Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil


Joan blieb etwas verwirrt auf dem Tritt vor dem Kupee stehen. Dann sagte er und plötzlich mußte er beim Antlitz des kleinen Gesichts, das rot und immer röter wurde, lachen: »Sie sind jung, gnädiges Fräulein.«

Der Vater sagte: »Ja, einer mußte ja Mut fassen, und so wurde es meine Tochter.«

Sie gingen über den Bahnsteig. Das junge Mädchen ging an der Seite ihres Vaters. Alle grüßten, aber der kleine und breite Mann nickte nur als Erwiderung. »Aber die Verhältnisse sind ja nur klein bei uns,« sagte er. Und Joan, der noch immer etwas verwirrt war, ohne zu wissen, weshalb, sagte und dachte an den Verein, der ihn engagiert hatte: »Ich hoffe, daß Leute kommen werden.«

Das junge Mädchen wandte den Kopf und sah ihren Vater an. Er aber sagte nur, wie jemand, der der Sache weiter keinen Gedanken geschenkt hat: »Ich weiß es nicht. Es werden schon welche kommen.«

»Sonst wird es ja ein Verlust für den Verein,« sagte Joan und wendete sich an das junge Mädchen.

Fräulein Gerda Johansen antwortete nicht, sondern fuhr nur fort, auf die Erde und auf ihre Füße zu blicken. (Was hat sie für reizende Füße, dachte Joan.) Und der Vater wiederholte kurz darauf dieselben Worte: »Aber die Verhältnisse sind nur klein bei uns,« und dabei sah er geradeaus, als wolle er die Telephonstangen messen.

Sie schwiegen alle drei, während sie weitergingen, und Joan, der nicht wußte, was er sagen sollte, wandte sich zu Hans Haacke um, der hinterher ging mit einem Toilettenetui und einem Regenschirm in der Hand, die ihn nie verließen, weil es Geschenke seiner Braut waren. »Das ist Herr Pianist Haacke,« sagte er. Und nachdem man sich begrüßt hatte, wurde wieder weitergegangen, ohne daß jemand ein Wort sprach. Den Diener aber, der als letzter folgte, und der sich nie genierte, konnte man pfeifen hören.

Plötzlich aber sagte das junge Mädchen, als flöge es ihr nur so aus dem Mund oder als wolle sie jemand damit einen heimlichen Puff geben: »Das Gasthaus aber ist am schlimmsten.«

Der breitschultrige Vater wandte Joan sein Gesicht ein klein wenig zu und sagte: »Deshalb haben wir drüben bei uns ein paar Zimmer instand gesetzt … wenn Sie und Herr Haacke …«

Joan aber sagte und es kam etwas zu hastig: »Besten Dank. Aber ich muß mich immer ruhen, bevor ich spiele.«

»Das ist begreiflich,« sagte der Vater im selben Ton wie vorhin: »ich wollte es nur gesagt haben.«

Sie kamen jetzt zur Hauptstraße, die lang und aufgeweicht war.

»Hier ist leider nicht gepflastert,« sagte Herr Johansen, der auf Joans Promenadenstiefel herabgesehen hatte. »Aber elektrisches Licht haben wir,« fügte er hinzu.

»Und das ist unser Stolz,« sagte das junge Mädchen und plötzlich lachte sie, weil sie entweder erleichtert war, daß Joan nicht ihr Gast sein wollte oder weil sie ihre Enttäuschung damit zu verbergen suchte.

»In Dänemark ist alles sehr weit fortgeschritten,« sagte Joan.

»Das sagt man,« antwortete Kaufmann Johansen.

»Hier ist also die Grenze?« fragte Joan.

»Ja,« sagte der Vater nur, dieses eine Wort aber hatte einen ganz anderen Klang gehabt.

»Dort,« sagte Fräulein Johansen und zeigte mit ihrem ausgestreckten Arm: »dort ist die Grenze.«

»Hier ist das Gasthaus,« sagte Herr Johansen und blieb vor einem langen, roten Gebäude stehen, dessen Tor einem Loch glich, das der Sturm eingeschlagen hatte.

»Besten Dank,« sagte Joan, »auf Wiedersehen.«

»Wir essen um halb sieben Uhr,« sagte der Kaufmann, »und möchten Sie bitten, bei uns fürlieb zu nehmen.« Er reichte Joan die Hand und auch Fräulein Gerda reichte ihm die ihre – eine kleine Hand, wie Joan fühlte. Und Seite an Seite, still, aber mit festen Schritten, gingen Vater und Tochter zusammen weiter.

Das eine Fenster der Flurtür war vom Wind eingedrückt, und als Joan in das vorderste Zimmer trat, stand ein zerfetztes Billard mitten in dem öden Raum. Hans Haacke setzte sich auf einen Stuhl und hielt das Etui und den Regenschirm zwischen seinen Beinen, wie jemand, den die ganze Sache nichts angeht, während der Diener, dessen berliner Augen vor Schadenfreude funkelten, in einem diensteifrigen Ton von der Tür aus sagte: »Soll ich klingeln, Herr Graf?«

Der Berliner klingelte. »Es kommt niemand,« sagte er und klingelte von neuem – im selben Augenblick flog die Tür auf und ein Mann kam hereingestürzt, der, als er Joans ansichtig wurde, in größter Verwirrung sein struppiges Haar mit gespreizten Fingern zu glätten begann.

»Wir haben Zimmer bestellt,« sagte Joan.

»Gewiß, jawohl« – und plötzlich tasteten die Finger des Unglücksmenschen vom Haar zu einem Taschentuch, das er statt eines Kragens um den Hals trug –: »Wir glaubten, daß die Herren bei Johansen wohnen würden.«

Joan sagte: »Ich habe es vorgezogen, hier zu wohnen.«

Es wurde eine Tür im Nebenzimmer aufgerissen. »Gott, wie sieht es hier aus,« sagte Hans Haacke, der sich immer vor Gicht in den Fingern fürchtete, und eine eilige und gellende Frauenstimme klang durch die Räume: »Jensen, führe die Herren in die Gesellschaftszimmer.«

Der Kellner, der sich unablässig in den Hüften zu heben schien, sagte: »Ich bitte die Herren, mir zu folgen,« und er führte sie über einen Gang, in drei aneinanderstoßende Zimmer mit breiten und weißlackierten Schiebetüren, die in allen Ritzen gesprungen waren. »Wollen Sie hier bitte warten,« sagte der Kellner und stellte ihnen zwei Stühle hin, die ebenso wie die Türen weißlackiert und gesprungen waren.

»Sorgen Sie für die Koffer,« sagte Joan zum Berliner, der mit dem Kellner hinausging.

Als die beiden draußen auf dem Korridor waren, sagte der Kellner und warf den Kopf zurück, während er den Diener musterte: »Woher sind Sie, wenn man fragen darf?«

»Ich bin aus Berlin.«

»Ach so, davon hab ich schon viel gehört,« sagte Herr Jensen und begann ohne Grund zu lachen.

Ein Stubenmädchen kam ihnen entgegen, den Arm voll feuchter Bettücher. Sie trug ein halsfreies Kleid und Korallen. Die Stirnlocken hatte sie in aller Eile gebrannt, der Hinterkopf aber sah ziemlich unordentlich aus. »Hier sollen die Herren wohnen,« rief sie und stieß die Tür zu einem Zimmer im ersten Stock auf. Der Kellner aber lief eine Treppe höher und warf eine Tür hinter sich ins Schloß. Der Berliner stand mitten im Zimmer, während das Mädchen ein blaues Bett mit gelben Arabesken zurechtzumachen begann.

»Hier muß eingeheizt werden,« sagte der Berliner, der von hinten einen Überblick über die weibliche Bedienung nahm.

»Ja freilich,« sagte das Mädchen und schlug mit ihren roten Händen auf die Bettdecke: »Aber der Ofen ist heruntergerissen und die Heizung (sie zeigte auf ein Eisengitterwerk unterhalb der Fensterbank) ist nie fertig geworden. Aber wir können ja den Petroleumofen für die Herren hereintragen.«

In den Gesellschaftsräumen saß Hans Haacke immer noch mit dem Toilettenetui auf seinen runden Knien: »Wann fängt es an?« sagte er, indem er vor sich hinblickte.

»Ich denke um acht Uhr,« sagte Joan, der einige blaue Fayencekruken betrachtete, die auf den weißen Borten längs der Wände standen.

»Wo?« fragte Hans Haacke wieder, und blickte noch immer vor sich hin.

»Hier«, sagte Joan und sah, daß die Fayencekruken aus Holz waren.

Hans Haacke schwieg eine Weile, bis er wieder sagte: »Haben die Leute Sie nicht eingeladen?«

»Doch,« antwortete Joan und er sah die kleine Vorstandsdame wieder vor sich, wie sie plötzlich am Bahnhof aufgetaucht war. »Sie war hübsch.«

»Ich hab sie nicht angesehen.«

Joan mußte lachen und wußte selbst nicht, ob es beim Gedanken an das errötende Gesicht des jungen Mädchens war, oder über Hans Haacke: »Sie sehen nie etwas, Haacke,« sagte er.

»Es gibt ja auch nichts zu sehen,« sagte Haacke und starrte wieder vor sich hin.

Die Tür wurde geöffnet, und der Berliner kam herein, um zu sagen, daß die Zimmer fertig seien. »Sozusagen fertig,« fügte er hinzu. Joan und Haacke gingen hinaus und auf der Treppe begegnete ihnen der Kellner Jensen, der sein Haar mit Hilfe von sehr viel Wasser und Wachsstummel in der Mitte gescheitelt hatte, so daß es aussah, als hätte er zwei Wülste im Haar.

Das Mädchen rief aus einem der Zimmer: »Jensen, hier soll der andre rein;« und das Mädchen erschien in der Tür zu einem Raum, in dem das Mobiliar aus einem braungebeizten Bett mit zwei großen Federdecken bestand.

»Hier herein,« sagte Jensen, der den Petroleumofen in Joans Zimmer trug. »Sie sehen die Fenster an, Herr Graf,« sagte er: »gewöhnlich pflege ich sie mit etwas Papier auszustopfen … ja, es ist schrecklich, wie das Haus verfallen ist. Aber es wurde ja sozusagen auf offenem Felde erbaut, als die Stadt angelegt wurde. Und dann mußte Thomsen ja die ganze Sache im Stich lassen, bevor das Haus fertig eingerichtet war, und alle Möbel wurden ja in Kopenhagen gezeichnet. Und mit Olesen, dem jetzigen Wirt, steht es auch nicht zum besten, darum verfällt das Haus, wenn man so sagen darf.«

»Erlauben Sie,« Herr Jensen flog ans Fenster, das Joan fester zuziehen wollte.

»Danke,« sagte Joan.

Herr Jensen aber fuhr fort zu schwatzen, während er unablässig an seinem weichen Vorhemd herumtastete, das so fadenscheinig war, daß man seine nackte Brust hindurchsah. »Aber der Saal, wo gespielt werden soll, ist wunderhübsch,« sagte er: »denn der war fertig, bevor Thomsen verkrachte, und der trägt ja auch das ganze Geschäft.«

»Wieso?« fragte Joan, der seine Nägel mit Creme rieb.

»Gott ja, wir haben ja so viele verschiedene Versammlungen hier in der Gegend und Vorträge« – während Herr Jensen sprach, wiegte er stoßweise seine Haarwülste hin und her, wie eine verhätschelte Ziege – »wir sind ja eine aufgeklärte Gegend, wenn man so sagen darf, und die Landbewohner sind auch mit auf dem Laufenden … obgleich es für jemanden, der es anders gewohnt war … Ich bin nämlich aus Kopenhagen. Und hier ist es ja 'n bißchen einsam – in jeder Beziehung.«

»Ja, ja,« sagte Joan.

»Und ich hatte ja auch von einem andern Leben geträumt,« sagte Jensen: »ich singe nämlich Tenor und wollte ja zum Theater.«

»Das Theater spukt in vieler Köpfe hierzulande,« sagte Joan.

Herr Jensen lächelte: »Ja, und das Land ist nur klein, so daß nicht alle ankommen können. Aber es liegt wohl so in der Natur und die Bevölkerung ist ja aufgeklärt, wenn man so sagen darf.«

Joan sah aus dem Fenster. Telephonstange reihte sich an Telephonstange in der langen Straße.

»Aber wir glaubten ja, daß die Herren bei Johansen Wohnung nehmen würden,« fügte Herr Jensen wie abschließend hinzu: »Johansens Haus ist wundervoll … aber Herr Johansen ist ja auch so 'ne Art Wortführer für die ganze Gegend. Aber Herr Graf werden dort wohl Besuch machen,« sagte Herr Jensen, der sich endlich dazu bequemte, sich zur Tür zu bewegen.

Joan drehte sich um. Der Petroleumofen dunstete, so daß es im ganzen Zimmer roch. »Ja,« sagte er gedankenlos. »Wollen Sie bitte meinen Diener rufen.«

Herr Jensen verschwand. Joan legte sich aufs Sofa. Das in Kopenhagen gezeichnete Möbel eignete sich nicht recht zum liegen. Und der Ofen dunstete noch immer. Wenn er ihn aber auslöschte, würde es wohl so kalt werden, daß seine Finger erstarrten. Joan lag und blickte durchs Zimmer. Die Glasscheibe in der Tür war zerbrochen und mit Zeitungspapier, auf dem »Volkszeitung« stand, zusammengeklebt. Hier im Hause schien man allem Schaden mit Zeitungspapier abzuhelfen.

Als der Berliner hereinkam, sprang Joan mit einem Satz vom Sofa auf, wobei sein Cheviotrock an einem Ziernagel, mit dem der Bezug festgemacht war, hängen blieb: »Nein,« sagte er, »hier wird es mir zu kalt. Gehen Sie zu Johansens hinüber und fragen Sie, ob ich dort eine Stunde sein könne. Wo ist Haacke?«

»Herr Haacke ist zu Bett gegangen.«

»So. Ja, hier im Hause kann man sich auf keine andere Weise helfen. Man muß unter die Bettdecke kriechen, wenn man sich warm halten will. – Ich geh also zu Johansens,« schloß er.

Als Joan kurz darauf aus dem Tor des Hotels ging, fuhr ein Landauer an ihm vorbei. Ein junger, breitschultriger Herr saß auf dem Vordersitz. Joan wandte den Kopf und sah dem Herrn nach. Das Gesicht war ihm bekannt erschienen. Dann ging er über die Straße auf Johansens rotes Haus zu. Es war kein Name und kein Schild daran. Die lange Front lag breit und hart auf dem Erdboden. Joan trat in den Laden, wo ein Gehilfe hinter einem langen und zerkratzten Ladentisch stand, und er fragte ihn, ob man von hier in Herrn Johansens Wohnung käme. Der Gehilfe hatte bereits eine Klappe geöffnet und sagte – Joan hatte die Empfindung, als sei der Mensch ganz in Schweiß gebadet –: »Ja, gewiß, Sie können diesen Weg gehen.« Im selben Augenblick trat ein blondbärtiger Herr durch die Tür: »Um Gottes willen, nein, folgen Sie bitte mir,« sagte er. Und er führte Joan wieder auf die Straße hinaus und dann durch den Torweg. Die Treppe war voller Blumen. »Bitte,« sagte der blonde Herr, »dort oben ist es.«

Als Joan die Treppe hinaufgestiegen war, öffnete Fräulein Johansen selbst die Tür, die geradeswegs in die Zimmer führte.

»Willkommen,« sagte sie und gab Joan einen festen Händedruck. »Wir haben es uns ja gedacht, daß es drüben zu ungemütlich sein würde. Hu, es ist so häßlich dort. Aber hier werden Sie von niemand gestört. Nun schließen wir hier die Türen« (und sie begann die Flügeltüren zu den anderen Zimmern zu schließen, als wäre es etwas, was schon lange bestimmt gewesen war) »und dort ist ein Schlafzimmer.« Sie warf einen kurzen prüfenden Blick übers Zimmer und ging dann hinaus. Joan hatte etwas sagen, sich entschuldigen wollen. Aber sie war bereits durch die Flügeltür verschwunden, die sie hinter sich geschlossen hatte.

Joan mußte lächeln: Hier konnte er gewiß Ruhe haben. Wie angenehm. Er lächelte noch immer. Wie reizend sicher das kleine Vorstandsfräulein war. Während er um den Tisch unter der Hängelampe herumging, betrachtete er die Bilder an den Wänden. Es waren meistens vergrößerte Photographien auf grauem Karton in schwarzen Rahmen. Darunter einige energische Gesichter, Männer mit Halsbinden bis ans Kinn. Dieses Frauengesicht war eigenartig. An was erinnerte es ihn doch? Die Augen und die Form der Stirn. An was und an wen? Richtig, an die Wirtin des »Goldenen Horn« in Montreuil … wenn sie des Abends in ihrer Küche vorm Feuer saß. Es waren dieselben Augen.

»Erzählen Sie mehr,« pflegte sie immer zu sagen, »erzählen Sie mehr.«

Und Joan mußte weitererzählen, während die Alte mit ihren seltsamen Augen (ja, es waren dieselben Augen) ins Feuer blickte.

»Aber weshalb reisen Sie nicht selbst nach Paris, Madame Chabou?« hatte er gesagt.

Die Alte aber hatte erwidert:

»Hier reist man nicht, hier bleibt man auf seiner Scholle. Aber denken darf man.«

Und bis spät in die Nacht hinein mußte er Mutter Chabou von den großen Städten und den weiten Ländern erzählen.

»Ja, Herr,« sagte die Alte, »die Welt ist groß.«

»Groß und klein, Madame Chabou.«

Sie aber blickte ihn mit ihren allzu großen Augen an: »Groß für den, der sie nicht kennt,« sagte sie.

… Joan war vor dem Bild stehen geblieben. Als er weitergehen wollte, hätte er fast eine Flasche Eau de Cologne umgeworfen, die auf einem niedrigen Tischchen stand. Die Flasche schwankte, aber er rettete sie noch Dieser Stuhl war bequem. Die Möbel waren eigentlich neu, aber sie sahen aus, als hätten sie schon lange in dem Zimmer gestanden. Dort waren drei Borte unter dem kleinen Tisch – ah, das waren Albums.

Joan nahm das eine und schlug es auf.

Da war die »Bauernfrau« von der Wand wieder. Ja. Aber dieses Bild war besser. Wie die Augen das Gesicht beherrschten. Der Mund glich einem kräftigen Strich überm Kinn. Joan blätterte weiter. Es waren dieselben Bilder wie an den Wänden, und alle Augen glichen denen der Alten. Die Gesichter aber wurden schmäler, dieses Kinn zum Beispiel war nicht mehr halb so energisch. Und es war, als ob die Augen immer größer würden. Bei diesem jungen Mädchen war es, als habe sie nichts als Augen. Und der Mund war voller geworden, mit geschweiften Lippen. Joan schlug unwillkürlich zur ersten Seite zurück. Die Alte hatte ihre Augen durch das ganze Geschlecht hindurch gebrannt.

Und, ja, ja, das kleine Vorstandsfräulein hatte vorhin, als ihr Auge übers Zimmer schweifte, denselben Blick gehabt.

Die Alte war also – und Joan fuhr fort, im Album zu blättern – die Urgroßmutter. Und das war die Großmutter im damastseidnen Kleid mit der Goldbrosche. Dies aber war die Mutter, mit dem kleinen Halsausschnitt und dem Medaillon.

Ja, die Augen waren dieselben geblieben, der Ausdruck aber hatte sich geändert. Bei dem jungen Mädchen (da war sie wieder, mit einer Studentenmütze) war nichts als Fieber im Blick zurückgeblieben …

Hm, all die anderen Bilder waren wohl die Familie des Vaters. Recht nette, blonde und sympathische Personen … Der da ähnelte dem Holländer, den sein Vater vor zehn Jahren zur Insel kommen ließ, um eine Meierei anzulegen. Er klagte stets darüber, daß er kein ordentliches Glas Bier bekäme, und schrieb Gedichte in ein Poesiealbum.

Im Hause wurde mit einer Tür geschlagen und Joan klappte unwillkürlich das Buch zu.

Er stand auf und ging zum Klavier.

Was war das? War das wirklich eine Photogravüre nach Corot, wehmütige und dunkle Corotsche Bäume?

Und dort in der Fensternische hingen noch andere Photogravüren nach Corot. Wie mochten die hierher geraten sein? Das dort oben – und Joan beugte sich vor, um besser zu sehen – ja, das war wahrhaftig »Le Crépuscule«.

Joan blieb vor dem Bild stehen und, ohne es zu wissen, strich er sich mit der Hand über die Augen. Seltsam, daß er vergessen hatte, daß heute der Geburtstag seiner Mutter war. Es war zum erstenmal seit langen Jahren …

Er entsann sich noch ganz genau, daß sein Vater »Le Crépuscule« nach dem Tode der Mutter von dem gewohnten Platz beim Ofen fortgenommen und über seinen Schreibtisch gehängt hatte …

Vielleicht hatte das französische Bild etwas »Dänisches« an sich – die Dämmerstimmung …

Wie oft hatte seine Mutter davor gesessen und es angeblickt – in die Dämmerstimmung hineingeblickt, die sich auf alles herabsenkte.

Joan wandte den Kopf zum Fenster. Er konnte durch das letzte Fenster des gegenüberliegenden Wirtshauses in ein Zimmer blicken. Kellner Jensen stand mitten drin und drehte und wendete seinen Körper – ach, er stand vor einem Spiegel. Joan ließ seine Augen über den Giebel schweifen, auf dem »Hotel Dänemark« stand. An der Öffnung, die als Tor gedient haben sollte, waren vier Türangeln angebracht – vier große, kahle Angeln …

Wenn Joan nach Hause kam, wollte er die Zimmer seines Vaters bewohnen. Wo jetzt der Arbeitstisch seines Vaters stand, sollte sein Flügel aufgestellt werden. Wie wenig er eigentlich seinen Vater gekannt und von ihm gewußt hatte. Aber er hatte ja auch immer so wenig gesprochen. Es hatte Jahre gegeben, wo er nur las, früh und spät – all die verschiedenartigen Bücher, medizinische Werke und philosophische und »Erinnerungen«, er las und las immer nur.

Joan erinnerte sich, wie er eines Tages in den Ferien zu dem Vater ins Zimmer gekommen war.

»Du sitzt hier den ganzen Tag, Papa,« hatte er gesagt: »Wollen wir nicht zusammen reisen? Wir könnten nach Constanza fahren …«

»Du magst reisen,« sagte der Vater.

»Und du? Du sitzt den ganzen Tag und liest und liest …«

»Ja,« sagte der Vater und starrte wieder in sein Buch: »man muß die Zeit ja mit etwas hinbringen. Und außerdem könnte man doch vielleicht eine Erklärung finden.«

»Eine Erklärung?« hatte Joan gefragt.

»Ja – eine Erklärung für die Sinnlosigkeit.« Und der Vater hatte fortgefahren zu lesen.

Während der letzten Jahre aber hatte er auch nicht mehr gelesen. Er ritt und ritt nur; morgens und nachmittags und wenn die Sonne untergegangen war, er ritt allein, rund um die Insel herum, als ritte er in einem ewigen Kreislauf. Und nun war er einsam gestorben.

Joan wußte nicht, daß er seinen Kopf gewandt hatte und wieder in Corots Dämmerung starrte.

Wie sehr sein Vater die Mutter geliebt haben mußte. Mutter aber – sie war immer wie jemand gewesen, dem das Blut langsam, ganz langsam entrinnt – bis sie schließlich starb. Wie deutlich er sich ihres Todestages erinnerte und er war doch noch so klein gewesen. Er war durchs ganze Haus und zu allen gelaufen und hatte gefragt und gefragt: warum, warum ist Mutter tot?

Joan trat wieder vom Fenster zurück und ging an den Möbeln vorbei, instinktiv, ohne sie zu sehen, als kenne er diese Umgebung schon lange.

Da lag eine Wochenzeitung. Es war die »Illustrierte Zeitung« vom letzten Sonntag. Joan schlug das Heft auf.

Ach, da war sein Bild – das Bild, das die Zeitschriften immer zu bringen pflegten.

Es klopfte. »Herein,« sagte Joan und stand noch mit dem Blatt in der Hand. Es war das junge Mädchen, das ein Teebrett trug:

»Ich wollte Ihnen nur etwas Tee bringen,« sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme, und während sie das Brett hinsetzte, sagte sie mit einem ganz leisen Lächeln:

»Ja, das ist Ihr Bild.«

Joan sagte und ließ das Bild etwas hastig sinken:

»Ich habe Ihre Albums betrachtet, gnädiges Fräulein.«

Das junge Mädchen breitete ein weißes Tischtuch über die bunte Tischdecke. Ihr Haar war wie ein Kranz geflochten und mit einem silbernen Pfeil durchstochen.

»Das wird Sie kaum interessiert haben, denn es ist nur meine Familie.«

»Im Gegenteil. Die alte (Joan suchte nach einem passenden Wort und sagte dann) die alte Dame hat ein prachtvolles Gesicht.«

Das junge Mädchen sah hastig auf:

»Finden Sie?«

»Aber das Bild dort an der Wand,« sagte Joan und nahm das Album zur Hand, »das ist nicht so gut …«

»Nein,« sagte sie und fuhr fort, mit ihren ruhigen Bewegungen den Tisch zu ordnen, »das ist ja auch nur vergrößert.«

Joan blickte in das Album: »Aber hier ist das Gesicht wundervoll,« sagte er.

Das junge Mädchen, das noch immer mit dem Ordnen des Tisches beschäftigt war, fragte in ihrem ruhigen und sicheren Ton:

»Soll der Tee stark sein?«

»Ja, danke,« sagte er und mußte lächeln: »ich trinke ihn stark.«

»Das dachte ich mir,« sagte das junge Mädchen und auch sie lächelte einen Augenblick: »wenn er nur gut genug ist. Es ist so schwer, guten Tee auf dem Lande zu bekommen, obgleich wir ihn ja selbst im Geschäft haben.«

Joan hatte von dem Bild der Alten auf das Gesicht der jungen Dame geblickt: es war fast unbeweglich in seinem ruhigen Liebreiz.

»Wir Bauern verstehen uns übrigens nicht auf Tee,« sagte sie.

Jetzt aber, als sie den Tee einschenkte, sah Joan, und er wußte nicht, weshalb er etwas wie eine plötzliche Freude dabei empfand, daß ihre Hand zitterte, so stark zitterte, daß sie fast nicht einzuschenken vermochte.

Und etwas hastig sagte er:

»Wollen Sie selbst nicht mittrinken, gnädiges Fräulein?«

»Ich will nicht stören,« sagte sie.

»O, im Gegenteil – dann habe ich keine Zeit, mich zu ängstigen.«

»Ängstigen?«

»Ja.«

»Haben Sie Angst, uns etwas vorzuspielen, uns, die wir uns seit drei Wochen darauf gefreut haben.«

Joan hatte sich erhoben, von der Unruhe ergriffen, die ihn stets vor einem Konzert befiel:

»Gerade deshalb, gnädiges Fräulein,« sagte er und indem sein Blick durchs Zimmer schweifte, fügte er hinzu:

»Ich möchte hier gern gut spielen.«

»Dann will ich mir eine Tasse holen,« sagte sie und ging hinaus. Als sie hinausgegangen war, dachte Joan und wußte nicht weshalb: »Diese Leute müssen sehr wohlhabend sein.«

Als das junge Mädchen wieder hereinkam, sagte sie und zeigte auf das Album:

»Das ist meine Urgroßmutter,« und es war, als hätte ihre Stimme einen anderen und helleren Klang bekommen.

»Und das,« sagte Joan und folgte den Bildern, »ist Ihre Großmutter.«

»Ja,« sagte sie und lachte.

»Und das ist Ihre Mutter und dies ist Ihre Schwester.«

»Ja.«

»Ihre Schwester studiert?«

»Ja –« und sie zögerte einen Augenblick, während ihre Stimme wieder einen anderen Klang bekam – »meine Schwester studiert.«

»Und das ist mein Bruder,« sagte sie und es war, als schöpfe sie Atem: »und mehr Geschwister sind wir nicht.«

»Wo ist Ihr Bruder?« fragte Joan.

Sie nippte von ihrem Tee:

»Mein Bruder soll das Geschäft haben … er ist in Veile.«

»In Veile,« wiederholte Joan.

Durch seinen Tonfall eigenartig berührt, sagte sie eifrig:

»Nicht wahr, es ist herrlich in Veile? Ich finde, es ist der schönste Ort … so blau und grün, wie dort alles ist.«

»Ich bin nie im Sommer dort gewesen,« sagte Joan.

»O, aber das müssen Sie … ich komme häufig nach Veile. Die Bäume bei Veile halten sich so lange grün. Und so blank ist dort alles.«

Joan sagte: »Meine Mutter war aus Veile.«

Es verging eine Sekunde.

»Aus Veile?« sagte sie und sprach leiser.

»Ja, aus Veile,« wiederholte Joan und seine Stimme klang ganz sanft.

Und von etwas in seiner Stimme berührt, sagte sie fast im selben Ton:

»Und dann mußte sie so weit fortreisen?«

Joan sah sie plötzlich an:

»Ja, so weit,« sagte er.

Vielleicht um die Stimmung zu ändern, sagte sie, und sie sprach dabei etwas abgebrochen, aber munter:

»Im Winter ist's dort übrigens auch schön. Ich finde, es ist alles so lebensvoll in Veile … Die Leute treten so fest auf und sprechen so laut auf den Straßen … Ich mag eigentlich Veile lieber als Kopenhagen.«

»Als Kopenhagen?«

»Ja. Mag sein, daß Kopenhagen für so eine vom Lande zu groß ist … oder, vielleicht nicht groß genug.«

»Nicht groß genug?«

Joan betrachtete ihr kleines Gesicht, das ebenso wie vorhin auf dem Bahnhof rot und immer röter wurde:

»Ich habe freilich nie eine größere gesehen … Aber man stellt sich doch so viel unter einer großen Stadt vor …«

Sie schwiegen und ihr Gesicht war wieder blaß geworden.

»Sie haben wohl alle Städte gesehen?« fragte sie.

»Viele,« sagte Joan: »und alle Städte gleichen sich.«

Sie wandte den Kopf:

»Wirklich?«

Sie ließ den Kopf wieder sinken:

»Aber Sie haben sie doch gesehen,« sagte sie und fügte mit einem Lächeln, das ganz schwach um ihre Mundwinkel zitterte, hinzu: »die meisten Menschen bekommen sie nie zu sehen.«

Und wieder den Ton wechselnd, sagte sie:

»Aber mein Bruder hat viel gesehen. Er ist drei Jahre lang zur See gewesen.«

»Zur See gewesen?«

»Ja, drei Jahre lang. Aber dann sollte er das Geschäft übernehmen und vielleicht hatte er auch keinen rechten Mut, ich weiß nicht …«

Es war eine Weile still, bis Joan fragte, nur um etwas zu sagen:

»Wo ist er denn gewesen?«

»Er war in Kalifornien« – sie sprach den Namen so breit aus, daß er wie etwas sehr Fernes wirkte – »und in Schanghai.«

»Es soll sehr hübsch im Settlement in Schanghai sein,« sagte Joan. Und plötzlich fragte er:

»Wie heißen Sie eigentlich, gnädiges Fräulein?«

»Wie ich heiße« – und sie lachte, während sie einige kleine Bewegungen mit ihren Händen machte – »ich heiße Gerda.«

»Gerda,« sagte Joan und wiederholte es: »das ist leicht auszusprechen.«

»Ja,« – und Gerda fuhr fort zu lachen –: »aber Ihren Namen kann keiner von uns sagen. Wir haben uns geübt und geübt. Aber wir wußten ja auch gar nicht, wie er eigentlich ausgesprochen wird.«

»Joan,« sagte er: »Joan – sagen Sie es mal.«

»Joan,« wiederholte Fräulein Gerda.

Er aber fing an zu lachen:

»Sie sprechen meinen Namen so aus wie Ane.«

Fräulein Gerda lachte mit:

»Wer ist Ane?«

»Das ist mein altes Kindermädchen … Ane ist auch aus Veile.«

»Alle sind aus Veile,« sagte Gerda und lächelte.

»Ja.« Und plötzlich streckte Joan die Hand aus und schlug auf dem Klavier an:

»Veile ist meine Heimat,
dort bin ich geboren …«

»O, wie schön, daß Sie unsere Lieder kennen …«

Joans Hände sanken von den Tasten herab:

»Das sang meine Mutter,« sagte er.

Gerda hatte sich erhoben.

»Ane folgte meiner Mutter,« sagte Joan leise.

Joan saß ganz still.

»Ungarn ist Ihr Vaterland, nicht wahr?« sagte Gerda und sie sprach ebenso leise wie er: »Ungarn soll so schön sein. Ich habe einen Vetter, der in Ungarn gewesen ist.«

Joan hatte sich auf den Klavierbock gesetzt:

»Was möchten Sie denn am liebsten von der Welt sehen?« sagte er.

»Am liebsten?« sie wiederholte das Wort sehr langsam, und durch die Dämmerung, die sich im Zimmer zu breiten begann, sah er ihre großen Augen wie suchend durchs Zimmer schweifen.

»Am liebsten Berge.«

»In meiner Heimat sind Berge,« sagte Joan.

»So?« Man hörte es kaum.

Joan machte eine Wendung auf dem Klavierbock:

»Und wenn Sie nicht in Veile oder Kopenhagen sind, dann wohnen Sie hier?«

Gerda hatte sich etwas entfernt von ihm ans Fenster gesetzt:

»Ja, ich muß jetzt bei Vater sein – seitdem er nur noch mich hat.«

»Aber dann kommt Ihre Schwester wohl in den Ferien nach Hause? …«

Es war einen Augenblick still, bis Gerda sagte:

»Meine Schwester ist tot.«

»Tot?« Joan war unwillkürlich zusammengefahren.

»Ja, seit vorigem Jahr.«

Sie erhob sich.

»Ich muß wohl den Tee hinausbringen.«

»Weshalb?«

Sie antwortete nicht, sammelte nur das Teegeschirr zusammen:

»Soll ich die Lampe anzünden?«

»O nein, ich sitze gern in der Dämmerung. Die Dämmerung ist lang in Dänemark.«

»Ja. O, das ist meine liebste Stunde.«

Und sie lachte wieder:

»Weil man dann nichts zu tun braucht.«

»Was tun Sie denn sonst, Fräulein Gerda?«

»Ich, Graf Ujhazy …« und sie lachte beim Aussprechen des Namens, den sie nicht richtig sagen konnte.

»Ujhazy,« verbesserte Joan.

»Ujhazy,« versuchte Gerda.

Joan lachte:

»Das war beinah richtig.«

»Ja, beinah,« sagte Gerda, die mit dem Teebrett dastand.

»Aber was tun Sie denn tagsüber, Fräulein Gerda?«

»O, ich tue viel. Ich führe den Haushalt und« – sie schob den Mund etwas vor – »ich soll mich auch etwas mit der Buchführung beschäftigen. Unser Geschäftsführer sagt immer, daß ich mich Vaters wegen fürs Geschäft interessieren muß …«

»Der Geschäftsführer … wer ist das?«

»Das ist der Herr, der Sie hier heraufgeführt hat.«

Plötzlich sagte Joan, in einer Art eifersüchtiger Inquisition:

»Er schien sehr nett.«

»Er ist seit zwei Jahren bei uns. Vater kann sich nicht mit dem Ladengeschäft abgeben, weil er außerdem noch mit dem Holz- und dem Weinhandel zu tun hat.«

Sie öffnete die Tür. Im Nebenzimmer war Licht angezündet worden, so daß der Schein auf Joan fiel, und das junge Mädchen sagte, indem sie ihn ansah:

»Ich kann mirs noch gar nicht denken, daß Sie wirklich da sind …«

»Doch,« sagte Joan, »ich stehe leibhaftig hier.«

Plötzlich knixte Fräulein Gerda: »Ja,« sagte sie hastig und wurde wieder rot: »Vielen Dank für die angenehme Teestunde.«

Und sie schloß die Tür.

Joan blieb gegen den Türpfosten gelehnt stehen: wie weich der Tonfall der dänischen Sprache klang. Ihm war, als ob sie ihm während vieler Jahre wie eine Melodie im Ohr gelegen habe, wie eine Liedermelodie, die er halbwegs vergessen hatte.

Aber er hatte sich recht dumm benommen, seit er in Dänemark war. Er hätte gleich vom ersten Tag an mit richtigen Menschen zusammen sein sollen, anstatt nur mit Künstlern, die allen anderen Künstlern der Welt glichen. Nur ärmlicher und verbrauchter waren sie, und die Frauen gingen allesamt mit Kleidern, die vorn zu kurz waren. Joan mußte unwillkürlich lächeln – seine Gedanken sprangen vom einen zum anderen, wie sie es zu tun pflegten, wenn er ein wenig froh war – und er dachte an das Fest in Kopenhagen, das seinetwegen gegeben wurde. Die Herren hatten mit ihren verschobenen Vorhemden dagesessen, wie Leute, die nur selten zu einem Fest kommen, sich dann aber auch für ihr Geld satt essen wollen. Die Damen aber saßen geistesabwesend da, mit hohlen Augen und Granatketten um die abgemagerten Hälse, und preßten ihre gewaschenen Glacéhandschuhe gegeneinander. »Ach ja, Herr Graf,« hatte seine Tischdame zu ihm gesagt (sie glich einer Seniliakaktee, so wirr hing ihr das Haar um die Stirn) »man wird ganz wirbelig im Kopf, wenn man erst seine Fünf zu Bett gebracht und dann sich selbst angekleidet hat.« Die Künstlerfrauen glichen den Garnisonsdamen in Orsowa, als die Regierung ihnen eine Zeitlang ihr Gehalt nicht auszahlte. Seine Tischdame aber hatte fortgefahren ihn zu unterhalten: »Entschuldigen Sie, ich weiß wohl, daß mein Deutsch sehr mangelhaft ist, obgleich ich in Leipzig Musik studiert habe. Aber man vergißt so schnell und wenn man erst die Dummheit begangen hat, sich zu verheiraten, muß man die Kunst an den Nagel hängen, der Haushalt verschlingt einen und niemand dankt es einem …«

Und plötzlich hatte sie gesagt, indem sie sich über ihre hervorstehenden Backenknochen strich:

»Was halten Sie eigentlich vom Leben, so 'ne Berühmtheit wie Sie?« …

Joan lächelte noch immer, während er durchs Zimmer schritt:

Nein, sonderliches Sprachtalent besaßen die Dänen nicht. Man reiste wohl nicht viel, sondern blieb zu Hause. Seine Mutter hatte die ungarische Sprache auch nie recht lernen können, der Vater hatte immer dänisch mit ihr gesprochen. Wie deutlich er sich ihrer Stimme erinnerte. Die war auch so leise, gleichsam furchtsam gewesen.

Joan hatte sich ans Klavier gesetzt. Eine Melodie wuchs langsam unter seinen Händen hervor … wie waren doch noch die Worte? Seine Mutter hatte sie ihm so oft gesagt, wenn er das Lied vor dem schwarzen Ofen sang, während er mit den Füßen den Takt dazu trat:

Und einen Monat später …
einen Monat …

Joans Hände sanken von den Tasten herab.

Draußen auf der Straße waren die Lichter angezündet worden. Ihr Schein fiel durch die Blumen auf den Fensterbänken und auf die Bilder an der Wand. Wie still es hier war. Er konnte die langsamen Schritte der Fußgänger auf der Straße hören. Nun kehrten sie wohl von der Arbeit und von den Feldern heim.

Joan suchte noch immer nach den Worten:

Und einen Monat später
da war er kalt und tot.

Seine Mutter hatte häufig des Abends am Fenster gesessen, die Hände unterm Kinn, und hatte hinausgeschaut.

»Wonach schaust du denn aus, Maria?« hatte sein Vater gefragt.

»Ich blicke zur Heimat hin.«

Nein, nein, er konnte den Text nicht finden … wie war er doch nur:

Es war der Ritter Aage,
Es war Herr Ritter Aage …

Aber das junge Mädchen würde es gewiß wissen. Natürlich, sie würde es wissen.

Joan stand auf und klopfte an die Tür, bevor er öffnete. Eine Dame stand im Zimmer, unter der Lampe. Sie wandte sich um und zeigte ihm ein knochiges Gesicht.

»Entschuldigen Sie,« sagte Joan, »ist das gnädige Fräulein nicht hier?«

»Ich werde sie rufen,« sagte die Dame und ging hinaus.

»Ach, Fräulein Gerda,« sagte Joan, als sie hereinkam – die Tür hatte sie offenstehen lassen, so daß das Licht der Lampe übers Klavier fiel –: »mir ist eine Melodie eingefallen und ich kann die Worte nicht dazu finden …«

Und er schlug wieder an: »Das ist Ritter Aage.«

»Es war Herr Ritter Aage,« sagte sie.

»Ja.«

»Aage,« verbesserte sie und lachte.

»Aage,« sagte Joan und lachte auch: »das hab' ich nie lernen können.«

»Aage,« wiederholte sie und öffnete den Mund weit:

Es war Herr Ritter Aage,
Der ritt im Harnischkleid.

»Ja,« sagte Joan, der ihrer langsamen Stimme auf dem Klavier folgte.

Er freite um Jungfer Else,
Sie war solch holde Maid.

Joan fuhr fort zu spielen, während Fräulein Gerda mit halber Stimme weitersang:

Er freite um Jungfer Else
In ihrem Gold so rot,
Und einen Monat später
Da war er kalt und tot.

Einen Augenblick war es still. Dann sagte Fräulein Gerda:

»Das ist ein trauriges Lied.«

»Ja,« sagte Joan, dessen Hände noch auf den Tasten lagen. Die Schritte der Fußgänger klangen von draußen herein.

»Wie still es hier ist,« sagte Joan und spielte wieder. »Meine Mutter hat dies Lied oft gesungen.«

Gerda antwortete nicht und keiner von ihnen sprach.

Dann sagte Gerda und ihre Stimme klang heller:

»Ich werde jetzt die Lampe anzünden.«

Joan stand auf und betrachtete ihre Hände, während sie die Lampe anzündete. Dann sagte er und starrte in die Lampe – und er sprach im selben Ton wie vorhin –:

»Heut ist der Geburtstag meiner Mutter. – Es ist seltsam, daß ich gerade heut hierhergekommen bin.«

Sie hielt die Glocke in der Hand.

»Ja,« sagte sie und ihre Stimme klang wie seine: »das ist seltsam.«

Sie setzte die Glocke auf die Lampe – und vielleicht durch eine Ideenverbindung, vielleicht auch nur um ihn zu zerstreuen – sagte sie munter:

»Ich will Ihnen das Haus zeigen, wo ich geboren bin … groß ist es nicht.« Und sie lachte, während sie eine Photographie von der Wand nahm: »ein sehr kleines Haus, mit vier Fenstern und einer Tür.«

»Und zwei von den Fenstern gehörten zum Laden,« sagte sie, indem sie aufs Bild zeigte. »Das ist meine Mutter, und mich hält sie auf dem Schoß.«

»Und das ist Ihre Schwester,« sagte Joan.

Etwas hastig antwortete sie: »Ja, das ist meine Schwester.« Und sie fuhr fort:

»Meine Mutter war noch so jung, als sie starb – gerade, als wir in dies neue Haus einzogen. Sie hatte sich so darauf gefreut, sagt Vater. Und dann starb sie – nur vier Monate später.«

Joan sagte nichts.

»Und Großmutter ist auch jung gestorben. Aber Urgroßmutter hat sie alle überlebt. Sie lebte, bis ich neun Jahre alt war.«

»Dann ist sie aber alt geworden,« sagte Joan und lächelte, ohne zu wissen weshalb.

»Ja, sie war dreiundneunzig,« sagte sie: »und bis zum letzten Tag war sie im Geschäft tätig.«

Sie hängte das Bild wieder an die Wand:

»Und dann kam meine Tante ins Haus.«

»Ist das Ihre Tante?« fragte Joan und machte eine Bewegung zum Nebenzimmer hin.

»Ja, es ist die Schwester meines Vaters.«

Joan lachte:

»Sie sieht Ane ähnlich,« sagte er.

»Wirklich? Tante ist so gut.«

Joan fuhr fort zu lachen, fast als wolle er sie necken:

»Aber sie sieht Ane doch ähnlich.« Und gleich darauf sagte er:

»O, ich will an Ane telegraphieren. Damit mache ich ihr eine Freude. Wo ist das Telegraphenamt?«

»Das ist beim Bahnhof, der Hausknecht kann Ihr Telegramm hinbringen.«

»Nein, ich will selbst gehen.«

»Es ist gleich beim Bahnhof,« sagte Fräulein Gerda: »Aber ich kann Sie begleiten.«

»Würden Sie das wirklich tun?«

»Ja, gern.«

»Aber erst will ich spritzen.« Sie nahm ein Flakon und spritzte Eau de Cologne durchs Zimmer, während Joan lachte:

»Warum tun Sie das?«

»Weil die Luft schlecht ist. In einem Haus, in dem ein Krämergeschäft ist, wird sie so leicht schlecht.«

»Tante,« rief sie ins Nebenzimmer, »wir gehen zum Bahnhof.«

Und einen Hut setzte sie auf und einen Mantel zog sie an, ohne daß Joan ihr helfen konnte. Sie stiegen die Treppe hinab und sie öffnete eine Tür und rief hinein:

»Ich geh' nur zum Bahnhof.«

»Es ist Vaters wegen. Er will immer wissen, wo ich bin. Er ist seit dem letzten Jahr so ängstlich geworden …«

Sie waren auf die Straße hinausgekommen. Joan wandte sich einen Augenblick um und sah den Geschäftsführer in der Ladentür stehen.

»Da steht der Geschäftsführer,« sagte er.

»So?« sagte Fräulein Gerda und ging ruhig weiter.

»Es ist derselbe Weg, den Sie vorhin kamen,« sagte sie.

»Aber jetzt ist er viel hübscher,« sagte Joan.

»Ja,« sagte sie und blickte zu den Lampen hinauf, die über der Straße hingen: »jetzt ist er elektrisch beleuchtet. – Das elektrische Licht ist unser Stolz.«

Ihr Blick schweifte über die roten Häuser der Straße und sie lachte wieder:

»Aber es wird fast gar nicht gebraucht, denn es ist niemand da, der es sich leisten kann. Und wir gebrauchen es auch nicht. Denn wenn wir es in der Wohnung hätten, müßten wir es auch im Laden haben … und das will Vater nicht.«

»Weshalb nicht?« fragte Joan.

»Er sagt,« – und sie lachte noch immer – »daß die Kunden so billige Ware, wie wir sie hier verkaufen müssen, nicht zu genau sehen dürfen.«

»Ihr Vater ist klug,« sagte Joan und lachte.

»Ja,« nickte das junge Mädchen plötzlich ernst.

Es wurde dunkler auf dem Weg und einige Wagen fuhren an ihnen vorbei:

»Die wollen zum Konzert,« sagte Fräulein Gerda und unwillkürlich flüsterte sie.

Die Fahrenden sahen im Halbdunkel wie große und schwarze Schatten aus.

»Sie sind von drüben,« sagte Gerda.

»Von drüben?«

»Ja, von der anderen Seite der Grenze«, flüsterte sie

Sie hatten den Weg erreicht, der zum Bahnhof führte, und gingen über eine kleine Brücke, die über einem breiten Graben lag:

»Sie schaukelt,« sagte Gerda und blieb mitten auf der Brücke stehen.

»Ja,« sagte Joan und stampfte auf das Bretterwerk.

Als sie ins Kontor kamen, sagte das junge Mädchen:

»Graf Ujhazy« – sie hatte gleichsam einen Anlauf zu dem Namen genommen – »möchte telegraphieren.«

»Bitte schön,« sagte der Beamte und reichte Joan ein Formular.

Joan trat an ein kleines Pult und schrieb. Der Apparat plauderte mit seinem kurzen und hastigen Ticken. Fräulein Gerda sagte:

»Von hier drinnen kann man mit der ganzen Welt sprechen.«

»Ja,« sagte Joan, »und von hier sprachen Sie zum erstenmal mit mir.«

»Ja – – wie ich nur den Mut dazu bekam.«

Joan zeigte ihr das Formular, das er beschrieben hatte.

»Ist es so richtig?« fragte er.

Gerda nahm das Formular und las:

»Ane Jensen. Chateau Ujhazy. Orsowa. Ungarn. Jeg senner dig, gamle Ane, en hjärtelig Hilsen fra Danmark.« Ich sende dir, alte Ane, einen herzlichen Gruß aus Dänemark.

»Ja,« sagte Gerda, »aber sender wird mit einem d geschrieben.«

»Ach, wie ärgerlich, ich kann nicht mal richtig dänisch schreiben,« sagte Joan und es klang fast heftig. Er riß das Telegramm entzwei und schrieb wieder – langsam wie jemand, der jedes Wort buchstabiert.

»Ist es nun richtig?« fragte er und reichte ihr wieder das Papier, das Gerda las: »Jeg sender dig, gamle Ane, en hjärtelig Hilsen fra Danmark. Din Josse.«

»Ja,« sagte sie und lachte: »so ist es richtig.«

»Josse,« sagte Joan: »das wird sie erfreuen.«

Joan bezahlte und sie gingen hinaus.

Fräulein Gerda blieb einen Augenblick auf der Brücke stehen: »Das war teuer,« sagte sie: »aber es ist ja auch weit« – – – und sie blickte durch die Dunkelheit.

Dann sagte sie:

»Aber ich mag keine Telegramme bekommen.«

»Weshalb nicht?«

»Ich hab mal eines bekommen, das war so traurig.«

Sie kamen am Bahnhof vorbei und Joan sagte: »Ob mein Gepäck wohl ins Hotel gekommen ist?« (Er wußte sehr gut, daß es der Fall war.)

»Wir können ja fragen,« sagte Gerda.

Sie gingen durch die Vorhalle auf den Perron hinaus. Niemand war da, alles war still, nur der Telegraphendraht sang über ihnen. Sie standen am Rande des Perrons. Der Stahl der Schienen verlor sich draußen in der Dunkelheit.

Fräulein Gerda sagte und sprach leise: »Ich gehe häufig des Nachts hierher« – sie wollte lachen.

»Des Nachts?«

»Ja, wenn der Schnellzug vorbeikommt … Ich darf es nicht … Aber ich bin dann noch nie zu Bett. Und es ist so hübsch – all die erleuchteten Wagen und all die Menschen drinnen, die man nie kennen lernen wird …« »Sie kennen gewiß hunderttausend Menschen,« sagte sie. Und wie um sich selbst zu unterbrechen, zeigte sie plötzlich durch die Dunkelheit: »Das ist unser Berg,« sagte sie.

»Berg?«

»Ja, diesen Hügel nennen wir einen Berg« – sie lachte.

»Kann man auf den Berg hinaufsteigen?« sagte Joan und lachte auch.

»Ja, das kann man …« und sie fing an zu gehen – »aber wir sollen um halb sieben Uhr essen.«

Sie lief fast. Sie gingen längs der Schienen und sie mäßigte ihren Schritt: »Ich komme ganz außer Atem.«'

Joan aber sagte und er sprach sehr sanft: »Wenn Sie nun erst in die Welt kommen und hunderttausend Menschen kennen lernen.«

»Das werde ich nie,« sagte sie und schüttelte den Kopf: »Vater sagt, daß Theodor – Theodor ist mein Bruder – für die ganze Familie gereist hat.« »Hier ist es,« sagte sie und bog von den Schienen ab, auf einen Feldweg ein. »Als wir Kinder waren« – sie wandte den Kopf und Joan sah ihr Lächeln durch die Dunkelheit – »spielten wir immer ›die Länder der Welt‹, im Hof – denn der ist so groß – und die Tonnen waren Städte und die Wagenremise war Rom. Die Wiese aber war Asien. – Sind Sie in Asien gewesen?«

»Nein,« antwortete Joan.

Sie begannen den Hügel hinaufzusteigen und sie erreichten die Höhe. Vor ihnen breitete sich die Dunkelheit der Felder. Nur die vereinzelten Bäume traten wie eine Schildwache aus dem Schatten hervor. Sie standen schweigend vor der stillen Dunkelheit, dicht nebeneinander …

»Aber,« sagte Joan und er sprach langsam und nur mit halber Stimme: »was tun Sie denn, Fräulein Gerda, wenn Sie so spät noch wach sind?«

Sie sprach wie er: »Ich sitze bei der Lampe. Es ist so schön, wenn alle schlafen und in keinem einzigen Haus mehr Licht ist. Dann ist man ganz allein und kann denken …«

»An was denken Sie dann?«

»Ach, ich weiß nicht. Was wohl einst geschehen wird …«

Joan lächelte: »Ist denn schon mal was geschehen?«

Sie sah ihn an: »Nein, nie,« sagte sie und schüttelte den Kopf.

Sie schwiegen eine Weite angesichts der stummen Dunkelheit. Dann sagte Joan: »Wie ist die ›Dämmerung‹ an Ihre Wand gekommen?«

»Ich hab sie gekauft,« antwortete Fräulein Gerda hastig.

»Dasselbe Bild hatte auch meine Mutter.«

»Ach?« sagte Gerda leise.

»Ja … es hing beim Ofen und der war aus Dänemark gekommen.« Joan schwieg wieder. Dann sagte er, als hätte er einen Weg durch unbekannte Gedanken zurückgelegt: »Aber Musik hören Sie bisweilen?«

Und als ob sie zusammen gedacht hätten, sagte Gerda in genau demselben Ton: »Ja, hin und wieder.« Plötzlich aber änderte sie den Ton: »Im Musikverein. Aber dort führt Frau Raabel das Wort.«

»Frau Raabel?«

»Ja, die Frau des Arztes … und voriges Jahr spielte Herr Green. Das war wundervoll.«

»Wer ist Herr Green?« fragte Joan.

»Das ist unser erster Violinist. Ach, er spielte Mendelssohn. Es war das Schönste, was ich jemals gehört habe.«

Joan knipste plötzlich mit seinen Fingern durch die Dunkelheit:

»War es wirklich so schön?« sagte er und sie sah nicht, daß er lächelte.

Sie schwiegen wieder, bis Fräulein Gerda plötzlich sagte:

»Was ist Josse?«

Joan antwortet« und sah sie an: »So wurde ich genannt, als ich klein war. Ane ist ja immer bei uns gewesen.«

»So,« sagte Gerda.

Von den schweigenden Feldern stieg kein Laut zu ihnen empor. Hinter ihnen schimmerten die Lichter der Häuser. Das Rollen eines Wagens verlor sich in der Ferne.

Joan starrte auf die schweigenden Schatten der Bäume. »Hier ist Dänemark,« sagte er.

Fräulein Gerda hob ihre Hand – sie wußte nicht, weshalb ihre Stimme bebte: »Und das ist Schleswig,« sagte sie, »das sind die schleswigschen Felder.«

»So nah?« sagte Joan. Sie schwiegen wieder, bis Joan sagte: »Finden Sie auch, daß es so traurig ist?«

»Was denn?«

»Das mit Schleswig …«

»Ja« (und sie nickte). »Denn sie sind so treu – trotz allem.«

»Trotz allem? …«

Sie antwortete nicht darauf, sagte aber: »Und Vater sagt, wir sind so wenige …« »Aber –« sie sprach etwas schneller – »das versteht man nicht, wenn man so ein großes Vaterland hat wie Sie.«

Joan sagte: »Mein Vaterland ist kleiner als Dänemark.«

»Ungarn?« sagte Gerda.

Joan rührte sich nicht: »Ungarn ist nicht mein Vaterland. Mein Vaterland ist nur eine Insel.«

»Eine Insel?«

»Ja. Man nennt sie die ›Insel der Verbannten‹.«

Gerda hatte ihm ihr weißes Antlitz zugewandt.

Joan aber strich sich mit der Hand über die Augen: »Davon werde ich Ihnen ein andermal erzählen.«

»Ein andermal?« sagte sie.

Joan wollte sprechen und schwieg – von demselben Gedanken ergriffen.

»Jetzt müssen wir nach Hause,« sagte sie und begann rasch vor ihm herabzusteigen. Als sie unten waren, erreichte er sie. Sie gingen einen anderen Weg, der kürzer war. Er führte an einer Hecke entlang: »Das ist der Kirchhof,« sagte Fräulein Gerda.

»Was ist ›hold‹?« fragte Joan plötzlich.

»Hold?« sagte Gerda mit einer hastigen Bewegung, und indem sie lächelte, sagte sie: »Hold, ist gewiß hübsch.« Plötzlich aber verwirrt, ohne zu wissen weshalb, sagte sie:

»Wir sind lange fortgewesen.«

»Eine halbe Stunde,« sagte Joan.

Sie sah vor sich hin: »Nicht länger?« Und sie schwiegen wieder.

Sie bogen in die Straße ein, wo die elektrischen Lampen hingen: »Um halb sieben Uhr wird gegessen?« fragte Joan und sprach munter.

»Ja.«

»Kommen viele?«

»Einige.« Sie lachte: »Das ist gut für Sie. – Dann haben Sie keine Zeit sich zu ängstigen.«

»Ich will mich jetzt umkleiden.« Sie waren beim »Hotel Dänemark« angelangt.

»Auf Wiedersehen,« sagte Joan und gab ihr die Hand: »und vielen Dank für den Spaziergang.«

»Zu unseren Bergen,« sagte sie und lachte wie er:

»Adieu, Graf Ujhazy.« Sie ging.

Joan aber rief hinter ihr her: »Das war beinah richtig, Fräulein Johansen.«

»Und das war verkehrt,« rief sie zurück.

»Adieu.«

Joan blieb im Torweg des Gasthauses stehen, als Kellner Jensen plötzlich hinter ihm sagte: »Ja, Fräulein Johansen ist reizend.« Joan hatte sich umgedreht und wollte ihm heftig antworten. Statt dessen ging er nur an ihm vorbei und stieg die Treppe hinauf.

»Wo bist du nur gewesen?« sagte die Tante, als Fräulein Gerda ins Zimmer trat.

»O, wir sind weit gewesen,« sagte Gerda. Und plötzlich hob sie ihre Hände und streichelte der Tante beide Wangen. Der Geschäftsführer erschien in der Tür. Er ging ins Eßzimmer, um Flaschen aufzuziehen.

 

Joan ging durchs Vorzimmer, wo mitten im Zugwind ein dicker Mann stand, der sich mit einem blauen Tuch den Schweiß von der Stirn trocknete.

»Ich bin Olesen,« sagte er

Joan nickte.

»Der Wirt,« sagte der Mann, der fortfuhr, sich den Schweiß abzutrocknen.

Joan nickte wieder.

»'s wird heut abend voll,« sagte Olesen.

»Das ist ja schön,« meinte Joan.

»So?« sagte Olesen. »Was hat man davon?«

Und indem er Joan von der Seite ansah, fragte er und steckte sein Taschentuch ein:

»Gibt es Pausen?«

»Ja, zwei,« sagte Joan, der im Begriff war, die Treppe hinaufzusteigen.

»Zwei?« sagte Olesen, den des Lebens Auf und Nieder an die Frageform gewöhnt hatte. »Aber der Saal ist warm und wunderhübsch geschmückt. Fräulein Johansen hat ihn ja geschmückt.«

Joan sagte und blickte die Treppe hinauf:

»Fräulein Johansen hat sich viel Mühe gemacht.«

»Das hat sie,« sagte Herr Olesen und trocknete sich wieder: »aber die Leute haben ja auch das Geld dazu.«

Plötzlich eilte er aufs Fenster zu und rief durch eine eingeschlagene Scheibe nach dem Hausknecht und nach drei Faß Bier:

»Sie sollen in den Saal gebracht werden,« schrie er.

Bei Johansens »Geld« waren dem Wirt die Pausen und der eigene Verdienst eingefallen.

Joan war in sein Zimmer gegangen, wo der Petroleumofen noch immer mitten im Zimmer dunstete und die Koffer ungeöffnet an der Wand standen.

Hinter ihm trat Herr Jensen ein. Er schien jedesmal zu knicken, wenn er grüßte.

»Wo ist mein Diener?«

»Ihr Herr Diener ist ausgegangen.«

Joan sah die Kofferschlüssel auf dem Tische liegen und sagte:

»Öffnen Sie bitte meine Koffer.«

Während Herr Jensen an den Schlössern herumhantierte, die Joan schließlich selbst öffnen mußte, schwatzte er unaufhörlich.

Joan stand am Fenster. Jetzt war drüben bei Johansens alles heruntergerollt. Wie viel Blumen auf den Fensterbänken standen! Die wurden wohl von Fräulein Gerda und ihrer Tante gepflegt.

Heute würde Ane das Telegramm nicht mehr bekommen, aber morgen früh. Wie angstvoll Fräulein Gerdas Stimme geklungen hatte, als sie sagte: Ich hab mal ein Telegramm bekommen, das war so traurig …

Joan hörte Herrn Jensens Stimme hinter sich:

»Wenn ich meine Meinung sagen darf: es ist eine sehr nette Familie. Ihr Kreuz aber haben die Leute auch, denn man weiß ja, was so in der Provinz und an einem kleinen Ort geredet wird.«

Joan wollte seinen Kopf umwenden – vielleicht um zu fragen, als Herr Jensen plötzlich sagte:

»Himmel, ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Der Herr Hofjägermeister warm hier und haben nach dem Herrn Grafen gefragt.« Und er zog eine Visitenkarte hervor, die er auf der Brust unter seinem Hemd getragen hatte:

»Graf Holstein wollte wiederkommen,« sagte er.

»Holstein!« Es entfuhr Joan fast wie ein Ruf. Und auf der Karte, die er nahm, las er:

Erich … ja, ja, Erich Holstein. Es war Erich.

»Wohnt Graf Holstein hier?« fragte Joan und trat an Jensen heran.

»Ja, dem Grafen gehört ja Hohenwalde … eine halbe Meile von hier, Gott, so 'n schönes und herrschaftliches Gut …«

»Wirklich, nein, wirklich?« sagte Joan und wußte es selbst nicht.

Erinnerungen und Gedanken wirbelten durch seinen Kopf: so sollte er also auch Erich hier treffen – auch Erich heut Wiedersehen – –

Vor Freude schlug er die Kofferdeckel auf und wühlte zwischen Fräcken und seidenen Westen: er, der seine eigenen Sachen sonst nie anrührte, nun wurde es Zeit, daß er sich umzog.

»Ist er verheiratet?« fragte er plötzlich.

»Gott, ja« – und Herr Jensen drehte und wendete sich: »Aber die Frau Gräfin ist selten zu Haus, sondern im Ausland oder so. Ach, und es wird ja so viel an einem kleinen Ort geredet, wenn ich mich so ausdrücken darf …«

Das Geklatsch floß von Herrn Jensens Lippen, wie schmutziges Wasser aus einer Dachrinne.

Joan hörte ihn nicht mehr.

»Ich muß mich umkleiden,« sagte er: »suchen Sie bitte meinen Diener.«

Herr Jensen hielt plötzlich in seinem Wortschwall inne – weil ihm eine Idee gekommen war: er wollte heut abend, wenn niemand zu Hause war, diese Anzüge probieren!

»Gewiß, gern,« sagte er und knickte in der Tür zusammen, wobei er dem Berliner in den Bauch stieß, der gerade hereintrat und mißmutig auf die Koffer blickte:

»Weshalb haben Herr Graf ausgepackt?«

»Weil ich mich umkleiden will.«

»Jetzt?«

»Ja. Ich will meinen londoner Frack.«

Der Berliner rümpfte seine fleischige Nase:

»Hier?« sagte er.

»Ja.«

»Sehr wohl,« sagte der Berliner wie einer, der sich ein für alle Mal klar gemacht hat, daß er einem Sonderling zu gehorchen hatte, der dumm genug war, ihm hundertundfünfzig Mark monatlich zu bezahlen.

Joan ging hin und her, während er sich auszog. Er schüttete Eau de Lubin in sein Waschwasser und rieb seinen Oberkörper damit ein. Wie drollig sie ausgesehen hatte, als sie mit dem Flakon spritzte. Aber recht hatte sie, es war schwere Luft im Zimmer – wie der Geruch von alten Weinfässern. Wie lange war es nur her, seit er Erich Holstein zuletzt gesehen hatte – dreizehn lange Jahre. Er hatte also inzwischen geheiratet. Und Joan lachte über das Waschfaß gebeugt: es war, als sei es erst gestern gewesen, daß er Erich sagen hörte: Wer wohl mal meine Frau wird?

Joan wandte sich um:

»Wo ist Haacke?« fragte er und patschte im Waschfaß, daß das Wasser nur so spritzte. Seine Bewegungen waren so rasch und so frisch – aus dem einen Beinkleid heraus und in das andere hinein.

»Er schläft,« sagte der Berliner.

»Wecken Sie ihn,« sagte Joan: »ich will diese Weste nicht, nehmen Sie die brokatseidene.«

»Sehr wohl,« sagte der Berliner wie vorhin.

Wie Erich Musik geliebt hatte! Ganz verzückt konnte er aussehen. Daheim pflegte der blinde Hans solchen Ausdruck zu bekommen, wenn Joan ihm die Farben und die Sonne beschrieb.

Er wollte das Programm ändern … wo war sein Schlips? Mendelssohn wollte er spielen (und Joan lachte wieder), das Stück, das Herr Green aus Kopenhagen so wundervoll gespielt hatte.

»Wecken Sie Haacke.«

»Sehr wohl.«

Der Berliner ging.

Ob er die Volkslieder, die er so oft mit Erich zusammen gespielt hatte, noch auswendig konnte? Er öffnete hastig den Violinkasten und nahm die Violine heraus. Der Bogen glitt über die Saiten … es warm die Lieder seiner Mutter.

Die Tür öffnete sich, ohne daß er es gehört hatte.

Der große, korpulente Mann, der plötzlich im Zimmer stand, war Erich …

»Joan.«

»Dir zu Ehren,« rief Joan und schwang seinen Bogen, und »Flieg, Vogel, flieg« erklang jubelnd mit vollen Saiten, während Holstein mit ausgebreiteten Armen stehen blieb.

»Du bist noch ganz der alte,« sagte er und schwieg wieder.

Joan spielte noch einen Augenblick, legte dann aber die Violine beiseite – und schlang die Arme um Holsteins Hals:

»Und du bist dick geworden,« sagte er und küßte Holstein auf beide Wangen, »wie herrlich, herrlich, dich wiederzusehen!«

»Ja, nicht?« sagte Holstein. Und plötzlich standen sie sich schweigend und verlegen gegenüber, als ob sie sich zu viel oder auch gar nichts zu sagen hätten.

»Aber so setz dich doch,« sagte Joan.

»Daß es wirklich dreizehn Jahre her sind, seit wir uns gesehen haben,« sagte Joan, während er seinen Frack anzog. Und sie unterhielten sich hastig, als gälte es eine gemeinsame Verlegenheit zu verbergen. Mit »weißt du noch« und »weißt du noch« fragten und antworteten sie – bis sie wieder schwiegen. Schließlich sagte Joan:

»Du bist also verheiratet?«

»Ja,« sagte Holstein und betrachtete seine Knie.

»Und wer ist es geworden?« fragte Joan und lachte.

»Meine Kusine,« sagte Holstein.

»Bekomm ich sie nicht auch zu sehen?« fragte Joan, der die Violine zur Hand genommen hatte und leise über die Saiten strich.

»Meine Frau ist verreist.«

Joan spielte und hatte kaum zugehört.

»Weißt du, Erich,« sagte er, während er spielte, »heut ist der Geburtstag meiner Mutter. Ich glaube, es ist deshalb, daß mir soviel Schönes zuteil wird.«

»Wer weiß?« sagte Holstein und lachte wie in alten Tagen.

»Denn hier ist es herrlich,« sagte Joan.

Holstein hatte seinen Kopf an die Wand gelehnt und summte leise zu den Tönen der Violine:

Er freite um Jungfer Else,
sie war solch holde Maid.

Joan fuhr fort zu spielen und Erich summte etwas lauter:

Und einen Monat später,
da war er kalt und tot.

Einige Falten hatten sich wie Schatten in Erichs Stirn gegraben.

»Na, fort damit,« sagte er plötzlich und schlug seine kräftigen Beine übereinander.

»Wir müssen gehen,« sagte Joan und legte hastig die Violine in den Kasten.

»Gehen? Wohin?«

»Erst muß ich in den Saal und dann zu Johansens,« sagte Joan, der seine Ringe über die Finger schob und den Violinkasten schloß, und im nächsten Augenblick stand er wieder neben Holstein.

»Ich gehe mit zu Johansens,« sagte Erich.

»Meinetwegen,« sagte Joan und griff Holstein übermütig in den Nacken, so daß dieser sich selbst im Spiegel zunickte, vor dem sie standen.

Sie blieben Seite an Seite stehen und sahen beide in den Spiegel.

»Hm,« sagte Holstein und lachte, »du bist ein neuer Mensch geworden.«

Es fiel Joan selbst auf, wie fein und jung sein Gesicht neben Erichs aussah, dessen Züge breit geworden waren.

»Wirklich,« sagte er und lachte wieder, voller Frohsinn.

»Und ich bin ein alter Landjunker geworden,« sagte Erich.

Sie stiegen zusammen die Treppe hinab und Erich sagte langsam:

»Schade ist es aber doch, denn man hätte sich noch so manches zu erzählen gehabt, was einem nicht sogleich über die Lippen will.«

»Ja,« sagte Joan und ging weiter. Plötzlich aber wandte er sich um:

»Was haben sie eigentlich für Kummer gehabt?« fragte er.

»Wer?«

Joan zögerte eine Weile, bevor er sagte: »Diese Johansens.«

Im selben Augenblick aber standen sie auf der Schwelle des Saales – und sahen Fräulein Gerda mitten auf der Bühne.

»Sie hier, Fräulein Gerda?« rief Joan mit einer Stimme, die durch den ganzen Raum klang.

»Nur auf einen Augenblick,« sagte Gerda, »ich bin schon im Begriff zu gehen.«

Joan ging hastig durch den Saal und öffnete die kleine Tür, die zur Bühne führte.

»Nein, wie hübsch ist es hier,« sagte er.

Der Raum hinter den Kulissen war ganz wie ein Zimmer eingerichtet mit großen Lehnstühlen und einer Bronzelampe und Blumen.

»Ach, das sind nur einige Möbel aus meinem Zimmer,« sagte Fräulein Gerda, »ein bißchen gemütlich mußte ichs Ihnen doch machen.«

»Und die ›Dämmerung‹ haben Sie hierher gebracht,« sagte Joan, der plötzlich Corots Bild vor sich an der Wand hängen sah.

»Ja, ich dachte …« murmelte Gerda. Sie hielt inne, und verwirrt oder bewegt hatten sie beide einen Augenblick geschwiegen, als Erich Holstein in der Tür stand:

»Guten Abend, gnädiges Fräulein. – Ich hab Joan schon gesagt,« fuhr er fort, »daß ich mir erlauben werde, mich ganz einfach bei Ihnen zu Gast zu laden.«

»Sie sind herzlich willkommen, Herr Graf,« sagte Fräulein Gerda und lächelte, obgleich sie im selben Augenblicke überlegte, daß es bei Tisch sehr eng werden würde.

»Aber ich komme erst nach dem Essen,« sagte Holstein.

»Wie Sie wollen, Herr Graf,« sagte Fräulein Gerda und sie lächelte wieder – ohne es zu wollen.

»Adieu.« Und sie lief auf die Bühne hinauf. Von dort oben aber rief sie zu Joan hinunter:

»Es wird gleich bei uns gegessen.« Und fort war sie.

Erich Holstein bewegte seinen Kopf hin und her wie in alten Tagen.

»Hab nie gesehen, daß sie so reizend ist.«

Plötzlich aber fiel es Joan ein, daß er nicht mit Haacke gesprochen hatte. Und mit einem »entschuldige« lief er durch den Saal und war mit sechs Sprüngen oben vor Haackes Zimmer. Er riß die Tür auf und rief hinein:

»Ich spiele Mendelssohn.«

»Was?«

»Wir spielen Mendelssohn heut abend, das Konzert.«

Und er schlug Haacke die Tür vor der Nase zu.

Als Joan zurückkam, saß Graf Erich mit Corots ›Dämmerung‹ in der Hand.

»Weißt du noch,« sagte er, »dies Bild hast du dir immer in Paris in den Schaufenstern der Kunsthändler angesehen.«

»Ja,« sagte Joan.

Erich betrachtete das Bild noch immer.

»Jetzt versteh ichs viel besser,« sagte er mit seiner langsamen Stimme (während dieselben Schatten wie vorhin auf seiner Stirn sichtbar wurden):

»Schönes Bild.«

Joan lächelte:

»Fräulein Gerda hat es hierher gebracht,« sagte er.

»Wie in aller Welt kommen diese Leute zu so einem Bild,« sagte Erich, »der Giftmischer versteht sich doch nicht auf so was.«

»Der Giftmischer?«

»Ja, so wird er genannt.«

»Weshalb?«

»Weiß ichs. Hierzulande gibts viele Spitznamen und er ist ja ein verhältnismäßig wohlhabender Mann.«

Graf Erich hing die »Dämmerung« wieder an ihren Platz.

»Freilich ist die Kleine reizend,« sagte er mit Überzeugung.

»Ich muß jetzt gehen,« sagte Joan, »auf Wiedersehen und Dank, daß du gekommen bist.«

Er legte beide Arme um Erichs Schultern, bevor er ging.

Erich stand in der kleinen Tür und rief hinter ihm her:

»Ich hab dich noch nie so aufgeräumt gesehen.«

»Ich bin so froh, daß ich in Dänemark bin,« rief Joan aus dem Saal zurück. »Aber willst du hier sitzen bleiben?«

»Ja,« sagte Erich, »man kann hier ruhig einen Whisky trinken.«

Joan war gegangen. Erich ging auf die Säule neben der Bühne zu und drückte auf den Knopf, der das Publikum hereinrufen sollte – es gellte durchs ganze Haus.

»Einen Whisky,« rief er dem hereintänzelnden Jensen entgegen.

Erich Holstein saß allein in der trüben Beleuchtung und trank seinen Whisky, indem er auf seine Beine starrte.

 

Drüben bei Johansens wartete der Geschäftsführer am Aufgang zur Treppe.

»Bitte, gehen Sie nur nach oben,« sagte er und stieg hinter Joan die Treppe hinauf.

»Hier sind viele Menschen,« sagte Joan.

»Ja, es sind viele geladen worden,« sagte der Geschäftsführer.

Kaufmann Johansen kam Joan auf der Türschwelle entgegen:

»Wir danken Ihnen, daß Sie gekommen sind,« sagte er, indem er Joans Hand in der seinen hielt, »es sind nur einige Freunde versammelt (das ganze Zimmer war voll), aber es hat wohl keinen Zweck, Ihnen die Namen zu nennen.«

Alle hatten sich zur Tür gewandt, aber nur einen Augenblick. Dann sprach man weiter, während Herr Johansen die Nächsten vorstellte, und zuletzt sagte er mit einer Bewegung der linken Hand, die aber gleich wieder zur Tasche zurückkehrte:

»Und das ist mein Geschäftsführer.«

Es traten einige Gäste heran, denen Johansen die Hand drückte, während ein breitschultriger Herr mit Vollbart und einer goldenen Uhrkette zu Joan sagte:

»Ja, ja, Sie kommen weit umher – mein Name ist Lorentzen, mir gehört die Spinnerei,« schob er wie in Parenthese ein – »aber für uns ist es natürlich ein großes Ereignis, einen Mann wie Sie kennen zu lernen.«

»Das ist meine Frau,« fügte er ohne Übergang hinzu und zeigte auf eine Dame neben sich, die ein kugelrundes Gesicht hatte und deren glatt zurückgestrichenes Haar zu einer spitzen Frisur aufgesteckt war.

»Heut abend wirds einen großen Andrang geben,« meinte Frau Lorentzen.

Dort war Fräulein Gerda – dort in der Ecke neben einer Dame in Blau. Joan hatte schon zweimal hinübergegrüßt, ohne daß sie es gesehen hatte, und jetzt sagte er recht laut:

»Guten Abend, Fräulein Johansen.«

Und Fräulein Gerda antwortete – und machte eine Bewegung mit dem Kopf, die so reizend schnippisch ausfiel, weil sie verlegen war:

»Guten Abend.«

Joan wollte auf sie zugehen und wurde im selben Augenblick von einem kleinen Herrn im Smoking, mit rotgeränderten Augen hinter einem Kneifer, aufgehalten, der zu ihm sagte:

»Ich bin der Arzt – hoffentlich werden Sie keinen Gebrauch von mir machen …« Und sehr rasch fuhr er fort: »Ja, die Gegend hier ist schauderhaft. Aber wo ist es übrigens hierzulande nicht schauderhaft, wenn man nicht in Kopenhagen sein kann? Na, unsere teure Gegend bekommen Sie ja glücklicherweise nicht zu sehen.«

»Ich bin schon auf dem Berg gewesen,« sagte Joan.

»Nein, wirklich,« fiel eine kleine und magere Dame ein, mit einem Blumenstrauß überm Ohr, vor der der Doktor geschwind eine leichte Verbeugung machte:

»Das ist meine Gnädige,« sagte er zu Joan.

»Der Berg ist der beste Witz der Gegend,« sagte die Frau des Doktors, während Frau Lorentzen ihre eigenen etwas losen Mundwinkel einzusaugen schien und Fräulein Gerda hinzutrat.

»Guten Abend, Fräulein Johansen,« sagte Joan wieder, und sie reichten sich am Doktor vorbei die Hände.

»Wir haben auch eine schöne Aussicht von der Spinnerei,« sagte Frau Lorentzen, »wir können ganz bis zur Kirche von Ribe sehen.«

»Dort,« sagte der Doktor und lachte, »empfing König Waldemar die Königin Dagmar.«

Fräulein Gerda sagte und sie sprach langsamer als die anderen:

»Vom Kirchturm in Ribe hat man solch weiten Blick.«

In einem der Nebenzimmer hatte das Telephon geklingelt und es klingelte ohne Aufhören.

»Es ist wegen Billetten,« sagte der Geschäftsführer, der am Hörer gewesen war.

»Es sind aber keine mehr da,« sagte Gerda.

»Nein, wir haben keine mehr,« rief die Dame in Blau, neben der Gerda gestanden hatte.

Und alle lachten vergnügt über die rege Teilnahme am Konzert, als wäre es ein Sieg für sie alle.

Während Fräulein Gerda ans Telephon ging, sprachen alle mit hellen Stimmen durcheinander: die Leute könnten sich auch rechtzeitig um Billette bemühen … immer erst im letzten Augenblick.

»Hätten wir gewußt, daß die Gegend endlich einmal aufwachen würde,« sagte die Frau des Doktors zu Joan, »hätten wir das gewußt, dann hätte der Musikverein es sich nicht nehmen lassen, Sie einzuladen – aber unsere Kasse ist mager. Mein Mann ist im Vorstand und ich bin Kassiererin.«

»Gerda aber ist ein Blitzmädel,« rief ein dicker Herr über alle Köpfe hinweg, während die Frau des Arztes fortfuhr:

»Sie bleiben doch bei dem angezeigten Programm?«

Joan lachte, indem Fräulein Gerda wieder in der Tür erschien.

»Nein, gnädige Frau,« sagte er, »ich hab das ganze Programm geändert.«

»Das kann Ihr Ernst nicht sein? Wir Musikmenschen haben uns gerade so auf Bach gefreut.«

»Doch,« lachte Joan, wahrend die Dame in Blau zu dem dicken Herrn sagte:

»Ich finde, er ist großartig.«

»Vater, Vater,« rief Gerda Johansen durch den Lärm, »es sind Holcks vom Fischteich. Aber sie können doch nicht mehr zugelassen werden?«

»Nein, nein, das können sie nicht,« rief die blaue Dame.

»Nein, nein, ist viel zu spät,« rief der dicke Herr.

Und es wurde wieder gelacht, bis Joan plötzlich zu Gerda hinüber sagte – als würde er vom Lachen und von der Freude angesteckt –:

»Doch, doch, Fräulein Johansen, lassen Sie mich ans Telephon.«

»Was wollen Sie?«

»Ans Telephon. Für die Leute muß Platz geschafft werden.«

Alles hatte aufgehört zu lachen und man sah sich lächelnd an, während Joan ins andere Zimmer ging. Und man fing wieder an zu sprechen, von Joan, während alles durcheinander rief:

»Er ist furchtbar nett,« sagte die Dame in Blau und stemmte beide Hände in die Seiten, während die Frau des Arztes auf Kandidat Uffing losschoß und ihm in sein bartloses Gesicht schrie:

»Ich war von vornherein dafür, daß der Musikverein ihn auffordern sollte. Finden Sie nicht auch, daß ihm eine Fülle von Musik im Gesicht geschrieben steht?«

Der Direktor der Hochschule, der zwischen zwei großen Männern stand, die hochschließende schwarze Gehröcke trugen, sagte:

»Wie hübsch ihm seine Muttersprache von den Lippen fließt.«

Der dicke Herr aber, der schwitzend von einem zum andern lief, sagte zum Geschäftsführer:

»Famoser Mensch, was, Petersen?«

Der Geschäftsführer antwortete nicht (er stand so, daß er durch die Tür Joan und Gerda sehen konnte, die durch die Zimmer gingen), eine kleine Dame aber, die neben ihm stand, legte ihre gefalteten Hände gegen die Wange und sagte:

»Ach, wie ist es hier heut himmlisch … gerade als ob ein Fest in der Luft läge.« Und als Kaufmann Johansen vorbeiging, faßte sie ihn am Arm und sagte halblaut und hastig:

»Vielen Dank, daß Sie an mich gedacht haben.«

Joan blieb vor dem Tisch im Eßzimmer stehen:

»Hier sollen viele sitzen.«

»Hu, ja,« sagte Gerda und zog die Schultern hoch und zog sie zusammen wie jemand, der in kaltes Wasser soll: »ich wollte, sie säßen erst.«

»Haben Sie Angst?« lächelte Joan.

»O nein,« sagte Gerda, und sie kamen zum Telephon.

Sie schlossen die Tür, so daß die Stimmen von drinnen nur gedämpft hereinklangen.

»Welche Nummer?« fragte Joan.

»Wir müssen erst vom Geschäft aus mit dem Amt verbunden werden,« sagte Gerda und Joan klingelte.

»Ich telephoniere sehr schlecht,« sagte Joan.

»So?«

Und sie lachten beide.

»Das Amt,« rief Joan ins Telephon hinein und das Amt meldete sich.

»Wie heißen die Leute,« fragte Joan, der mit dem Hörer stand.

»Holcks vom Fischteich,« sagte Gerda, als suffliere sie.

Fischteich aber konnte Joan nicht sagen.

»Fischteich,« wiederholte Gerda und begann ganz leise zu lachen.

»Füschteich,« sagte Joan ins Telephon. Der Fischteich meldete sich.

»Wer spricht?« fragte Gerda und streckte ihren kleinen Kopf vor.

»Eine Damenstimme,« gab Joan flüsternd zurück.

»Was sagt sie?«

»Mit wem sie spricht,« flüsterte Joan, und ihre Gesichter waren einander ganz nahe.

»Mit Joan Ujhazy,« rief Joan hinein.

»Was sagt sie?« flüsterte Gerda mit strahlenden Augen.

»Ja, mit Joan Ujhazy,« wiederholte Joan am Telephon.

»Was sagt sie?« fragte Gerda wieder und sie schüttelte sich vor Vergnügen wie ein Kind.

»Sie können dicht am Podium sitzen,« rief Joan hinein.

»Adieu,« sagte Joan und klingelte ab.

»Werden die erstaunt sein!« sagte Gerda.

»Ja, das waren sie,« sagte Joan, dessen Hand noch auf dem Telephon lag.

Fräulein Gerda sagte und blickte vor sich hin:

»Sie sind gewiß sehr gut.«

»Weshalb?«

»Ja, das glaub ich,« sagte Fräulein Gerda und nickte langsam und ernst.

» Heut bin ich gut,« sagte Joan und sprach ebenso leise wie sie.

Es war eine Weile still.

»Dies ist Ihres Vaters Zimmer,« sagte Joan und blickte von dem alten Sofa zu dem großen Geldschrank.

»Ja, dies ist Vaters Zimmer,« wiederholte Fräulein Gerda.

»Aber wir müssen zu Tisch gehen,« unterbrach sie sich und eilte ins Eßzimmer.

»Können wir zu Tisch gehen?« fragte sie ihre Tante, die im Eßzimmer beschäftigt war.

»Gleich.«

Und Gerda ging zu den anderen hinein und auf die blaue Dame zu:

»Gott, wenn sie nur erst alle säßen,« sagte sie und schob ihren Arm unter den der anderen.

»Ach was,« sagte die blaue Dame, »die merken es gar nicht, wenn sie mit den Knien gegen ein paar Tischbeine stoßen;« und als Joan im selben Augenblick vorbeiging, wandte sie sich zu ihm:

»Sie wissen gar nicht, wie wir beide uns gefreut haben!« sagte sie und mit einem Seufzer fügte sie hinzu:

»Wenn sie nur stillsitzen können beim Konzert!«

»Aber Ida!« sagte Gerda.

»Na ja, so wenig wie man hier an Musik gewöhnt ist!«

Der Direktor der Hochschule, der einige Schritte von ihnen entfernt stand, sagte:

»Man ist doch an Gesang gewöhnt.«

Und die blaue Dame stellte den Direktor vor, als eine muntere und etwas heisere Stimme von der Tür erklang:

»Nee, weißt du, Johansen, hier haperts aber mit dem Platz.«

Es war der Zwillingsbruder des dicken Herrn, der hereintrat. Er war ebenso beleibt wie sein Bruder, und sein runder Kopf war mit der Maschine geschnitten.

»Ach so, der ist hier,« sagte er, als er seines Bruders ansichtig wurde, »da ist es freilich kein Wunder, daß es so eng ist.«

Alle lachten, während der Dicke durch die Gruppen ging.

»Ah, da haben wir ja unseren Konzertgeber,« sagte er zu Joan: »Herzlich willkommen! Gesehen hab ich Sie schon – denn ich will Ihnen sagen, in so einem Nest ist die Bevölkerung stets an den Fenstern, wenns was zu sehen gibt … Mein Name ist Uhrmacher Larsen, Vorstand des Handwerkervereins. Wir habens nicht riskiert, Sie zu engagieren, und nun haben wirs Nachsehen – was, Gerda, nicht? … denn Sie geben natürlich Überschuß, Herr Konzertgeber –«

Der Uhrmacher trocknete sich seinen Kopf ebenso wie sein Zwillingsbruder, der Tabakhändler.

»Nu kommts also drauf an, daß wir was von Ihrem Musizieren verstehen,« sagte er und lachte, »denn wir sind ja allesamt nur Bauern, obgleich der Musikverein für unsere Erziehung sorgt – soweit die Mittel reichen.«

Einige Herren fingen an zu lachen, Herr Johansen aber sagte, mit etwas erhobener Stimme:

»Ich bitte zu Tisch.«

»Herzlich gern,« sagte der Tabakhändler, und während sich alle etwas schweigsam in Bewegung setzten, bot Joan Fräulein Gerda den Arm.

»Nein,« sagte Gerda, »bei uns wird nicht zu Tisch geführt.«

»Papperlapapp,« sagte der Uhrmacher, »der Vorstand muß neben dem Konzertgeber sitzen, das fehlte gerade …«

Und während er in kurzen Stößen lachte, daß es wie Stöhnen klang, schob er Gerdas Arm unter Joans:

»Sie ist mein Patenkind, will ich Ihnen sagen, und 'n Mädel mit Verstand.«

Man war ins Eßzimmer gekommen, wo man sich gegen die Wände drücken mußte und mit den Stühlen zusammenstieß. Unten im Zimmer war ein wahres Gedränge.

»Nur ruhig,« sagte der Kaufmann mit seiner bedächtigen Stimme, »wir werden schon alle Platz finden.«

Einige saßen.

»Nein, nein, Frau Lorentzen,« rief der eine Zwilling, »hier herüber. Wir müssen uns wie in einem Bankwagen verteilen, gleiches Gewicht auf beiden Seiten.«

Alles lachte und die Stühle scharrten.

Der Direktor, der sich in der Nähe von Joan hielt, sagte:

»Platzmangel kennen wir von der Hochschule her; dort wollen wir auch immer gern soviel Freunde wie möglich auf einmal bei uns sehen.«

»Es ist erreicht,« sagte der Tabakhändler, der seine dicken Beine glücklich neben Frau Raabels dünnes Untergestell angebracht hatte, wobei der halbe Tisch bebte.

»Sie haben ja Angst,« flüsterte Joan, der plötzlich Fräulein Gerdas Arm in seinem zittern fühlte.

»Ja,« sagte sie fast atemlos und sah zu ihm auf. Ihre Augen waren ganz leer vor Schreck.

»Wenn sie nur erst säßen,« sagte sie wieder.

»Aber sie sitzen ja schon,« sagte Joan so leise wie vorher (wie sie einem Vögelchen glich).

»Und Sie,« sagte sie und wandte die Augen fort, »Sie sind ja auch nicht so – – an unsere Sitten auf dem Lande gewöhnt.«

Joan wußte kaum, daß er ihre Hand erfaßt hatte:

»Wollen wir uns nicht setzen?« sagte er.

»Nee, nee, Petersen,« rief der Uhrmacher vom anderen Tischende her:

»Der Konzertgeber muß zwischen den Vorstandsdamen sitzen.«

Und der Geschäftsführer verließ den leeren Stuhl neben Gerda, während die blaue Dame heraufrückte.

»Nun sitzen wir großartig,« sagte sie und zog ihre Handschuhe aus.

Gerda hatte eine Sekunde dem Geschäftsführer nachgesehen.

»Ja, Frau Großartig,« sagte sie und lachte plötzlich nach all der Angst.

»So nennt sie mich immer,« sagte die blaue Dame.

»Ja,« sagte Gerda, »denn sie sagt immer ›großartig‹«.

Die Dame lachte, daß all ihre weißen Zähne sichtbar wurden.

»Na ja, ist es denn nicht auch großartig in Dänemark?«

»Ja, das ist es,« sagte Joan.

»Aber wir müssen essen,« sagte Gerda.

Rings herum wurde gegessen und nur wenig gesprochen, während die Gabeln bedächtig klirrten.

»Schenken Sie sich ein,« sagte Herr Johansen, der nur seine Nachbarn und seinen Teller im Auge behielt – wie ein Wirt, der weiß, daß eine Sache von selbst geht, wenn sie erst mal in Gang gekommen ist.

Zwei Mädchen mit schwarzen Hauben reichten die Schüsseln herum, während die Tante, knochig und dünn, hin- und herging.

»Setz dich doch, Tante,« flüsterte Gerda.

»Im übrigen aber ist mein Name Frau Jespersen,« sagte die blaue Dame. »Pastorin Jespersen … das heißt, mein Mann ist Kaplan an der lutherischen Kirche.«

»Aber der Herr Pastor ist nicht hier?«

»Nein,« sagte Frau Jespersen, »gerade als wir hierher gehen wollten, wurde er zu einem Sterbenden gerufen.«

»Ach ja, denken Sie sich nur,« sagte Gerda, »zu dem alten Fräulein Luckow. Sie war die erste, die sich ein Billett zu Ihrem Konzert nahm: den will ich Alte auch hören, sie, obgleich sie sonst so bescheiden lebt.«

Fräulein Gerda öffnete die Augen, so daß sie noch größer erschienen:

»Und gerade heut mußte sie sterben.«

Joan betrachtete ihr Gesicht: wie leicht sie die Farbe wechselte, sie konnte ganz weiß werden, bis über die Stirn hinüber.

»Wie seltsam,« sagte er.

Die Unterhaltung begann ringsherum lebhafter zu werden, während Frau Jespersen sagte:

»Und nun bekommt mein Mann Sie vielleicht auch nicht zu hören. Denn er pflegt gewöhnlich zu bleiben, bis es vorbei ist.«

»Ja,« sagte Gerda und nur Joan hörte es, während Frau Jespersen in einem anderen Ton, gleichsam seufzend, fortfuhr:

»Und gar zu häufig wird nicht nach ihm geschickt.« Sie schwieg eine Weile und begann dann wieder:

»Hier in der Gegend sterben die Menschen übrigens meistens sehr ruhig.«

»Ja,« sagte der Direktor, der ihr schräg gegenübersaß: »die Menschen werden hier in der Regel alt. Und wenn sie sterben, ist es, als ob Er dort oben sie zur richtigen Zeit abgerufen habe.«

Als sie einen Augenblick schwiegen, hörten sie Frau Raabel mit Kandidat Ussing (der ihr recht nah saß) über Mendelssohn sprechen.

»Ja, Herr Graf,« sagte der Doktor, der die Gelegenheit ergriff, zu Joan: »Wir spielen häufig Mendelssohn im Musikverein. Wir müssen uns hier in der Gegend ja leider an die leichtfaßliche Musik halten.«

»Denn unser eigener Geschmack ist mehr César Franck,« sagte Frau Doktor Raabel, die sich unablässig mit einem gemalten Fächer zufächelte: »aber das muß leider unser Privatvergnügen bleiben.«

»Wir können ja nicht alle in der Musik ausgebildet sein, Frau Raabel,« sagte Frau Lorentzen über den Tisch hinüber.

Die beiden Damen lächelten sich zu, bis Frau Raabel etwas hastig zu Mendelssohn zurückkehrte, und von dem Kapellmusikus Green und dem Finale des Konzertes sprach, das er voriges Jahr im Musikverein gespielt hatte.

»Es war ein großer Genuß,« sagte sie.

Joan beugte den Kopf etwas vor und sagte:

»Das Konzert von Mendelssohn spiele ich heut abend, gnädige Frau.«

Gerda hatte den Kopf gebeugt:

»Spielen Sie es wirklich?«

»Ja,« sagte Joan, und Gerda wußte nicht, weshalb er lachte.

»Extra?«

»Ja, Fräulein Gerda, extra.«

Die Frau des Doktors sagte:

»Es ist die Musik der Freude.«

»Oder der Erwartung,« sagte Frau Jespersen.

Joan aber verstand das Wort nicht, und Fräulein Gerda mußte es erklären.

»Ich spreche sehr schlecht dänisch,« sagte er.

»Sie sprechen ausgezeichnet,« antwortete Frau Jespersen, und der Direktor, der alle Sätze unnötig in die Breite zog, fiel ein:

»Es will mir im Gegenteil scheinen, als müsse man bewundern, wie hübsch Sie Ihre Muttersprache bewahrt hoben.«

Joan sagte und sah vor sich hin:

»Meine Mutter sprach die dänische Sprache gewiß sehr hübsch, das hab ich heut schon mehrmals bei mir gedacht. Aber ich kann nur äußere Dinge sagen …«

»Äußere Dinge,« sagte Frau Jespersen und lachte.

»Ja,« fuhr Joan in einem andern Ton fort: »ich kann nicht sagen, was ich denke.«

Gerda meinte – und es entfuhr ihr hastig –:

»Ich versteh aber sehr gut (und plötzlich beugte sie ihren Kopf tief über den Teller) was … Sie sagen …«

Frau Jespersen aber meinte, wahrend sie aufhörte zu essen:

»Ach, kann man überhaupt sagen, was man denkt? Mir ist es noch nie gelungen, meinem Mann zu sagen, wie lieb ich ihn habe.«

»Tja, Gerdachen,« sagte der Tabakhändler Larsen: »wir Unverheirateten verstehen uns nicht auf die Liebe.«

Die Doktorsfrau aber, die das Musikthema und den Kandidaten im Stich ließ, sagte lächelnd:

»Trotzdem sprechen Sie nie von was anderem, Herr Larsen.«

»Nur beim Punsch, kleine Frau … wovon sollten wir Mannsleute auch sonst reden – nicht, Lorentzen – und die Frauensleute hören gar zu gern durch die Türritze zu.«

Gerdas Augen suchten den Vater. Johansen aber erfüllte am anderen Tischende bedächtig und sicher seine Wirtspflichten, wie eine Kontorarbeit an seinem Pult.

Der Direktor sprach mit den beiden Männern in den hochschließenden schwarzen Gehröcken von einer Ausweisung aus Schleswig, der Uhrmacher aber hob sein Glas – denn es wurde in seiner Umgebung noch immer von Musik gesprochen, wovon er nichts verstand – und sagte:

»Na, also willkommen, Herr Konzertgeber …«

»Larsen,« unterbrach Johansen ihn und hob seinen Kopf.

»Du brauchst keine Bange zu haben, Johansen,« fuhr der Uhrmacher fort. »'ne Rede will ich gar nich halten. Das hat Gerda ja verboten.«

Frau Jespersen fing an zu lachen, Gerdas Kehle aber ging auf und nieder, während sie blutrot geworden war.

»Ja, freilich hat sie das,« bekräftigte der Uhrmacher, der sich nicht stören ließ. »Aber ich wollt auch nur sagen – willkommen, Herr Konzertgeber. Sie sind in ein bescheidenes, aber in ein gemütliches kleines Land gekommen, wo das Herz gut ist und an Verstand fehlts auch nicht. Und wir sind zufrieden mit uns selbst und freuen uns an anderen. – Prost, Herr Konzertgeber.«

Alle hoben ihre Gläser, als Joan plötzlich eines schwarzen Kopfes auf der anderen Seite des Tisches ansichtig wurde und eine etwas knarrende Stimme sagen hörte:

»Willkommen aus Europa, Graf Ujhazy.«

»Wer war denn das?« sagte Joan hastig. Die Stimme hatte »Ujhazy« so merkwürdig richtig ausgesprochen.

»Das ist Mephisto,« sagte Frau Jespersen.

Joan aber sagte halblaut – und seine Augen lachten –:

»Fräulein Gerda, weshalb durfte Herr Larsen nicht reden?«

Fräulein Gerda stemmte die Hand gegen die Tischkante:

»Ach, das ist gar nicht wahr, Larsen ist so nett … aber heute …«

Sie hielt inne, Joan aber sagte und wußte, daß er ihre Gedanken erraten hatte:

»Ich finde es hier ja gerade so wunderschön.«

»Finden Sie?« Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, so daß es Joan schien, als habe er sie den ganzen Tag noch nicht lächeln sehen.

Und kurz darauf sagte er:

»Hier ist ja Dänemark.«

Plötzlich begegneten seine Augen denen des Geschäftsführers.

»Wie heißt Ihr Geschäftsführer?« fragte er.

»Er heißt Petersen,« sagte sie wie jemand, dessen Gedanken weit fort sind.

»Er hat ein Paar entschlossene Augen,« sagte Joan, während Frau Jespersen hinzufügte:

»Und einen stillen Willen.«

Fräulein Gerda sagte nichts … saß nur mit gebeugtem Kopf da. Plötzlich aber sagte Joan, als kehre er zu einem früheren Gedankengang zurück:

»Was bedeutet ›hold‹?«

Er hatte sich an Frau Jespersen gewandt, die lachend sagte:

»Hold? Wie kommen Sie darauf?«

»Hold?« fuhr sie fort: »hold … ist das nicht hübsch, oder was ist es eigentlich, Gerda?«

Auch Joan hatte seine Augen auf Fräulein Gerda gerichtet, oder hatte er sie vielleicht die ganze Zeit angesehen? Gerda aber sagte nur (und es war, als ob ihre Augen plötzlich nur Blicke für eine große Schüssel mit grünen Erbsen hatten, die etwas sonderbar in der Hand des Uhrmachers schwankte):

»Ich weiß es nicht« – und sie hielt einen Augenblick inne – »ja, es bedeutet wohl hübsch.«

»Nein, nicht hübsch,« sagte Joan und hielt seinen Blick unverwandt auf sie gerichtet: »es ist mehr als hübsch.«

»Der Direktor wird es wissen,« sagte Frau Jespersen und sie fragte ihn danach. Der Direktor meinte, daß es nicht so leicht zu erklären sei …

»Aber das Wort ›hold‹ trifft man meistens in alten Weisen …«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte Frau Jespersen.

»Hold,« fuhr der Direktor fort, »ist ein gutes nordisches Wort vom Weibe.« Und er zitierte viele Verse mit »hold«.

»Aber wie kommen Sie darauf?« wiederholte Frau Jespersen lachend.

»Ich hab es aus einem alten Lied,« sagte Joan und seine Augen ruhten noch immer auf Gerda. »Ich kenne viele alte Lieder, die meine Mutter gesungen hat – und Ane.«

Plötzlich lächelte Gerda:

»Josse,« sagte sie und wollte aufblicken und tat es nicht, »wie hübsch das klingt …«

Der Direktor hatte einen großen Vorrat von »hold«, so daß es war, als ob seine Verse die ganze Gesellschaft mit einem Ring umschlossen. Plötzlich schob der Herr, den Frau Jespersen »Mephisto« genannt hatte, seinen Kopf vor und sagte:

»Auf französisch, Graf Ujhazy, gibt es ein gleichwertiges Wort: c'est charmant

Es war, als ob das französische Wort Joan geweckt habe.

» Oui, monsieur« sagte er und lächelte von neuem:

» La charmante – charmante c'est ça

Der Uhrmacher aber, der nicht so sprachkundig war, hob sein Glas:

»Was meinst du zu dieser Traube, Lorentzen, he? Und du, Doktor …?« »Tja,« fuhr er zu Joan gewandt fort, »hier duzen wir uns allesamt, Herr Konzertgeber, wie in einer großen Familie. Denn die meisten von uns haben das Nest hier als kahles Feld gekannt … Hier stand vor neunzehn Jahren nicht viel mehr als deine Baracke – was, Johansen, und die war nur winzig.«

»Aber wir haben uns auch keine Mühe verdrießen lassen, prost, Frau Lorentzen …«

»Wie lange steht die Spinnerei eigentlich?« sagte Lorentzen.

»Ich denke, fünfzehn Jahre,« sagte seine Frau.

»Stimmt,« sagte der Tabakhändler, »fünfzehn Jahre, denn sie wurde in dem Jahre errichtet, als deine Frau starb, Johansen … damals standen hier nur neun Häuser, außer dem Wirtshaus und der Meierei.«

»So früh ist Ihnen die Mutter gestorben?« sagte Joan.

»Ja«

»Als Sie sieben Jahre alt waren.«

»Ja, sieben Jahre.«

»Dann bekam die Sache aber Schwung – Häuser flogen nur so aus der Erde – nee, dessen können Sie sich nicht erinnern, Petersen, denn Sie sind ja wie 'n neugeborenes Kind hier am Ort …«

Der Doktor sagte, daß er seit neun Jahren hier wohne, damals aber sei schon eine Straße dagewesen …

»Aber die Hochschule ist doch schon länger hier, nicht wahr?« sagte die Doktorsfrau und senkte ihren gemalten Fächer vor dem Direktor.

»Ja, die Hochschule hat immer hier an der schleswigschen Grenze gestanden.«

»Wie lange ist der Geschäftsführer hier?« fragte Joan.

»Ich glaube – zwei Jahre,« sagte Gerda.

»Eine Straße war hier,« lachte der Uhrmacher, »aber weißt du noch, wie sie aussah, Lorentzen?«

Alle lachten beim Gedanken an die Straße.

»Ja, die war schlimm,« sagte Lorentzen.

»Sie ist noch schlimm,« sagte Johansen an seinem Tischende.

»Das unterschreib ich,« sagte der Tabakhändler, »und bist doch der Vorsitzende im Gemeinderat.«

Alle sprachen von Häusern, die gebaut, von Grundbesitzen, die erworben worden waren, von Leuten, die sich angesiedelt hatten.

»Ja,« sagte Frau Lorentzen zu Joan, »wir fingen mit sieben Arbeitern an.«

»Und jetzt beschäftigen wir ein und ein halbes Hundert,« sagte ihr Mann.

Man fuhr fort – und doch bedächtig – von der Apotheke, dem Telephongebäude und der technischen Schule zu sprechen.

»Jetzt geht die Unterhaltung wie geschmiert,« sagte der Tabakhändler und lachte.

»Aber etwas vom Schönsten ist der Kirchhof,« sagte der Uhrmacher. »Als der angelegt wurde, hatte ich aber auch im Gemeinderat was zu sagen …«

»Ja,« sagte Johansen und hob seinen Blick, »das hattest du.«

»Prost, Petersen,« sagte der Tabakhändler, »haben Sie Ihren Mund verloren?«

Die Unterhaltung floß lebhaft. Frau Jespersen wandte ihr Gesicht Joan zu:

»Ach ja, schön wars, wie wir als junge Eheleute hierherkamen und so mitten drin lebten, wo gehämmert und gemauert und gegraben und gebaut wurde. Des Morgens zu erwachen und zu sehen, wie Mauersteine auf Mauersteine gefügt wurden in roten Reihen … Jeden Morgen das Fenster zu öffnen und die klingende Maurerkelle zu hören. Wissen Sie, ich finde, es gibt in der ganzen Welt keinen schöneren Laut als den kleinen hastigen Laut der Maurerkelle … Finden Sie nicht auch, es ist, als klänge alles heraus, was entstehen soll …«

Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann mit veränderter Stimme fort:

»Mein Mann und ich haben manchen Morgen am Fenster gestanden – denn wir haben solch herrliches Fenster im Giebel, obgleich es nach Norden liegt – und haben zugesehen, wie genagelt und gekleistert und gehämmert wurde – mitten in der Sonne. Und wissen Sie was, das Schönste waren doch die grünen Flecke in der Ferne, die mitten zwischen dem Heidekraut grünten. – Ach ja,« schloß sie, »es war dennoch eine gesegnete Zeit.«

»Dennoch?« fragte Joan.

Frau Jespersens Gesichtsausdruck hatte sich verändert.

»Ja, dennoch,« wiederholte sie.

Plötzlich aber lachte die Pastorsfrau wieder:

»Aber alles das können Sie natürlich nicht nachempfinden,« sagte sie.

»Doch,« sagte Joan still. »Es ist ja das Vaterland meiner Mutter.«

»Und Sie kennen den Grafen auf Höjerup?« fuhr Frau Jespersen fort.

»Woher wissen Sie das?« sagte Joan und lachte.

»Er hat Sie ja besucht. Wozu hat man denn sein Telephon …?«

Es wurde immer lauter von Gemeinderat und Banken und Sparkassen gesprochen. Jetzt gab es deren drei am Ort.

Joan aber sagte still und beugte sich zu Fräulein Gerda:

»Und in all diesem haben Sie gelebt?«

»Ja.«

»Ihr Leben gelebt,« sagte Joan.

Frau Jespersen aber, die es gehört hatte, sagte:

»Ach, Gerda hat darin gelebt und auch wieder nicht. Ich finde, du bist teils dabei und teils nicht dabei. Es ist immer, als ob etwas von dir abseits lebte …«

»Ich weiß nicht,« sagte Gerda, »aber ich finde, daß das, was man sieht, nie so merkwürdig ist wie …«

»Wie was?« lachte Frau Jespersen.

»Wie das, was man sich denkt,« sagte Gerda.

»Das ist wahr,« sagte Joan.

»Ja, Kinder, das mag sein, denn es gibt wohl nur ein merkwürdig Ding in dieser Welt,« sagte Frau Jespersen.

»Und was ist das?« fragte Joan und lächelte.

»Wenn zwei sich liebhaben,« sagte Frau Jespersen und sie leerte plötzlich ihr Rotweinglas, als tränke sie auf jemandes Wohl.

»Sie sollten sich setzen, Fräulein Johansen,« wandte sie sich an die Tante, die noch immer hin- und herging – wie in einer ererbten Unruhe aus der Zeit, als die Frauenzimmer nicht mit bei Tisch saßen.

»Sie sind eine Lebensphilosophin, Frau Pastor,« sagte Joan.

Frau Jespersen antwortete:

»Ja, nicht wahr? wer seßhaft ist, hat Zeit zum leben.«

»Ja,« sagte Joan.

»Henrik sagt immer,« fuhr Frau Jespersen fort und sie fing wieder an zu essen, »wenn man immer herumläuft, läuft man dem Glück davon … und sich selbst auch,« fügte sie mit vollen Backen hinzu.

»Was meinen Sie dazu, Fräulein Gerda?« fragte Joan.

Frau Jespersen aber lachte:

»Ach, Gerda, die läuft nicht … die hat nur Lust zum Laufen … Wenn sie zum Beispiel in unserm Verein Theater spielen soll. Sie hat drei Rollen gehabt …«

»Nein, laß doch,« sagte Gerda.

»Um die sie selbst gebeten hatte,« fuhr Frau Jespersen fort, »und sie hat keine davon gespielt.«

»Aber weshalb denn nicht?« fragte Joan.

»Wenn die Proben kamen – – hatte ich keinen Mut,« sagte Gerda.

»Ja,« sagte Frau Jespersen, »so ist ihr Charakter … und darum wird sie auch nie heiraten …«

»Nicht?« Das leise Wort war Joans Lippen entschlüpft.

Man sprach noch von dem neuen Turnergebäude, wo ein Schauturnen stattgefunden hatte, und von den Versuchsäckern der landwirtschaftlichen Schule und wieder von der Spinnerei – als Frau Lorentzen sagte:

»Wir Freunde aber kennen den Keim und den Kern, denn schließlich hat sich unsere Stadt doch nur um die Hochschule herumgebildet.«

Und plötzlich sprach alles von der Hochschule und das Gespräch schlug über dem Direktor zusammen, der vielleicht im stillen auf seine Zeit gewartet hatte, jetzt aber nur mit einem Nicken über seiner weißen und breiten Brust sagte:

»Der Herr Graf wird unsere Schule wohl kaum kennen?«

Joan aber sagte, daß diese Hochschule doch in ganz Europa bekannt sei.

»Man kann vielleicht sagen, in der ganzen Welt,« sagte der Direktor, »ja, Gott sei Dank, wir haben viele Freunde, und unsere größte Freude ist zu sehen, wie sie unser Werk fortsetzen.«

Und er sprach von dem verstümmelten Finnland, das ihnen viele Lehrlinge geschickt hätte.

Er sprach sehr schlicht (aber dennoch schwiegen alle) und er erzählte Joan (vielleicht mit einem kleinen Lächeln, als unterrichte er einen sehr Unwissenden), daß besonders im Sommer, wenn die Kurse für Knaben und Mädchen abwechselten, sowohl aus Holland wie aus England Schüler kämen.

»Vor zehn Jahren kam sogar ein Inder.«

»Ja,« sagte der Direktor mit demselben Lächeln, »er hatte bis nach Indien von unserem Unternehmen gehört.«

»Die Inder,« sagte Joan, »hören mehr als man glaubt. Ich habe einst einen Inder zum Freund gehabt.«

»Wirklich?« sagte Gerda, die ihren Kopf gewandt hatte.

»Ja, als ich eine Schule in Paris besuchte.«

Gerda saß einen Augenblick nachdenklich.

»An wieviel verschiedenen Orten Sie gelebt haben!« sagte sie.

»Es war merkwürdig,« fuhr der Direktor fort, während alles schwieg, obgleich man dasselbe vielleicht schon häufiger gehört hatte, »es war merkwürdig, wie genau er alles wissen wollte und wie leicht er verstand … fremde Sprachen gehören ja nicht zu unserem Fach … aber es ging doch ganz gut und machte uns Freude … Und selbst unser Slöjd interessierte ihn.«

»Slöjd?« sagte Joan, »was ist das?«

Er hatte eigentlich Gerda gefragt. Frau Jespersen aber antwortete:

»Slöjd, das sind Holzschnitzarbeiten.«

»Wieviel die Leute hier lernen,« sagte Joan.

»Ja,« sagte der Direktor und nickte, »wir möchten gern so weit kommen, wie wir nur irgend können – man kann das Vaterland ja auf so mancherlei Weise fördern.

Das Wichtigste aber ist, die Herzen zu öffnen.«

Frau Doktor Raabel fragte den Direktor nach der Webschule und der Vorsteher antwortete breit und bedächtig:

»Die Webschule ist bis jetzt erst ein Pfad, ein kleiner Pfad. Die jungen Mädchen aber haben viel Nutzen vom Weben. Sie weben ihre Aussteuer, sie weben ihre Brautleinen – sie weben ihr Heim. Der Webstuhl ist vielleicht dazu ausersehen, den heimatlichen Herd von neuem zu errichten …«

Joan hatte in Gedanken seinen Kopf auf die Hand gestützt, als er plötzlich zusammenfuhr: der Geschäftsführer hatte flüsternd aber scharf über den Tisch hinübergesagt:

»Fräulein, Ihr Vater.«

»Ja,« sagte Fräulein Gerda hastig und sah zum Vater hin, der ihr einen Wink mit den Augen gab.

»Ach ja, ich vergesse meine Gäste ganz,« flüsterte sie.

»Ja, das tust du,« sagte Frau Jespersen, »und das ist doch sonst nicht deine Art.«

»Nein,« sagte Gerda ganz verwirrt.

Joan aber sagte, während der Direktor weitersprach:

»Der Geschäftsführer gibt auf Sie acht, Fräulein Gerda.«

»O … nein …«

»O, ja.«

»Ist er liebenswürdig?« fragte Joan.

»Er ist tüchtig,« sagte Gerda und blickte auf ihren Teller. Und plötzlich fügte sie eifrig hinzu:

»Ach, ich wünschte so sehr, daß er Vaters Kompagnon würde.«

»Weshalb?«

»Dann würde Vater etwas mehr entlastet – – und dann könnten wir leichter fortkommen und reisen …«

»Und Berge sehen,« sagte Joan.

»Ja,« und Gerda lächelte, »und Ungarn.«

»Und die Treppe der Pariser Oper,« lachte Joan.

Gerda sah ihn an und verstand:

»Diese Bilder verschafft der Buchhändler mir, wenn ich in Veile bin.«

Die andern sprachen noch von der Webschule. Der Direktor sagte – mit einer Handbewegung zu Herrn und Frau Lorentzen hinüber –:

»Aber wir gehen auch Hand in Hand mit den Freunden von der Spinnerei.«

Und er sprach von den Zeichenstuben in der Spinnerei und von den künstlerischen Kräften, die Fabrikant Lorentzen für die Musterzeichnung engagiert habe – während Doktor Raabel lächelnd nach dem Befinden einiger Arbeiterinnen fragte und Lorentzen antwortete, indem er gleichzeitig von einigen neuen Arbeiterwohnungen sprach.

»Und diese Bilder aus Veile betrachten Sie häufig?« sagte Joan.

»Ja, oft, bevor es dunkel wird.«

»Das hab ich auch getan,« sagte Joan, »zu Hause.«

Sie schwiegen beide und hörten doch kaum, was die anderen sagten.

»Ist Ihr Haus groß?« fragte Gerda und sah vor sich hin.

»Ja, sehr groß.«

»Mit Türmen?«

»Nein, ohne Türme. Aber vier Säulen stehen vor der Tür. Vier weiße Säulen.«

Gerda nickte:

»O, Säulen sind hübsch.«

»Und wenn ich nun nach Haus komme, bin ich ganz allein in dem großen Haus.«

Gerda lächelte mit einem Lächeln, das verlöschte und nur zu einem Schatten auf ihrem Gesicht zu werden schien:

»Allein mit Ane.«

»Ja, mit Ane.«

Frau Jespersen, die bis zu den eingemachten Früchten gekommen war, die sie vergnügt genoß, sagte:

»Gerda, dies ist das einzige Haus in der ganzen Gemeinde, wo man was Ordentliches zu essen bekommt. An anderen Orten muß man sich mehr mit geistigen Genüssen begnügen.«

Und sie fügte hinzu, zum Reisen zurückkehrend, denn das Spätere hatte sie nicht gehört:

»Ja, Gerda möchte gern reisen. Als wir aber kürzlich mit dem Nachtzug zusammen nach Veile reisten und zu der Station kamen, wo umgestiegen werden mußte, kam sie uns in dem bißchen Gedränge abhanden, und als wir sie wiederfanden, zitterte sie vor Aufregung.«

»Prost, mein Kind,« sagte Frau Jespersen und spülte die eingemachten Früchte hinunter.

Die anderen sprachen noch von der Spinnerei und der Uhrmacher sagte:

»Ist ein herzerfreuender Anblick, die Rangen deiner Arbeiter zu sehen, Lorentzen. He, Doktor, das wär 'ne bequeme Krankenkasse für Sie … Prost, Doktor! Donnerwetter, was haben Sie für feine Knöpfe in Ihrem Vorhemd …«

»Ja, nicht wahr?« sagte der Doktor und schob seine Brust vor, die mit zwei Porzellanköpfen, auf denen gemalte Vergißmeinnicht prangten, geschmückt war:

»Das ist das Werk der Gnädigen – –.«

»Tja, auf Malerei verstehen Sie sich, Frau Doktor,« sagte der Tabakhändler. »Was für Bilder bekommen wir denn im Frühjahr in den Kunstverein?«

Frau Raabel wußte es noch nicht. Sie hoffte aber etwas »Modernes« schaffen zu können.

Frau Jespersen wandte sich an Joan:

»Woran denken Sie?« sagte sie, als gäbe sie ihm damit einen Puff in den Rücken.

»Denken?« sagte Joan, »ich höre zu und denke an mein Heim.«

»Ach,« sagte Frau Jespersen, »ich kenne von Ungarn nur Maurus Jokai und einen Czardas …«

»Ungarn ist nicht mein Vaterland,« sagte Joan, »mein Vaterland ist nur eine Insel.«

»Eine Insel?« sagte Frau Jespersen, »was für eine Insel? Das klingt wie in einem Märchen.«

»Ja,« sagte Joan und sprach leiser, »das Märchen von den Verfluchten.«

Gerda wiederholte:

»Von den Verfluchten?«

»Es ist eine serbische Sage,« sagte Joan und sah mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin, »von einer verzauberten Insel, auf der keine Frauen leben, obgleich alle Männer sich in Sehnsucht verzehren.«

»Weshalb holen sie sich denn keine Frauen?« sagte Frau Jespersen und lachte.

»Das können sie nicht, gnädige Frau,« sagte Joan, »das Weib soll zu ihnen kommen, aber sie werden von den sieben Todsünden bewacht.«

»Schließlich aber kommt doch ein Weib?« fragte Frau Jespersen.

»Ja,« sagte Joan, »wenn ein Weib einen Mann lieben kann, der stumm und blind ist und keine Ohren hat – dann ist die Verzauberung gehoben.«

»Das kann ein Weib,« sagte die Frau des Pastors plötzlich ernst.

Sie schwiegen eine Weile.

»Wo liegt Ihre Insel?« fragte Gerda.

»In der Donau,« sagte Joan und mit veränderter Stimme fügte er hinzu: »Aber auf der Landkarte ist sie nicht zu finden.«

Und er erzählte, in langsamen Sätzen, daß sie auf der Grenze von vielen verschiedenen Ländern läge. Und er erzählte vom Schloß und vom Weinberg, wo die Veilchen im Frühling blühten, von der Mühle an der äußersten Spitze. Und von den Unglücklichen, die vom Gesetz ihres Landes vertrieben worden und die dort Zuflucht gesucht hätten.

Joan fuhr fort zu erzählen, als spräche er mit sich selbst, oder als wüßte er nicht, daß ein anderer zuhörte.

»Und diese Insel gehört Ihrem Geschlecht?« fragte Frau Jespersen.

»Ja,« sagte Joan: »sie ist seit sechshundert Jahren in unserem Besitz.«

»Und dorthin folgte Ihre Mutter Ihrem Vater – aus Veile.«

»Ja.«

Frau Jespersen saß eine Weile nachdenklich. Dann sagte sie:

»Wie müßten zwei Menschen auf Ihrer Insel glücklich werden können.«

Erstaunt, wie bei einem neuen Gedanken, schlug Joan die Augen auf:

»Glücklich?«

Und gleich darauf fügte er hinzu:

»Ja, das ist wahr.«

Gerda hatte nichts gesagt. Die Wimpern ihrer Augenlider aber zitterten wie bei jemand, der ins Licht sieht oder der im Begriff ist, in Tränen auszubrechen.

Von wechselnden Stimmungen hin- und hergeworfen, heftiger als er es bisher in seinem Leben gekannt hatte – und ohne daß er selbst recht wußte, wie und weshalb – erzählte Joan von neuem von seinem Heim, schroffer und kürzer:

Von den Sprachen, die sich alle miteinander vermischten, und vom Haß, der hin und wieder ausbrach und zu Schlägereien zwischen den Verbannten führte. Und wie man den Boden plünderte, der niemandes Heimat war und den alle verfluchten.

»Hu,« sagte Frau Jespersen: »Sie schrecken uns ja mit Ihrer Insel.«

Joan aber, der eine Weile geschwiegen hatte, sagte:

»Können Sie meine Gefühle nicht verstehen … seit ich Mutters freundliches Vaterland kennen gelernt habe …«

»Doch, doch,« sagte die Frau des Pastors.

Und Joan, der wieder in einem anderen Ton sprach, sagte mit einem Lächeln:

» Hier könnten Menschen glücklich werden, Frau Pastor.«

»Das ist wahr,« sagte der Direktor, der nur halb gehört hatte: »in diesem Lande könnten alle glücklich sein.«

»Aber,« fuhr er fort: »die von der schleswigschen Grenze sind die Wache unserer Kraft.«

Er beugte sich zu den beiden Männern in den hochschließenden schwarzen Röcken und zu den Frauen, am Tischende, die keine Miene verzogen.

Alles hatte einen Augenblick geschwiegen, als Fabrikant Lorentzen von einer Ausweisung aus Schleswig zu erzählen begann, und die beiden Männer antworteten langsam, mit seltsam eintönigen Stimmen, als läsen sie die Worte von einem Buch ab.

Joan hatte sich vorgebeugt und betrachtete die veränderten Gesichter längs der Tafel:

»Wer sind die?« fragte er.

Und Fräulein Gerda antwortete und ihre Stimme hatte einen anderen Klang:

»Das sind die Schleswiger.«

Frau Jespersen fügte hinzu und sprach mit ganz verschleierter Stimme:

»Es sind viele gekommen. Und sie werden nun gewiß von den Gendarmen an der Grenze aufgeschrieben.«

Joan sagte – und er wußte selbst nicht, daß seine Stimme wie die der anderen klang –:

»Meine Mutter und Ane sprachen häufig vom Krieg – sie waren damals Kinder, aber sie erinnerten sich noch genau daran.«

Joan betrachtete wieder die Gesichter der Schleswiger.

»Wie sie sich sehnen müssen!« sagte er.

»Weshalb?« fragte Frau Jespersen.

»Weil,« sagte Joan (und Frau Jespersen verstand ihn nicht): »weil sie ein Vaterland haben und auf ewig davon getrennt sind.«

Als ob nur das eine Wort »sehnen« sie erreicht hätte, sagte Gerda und sah Joan dabei nicht an:

»Hat Ihre Mutter sich sehr gesehnt?«

»Ja,« sagte Joan: »sie sehnte sich sehr.«

Und sie versanken beide in Nachdenken, so daß der Direktor seine Frage wiederholen mußte:

»Unsere Umgebung bekommen Sie nun nicht zu sehen, Herr Graf.«

Das zweite Mal hörte Joan es und antwortete mit einer sehr hellen Stimme:

»Doch, Herr Direktor, wenn ich wiederkomme.«

Gerda hatte plötzlich beide Hände fast bis zur Gesichtshöhe erhoben, während Frau Jespersen ausrief:

»O, ja, kommen Sie im Sommer wieder! Dann ist es hier herrlich.«

Und der Direktor sagte:

»Ja, Sie müßten das Land Ihrer Mutter im Sommer sehen!«

Alle griffen den Gedanken auf und redeten Joan zu und luden ihn ein – nur Kaufmann Johansen fuhr fort, mit den beiden Frauen an seinem Tischende von den Ausweisungen zu sprechen. Sie saßen in ihren schwarzen Seidentaillen so flachbrüstig da, als seien auch sie zu Männern eingetrocknet.

»Freilich, freilich, müssen Sie wiederkommen,« rief der Uhrmacher: »wir wollen Sie gut aufnehmen.«

»Und in der Fabrik sind Gastzimmer,« sagte Frau Raabel und beugte sich einschmeichelnd zu Frau Lorentzen hinüber.

»Ja, wir haben Hausraum und Herzensraum,« sagte Frau Lorentzen und nickte ihr zu.

Alle sprachen vom Sommer und von Ausflügen.

»Das Schönste aber ist, auf dem Berg zu stehen, wenn die Sonne untergeht,« sagte Frau Jespersen.

Joan hatte gelächelt:

»Und wo finden Sie es am schönsten im Sommer?« fragte er Gerda.

»Ich,« sagte Gerda (und vielleicht hatte sie nicht viel von dem gehört, was ringsherum gesprochen wurde …) »ich … ich finde es am schönsten, wenn die Nebel steigen.«

Und kurz darauf fügte sie hinzu:

»Dabei kann man an so mancherlei denken … oder man denkt gar nicht.«

Die Unterhaltung schien einen Augenblick ins Stocken zu geraten, als der Uhrmacher sein Glas hob:

»Kinder,« sagte er und sein ganzer kugelrunder Kopf schwitzte: »ein Wohl will ich doch noch ausbringen. Wir wollen Karen Post einen Erinnerungsbecher weihen. Ehre sei ihrem Andenken.«

»Ja,« sagte der Zwillingsbruder: »Ehre sei ihrem Andenken.«

Die beiden Brüder leerten ihre Gläser und die anderen folgten ihrem Beispiel, während es einen Augenblick ganz still im Zimmer wurde.

»Sie war zäh und treu,« sagte der Tabakhändler.

»Zu ihr ging man, wenn man was auf dem Herzen hatte,« sagte der Uhrmacher und nickte Gerda zu.

»Ja,« sagte Gerda still.

»Wer ist Karen Post?« fragte Joan, der sie angesehen hatte.

»Das ist ja meine Urgroßmutter.«

»Ich erinnere mich noch genau des letzten Abends, als sie lebte,« sagte der Uhrmacher. »Ich kam in den Laden, als sie gerade Kasse gemacht und ihr Talglicht angezündet hatte, denn sie mußte ja immer bei ihrem Talglicht zu Bett gehen.

Na, Karen Post, sag ich, Sie halten bis zuletzt aus. Ja, Jörgen Larsen, sagt sie, man muß auf seinen Beinen stehen, bis man umfällt. – Und dann ging sie mit ihrem Pfenniglicht in ihr Zimmer … Und am nächsten Morgen war sie tot. Ein beneidenswertes Ende,« sagte der Uhrmacher.

»Sie wars, die das Geschäft gegründet hat,« schloß er.

Es war noch immer still. Nur der Doktor sagte einige Worte, als Kaufmann Johansen sich erhob:

»Ich wünsche gesegnete Mahlzeit,« sagte er.

Indem Gerda aufstand, sah sie zu Joan auf und sagte – und es klang, als habe sie die ganze Zeit nur daran gedacht –:

»Wie schön muß es sein, Ihre Insel zu besitzen …«

»Besitzen, warum?«

Gerda lächelte:

»Dort kann man gewiß alle Menschen glücklich machen.«

»Glücklich machen?«

Joan hatte seinen Kopf vorgebeugt und es war, als ob alle Lichter der Tafel sein Gesicht überstrahlten.

 

Gesegnete Mahlzeit,« sagte Frau Pastor Jespersen an der Tür zu Joan und reichte ihm die Hand.

»Gesegnete Mahlzeit,« wiederholte Joan und sah ihre Hand nicht. Alle wünschten sich gegenseitig gesegnete Mahlzeit und schüttelten sich die Hände.

»Gesegnete Mahlzeit, Herr Graf,« sagte der Uhrmacher.

»Gesegnete Mahlzeit,« sagte Joan, ohne es selbst zu hören.

»Das ist hier so Sitte,« sagte Frau Raabel, die sich auch zu Joan durchgedrängt hatte.

»Gesegnete Mahlzeit,« sagte Joan noch immer mit demselben Glanz in den Augen.

Frau Doktor Raabel hatte bereits zu sprechen angefangen, wie jemand, der endlich zu Wort kommt: von der Ehre, die einem so kleinen Ort durch sein Konzert zu Teil würde, und ihre Freude, daß er Mendelssohn spielen wolle. »Die Musik des Glücks,« hätte der Kapellmusikus Green gesagt.

Joan fing an zu lachen, übermütig, fast unverschämt, wie ein Zwanzigjähriger:

»Wußte er denn, was Glück war?« sagte er, mit beiden Daumen in den Westentaschen.

Frau Raabel stimmte, etwas verwirrt, in sein Gelächter ein, während der Uhrmacher, der Joans Lachen gehört hatte, hinzutrat:

»Gesegnete Mahlzeit, Herr Konzertgeber,« sagte er und faßte mit seinen beiden Fäusten Joans Hände: »Sie sind 'n prächtiger Mensch.«

»Sie auch,« sagte Joan und behielt des Uhrmachers schwitzende Hände in den seinen.

»Darauf wollen wir eines trinken,« sagte der Uhrmacher.

»Aber ich soll ja spielen, Herr Larsen,« sagte Joan, der all die fremden Namen behielt, wie einer, dessen Gehirn plötzlich Außergewöhnliches leisten kann.

»Nur ein Gläschen,« sagte Larsen und schenkte zwei kleine Gläser voll: »Das ist Johansens Bester, hier ist man an der Quelle, will ich Ihnen sagen. – Prost, Herr Konzertgeber … Halloh, Geschäftsführer, Sie können bezeugen … Na, er hört nicht. Also prost, Herr Konzertgeber.«

»Prost, Herr Larsen.«

Herr Larsen trank sein Glas aus. Ringsherum wurde gesprochen und getrunken und gelacht. Der Doktor, der ein Tausendkünstler war, jonglierte mit zwei Likörflaschen.

»Verlieren Sie sie nicht, verlieren Sie sie nicht,« rief Gerda, deren Gesicht strahlte.

Die Zigarren waren angesteckt worden und der Rauch lag bereits wie ein leichter Dunst im Zimmer.

»Verlieren Sie sie nicht, verlieren Sie sie nicht.«

Der andere Zwilling schlug Joan von hinten auf die Schulter:

»Ja, ja, Herr Konzertgeber, hier kann man Frohsinn lernen.«

»Ja,« sagte Joan und lachte wieder, als müsse er beständig lachen.

»Da haben Sie recht, Larsen,« rief der Doktor, der die Flasche unter seinem Arm hindurchschwang und auf der Schulter wieder auffing: »und warum? Weil wir schuldlosen Herzens sind.«

Joan hatte Gerda angesehen:

»Verlieren Sie sie nicht,« rief auch er unwillkürlich.

Und er und Fräulein Gerda mußten auf einmal beide über die Likörflasche lachen, die noch immer flog. Da berührte eine Hand Joans Arm und Frau Jespersen sagte, indem sie einen schlanken Herrn mit bartlosem Gesicht vorstellte:

»Das ist mein Mann.«

»So sind Sie also doch gekommen, Herr Pastor.«

»Ja, ich hab es noch erreicht – ich wollte meine Frau gern begleiten,« sagte der Pastor.

Und zu seiner Frau sagte er:

»Du, sie ist ganz still und friedlich eingeschlafen.«

Gerda trat hinzu:

»Sie müssen etwas essen, Herr Pastor.«

»Sie ist tot,« sagte Frau Jespersen.

»So?« sagte Gerda – aber dasselbe strahlende Lächeln lag noch immer auf ihrem Gesicht –: »Ach, sie war so gut und so nett. Sie dachte immer an andere.«

»Ja, sie hat viel von Ihnen gehalten,« sagte der Pastor.

»Ach, Gott, ja,« sagte Frau Jespersen, »wenn man bei ihr zum Kaffee war und sie endlich auf ihrem Fensterplatz zur Ruhe gekommen war, begann sie immer:

Gerda ist ein Engelchen, nicht, liebe Frau Pastor … aber wir müßten dafür sorgen, daß sie bald einen Mann bekommt.«

»Ebenso wie Ane,« sagte Joan.

»Ane?« fragte Pastor Jespersen.

»Das ist mein Kindermädchen.«

Ringsherum wurde gesprochen und gelacht. Der Uhrmacher ging von Gruppe zu Gruppe und stieß mit allen an:

»Ein prächtiger Mensch, nicht?« sagte er und nickte jedem zu.

»Prost, Lorentzen.«

Und er ging weiter.

Der Lärm schlug über sie zusammen, während Frau Jespersen zu Joan sagte:

»Will Ane Sie auch verheiraten?«

Gerda war einige Schritte gegangen, als aber der Pastor stehen blieb, blieb sie auch stehen.

Joan sagte und es war, als ob seine Stimme im Schutz des Lärmes einen eigenen Klang bekam: »Jedesmal wenn ich nach Haus komme und sie mich in Orsowa empfängt, sieht sie mich an und hält mir ihr großes, taubes Ohr hin und dann rufe ich hinein, denn ich weiß, was sie wissen will –: »Nein, gute Ane« … »Ach Gott,« seufzt Ane dann, »ach Gott« …«

»Arme Ane,« sagte Frau Jespersen.

»Ja, arme Ane!« … und Joan lachte plötzlich leise.

Der Pastor lachte auch, ohne zu wissen weshalb.

Gerda aber sagte und nahm seine Hand:

»Herr Pastor, erst müssen Sie etwas essen …«

»Ja, Hunger hab ich,« sagte der Pastor: »was haben Sie für kalte Hände.«

»Ach, nein, gar nicht.«

Frau Jespersen aber, die ihnen mit Joan folgte, sagte:

»Gerda wird immer ganz kalt, wenn sie sich freut.«

Der Uhrmacherzwilling war noch immer auf seiner Runde begriffen. Er blieb jetzt vor dem Geschäftsführer stehen und nickte ihm zu, indem er mit derselben Überzeugung sagte:

»Prost, Geschäftsführer. Wissen Sie, er ist ein prächtiger Mensch.«

Frau Jespersen und Joan waren an der Tür zum Eßzimmer stehen geblieben. An einer Ecke des Tisches war für den Pastor gedeckt worden. Es mußte schnell gehen, und Gerda, die neben ihm stand, strich das Butterbrot, während der Pastor aß.

Die Tante reichte schweigend und knochig alle Schüsseln auf einmal.

Joan stand gegen den Türpfosten gelehnt und betrachtete den essenden Pastor. Gerdas Hände eilten so vertraut über das weiße Tischtuch. Frau Jespersen fragte ihren Mann nach der Beerdigung:

»Wann soll sie wohl sein?«

»Ich denke Montag,« sagte der Pastor.

»Nein, du, sicher schon Sonntag. Denn ihre Familie aus Kolding kann doch am besten an einem Sonntag kommen.«

»Danke, Fräulein, danke,« sagte Pastor Jespersen zur Tante, die ihn wieder mit Schüsseln belagerte.

»Wie Leben und Tod hier gut Freund miteinander sind,« sagte Joan zur Pastorin, ohne seine Augen von der Gruppe am Tisch zu verwenden.

Frau Jespersens Gesicht wurde mit einem Schlage ernst:

»Ist das nicht auch das Ziel?«

»Gewiß,« sagte Joan und sie schwiegen.

»Nein, nein, Herr Pastor, vom Filet müssen Sie kosten – das ist aus Kolding.«

»Ja, Henrik« – und Frau Jespersen lachte wieder – »die Gerichte sind aus allen Himmelsgegenden …«

»Ach nein …« sagte Gerda.

»Doch, mein Engel. Gott, was hattest du für Angst. Ich hab ihr aber gleich gesagt« – und sie wandte sich zu Joan –: »wenn er nichts essen will, dann muß er es bleiben lassen.«

»Haben Sie Angst vor mir gehabt?«

»Ja,« sagte Gerda, und sie fügte leise und hastig hinzu: »Und Sie haben auch fast nichts gegessen.«

»Jetzt bin ich aber hungrig,« sagte Joan und ließ sich auf einen Stuhl am Tisch nieder.

»Wirklich« – und Gerdas Gesicht strahlte – »darf ich Ihnen ein Butterbrot streichen?«

»Ja, danke.«

Gerda lachte:

»Das ist schön … womit soll ich es belegen?«

»Womit Sie wollen.«

Sie lachten alle beide, während Gerda Butterbrote strich – abwechselnd für Pastor Jespersen und für Joan.

»Nun amüsiert Gerda sich,« sagte Frau Jespersen.

»Ja,« sagte Gerda und reichte Joan ein Stück auf ihrem Messer.

»Dies ist fast ebenso schön, wie in der Küche zu essen, nicht?« lachte Frau Jespersen.

»Ja,« sagte Gerda, und sie fügte erklärend hinzu: »ich mag nämlich so schrecklich gern in der Küche essen.«

»Ich auch,« sagte Joan: »denn ich durfte es als Kind nie. Aber ich lief doch immer zu den beiden Köchen hinaus.«

»Köche?« wiederholte Gerda, als sei das etwas Sonderbares.

»Ja, wir hatten zwei,« sagte Joan, während er aß: »zwei Rumänen.«

»Rumänen sollen so schön sein,« sagte Frau Jespersen.

»Liebes Kind,« fuhr sie fort: »ich bekomm wieder Appetit, wenn ich die anderen essen sehe.«

Und Frau Jespersen begann mit Eifer für sich selbst zu streichen.

»Ihre Sprache soll fast wie lateinisch sein,« sagte der Pastor, der von den Rumänen sprach.

»Ja, sehr ähnlich.«

»Wie viel Sprachen Sie kennen,« sagte Gerda und ihre Stimme klang ebenso erstaunt wie vorhin.

»Viele und keine.«

Frau Jespersen, die Filet aufs Brot legte und Tomaten wieder aufs Filet, sagte:

»Sie haben schon Fortschritte im Dänischen gemacht.«

»Finden Sie?« sagte Joan und blickte lächelnd über den Tisch:

»Wir müßten jetzt die Lichter auslöschen und nur im Lampenlicht sitzen bleiben.«

»Ja,« sagte Gerda: »das tun wir.«

Und sie und Joan liefen um den Tisch und pusteten alle Lichter aus.

»Puh, puh, puh,« mit tiefen Atemzügen in jede Flamme.

»Was wird Vater denken?« sagte Gerda plötzlich und hielt vor dem vorletzten Licht inne.

»Und der Geschäftsführer?« sagte Frau Jespersen.

»Die werden denken, daß wir vergnügt sind,« erklärte Joan, der bereits wieder am Tisch saß.

»Ja,« sagte Gerda, indem sie eine Bewegung mit ihren Lippen machte, als bliese sie eine Seifenblase.

Durch die Tür ertönten die Stimmen der Gesellschaft. Die der Zwillinge waren am lautesten.

Joan ließ seine Augen über den Tisch schweifen, wo der weiße Lichtkreis der Lampe mit weißen Damaststernen leuchtete:

»So müßte Ane uns sehen!«

Ein Stuhl wurde an Joans Seite gerückt – und Graf Holstein, dessen Kommen alle überhört hatten, setzte sich mit einem Bums darauf nieder.

»Hier ists gemütlich, du,« sagte er.

»Erich.«

»Guten Abend, Fräulein Johansen. Guten Abend, Herr Pastor« – und Frau Jespersen zunickend, sagte er: »Ja, ich bin diesen Weg gekommen. Im Zimmer war mir das Gedränge zu groß.«

»Sie sind willkommen, Herr Graf,« sagte Gerda und neigte den Kopf.

Graf Holstein lachte und nahm einen Überblick über die Schüsseln.

»Das nenn ich eine reichbesetzte Tafel.«

»Willst du auch was zu essen haben?« und Joan lachte.

»Ja, danke,« sagte Holstein: »wenn du mich so freundlichst einladest.«

»Das tun wir,« sagte Joan, und er drehte seinen Stuhl um und öffnete das Büfett und nahm Glas und Teller heraus – während alle lachten.

»Auch eine Gabel,« rief Fräulein Gerda.

»Und ein Messer,« sagte Erich.

»Hier ist beides,« sagte Joan, der sie in der Schublade gefunden hatte.

Erich aß und Frau Jespersen plauderte. Joan betrachtete Erich: er hatte noch ganz dieselbe Art beim Essen und schob die Bissen wie mit einem Ruck in den Mund; seine Finger aber waren viel dicker geworden.

»Weißt du, Joan, dies erinnert mich an Michel, nicht? … wenn wir die Schule schwänzten und auf den Bummel gingen.«

»Hört, hört,« sagte Frau Jespersen.

»Das war das Schönste, was es für uns gab,« sagte Graf Holstein. Und er erzählte von dem Hinterzimmer, dicht beim Luxembourg, wo sie sich versteckten, damit sie nicht abgefaßt werden konnten, und wo sie geräucherte Normannen-Heringe aßen, weil sie nach Dänemark rochen.

»Aber er hielt sich übrigens meistens für sich und schloß die Augen,« sagte Graf Holstein von Joan, mit seinem alten, halb unzufriedenen Kopfnicken.

Fräulein Gerda hatte ihr Kinn in die Hand gestützt, so daß das kleine, nach aufwärtsgewandte Gesicht im Schein der Lampe lag.

»Du lebtest immer so abseits von uns anderen.«

Die langen Augenwimpern waren langsam auf Fräulein Gerdas Wange herabgeglitten.

»Aber wir hatten dich trotzdem furchtbar gern. Prost, Joan.«

Graf Holstein trank, und als er das Glas niedersetzte, sagte er:

»Ach, Fräulein Johansen, ob ich wohl den bestellten Rheinwein bekommen habe.«

Es stieg eine hastige Röte in Joans Gesicht auf, Fräulein Gerda aber sagte mir, mit einer unmerklichen Drehung des Kopfes:

»Darüber kann Ihnen unser Geschäftsführer Bescheid geben, Herr Graf.«

Joan lachte vor Freude wie ein Junge, und er wußte kaum weshalb.

»Worüber lachst du?« fragte Holstein, der ganz verwirrt geworden war.

»Über dich.«

»Na ja,« meinte Holstein (und er hatte etwas von einem großen, gutmütigen Hund an sich), »Grund genug mag ja dazu da sein.«

Und noch immer verwirrt über seinen eigenen Schnitzer sagte er:

»Aber das Schönste war doch, wenn du spieltest.«

»Ja,« sagte Joan, »du hast mir immer gut folgen können, du hast viel Gefühl für Musik.«

»Du hast michs wohl gelehrt,« sagte Erich. Und seine Finger begannen auf dem Tischtuch zu spielen, wie auf einem Klavier.

»Wie war doch noch Hanas Lied …«

Joan summte es und Erich summte mit, während seine Finger noch immer über das Tischtuch glitten. Und er begann eine andere Melodie und summte sie und Joan fiel ein und auch Frau Jespersen sang lachend mit:

Du Land, wo ich geboren bin, du meine Heimat,
wo meine Eltern wohnten, meine Wiege stand,
wo traut die Sprache mir im Ohre klang
wie süße Töne meiner Mutter Stimme.

Sie sangen lauter, mit frohen Stimmen, während der Uhrmacher in der Tür erschien: »Wahrhaftig, die beiden Grafen singen,« rief er zu den anderen hinein.

Und plötzlich sangen alle, indem sie sich in beiden Zimmern drängten – laut und immer lauter, während Holstein innehielt und Joan sich erhob:

Du frischer, dän'scher Strand,
wo wilde Schwäne nisten,
ihr grünen Inseln, meines Herzens Heim,
dich liebe ich – du teures Vaterland.

Der Gesang starb dahin, aber niemand sprach.

Kaufmann Johansen stand im Türrahmen, zwischen beiden Zimmern. Es war, als sei er größer geworden, weil er auf der Türschwelle stand.

Plötzlich sagte Joan, indem er sich an Gerda wandte:

»Jetzt muß ich aber hinüber und spielen.«

»Ja,« sagte Gerda, die ganz vergessen hatte, worauf sie sich so lange gefreut: »Es ist Zeit.«

»Ja, höchste Zeit,« sagte Graf Holstein und stand auf.

»Auf Wiedersehen,« sagte Joan und ergriff hastig Fräulein Gerdas Hände.

»Adieu,« sagte Gerda und ganz schnell fügte sie hinzu: »Und vielen Dank.«

Sie hatte die Worte mit einer ganz kleinen Stimme gesagt und Joan sah sie an, als verstünde er sie nicht.

Dann aber sagte er – und ebenso hastig:

»Nein, jetzt will ich danken.«

Und wie in Eile begann er adieu zu sagen, die Hand zu geben – allen, und man hätte glauben können, er fühle sich erleichtert, fortzukommen, und doch konnte das wohl nicht der Fall sein, weil er allen die Hand drückte. Vor Kaufmann Johansen blieb er stehen und sah ihm ins Gesicht, als wolle er darin lesen:

»Ich muß jetzt hinüber zum Spielen,« sagte er wieder.

»Und vielen Dank,« fügte er hinzu.

Und wieder gab er allen die Hand.

»Adieu, Herr Geschäftsführer,« sagte er, und weiter: »Adieu, adieu« … bis er mit Holstein aus der Tür war.

Alle Stimmen summten hinter ihnen drein.

Joan und Erich kamen auf die Straße hinunter, wo es von Männern und hochaufgeschürzten Frauen unter den elektrischen Lampen wimmelte.

»Hallo, hallo.«

Ein Jagdwagen war vor der Einfahrt des Hotels so dicht an ihnen vorbeigefahren, daß die Räder fast Graf Holsteins Beine streiften. Vom Wagen aber riefen zwei Damenstimmen:

»Sind Sie's, Herr Graf? Guten Abend – guten Abend.«

»Guten Abend, Fräulein Holck,« rief Holstein zurück »wollen Sie mich überfahren?«

Noch ein Wagen fuhr vorbei und ein anderer hielt.

Drinnen aus dem Hotel hörte man Olesens heiseren Baß und ein Herr, der ehrerbietig den Hut abnahm, sagte:

»Hier gehts lebhaft zu, Herr Graf.«

»Guten Abend, Herr Landinspektor – ja, da haben Sie recht, das Karussell ist im Gange.«

Erich hatte sich umgedreht und blickte die Straße hinab, wo die Menschen gruppenweise unter dem elektrischen Licht gegangen kamen – Bauern und Bauersfrauen in Schals und mit Gummischuhen.

»Ja,« sagte er: »es ist ein seltsames Land, in dem wir leben.«

»Ein herrliches Land,« sagte Joan und hob seine Hand: »aber komm schnell.«

Sie bogen in den Torweg ein, den ein Wagen sperrte.

Oben bei Johansens hatte man angefangen zu spielen. Die Töne des Klaviers drangen durch die geöffneten Fenster auf die Straße hinaus.

Joan war stehen geblieben: die Schatten glitten über die herabgerollten Gardinen.

»Das ist Frau Doktor Raabels Spiel,« sagte Erich: »ich kenne ihren Sommernachtstraum.«

»Jetzt können wir vorbei,« sagte Joan und lief vor dem nächsten Wagen ins Tor hinein.

»Ich hole meine Violine. Geh du schon in den Saal.« Er sprach hastig und sprang mit zwei Sätzen die Treppe hinauf.

Unter ihm brüllte Olesen mit seinem Baß:

»Jensen – zum Donnerwetter – Jensen!«

Und Herr Jensen kam ihm von oben entgegen, indem er sich auf seinen Zehenspitzen wie eine Balletteuse herumschwang:

»Verzeihung – Gott, wie wird es voll.«

Joan öffnete die Tür zu seinem Zimmer.

»Herr Graf kommen spät,« sagte der Berliner, der eine angerauchte Zigarette hinter seinem Rücken verbarg.

Joan trat ans Fenster: es wurde drüben noch immer gespielt. Die Schatten glitten auf den weißen Gardinen hin und her. Joan hatte das Fenster geöffnet. Aber die Töne wurden von den Schritten der Kommenden übertönt.

Einige Sterne glänzten matt an dem ganz blauen Himmel. Nur ein einziger funkelte hell.

Und Joan streckte den Kopf vor, als wolle er den Himmel mit seinen Sternen einsaugen und geradeswegs in Gottes Schoß hineinstarren, während der eine und nur der eine Gedanke sein ganzes Wesen durchjubelte. Der einzige Gedanke, der seit Stunden in seinen Nerven und seinem Herzen und seinem Gehirn geklungen hatte (und er meinte, daß auch er es sei, der seinen Füßen Flügel verlieh):

»Dort kann man gewiß alle Menschen glücklich machen.«

»Alle glücklich machen.«

»Glück schaffen und ein Vaterland.«

Es war kein Weg und es war kein Ziel. Es waren keine Gedanken und keine Pläne – nur wie eine Melodie klang es in seinem Herzen: Glück schaffen und ein Vaterland.

»Herr Graf werden sich erkälten,« sagte der Berliner hinter ihm.

»Ja,« sagte Joan und ergriff seinen Violinkasten und schwang ihn.

»Haben Sie für Champagner gesorgt?«

»Jawohl,« sagte der Berliner, und fügte hinzu:

»Flottes Weingeschäft hier – haben alte Marken … sonderbar.«

Joan ging über den Hof und durch den Saal, ohne jemanden zu sehen.

Erich saß im Kulissenraum mit von sich gestreckten Beinen.

»Da bist du ja?« sagte Joan: »wo ist Haacke?« und er hatte im selben Augenblick seine Frage vergessen.

»Da drüben,« sagte Erich.

Und Joan sah Haacke auf der anderen Seite der Bühne vor einem Notenpult mit aufgeschlagenen Noten stehen, während er unablässig seine gespreizten Finger krümmte, als wolle er Herrn Mendelssohns Geist magnetisieren.

»Zum Kuckuck, was macht der denn da?« sagte Erich und betrachtete Herrn Hans Haacke, als sei er eine Kröte ohne Schwanz.

Joan antwortete nicht. Mit der Violine in der Hand stand er vor der »Dämmerung« und lächelte.

Der Berliner schenkte Champagner ein.

»Schön, daß hier Stühle stehen,« sagte Erich und leerte sein Glas.

Holstein betrachtete Joan von seinem Stuhl aus. Der stand schlank und hochaufgerichtet da. Dann sagte er, während er trank:

»Woher bekommst du deine Anzüge?«

»Dieser ist aus London,« sagte Joan, der mit der Violine in der Hand von Möbel zu Möbel, von Stuhl zu Stuhl ging.

»Ja, die Möbel sind hübsch,« sagte Erich. Und als ob ihre Gedanken die Fähigkeiten hätten, sich auf halbem Wege zu begegnen, fügte er hinzu:

»Sie verstehen es überhaupt, sich in ihren Zimmern zu bewegen.«

»Wer?« und Joan wußte sehr gut, wen er meinte.

»Diese Johansens.«

Joan antwortete nicht. Lärm und Stimmen drangen aus dem Saal herauf.

»Sie hat eine hübsche Stirn,« sagte Holstein, der fortfuhr, mit kleinen Pausen zu sprechen, ganz wie in alten Tagen, wenn sie nebeneinander auf ihren Betten im Schlafsaal lagen.

»Die Augen der Schwester aber waren hübscher,« sagte er.

Joan strich leise über die Saiten der Violine.

»Und sie hatte einen flotteren Rücken.«

Joans Bogen strich über die Saiten, als suche er Töne, die zusammengefügt sein wollten:

Ihr grünen Wiesen, meiner Seele Heimat,
Dich liebe ich – Dänemark, mein Vaterland.

»Ob sie wohl schon gekommen sind?« sagte Joan plötzlich und sprang von seinem Stuhl auf.

»Es füllt sich nach und nach,« sagte Erich.

Joan stand am Guckloch in der Tür. Er ließ seinen Blick über die hellgekleideten Damen der ersten Reihen schweifen:

»Sie sind noch nicht da,« sagte er.

»Wer?« fragte Erich.

»Die Damen,« sagte Joan und spähte hinaus.

Weiter hinten waren Reihen, wo Männer und Frauen getrennt saßen, und alle waren schwarz gekleidet. Ganz hinten aber saßen lauter junge Leute, dicht gedrängt, Mädchen und Jünglinge, mit vorgestreckten Hälsen, in lauschenden Stellungen, als übten sie sich schon im Zuhören.

Fast niemand sprach.

»Wie sie still sind,« sagte Joan.

»Ja, wenn sie erst hereingekommen sind, werden sie vorsichtig,« sagte Erich.

Jetzt aber kamen sie – da war der Uhrmacher: was hatte er für ein gutes Gesicht! Und der Tabakhändler, der seinen Bauch durch das Gedränge schob; und der Doktor mit einem Stuhl, und seine Frau …

»Da haben wir sie,« sagte Erich, der an dem anderen Guckloch der Tür stand.

»Ja,« sagte Joan, der gar nicht hörte, was der andere sagte, sondern nur immer in den Saal spähte:

Frau Jespersen stand allein unten an der Saaltür – und in der zweiten Reihe saß doch bereits Herr Johansen!

Ein Herr in einer sehr ausländischen Weste und einem roten Schlips war von der Bühne heruntergekommen.

»Soll Licht gemacht werden?« fragte er auf deutsch. Es war der Elektrotechniker aus Itzehoe.

»Aber Gerda,« sagte Frau Jespersen unten an der Tür: »wie kommst du spät.«

»Ja.«

»Weshalb mußtest du dich denn auch umkleiden?« sagte Frau Jespersen, deren Gedanken weitereilten:

»Kind, es ging großartig …«

»Findest du?« sagte Gerda und sie fügte hinzu (und sie sprach damit aus, woran sie unablässig während der letzten halben Stunde hatte denken müssen):

»Er ging so hastig fort …«

»Liebe Gerda,« sagte Frau Jespersen und jetzt gingen sie durch den Mittelgang: »das ist immer so, wenn der Künstler in ihnen erwacht.«

Und während sie Platz nahmen, Fräulein Gerda an der Seite ihres Vaters, flüsterte Frau Jespersen, die einen Überblick über den Saal nahm:

»Alle sind gekommen – auch Frau Raabels Küchlein.«

»Soll das Licht angezündet werden?« wiederholte der Herr mit der übertriebenen Weste.

»Ja,« sagte Joan, ohne sich umzuwenden.

»Wie sie blaß ist.«

»Sie ist reizend,« sagte Holstein, und in einem Ton, als wäge er verwundert alle Merkwürdigkeiten der Familie Johansen, fügte er hinzu:

»Und sie versteht sich auch zu kleiden.«

Kaufmann Johansen hatte sich erhoben und war zur Bühnentür gegangen, die er öffnete.

»Ich denke, es kann angefangen werden,« sagte er mit seiner langsamen Stimme.

»Danke. – Aber Sie kommen doch in der Pause herein« – und Joan lächelte: »mit dem Vorstand.«

»Ja,« sagte der Kaufmann, »wenn wir nicht stören.« Und er fügte hinzu, indem er sich zum Gehen wandte: »Hoffentlich sitzen sie still.«

»Das werden sie schon,« sagte Joan und lachte.

Joan hob seine Arme:

»Wo ist Haacke?« sagte er wie ein Feldherr, der seine Truppen zusammenruft.

»Hier.«

»Adieu,« sagte er mit dem Fuß auf der kleinen Treppe, die zur Bühne hinaufführte.

»Glück auf,« sagte Erich und tat so, als spucke er hinter Joan her.

Joan aber lachte ihm strahlend ins Gesicht.

»Kommen Sie,« rief er Haacke zu.

Graf Erich ging zu seinem Platz. Joan aber rief noch dem Berliner zu:

»Alex, bring mehr Champagner – durch die Hintertür – und Gläser.«

Dann stand er auf der Bühne.

Er versuchte zu sehen und sah niemanden. Die Rampe trennte ihn von denen, die in der Dunkelheit saßen.

Da rief das Klavier ihn.

»Ja, da saß Erich … und dort – – die anderen.«

Sie hatte die Hände um ihr Knie gefaltet und hielt den Kopf gesenkt.

Jetzt fiel er ein.

Er wußte nichts, dachte nichts, hörte nur die Töne anwachsen – schwellend wachsen und wachsen, schwellend ihre Schwingen ausbreiten:

»Das Ufer – das Ufer, das er nie erreicht hatte …«

Glücklich folgte er dem Flügelschlagen der Töne über seinem Haupte, die wie eine Vogelschar vor seinen geöffneten Augen vorüberstrichen.

Und plötzlich stieg ein einziger Gedanke in ihm auf – und die Violine sang lauter:

»Kannst du mehr, Jens Lund?«

Und im nächsten Augenblick wollte er sehen – dorthin sehen und vermochte es nicht und spielte nur weiter …

Eingehüllt in der Glut seiner eigenen Töne, stand er da wie auf einem leuchtenden Scheiterhaufen!

Es war vorbei. Er hatte sein ganzes Leben in sein Spiel gelegt. Unten im Kulissenraum hatte er sich in einen Stuhl geworfen. Erich kam herein und stand vor ihm. Er war ganz bleich.

»Bist du so groß geworden?« sagte er und Tränen hingen an seinen Augenwimpern.

»Heute abend habe ich gespielt, um zu siegen,« sagte Joan.

»Ruft man hurra?« sagte er und vor Müdigkeit lächelte er fast wie ein kleines Kind.

Im Saal wurde gerufen und getrampelt und geklatscht.

»Kommen Sie, kommen Sie,« rief Haacke.

Joan stand auf der Bühne und verbeugte sich.

Da saß sie – noch ebenso wie vorhin, als ob sie sich gar nicht gerührt habe, mit gesenktem Kopf. Nein, die Handschuhe hatte sie ausgezogen. Die entblößten Hände lagen gefaltet im Schoß. Sie waren ebenso blaß wie ihr Gesicht – ihr kleines Gesicht.

Joan war wieder draußen.

»Kommen Sie, kommen Sie,« rief Haacke.

»Nein, ich mag nicht mehr,« sagte Joan, der neben Erich stand.

Und Holstein sagte:

»Du, es war herrlich,« und noch ganz hingerissen legte er den Arm um Joan und drückte ihn eine Sekunde an sich, als sei er ein Weib.

»Alex, Champagner,« rief Joan und ließ seine Hand über Erichs Haar gleiten.

»Wir wollen mit dem Vorstand anstoßen.«

Die Tür wurde geöffnet, aber es war nur Herr Jensen, der ein großes Teebrett voller Blumen brachte, wobei er den Oberkörper wie eine Schlange wand.

»Nein, wie wunderhübsch,« sagte Joan und nahm einen Strauß von Orchideen von dem Brett.

»Ja, der ist wirklich hübsch,« sagte Erich fast stutzend.

Joan hatte auf der angehefteten Karte gelesen:

»Mit Dank. Vom Vorstand.«

Wie klein die Handschrift war und gleichsam zögernd. Aber jeder einzelne Buchstabe war hübsch.

»Die sind vom Vorstand,« sagte Kellner Jensen, indem er sich wand.

»Und die sind von Frau Raabel,« sagte Holstein und nahm drei Hyazinthen, die mit Bast zusammengebunden waren.

Joan stand noch mit den Orchideen in der Hand, als die Tür wieder geöffnet wurde:

»Sie haben also still gesessen,« lachte er dem Kaufmann entgegen, seine Augen aber trafen Fräulein Gerda.

Kaufmann Johansen aber ging auf Joan zu und sagte, indem er ihm die Hand drückte:

»Es war herrlich, vielen Dank.«

Es lag etwas in seiner Stimme, das Joans Wangen einen Augenblick zittern machte.

»Es war wundervoll,« sagte Erich, der noch immer in gehobener Stimmung war.

Der Kaufmann und Erich sprachen miteinander, während Joan sagte – und er hatte sie wohl die ganze Zeit angesehen –:

»Friert Sie?«

»Nein, gar nicht,« und Gerda strich sich mit der Hand über die Augen, als wolle sie Tränen fortwischen, die gar nicht da waren, und ein Lächeln brach aus ihrem Gesicht hervor –:

»Ich war nur so froh.«

»Mir schien, Sie froren,« sagte Joan und auch er lächelte.

Und plötzlich standen sie nebeneinander und keiner von ihnen wußte, was er sagen sollte – gar nichts.

»Und Dank für die Blumen,« sagte Joan.

»Die sind vom Vorstand,« lachte Fräulein Gerda.

»Das heißt von Ihnen,« lachte Joan.

»Ja, aber auch von Frau Jespersen,« lachte sie.

»Auch?« sagte Joan.

Und dann schwiegen sie wieder, ebenso wie vorhin. Auf einmal aber gingen sie wie auf Verabredung zu den Gucklöchern in der Tür.

»Wie sie schwatzen,« sagte Joan.

Alle sprachen über die Bänke miteinander mit klingenden Stimmen, in großer Aufregung. Von den Jungen hinten im Saal hatten viele sich erhoben. Zwei von den jungen Leuten standen und hämmerten mit ihren Fäusten gegen einen Bankrücken, als müßten sie schlagen. Mitten im Saal aber, im Mittelgang, stand ein junges blondes Mädchen und führte unablässig ihre linke Hand über die Stirn, als wolle sie ein Haar entfernen, das gar nicht da war.

»Es ist seltsam,« sagte Joan, »es ist gerade so, als seien sie erstaunt.«

»Das sind sie ja auch,« sagte Fräulein Gerda.

Joan lächelte über das Selbstverständliche in ihrem Tonfall und sagte:

»Was fanden Sie denn am schönsten?«

»Alles,« sagte sie.

Es war, als zitterte Joans Hand am Türgriff. Dann sagte Fräulein Gerda – und draußen schwollen die Stimmen noch immer:

»Es ist, als ob wir weit, weit fort seien …«

»Das sind wir auch,« sagte Joan ganz leise.

Fräulein Gerda aber hatte ihn wohl nicht verstanden, denn sie zeigte nur, ein wenig hastig, in den Saal und sagte:

»Da sitzen die Schleswiger.«

Sie saßen mitten im Saal, unbeweglich, mit steifen Rücken, als stemmten sie sich gegen das, was um sie herum war.

»Ja,« sagte Joan: »da sitzen sie.«

Und kurz darauf:

»Sie haben Schiffergesichter.«

»Schiffergesichter?«

»Das fiel mir bei Tisch ein. Ich habe mal einige Schiffer am Adriatischen Meer gesehen, die hatten solchen Blick in den Augen und solche mageren Gesichter …«

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er, mit Augen, als sähe er das herrliche Meer:

»Sie wissen nicht, wie schön es am Adriatischen Meer ist.«

»Wirklich?«

Ihre Stimmen hatten denselben Klang und er fuhr fort:

»Es gibt so viel Schönes in der Welt, das Sie sehen müßten.«

Gerda schwieg. Dann sagte sie mit einem Lächeln, das nicht recht durchbrechen wollte:

»Aber ich habe so viele Bilder von Venedig.«

»Wie gern Sie Bilder mögen,« sagte Joan.

»Ach ja. Denn nicht wahr? Bilder sind so still,« sagte sie.

»Das ist wahr.«

Fräulein Gerda aber blickte in den Saal hinein und indem sie wieder von den Schleswigern sprach, sagte sie – fast als wolle sie diese Unberührten mitten in der Freude entschuldigen:

»Sie halten am meisten von dänischer Musik.«

»Ach ja, ich hätte auch lieber etwas Dänisches spielen sollen.«

Erich rief hinter ihnen:

»Joan.«

»Ja,« sagte Joan, der sich mit einem Ruck umdrehte.

»Nun, wann gehts wieder los?« fragte Erich mit seinem Glas in der Hand.

»Jetzt gehts los,« sagte Joan und lachte.

»Haacke,« rief er zur Bühne herauf, »fangen Sie an.«

»Aber müssen wir nicht lieber gehen?« sagte Gerda.

»Nein, im Gegenteil,« sagte Joan und holte Flaschen und Gläser, »daran ist Haacke gewöhnt …«

Er ordnete alles geschäftig, Flaschen und Gläser und tauchte, schwupp, Frau Raabels Hyazinthen in den Champagnerkühler.

»Das ist ihnen gut,« sagte Kaufmann Johansen, der plötzlich mit einem eigentümlich stillen Lachen vor sich hinlachte, als lache er inwendig noch doppelt soviel.

»Haacke, legen Sie los,« rief Joan, »aber wo ist Frau Jespersen?«

Alle lachten, während Graf Erich flüsternd durchs Guckloch rief:

»Frau Jespersen, Frau Jespersen,« und Herr Haacke hatte begonnen.

»Frau Jespersen.«

»St,« sagte Gerda.

Die Tür öffnete sich und Frau Jespersen flüsterte ihnen entgegen, so deutlich wie man auf dem Theater flüstert:

»Was soll ich?«

»Die Tür zumachen,« flüsterte Erich ebenso.

»Und ein Glas mittrinken,« sagte Joan.

Frau Jespersen kam auf den Zehenspitzen näher.

»St,« sagte Erich und sie lachten wieder, als lachten sie hinter Taschentüchern.

Frau Jespersen setzte sich.

»Prost,« sagte Joan und sie stießen miteinander an.

Herr Haacke hämmerte auf die Tasten.

»Das ist wohl eine Polonaise,« sagte Frau Jespersen.

»Ja,« antwortete Joan und schob die Lippen vor

»Und Sie haben sie schon früher gehört,« flüsterte Frau Jespersen.

»Ja,« antwortete Joan.

Sie flüsterten wie Kinder in einer Klasse. Wenn Haacke am lautesten spielte, flötete Graf Holstein leise mit.

»St, er kann es hören,« sagte Gerda.

»Er hört nur sich selbst,« gab Holstein flüsternd zurück.

»Da hast du recht,« nickte Joan wie ein Junge und gab plötzlich Frau Raabels Hyazinthen einen Puff, daß sie im Kühler untertauchten.

»Ja, die sind prachtvoll,« sagte der Kaufmann und lachte wie vorhin. Er amüsierte sich noch immer über Frau Raabels zerzauste Blumengabe.

»So,« sagte Erich.

Die Polonaise war zu Ende.

»Jetzt kommt ein Walzer,« sagte Joan und flüsterte noch immer, obgleich niemand spielte.

»Ja,« nickte Gerda.

»Denn er verändert sein Programm nicht,« sagte Frau Jespersen und beugte sich vor.

»Nein,« sagte Joan und lachte.

Der Walzer fing an und sie lauschten eine Weile.

»Seht ihn an, seht ihn an,« sagte Erich, der sich im Stuhl aufrichtete und zu Herrn Haacke hinübersah, dessen Finger über die Tasten rutschten.

Alle erhoben sich halb von ihren Sitzen und sahen dem Fingerkünstler zu.

»Kinder, ich muß sehen, was Frau Raabel für ein Gesicht macht,« sagte Graf Holstein und ging auf den Zehenspitzen zum Loch.

»Frau Jespersen,« rief er flüsternd, »Frau Jespersen,« und er zog die Schultern hoch vor Vergnügen, während er durch das Guckloch Frau Raabel beobachtete.

Frau Jespersen kam. Sie lachten beide lautlos, so daß man es an ihren Rücken sehen konnte.

Kaufmann Johansen war zum Rand der Bühne gegangen und betrachtete die hüpfenden Finger.

Da hob Joan sein Glas und sagte zu Fräulein Gerda:

»Jetzt danke ich – dem Vorstand,« sagte er hastig.

Und plötzlich blaß im Gesicht, ebenso blaß wie sie, fügte er hinzu: »Für alles.«

Der Walzer war vorbei.

»Allmächtiger, wie spielt er schauderhaft,« sagte Holstein.

Draußen aber wurde applaudiert.

Drinnen hatten sich alle wieder gesetzt.

»Das letzte Stück aber kann er,« sagte Joan.

»Ist es auch von Chopin?« fragte Erich.

»Ja, eine Mazurka.« Sie flüsterten wieder.

Hans Haacke hatte sich verbeugt und den Schweiß abgetrocknet und fing wieder an.

»Das ist ja mein Stück aus alten Tagen,« sagte Erich und richtete sich auf.

»Ja»« sagte Joan.

»Aber zum Kuckuck – was ist das?«

Erich hatte sich vorgebeugt und flüsterte ganz leise, während ein Ausdruck in seine Augen gekommen war wie bei einem Jäger, der Wild spürt:

»Was ist das, Joan?«

Hans Haacke spielte dämmerungsartig, während er ein ganz kleines Thema hervorhob, so eigen und gespensterhaft als schlichen sich die Toten herein und tanzten in seiner Mazurka.

Alle lauschten.

»Ja, ist es nicht sonderbar?« flüsterte Joan und auch er wollte keinen Ton verlieren.

»Wer hat ihn das gelehrt?« flüsterte Holstein zu Joan hinüber, während er gespannt zuhörte.

»Er selbst,« nickte Joan.

Das kleine Thema kam lauter wieder. Fräulein Gerda hatte ihre Hand auf Frau Jespersens Schulter gelegt.

»Ja, es ist seltsam,« sagte Joan, »dieser einfache Mensch …«

»Was ists mit ihm?« fragte Holstein, der sich plötzlich für Haacke zu interessieren begann.

»Er stammt aus Brüx und liebt ein Mädchen in Brüx, denkt nur an sie und spielt seit sieben Jahren die Aussteuer zusammen.«

»Kann ein Künstler so treu sein?« flüsterte Frau Jespersen Joan zu, und er antwortete: »Die, die am meisten umherstreifen, sind vielleicht die Treusten.«

Das Thema kehrte zum letztenmal wieder. Fräulein Gerda hatte ihre Augen weit geöffnet.

Dann war die Mazurka vorbei.

Der Vorhang ging auf und nieder. Alle gingen zu Herrn Haacke auf die Bühne hinauf.

»Wie machen Sie das?« rief Holstein und er nahm vorm Flügel Platz, »es ist ganz prachtvoll … aber wie bringen Sie das raus?« Und Erich fing an zu spielen, während Herr Haacke dabeistand.

»So? Nicht?«

Unten wurde geplaudert. Frau Jespersen stand am Guckloch des Vorhangs.

Fräulein Gerda ging langsam über die Bühne, während sie auf den Flügel starrte.

»Woran denken Sie?« fragte Joan und beugte seinen Kopf über ihre Schulter.

Fräulein Gerda strich sich mit den Händen über die Augen und sagte mit einer Stimme, die der eines Kindes glich:

»Ich weiß nicht. Mir ist, als ob ich träumte.«

»Was denn?«

»Dies alles,« und plötzlich lächelte sie zu ihm auf.

Frau Jespersen hatte sich am Loch umgedreht.

»Gerda,« rief sie, »was sollen wir mit den Schleswigern machen?«

»Frau Jespersen,« sagte Joan (und alle lachten, denn er konnte den Namen nicht richtig aussprechen), »jetzt wollen wir den Schleswigern etwas vorspielen. Erich, wir beide setzen das Konzert fort.«

»Fortsetzen! wer?« fragte Erich, der noch immer spielte.

»Du und ich,« sagte Joan.

»Womit?« fragte Holstein.

»O ja,« entfuhr es Gerda, die begriff.

»Wir spielen, du und ich.«

»Du bist verrückt,« sagte Holstein und ließ die Tasten los.

»Doch, doch,« sagte Joan, »nur die alten Lieder, wie bei Monsieur Dupierre.«

»Das wäre etwas für alle,« meinte Johansen.

»Aber ich kann ja gar nichts,« sagte Erich, der ganz feuchte Hände bekommen hatte.

»Natürlich können Sie,« sagte Frau Jespersen.

Joan fing an zu verabreden: sie wollten erst das spielen und dann das. Joan schlug Akkorde an und Erich hatte sich gesetzt.

»Was sagt der Vorstand dazu?« fragte er mit einer kläglichen Stimme.

Gerda stand am Flügel und lachte:

»Er dankt dem Grafen für seine Bereitwilligkeit.«

»Ach, Gott steh mir bei. Aber dann müssen wirs ernsthaft nehmen,« sagte er und schwitzte am ganzen Körper und wollte doch so gern. Und Joan und er verabredeten die Reihenfolge und die Tonlage.

Die anderen plauderten.

»Seid ruhig,« rief Erich.

»Ja, ja,« sagte Frau Jespersen.

Die Akkorde wurden angeschlagen.

»Aber einer muß es doch sagen,« rief Erich mitten drin.

»Sagen?« Es war Frau Jespersen.

»Ja, dem Publikum,« brummte Erich, »es muß doch gesagt werden.«

»Das ist wahr,« sagte der Kaufmann.

»Raabel muß es sagen,« schlug Frau Jespersen vor.

»Ja, der Doktor ist der richtige Mann dafür,« sagte der Kaufmann.

Und er ging zur Tür und rief in den Saal: »Raabel, Raabel,« als ob er einen seiner Kommis riefe.

Doktor Raabel kam hereingetänzelt.

»Das ist Weltkunst,« sagte er, »das ist Weltkunst, vor der muß man sich beugen.«

»Die wollen mit Ihnen sprechen,« sagte Johansen und zeigte auf die Bühne.

Doktor Raabel schwirrte hinauf:

»Ja, es ist vielleicht dumm, es zu sagen, es ist vielleicht dumm,« fuhr er zu Joan gewandt fort, »aber es ist Weltkunst, vor der muß man sich beugen. Meine Frau brennt vor Verlangen, Ihnen zu danken.«

Joan sagte:

»Graf Holstein und ich wollen einige Volkslieder spielen und wir möchten Sie bitten, das Publikum davon zu unterrichten.«

»Graf Holstein?«

»Ja,« sagte Erich in demselben kläglichen Ton wie vorhin.

»Das ist ja kolossal« – Doktor Raabel war vollkommen verwirrt und drückte die gemalten Knöpfe in sein Vorhemd – »ich bin ganz einig mit Ihnen …«

»Aber was – – Herr Graf, was soll ich denn sagen?« fragte der Doktor und erlangte bei den drei letzten Worten seine Fassung wieder.

»Den Skandal vorbereiten,« sagte Graf Erich, der noch immer Akkorde anschlug, während Joan leise spielte.

Der Doktor lachte wie über einen behaglichen Scherz und sagte, bereits ganz in seiner Rolle:

»Sollen es dänische Volkslieder sein?«

»Alle möglichen,« sagte Joan, »aber wir schließen mit dänischen.«

»Also Volkslieder … mit Begleitung.« Der Doktor sprach, als memoriere er eine Rede.

»Schön, ich bin bereit,« sagte er mit einer Handbewegung wie der Leiter einer Dilettantenbühne.

»Bühne frei,« rief er.

»Bühne frei,« sagte Frau Jespersen und lief zum Hintergrund, wo Gerda ging. »Du summst, Gerda?« fragte sie ganz erstaunt.

»Ach nein,« sagte Gerda und schüttelte den Kopf. Zu Joan aber sagte sie strahlend, gerade als der Vorhang aufging:

»Nun haben wir das ganze Programm verändert.«

»Ja,« erwiderte Joan und betrachtete ihr strahlendes Gesicht, »das ganze Programm,« und er wiederholte diese Worte, als habe er ihr damit etwas ganz anderes gesagt.

»Was sagt er, zum Teufel?« fragte Erich, der im Kulissenraum hin- und herging und vor Angst ganz leichtfüßig geworden war.

Herr Doktor Raabel hielt eine Rede, in der er sowohl den Dank des Städtchens wie des Musikvereins einflocht. Als er aber den Grafen Erich Holstein nannte, erklang ein breites und lautes:

»Famos!« Es kam vom Uhrmacher. Frau Raabel aber hatte sich von ihrem Stuhl erhoben.

Johansen stand in den Kulissen – die rechte Hand in der Tasche, betrachtete er Doktor Raabel, bis der Vorhang fiel.

»So, Herr Graf, jetzt sind Sie im Fahrwasser,« sagte Frau Jespersen.

Aus dem Saal tönte ein Summen wie von fünfzig Bienenkörben.

»Komm, Erich,« sagte Joan, »trink noch ein Glas.«

»Nein danke, ich will meine Fähigkeiten lieber nicht mehr schwächen,« sagte Erich, der nicht mehr wußte, ob er auf seinen Beinen stand.

»Adieu,« sagte Joan zu Fräulein Gerda und schlug in ihre Hand ein.

»Adieu.«

»Jetzt, Erich,« sagte Joan, »wir beginnen also mit Hanas Lied.«

»Ich will schon dasitzen, wenn der Vorhang aufgeht,« sagte Erich plötzlich und schoß auf den Flügel los.

Man hätte eine Feder durch die Luft fallen hören können, als der Vorhang aufging.

Joan begann sofort. Sachte glitt Hanas Weise mit den Tönen der Violine in den Raum hinaus, und Erich war es, als würden seine Finger geschmeidiger auf den Tasten. Und Josephs Lieder kamen. Joseph aus dem Stall und Herrn Christopulos' seltsame Melodien, wie sie aus der Dämmerung heraufstiegen, und das Winzerlied, das Winzerlied vom Abhang, wo seine Mutter unterm Weinstock saß und ins Wasser starrte:

Traute Worte
die das Herz bewegen.
Traute Worte
die mir Schmerz erregen.

Die Violine sang mit der zarten Stimme seiner Mutter:

Traute Worte
die uns weinen machen.
Traute Worte.

Hans Haacke hatte sich aus seinem Lehnstuhl erhoben.

Die Violine aber klang lauter, der Marsch von Orsowa brach hervor – heftig und wie im Trotz. Wie harte Hacken, die gegen Steinfliesen klingen, brachen die Töne unbarmherzig hervor, bis sich »Es gibt ein herrlich Land« sanft und still Bahn brach – wie Kirchhofsfrieden.

Erich folgte langsam der Violine. Seine Augen waren dunkelblau geworden wie bei Herrn Dupierre. Er wandte den Kopf, während seine Hände der Melodie folgten. Er und Joan lächelten einander zu. Im selben Augenblick aber gab Joan Erich ein Zeichen, daß er aufhören solle, und er schlang Godards Berceuse hinein, die Violine sang allein.

Im Saal war es still.

Es war, als ob ein stilles und furchtsames Glück sich vorsichtig vorwärtswiegte, die Augen aufschlug, sich umsah und fragte, ob es wach sei oder träume. Und es fand sich selbst und wußte, daß das Glück lebte und schloß die Augen wieder – vor Glück.

Joan hatte seinen Kopf gehoben. Jetzt senkte er ihn wieder.

»Da saß sie.«

Sie wußten nicht, daß dasselbe Lächeln auf ihren Gesichtern lag.

Da fiel Erich ein und »Ritter Aage« klang unterm Dogen:

Freite um Jungfer Else,
sie war solch holde Maid.

Wie ein Jubel stieg es aus den Saiten. Wieder und wieder kam es, als dränge es sich hervor aus dem Boden des Instrumentes. Wieder und wieder klang es, als wolle es den Bogen sprengen:

Freite um Jungfer Else,

und er brach ab und tiefernst wie ein Psalm, aber wie ein Psalm des Dankes, klang es durch den Raum:

Du Land, wo ich geboren bin, du meine Heimat,
wo meine Eltern wohnten, meine Wiege stand,
wo traut die Sprache mir im Ohre klang
wie süße Töne meiner Mutter Stimme.
Du frischer, dänscher Strand,
wo wilde Schwäne nisten,
ihr grünen Inseln, meines Herzens Heim,
dich liebe ich – du teures Vaterland.

Joan hatte seinen Kopf gehoben und die Augen der Ujhazys waren ganz geöffnet:

» Dort müßten alle glücklich werden können. – Alle.
– Glück schaffen und ein Vaterland!«
Ihr grünen Inseln, meines Herzens Heim,
dich liebe ich – du teures Vaterland.

… Erich war aufgestanden und hatte Joans Hand ergriffen … Das war nicht Beifall, das war ein Tumult von Rufen und Geschrei.

»Heut hast du dänisch gespielt,« sagte Erich und preßte Joans Hand.

»Wirklich?«

Und der Vorhang ging herauf und herunter.

»Dort hinter ihr stand ja der Geschäftsführer …«

Der Vorhang ging wieder in die Höhe.

»Wer ist er eigentlich?« fragte Joan, indem er sich verbeugte.

»Wer?«

»Der Geschäftsführer …«

»Der … ein Geschäftsführer.«

Und der Vorhang fiel und mußte wieder in die Höhe. Es war, als ob man schrie, nur um zu schreien, und man klatschte in die erhobenen Hände. Plötzlich aber, mitten im Saal, stieg der Uhrmacher auf eine Bank – zwei andere mußten ihm behilflich sein – und durch das Geschrei und Getrampel rief er wie eine Trompete:

»Der Vorstand soll leben!«

»Gott nein!« entfuhr es Gerda ganz laut, und sie duckte sich hinter ihren Vater.

Erich aber lachte:

»Ja, der Vorstand soll leben,« schrie er und schwang seinen Arm, und Joan fiel ein:

»Der Vorstand soll leben. Hoch!« rief er über den Saal hinaus. Und alle standen auf und schwenkten ihre Hüte:

»Hoch, hoch!«

Der Uhrmacher aber, der noch auf seiner Bank stand, so rot und so breit wie ein Hahn, schrie:

»Vorstand heraus!« und die Hochrufe erklangen und alles lachte.

Gerda aber war durch die Bühnentür hinausgelaufen.

»Jetzt kanns genug sein,« sagte Erich und der Vorhang fiel.

Joan war die kleine Treppe hinuntergesprungen und stand vor Gerda.

»Sind sie aufgewacht?« fragt« er.

»Wer?«.

»Die Schleswiger.«

»Ja, haben Sie sie nicht gesehen?« sagte sie – und über allem, was sie und er sagte, lag es wie ein Lächeln.

»Nein,« sagte Joan, »ich hatte sie vergessen.«

Und von neuem verwirrt oder viel zu glücklich, um zu sprechen, schwiegen sie wieder, während draußen der Lärm hinstarb – bis Gerda sagte, und während sie sprach, schlich sich eine plötzliche Wehmut in ihre Stimme:

»Ja, diesen Abend werden wir nie vergessen.«

Und als sei sie über ihre eigene Stimme erschrocken, fügte sie hinzu und versuchte zu lächeln:

»Hier geschieht ja so selten etwas.«

Oben auf der Bühne versuchte Erich wieder die Mazurka.

Gerda (die vielleicht ebenso wie Joan hundert Gedanken und doch keinen dachte, und hörte, ohne zu hören) sagte und hatte ihren Kopf zum Flügel gewandt:

»Ist es nicht, als ob sie weinen, während sie tanzen?«

»Ja,« sagte Joan, seine Stimme aber klang wie die eines Glücklichen.

Es lag ein Programm auf dem Tisch: Joan-Ujhazy-Konzert stand mit großen Buchstaben darauf. Gerda nahm es und in einem ganz anderen Tonfall (vielleicht hatte der Klang in seinem »ja« ihn verändert), las sie und lächelte:

»Joan Ujhazy.«

Joan stand hinter ihrer Schulter und blickte gleich ihr auf das weiße Blatt:

»Joan Aage Ujhazy,« sagte er und lächelte.

»Aage?« sie hatte ihm ihr Gesicht zugewandt.

»Ja,« sagte Joan: »ich heiße auch Aage.«

»Aage,« wiederholte sie. Sie ließ das weiße Blatt los und es fiel auf die Tischdecke:

»Wir müssen wohl gehen.«

»Ja,« sagte Joan, und er rief laut: »Erich, wir sollen nach Hause.«

Erich Holstein hörte ihn nicht, und einen Augenblick lauschten sie beide Chopins Mazurka, während Joan die Orchideen in seiner Hand hielt.


 << zurück weiter >>