Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dies ist das letzte Buch, das Herman Bang den Dänen und der Welt geschenkt hat. Dahin ist seine umschimmerte Schönheit, die edle Hand, die all dies niederschrieb, erloschen der Blick, voll von jener unergründlich tiefen Schwermut. Das Echo, das dies Buch erweckt, vermag sein Dichter nicht mehr zu vernehmen. Vaterlandslos, obwohl mit heißem Dank und Wunsch ein Däne, hat er die Bahn des Wanderers vollendet, die das Geschick ihm zubereitet hatte. Im Begriff, die Welt rund zu umfahren, ist er, gleich im Beginn, zwischen Atlantik und Pazifik im Zuge zusammengebrochen.
In mehr als einem Punkte ist dies Buch merkwürdig zur Deutung dieses Dichterweges. Es bildet den letzten Ausdruck seiner wundersamen Persönlichkeit.
Bang war im Grunde nicht Schriftsteller, er war Dichter. Die Lust zu fabulieren belebte ihn nicht, ihn feuerte kein Dämon an zu erfinden, Figuren zu schieben, zu verwirren und zu entwirren. Was seine Bücher an Handlung enthalten, ist gering und häufig wie hinzuerfunden. Von seinem ersten Buch zu diesem letzten führen zwei Linien: die eine abwärts, das ist die Linie der Handlung, der interessanten Begebenheiten, der Bewegung; die andere aufwärts: das ist die musikalische Linie. Darum hat sich der Kreis seiner Leser und Verehrer seit dem ersten Aufsehen erregenden Buch mehr vertieft als erweitert.
Mehr und mehr wurden seine Romane Dokumente eines Gestalters, nicht eines Erfinders. Mehr und mehr will und vermag er im Grunde nur dieses eine: Gestalten an sich, ohne Handlung, ohne Bewegung, ja ohne Milieu und Landschaft aufzustellen. Wie zu einem Gobelin webt er sie nebeneinander, jede unendlich einsam neben die andere. Aber ihre wirkende Kraft ist so groß, ihre Sinnlichkeit, an den kleinsten Symptomen wie im Fluge errafft, so nahe und stark, daß der Leser, während er die geringe Bewegung, durch die sie verbunden sind, rasch vergißt, sich auf besondere Art von ihnen umgeben fühlt.
Denn Bangs Gestalten vollbringen das Außerordentliche: sie treten aus dem Rahmen, in den sie nur flüchtig gestellt wurden, sie verlassen die Blätter, die der Schauplatz ihres Lebens schienen: sie begleiten uns und werden unsere Freunde. Und treten wir dann eines Morgens hinaus in die Landschaft oder eines Abends in einen Salon, oder treffen uns merkwürdige Frauenaugen, oder wir reisen, wir schmieden Pläne, wir sind wild, verworren, betrachtsam oder belebt: immer taucht dann in uns die Frage auf: Wo sind sie, unsere Freunde? Wo ist Michael? … Was für Augen macht Claude Zoret dazu? … Tine ist nicht mitgekommen … Wie, Nina weint? … Die alte Exzellenz grollt und friert … und die schönste von allen, die Mutter, sie lächelt zu dem, was wir treiben, unter Tränen.
Nirgends ist die suggestive Kraft, die die Gestalten Herman Bangs außerhalb seiner Bücher behalten, so unheimlich gewachsen wie in diesem Buch. Man fragt: Warum in diesem letzten?
Es ist ein Gesetz, das sich an vielen Meistem erfüllt: kurz, ehe sie sterben, lösen sie ihre Form auf. Die größten Beispiele heißen Tizian und Beethoven. Bang, kurz bevor er unterging, hat in diesem letzten Buch den Rest von Form, den er im Laufe seiner Entwicklung noch behalten, völlig aufgelöst. Hier wird kaum noch eine Handlung angestrebt. Alles liegt zwischen oder vielmehr unter den Sätzen. Es ist deshalb ein Buch, das mehr noch als die vorigen den Leser aufruft mitzuproduzieren.
Doppelt bedeutsam wird dies im Angesicht der Natur dieses Helden. Im Grunde hat Herman Bang nur zwei Menschen immer wieder dargestellt: sich selbst und seine Mutter. Sein Werk enthält eine Reihe von Selbstbildnissen. Aber das edelste hat er in diesem letzten Buch gezeichnet. Graf Joan ist in einem tiefen Sinne autobiographisch. Bang findet hier eine neue Formel für sein Wesen: die des aristokratischen Virtuosen. Er war weit mehr, dies aber war er auch. Und zu jenen Zügen, die alle seine Hauptgestalten von ihrem Schöpfer haben: dem bittersüßen Lächeln und dem melancholischen Aufblick ihrer Seele, kommt hier ein neuer: das Rückgrat des Weltmannes, und in aller Schwermut ist die Erkenntnis des alternden Künstlers wie aufgelöst, daß es andere, daß es größere Genies gibt. Die todesmüde Ergriffenheit, die diesen Dichter am Ende seines Lebens vollends verdunkelt haben mag, ist hier zu einem Erklingen gebracht, das ewig dünkt.
Indem er die Melodie dieses Buches summte, tauchte Bang noch einmal unter in die Wasser seiner Jugend, zu denen seine Phantasie so oft zurückgekehrt. Hier finden wir noch einmal die dänische Landschaft, die grollende Querköpfigkeit der Grenzländer, noch einmal die verklärte Gestalt der Mutter, noch einmal Aage, noch einmal die Zartheit eines melancholischen Mädchens, deren Neigung wie in einem Hauch verbebt. Aber diese alten Melodien, die schon aus Bangs früheren Büchern tönten, sind umrauscht von dem Strome, der um die unheimliche Insel der Vaterlandslosen flutet. Rumänische Gewitter ballen sich hinter der melodischen Schwermut Dänemarks, und aus einer Ecke blitzen die elektrischen Lichter von Paris.
Niemals zuvor hat Bang so jede letzte Rücksicht auf die Gewöhnung der Leser aufgegeben, niemals ein Werk so ganz als Symphonie empfangen und wieder dargestellt. Liest man in diesen magisch leuchtenden Blättern, man kann des Eindrucks nicht entraten, als wäre es über diesen Punkt hinweg nicht weiter gegangen; als hätte der Auflösung seines Werkes der Meister selber folgen müssen. Bang war immer ein Fremder, ein Gast auf dieser Erde, und alle seine Gestalten tragen an der Stirn diesen unirdischen Schimmer. Hier aber, in diesem letzten Hauch seiner ermüdeten Seele, scheint Held und Heldin, scheint vor allem Graf Joan selbst entrückt. Was will er noch unter den Menschen? Ist er nicht vaterlandslos in einem noch viel grenzenloseren Sinne als irgendein großer Virtuose aus Zigeunerblut?
Ist diese Insel der Verbannten, auf der er geboren, die Insel der Toten oder derer, die, während sie leben, doch nicht zu leben vermögen? Es gibt im Umkreis der gesamten Literatur kaum eine Gestalt von tieferer Schwermut. Ist selbst das Heimverlangen jener Genien größer, die der Meister der Sixtinischen Decke zwischen die Rhapsodien seiner Kuppel malte?
So voll vom Wunsche abzuscheiden ist dieses letzte Buch, daß es kaum wundernahm, als man erfuhr, sein Dichter wäre abgeschieden. Und auch darin gleicht es einem Schwanensang, daß am Ende Graf Joan die Geige, das Instrument seiner Seele und seiner Kunst, beiseite legt mit dem Entschluß, sie nie mehr anzurühren.
Als Herman Bang dies niedergeschrieben, entsank ihm seine Geige. Aber der Tod, der sie aufnahm, spielte ihm darauf jene Weise, die ihn ein Leben lang umsang und die er doch nie hatte völlig fassen können.
Am Ende der Wanderung schwebt Harmonie empor.