. Das Vaterland ist ein Ort, wo wir alle aussätzig und bucklig werden. Ujhazy, klettern Sie auf die Berge hinauf. Klettern Sie hoch hinauf und die Grenzen werden nicht mehr zu sehen sein und die Staaten sind nicht mehr. Und die Gesetzbücher sind nicht, und das Verbrechen ist kein Verbrechen und die Schande ist keine Schande und die Schmach keine Schmach, es gibt keine Strafbücher und keine Paragraphen. Aber ich bin – und kein anderer als ich …«

Jens Lund schwieg einen Augenblick. »Ich und die Sterne sind. Spielen Sie den Sternen etwas vor, Herr ›Wie heißen Sie doch noch?›, die können ebensogut hören wie die Menschen. Über uns sind die Sterne und der Tod. Noch aber lebe ich und spiele den Sternen und dem Tod mein Leben mitten ins Gesicht.« »Sie aber, Graf Ujhazy« – und Jens Lund drehte sich auf den Hacken um – »Sie sind aus dem vorigen Jahrhundert.«

»Ja,« sagte Joan, in dessen Schläfen das Blut klopfte.

Jens Lund lachte wieder: »Und was ich sage, ist Unsinn, aber was ich denke, ist wahr.«

»Ja,« sagte Joan leise: »wahr für den, der so denken kann

Jens Lund stand eine Weile nachdenklich. Dann sagte er plötzlich zu Joan: »Wissen Sie, was Sie von sich selbst glauben, – daß Sie ein Edelmann des Schmerzes sind. Aber, mein guter Herr, Schmerz tragen, adelt niemand. Zu wagen adelt … unser Jahrhundert … Wann werden Sie in Bukarest spielen?« fragte er ohne Übergang.

»Montag,« sagte Joan, ohne ihn anzusehen.

»Herr, ich soll meine Seele in Pest hingeben.«

»Die neue Seele,« sagte Joan.

»Nein« und Jens Lund klaschte in seine erhobenen Hände – »meine ewige Seele soll ich den Bankiersfrauen in Pest servieren.«

Es war einen Augenblick still. Dann sagte Joan: »Aber Sie hatten doch eine Mutter, die Sie unterm Äquator zur Welt brachte.«

»Und einen Vater, der sie bei Archangelsk befruchtete. Mein lieber Ujhazy, ist das nicht ganz gleichgültig? Darf ich fragen, wer erinnert sich Herrn Bonapartes senior? Die Geschichte beginnt mit Herrn Napoleon. Mein Vater war aus Lögstör und verheiratete sich mit einer Barke aus Rudköbing. Zur Besatzung gehörte Jensine Jensen, die, im Eismeer genommen, mich unterm Äquator zur Welt brachte.«

»Rudköbing?« sagte Joan.

»Ja. Sie kennen es nicht.«

»Doch,« sagte Joan und sprach leise wie vorhin: »das liegt in Dänemark.«

»Auch Dänemark,« sagte der Australier und blickte vom einen zum andern, als wolle er sie messen.

»Ja, man nennt es Dänemark,« sagte Jens Lund: »Rudköbing liegt auf Langeland und Langeland ist ein Strich im Meer. Von Langeland kam die Elektrizität und ich. Ujhazy, der Mensch hat keinen Ursprung. Ich wurde und ich bin. Wer sollte das Recht haben, uns zu rufen? Ich gehorche niemanden. Ich bin der, der ich bin. Und ich bin an einem Vormittag unter glücklichen Sternen geboren …«

»Sie glauben an die Sterne?« lächelte Joan.

»Wer weiß selbst, was man glaubt? Für den, der lebt, gibt es keinen Tod. Aber was es für den gibt, der tot ist, wissen Sie das, Herr Ujhazy, entschuldigen Sie, Graf Ujhazy. Ich habe gelesen, daß die Erde die kleinste der Welten, und daß jeder Stern eine Welt ist. Dort wäre für viele Tote von einer kleinen Erde Platz.

»Und wenn Sie einst tot sind,« sagte Joan und sprach in einem halb singenden Tonfall, »wollen Sie dann, daß ein Schiff den Äquator aufsucht und ihre Asche wie Staub über den Ozean verstreut?«

»Nein,« sagte Jens Lund.

»Nicht?«

»Nein« – er errötete gegen seinen Willen über den seltsamen Widerspruch, den er im Innern und unbewußt empfand: »Nein, ich will bei meiner Mutter liegen und sie ist auf Langeland begraben.«

Ein Lächeln war über Joans Gesicht geglitten: »In Dänemark,« sagte er. Und vielleicht um seinen eignen Gedanken zu entgehen, sagte er kurz darauf: »Die Frauen in Budapest sind schön, Herr Jens Lund.«

»Weiber,« sagte Jens Lund und er scharrte ebenso wie der Australier mit den Beinen: »kenne ich nicht. Wenn ich sie kennen lerne, werde ich sie wahrscheinlich lieben. Dann werde ich viele lieben, um nicht von einer zugrunde gerichtet zu werden.«

Joan lachte: »Dasselbe hat einst ein Inder zu mir gesagt.«

»So ist es also wahr, daß die Inder weise sind.«

»Er war weise. Er sprach von dem Tag, an dem die Gelben wie eine Woge kommen und sich wie Sand über uns legen werden.«

Jens Lund stand auf: »Ach, dergleichen wird in den Zeitungen geschrieben. Übrigens lese ich nie Zeitungen. Die Gelben? Die werden über diejenigen kommen, die zu der Zeit leben. Und wir leben jetzt. Gute Nacht, Herr Graf Ujhazy. – Gute Nacht, Herr ›Was ich nicht behalten kann?‹«

»Collyett,« sagte Henry.

»Collyett, ja. Ziehen Sie des Nachts Handschuhe an?«

»Handschuhe?«

»Ja. Das tue ich. Ich reibe meine Hände mit Creme ein und ziehe Handschuhe an. Das sollten Sie auch tun – der Finger wegen. Gute Nacht, Ujhazy. Wissen Sie, was ich glaube, Sie gehören zu denen, die ein zu gutes Gedächtnis haben. Man soll nicht zurückdenken – man soll weitergehen. Ich gehe jetzt nach Budapest. Gute Nacht.« Jens Lund nickte und ging.

Die beiden anderen saßen eine Weile schweigend beisammen. Dann sagte Henry Collyett: »Er war seltsam.«

»Ja.«

Sie schwiegen wieder, bis der Australier sagte: »Er hat so vieles gesagt, aber ich kann mich nicht mehr darauf besinnen.«

Es war wieder still: »Aber vielleicht,« sagte Henry, »werde ich mich dessen in Jahr und Tag erinnern.«

»Vielleicht.«

Der Australier zündete sich eine Zigarette an: »Aber wie spielt er eigentlich?« fragte er und sah Joan an.

Joan, der mit geschlossenen Augen dasaß, antwortete nicht gleich: »Spielt?« sagte er dann. »Er spielt von dem Berg herab, auf dem er steht – mit dem Ausblick auf die ganze Welt.« Kurz darauf erhob er sich: »Ich will zur Nacht zurechtmachen lassen.«

Während der Schaffner hereinkam, standen sie im Korridor und blickten in die Dunkelheit hinaus: »Jetzt sind wir gewiß in Ungarn,« sagte Henry.

»Ja, jetzt sind wir in Ungarn.«

Die Ringe ihrer Zigaretten formten sich und lösten sich wieder auf.

»Wie seltsam sie sich verschlingen,« sagte der Australier und verfolgte die Ringe mit seinen Augen.

»Ja.«

»Ich habe häufig versucht, sie nach meinem Willen zu formen,« sagte Henry. »Aber das kann man nicht.«

Joans Augen folgten dem Rauch: »Das kann vielleicht Herr Jens Lund,« sagte er.

Henry Collyett lachte und sagte: »Alles kann er doch wohl auch nicht – zum Donnerwetter.«

Sie trennten sich und Joan ging in sein Abteil. Er zündete die beiden Wachslichter an, die er auf Reisen stets bei sich hatte, und stellte sie in den beiden kleinen Leuchtern auf den Tisch. Dann löschte er die elektrische Lampe und ging zu Bett.

Er hatte lange wachgelegen, länger als zwei Stunden, als es an die Tür klopfte. Es war der Australier:

»Schlafen Sie?« sagte er: »Ich weiß nicht, aber ich kann nicht schlafen. Darf ich eine kleine Weile bei Ihnen sitzen?«

»Gern,« antwortete Joan.

Sie hörten nichts als den Lärm des Zuges – bald über eine Brücke, bald über Felder, bald an unbekannten Städten vorbei. Joan rührte sich nicht. Der Schein der gelben Lichter fiel auf sein stilles Gesicht.

»Ich finde,« sagte der Australier leise, während er zu der roten Decke hinaufstarrte: »daß es ein seltsamer Tag war. Und doch ist eigentlich nichts geschehen.«

Joan sagte, ohne die Augen zu öffnen: »Was verstehen Sie unter geschehen, Henry? Wenn wir mit dem Orientzuge in einem Fluß ertrunken wären, oder wenn Räuber unsere Schecks gestohlen hätten.« Er lag wiederum still da. Dann öffnete er die Augen: »Nun will ich nach Dänemark reisen.«

»Nach Dänemark?« sagte Henry und fuhr zusammen.

»Ja. Dorthin, wo ich – zuletzt spielen will.«

»Joan,« sagte Henry und er hatte ihn noch nie beim Vornamen genannt.

Joan aber sprach nicht mehr. Und auch der Australier schwieg. Aufrecht und unbeweglich blieb er neben den Lichtern sitzen – wie eine Wache.

 

Joan Ujhazy drehte seinen Kopf wieder auf den roten Kissen der dänischen Staatsbahnen. Der Konzertbegleiter hatte etwas zu ihm gesagt. »Was sagen Sie?« fragte er. Der Kopf war ihm schwer. Ihm war, als habe er beim Anblick dieser flachen und regennassen Felder sein ganzes Leben noch einmal durchlebt.

»Wir sind gleich da,« sagte der kleine Pianist, der, präzise wie eine Uhr, damit beschäftigt war zu ordnen und zu schließen, heute, wie an jedem Tag.

»Schon?« sagte Joan und sah die ersten Häuser der Stadt. »Wo sollten wir hier doch noch spielen?«

»Im Frauenverein.«

»Aha.«

Joan erhob sich: »Und es regnet noch immer,« sagte er und betrachtete die Häuser, die zahlreicher wurden.

Dann hielt der Zug. Joan öffnete die Kupeetür: »Ist dies die ›Grenze‹?« fragte er den Kondukteur, der ihn jedoch nicht hörte.

Ein kleiner Mann stand gerade vor dem Kupee, mit einer Pelzmütze auf dem Kopf.

»Ja, dies ist die Grenze,« sagte er und nahm die Mütze ab. »Und sind Sie vielleicht Herr Ujhazy?«

»Ja, der bin ich.«

»Ich bin die Vorsitzende des Frauenvereins,« sagte plötzlich ein ganz junges Mädchen, das hinter dem kleinen Mann vortrat, während sich eine Woge von Blut über ihr weißes Gesicht ergoß: »Und das ist mein Vater.«


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