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6. Die Folter der Jetztzeit.

Der Sträfling erweist sich als ein bedeutender Mensch.

Die Schutzleute trugen den Sterbenden auf einen Stuhl, der in Herrn Camusots Zimmer gegenüber dem Fenster aufgestellt war. Herr Camusot saß in seinem Sessel vor dem Schreibtisch, einige Schritte abseits an einem Tischchen saß Coquart, der Schreiber, die Feder in der Hand.

Der Schreibtisch ist bei fast allen Untersuchungsrichtern derart aufgestellt wie hier, daß diese nämlich dem Licht den Rücken wenden, und das Gesicht der Leute, die verhört werden, voll beleuchtet vor sich sehen. Alle Richter sehen während des Verhörs gleichgültig, zerstreut aus, wenn sie nicht noch obendrein Brillen tragen. Ein Blick, der Tonfall, eine Regung im Gesicht kann für den Vernommenen verderblich werden, auch wenn es sonst an Beweisen fehlt. Von solch eisig-glühendem Kampfe bleibt im Protokoll, weiß Gott, wenig übrig; es ist nur noch die nach dem Brande verbleibende Asche. –

»Ihre wahren Namen?« fragte Camusot.

»Don Carlos Herrera, Stiftsherr des Königlichen Kapitels von Toledo, geheimer Gesandter seiner Majestät Ferdinands VII.«

Hier ist zu bemerken, daß Collin französich sprach, wie eine spanische Kuh; er radebrechte bis zur Unverständlichkeit und ließ sich immer wieder bitten, seine Worte zu wiederholen.

»Haben Sie Ausweispapiere, die Ihre Eigenschaften belegen?« fragte der Richter.

»Gewiß, – einen Paß, einen Brief Seiner Katholischen Majestät als Vollmacht, … und dann können Sie sofort zwei Worte an die spanische Gesandtschaft schicken, die ich vor Ihnen schreiben werde: man wird dann gleich meine Auslieferung verlangen. Brauchen Sie noch andere Beweise, dann schreibe ich an Seine Eminenz den Großalmosenpfleger von Frankreich, der sofort seinen Privatsekretär herschicken wird.«

»Behaupten Sie immer noch, im Sterben zu liegen?« meinte Camusot. »Hätten Sie wirklich die Leiden durchgemacht, über die Sie während Ihrer Verhaftung klagten, so müßten Sie schon tot sein,« fügte er spöttisch hinzu.

»Sie prozessieren gegen den Mut eines Schuldlosen und die Kraft seines Temperamentes,« erwiderte der Beschuldigte mild.

»Coquart, klingeln Sie! Der Arzt der Vogtei und ein Krankenwärter sollen kommen. – Wir werden genötigt sein, Ihnen den Rock auszuziehen, um das Mal auf Ihrer Schulter feststellen zu lassen …« fuhr Camusot fort.

»Ich bin in Ihrer Hand.«

Und der Beschuldigte fragte, ob sein Richter die Güte haben wollte, ihm zu sagen, um was für ein Mal es sich handle und warum man es auf der Schulter suche. Diese Frage erwartete der Richter.

»Sie stehen im Verdacht, ein entwichener Sträfling, Jakob Collin zu sein, dessen Kühnheit vor nichts, auch nicht vor einer Kirchenschändung zurückweicht!« rief er lebhaft und bohrte seinen Blick in die Augen des Gefangenen.

Collin erzitterte nicht, errötete nicht, sondern blieb ganz ruhig und schaute Camusot mit unschuldsvoller Neugier an: »Ich ein Sträfling? Mag Ihnen mein Orden und Gott solchen Irrtum vergeben! Sagen Sie mir, was ich tun kann, um solche Kränkung des Menschenrechts, der Kirche und meines königlichen Herrn abzuwenden.«

Der Richter erklärte dem Beschuldigten, ohne zu antworten, daß die Buchstaben des Brandmales durch Schläge wieder sichtbar wurden, wenn ihm dieses gesetzliche Kennzeichen eines verurteilten Sträflings jemals aufgeprägt worden sei.

»Ach, welch Unglück,« meinte Collin, »wenn meine Aufopferung für die Sache des Königs mir hier verhängnisvoll würde.«

»Erklären Sie mir das,« sagte der Richter, »denn dazu sind Sie hier.«

»Sehen Sie, ich habe viele Wunden auf dem Rücken, denn ich wurde einst als Landesverräter von hinten erschossen, als ich in Treuen meinem König diente. Die Konstitutionellen ließen mich für tot liegen.«

»Sie wurden erschossen und leben doch?« erkundigte sich Camusot.

»Ich hatte Beziehungen zu den Soldaten, die von frommen Leuten Geld erhalten hatten. Darum stellten sie sich sehr weit ab, und als sie mich in den Rücken schossen, wurde ich nur beinahe getötet. Seine Exzellenz der Herr Gesandte kann Ihnen das bezeugen …«

»Dieser Teufelskerl hat auf alles eine Antwort! Schön,« dachte Camusot, der anscheinend nur deshalb so streng war, um den Anforderungen des Gerichts und der Polizei zu genügen.

 

Jakob Collins erstaunlicher Einfall.

Dann wandte er sich an den Sträfling:

»Was hatte ein Mann Ihres Standes bei der Geliebten des Barons von Nüßingen zu tun, – bei einer ehemaligen Dirne?«

»Bevor ich Ihnen den Grund sage, der mich in dies Haus führte,« erwiderte Collin, »muß ich bemerken, daß ich bei den ersten Schritten auf jener Treppe von dem Krankheitsanfall betroffen wurde und nicht Zeit fand, mit dem Mädchen zu reden. Ich wußte nämlich um Fräulein Esthers Absicht, sich den Tod zu geben, und da es sich um eine Angelegenheit des jungen Lucien von Rubempré handelte, für den ich aus heiligsten Gründen eine besondere Zuneigung habe, wollte ich das arme Wesen von diesem Schritte der Verzweiflung abbringen, ich wollte ihr sagen, daß Luciens letzter Versuch bei Fräulein Clotilde mißglücken würde, und hoffte ihr durch die Nachricht der Millionenerbschaft neuen Lebensmut einzuflößen. Sicher wurde ich das Opfer der mir anvertrauten Geheimnisse, davon bin ich überzeugt. Nach dem blitzartigen Auftreten des Anfalles nehme ich an, daß ich an diesem Morgen vergiftet wurde. Aber mein kräftiger Körper hat mich gerettet. Ich weiß, daß mir schon längst ein Agent der politischen Polizei nachsetzt und mich in irgendeine schmutzige Sache zu verwickeln sucht … Hätten Sie auf meine Bitte nach meiner Verhaftung gleich einen Arzt kommen lassen, dann wäre der Beweis für das, was ich über meine Erkrankung angebe, erbracht worden. Wirklich, glauben Sie mir, – Leute, die hoch über uns stehen, haben ein starkes Interesse daran, mich mit einem Verbrecher zusammenzuwerfen, um sich meiner mit dem Anscheine des Rechtes entledigen zu können. Den Königen dienen bringt nicht immer Gewinn; einzig die Kirche ist vollkommen.«

Das Minenspiel Collins während dieser zehn Minuten währenden Rede ist unmöglich zu beschreiben. Alles, zumal die Anspielung auf Corentin, war so wahrscheinlich, daß der Richter seine Überzeugung wanken fühlte.

»Können Sie mir den Grund Ihrer Zuneigung für Herrn von Rubempré anvertrauen?«

»Ahnen Sie ihn nicht?! … Ich bin jetzt sechzig … Bitte, schreiben Sie das nicht auf … Nämlich … Muß das durchaus sein? …«

»Es liegt in Ihrem Interesse und vor allem auch in dem von Herrn Rubempré, daß Sie alles sagen,« versetzte der Richter.

»Also denn … mein Gott! … es ist … er ist mein Sohn! preßte er heraus. Und dann wurde er ohnmächtig.

»Schreiben Sie das nicht, Coquart,« sagte Camusot ganz leise.

Coquart stand auf und langte nach einem Essigfläschchen.

»Ist das Collin, dann ist er ein glänzender Schauspieler …« dachte Camusot.

Coquart ließ den alten Sträfling am Essig riechen, während der Richter mit Luchs- und Beamtenaugen zuguckte.

 

Das zerstörte Mal.

»Man muß ihm seine Perrücke abnehmen,« meinte Camusot, während Collin wieder zur Besinnung kam.

Der alte Sträfling hörte das und erzitterte angstvoll, denn er wußte, wie gemein er dann aussah.

»Wenn Ihnen die Kraft dazu fehlt … Also, Coquart, nehmen Sie sie ab,« wandte sich der Richter an den Schreiber.

Collin neigte dem Schreiber mit bewunderungswürdiger Ergebenheit den Kopf zu, aber nun bot sein entblößter Schädel nicht nur einen schauerlichen Anblick, sondern er enthüllte zugleich auch seinen wahren Charakter. Diese Wahrnehmung stürzte Camusot wieder in große Ungewißheit.

Während er auf den Arzt und den Wärter wartete, ordnete er alle Papiere und Gegenstände, die aus Luciens Wohnung mitgenommen worden waren. Denn auch bei ihm war Haussuchung gehalten worden.

»Sie haben dort die Briefe der Frau Gräfin von Sérizy in der Hand,« bemerkte Carlos. »Aber ich weiß nicht, warum Sie fast alle Papiere Luciens dort liegen haben, fügte er mir einem Lächeln hinzu, dessen Hohn den Richter gleich einem Blitz traf.

Camusot begriff durch dies Lächeln die ganze Tiefsinnigkeit dieses Wörtleins ›fast‹.

»Lucien von Rubempré wurde unter dem Verdacht, Ihr Mitschuldiger zu sein, festgenommen,« versetzte er, um die Wirkung dieser Nachricht auf den Beschuldigten zu sehen.

»Dann taten Sie arges Unrecht, denn er ist ebenso schuldlos wie ich,« sagte der falsche Spanier ohne eine Spur von Bewegung.

»Das werden wir sehen, vorläufig dreht es sich um Ihre Persönlichkeit,« meinte Camusot, den diese Ruhe überraschte. »Sind Sie wirklich Don Carlos Herrera, dann ist sofort Herrn Luciens Diestels Lage wie ausgewechselt. Aber wenn Sie Jakob Collin sind, und wenn er bewußt der Gefährte eines ausgebrochenen Sträflings, eines Kirchenschänders war, dann werden all die vom Gericht beargwöhnten Verbrechen mehr als wahrscheinlich.«

Herrera hörte mit bronzener Unbeweglichkeit diese geschickten Sätze des Richters an. Bei den Worten ›bewußt‹ und ›ausgebrochener Sträfling‹ reckte er nur in edlem Schmerz statt jeder Antwort die Hände zum Himmel.

»Herr Abbé,« fuhr der Richter mit übertriebener Höflichkeit fort, »sind Sie Don Carlos Herrera, dann vergeben Sie uns gewiß alles, was wir im Interesse des Rechtes und der Wahrheit tun mußten …«

Collin ahnte die Falle schon bei dem Ton, mit dem der Richter ihn mit ›Herr Abbé‹ anredete. Nichts änderte sich in seiner Haltung. Camusot erwartete eine Freudenregung als ersten Beweis der unverkennbaren Zufriedenheit eines Verbrechers, der seinen Richter täuscht, aber er fand diesen Helden des Bagno mit der machiavellistischsten Verstellungskunst gewaffnet.

»Ich bin Diplomat und gehöre zu einem Orden, der die strengsten Gelübde fordert,« erwiderte Collin mit apostolischer Milde. »Ich verstehe alles, und bin an Leiden gewöhnt. Ich wäre schon frei, wenn Sie bei mir das Versteck meiner Papiere entdeckt hätten; denn ich sehe, daß Sie dort nur wertlose Zettel liegen haben …«

Das war für Camusot der Gnadenstoß: Collin hatte durch seine Schlichtheit und Ruhe jeden Verdacht abgeschlagen, den der Anblick seines Schädels geweckt hatte.

»Wo sind Ihre Papiere?«

»Ich nenne die Stelle, wenn Sie Ihren Beauftragten durch einen Sekretär der spanischen Gesandtschaft begleiten lassen, der die Sachen in Empfang nimmt und dem Sie dafür einstehen müssen; denn es handelt sich um meinen Staat, um diplomatische Papiere und Geheimnisse, die den hochseligen König Ludwig XVIII. bloßstellen. – Ach, es wäre besser … Aber Sie sind ja Beamter … Und dann mag im übrigen auch der Gesandte, auf den ich mich berufe, entscheiden.«

Jetzt traten der Arzt und der Wärter nach Anmeldung durch den Gerichtsdiener ein.

»Guten Tag, Herr Lebrun,« begrüßte Camusot den Arzt. »Bitte untersuchen Sie doch den Zustand dieses Gefangenen. Er behauptet, vergiftet worden zu sein und seit vorgestern mit dem Tode zu ringen. Wäre es gefährlich, ihn zu entkleiden, und nach dem Brandmal zu suchen? Sehen Sie doch einmal zu!«

Der Doktor nahm Collins Hand, fühlte den Puls, besah sich die Zunge und betrachtete den Mann genau. Nach zehn Minuten etwa erklärte er:

»Der Gefangene hat viel Schmerzen durchlitten, aber jetzt verfügt er über große Kräfte …«

»Diese anscheinende Kraft stammt von der nervösen Erregung über meine seltsame Lage,« erwiderte Collin mit bischöflicher Würde.

»Das mag sein,« meinte Lebrun.

Auf einen Wink des Richters wurde Herrera ausgekleidet und behielt nur die Hosen an. Da man auch das Hemd auszog, konnten alle einen behaarten Oberkörper von wahrhaft kyklopischen Formen bestaunen.

»Wofür bestimmt die Natur Männer von solcher Gestalt?« … fragte der Arzt Herrn Camusot.

Der Gerichtsdiener kam mit einer Art Schlegel aus Ebenholz, der seit unvordenklichen Zeiten das Wahrzeichen seines Amtes ist und Rute genannt wird. Mehrmals schlug er auf die Stelle, wo der Henker das verhängnisvolle Mal eingebrannt hatte. So erschienen siebzehn Löcher, launenhaft verteilt. Aber trotz aller Sorgfalt war keine Spur eines Buchstabens zu entdecken; nur der Balken des T wurde durch zwei Löcher gekennzeichnet, deren Abstand etwa der Länge des Balkens entsprach zwischen den beiden Häkchen, die an jedem Ende stehen. Und ein anderes Loch bezeichnete das untere Ende des Buchstabens.

»Das ist doch recht unsicher,« meinte Camusot, als er das zweifelnde Gesicht des Vogteiarztes sah.

Nun bat Carlos, denselben Versuch auf der anderen Seite und der Mitte des Rückens zu machen. So erschienen an die fünfzehn andere Wunden, die der Arzt auf den Wink des Spaniers hin untersuchte. Schließlich gab er die Erklärung ab, daß der ganze Rücken von Wunden durchfurcht sei und daß dies Mal auch dann nicht sichtbar werden könnte, wenn der Henker es eingebrannt habe.

 

Asiens Dienste.

Hier trat ein Bürodiener der Polizeipräfektur ein und übergab Camusot ein Schreiben mit der Bitte um Antwort. Dieser las es und flüsterte dann mit Coquart so leise, daß niemand es hören konnte; aber an einem Blicke erriet Collin, daß der Polizeipräfekt irgendeine Mitteilung über ihn geschickt hatte.

»Ich habe immer noch Peyrades Freund auf den Fersen,« dachte er. »Kennte ich ihn, dann würde ich ihn wie Contenson beseitigen. Könnte ich doch einmal noch Asien sehen! …«

Der Richter unterschrieb, was Coquart geschrieben hatte, und reichte es verschlossen dem Diener. Dann wurde der Gefangene auf seinen Wink wieder angekleidet, Lebrun und der Wärter gingen mit dem Gerichtsdiener hinaus und Camusot, der sich an den Schreibtisch setzte, begann mit seiner Feder zu spielen.

»Sie haben eine Tante?!« sagte er zu Collin.

»Eine Tante?« erstaunte sich Herrera. »Nein … ich habe keine Verwandten, ich bin ein heimliches Kind des seligen Herzogs von Ossuna.«

Innerlich sagte er: »Sie ›brennen‹!« wie die Kinder beim Versteckspiel, – ein kindliches Abbild des schrecklichen Kampfes zwischen Justiz und Verbrecher.

»Bah,« meinte Camusot. »Also los … Sie haben eine Tante, Jakobine Collin, die Sie unter dem verdrehten Namen Asien bei dem Fräulein Esther untergebracht hatten.«

Collin zuckte sorglos mit den Schultern. Das paßte großartig zu seiner neugierigen Miene, mit der er die Worte des Richters bei diesem pfiffigen Verhör aufnahm.

»Nehmen Sie sich in acht,« fuhr Camusot fort. »Hören Sie gut zu. Ihre Tante ist Händlerin auf dem Trödlermarkt. Das Geschäft wird von einem Fräulein Paccard, der Schwester eines verurteilten Verbrechers, geführt, übrigens ein sehr anständiges Mädchen mit dem Beinamen Romette. Das Gericht ist Ihrer Tante auf der Spur und in ein paar Stunden haben wir die entscheidenden Beweise. Diese Frau ist Ihnen sehr ergeben …«

»Bitte, weiter,« sagte Collin ruhig, als Camusot eine Pause machte. »Ich höre zu.«

»Ihre Tante, die etwa fünf Jahre älter ist als Sie, war einst die Geliebte von Marat unseligen Angedenkens; von ihm stammt der Kern ihres Vermögens … Wie ich höre, ist sie eine gewandte, sehr schwer überführbare Hehlerin. Nach Marats Tode war sie mit einem später wegen Falschmünzerei zum Tode verurteilten Chemiker zusammen. Dort lernte sie alle Gifte kennen. Später wurde sie Kleiderhändlerin, saß auch zweimal je ein Jahr im Gefängnis, weil sie Minderjährige verkuppelt hat … Auch Sie haben schon wegen Fälschungen Strafen erlitten … Das paßt wenig zu der Würde der Herzöge von Ossuna … Bleiben Sie immer noch bei Ihrem Leugnen?«

Jakob Collin ließ sich trotz der Gewandtheit dieses Verhörs keine Regung entlocken. Er dachte an seine glückliche Jugend, und seine Gedanken förderten seinen staunenden Gesichtsausdruck.

»Wenn Sie die Erklärung vom Anfange genau niedergeschrieben haben, so lesen Sie nach,« versetzte er. »Ich kann nichts anderes sagen … Ich habe bei der Kurtisane nicht verkehrt, – also wie soll ich wissen, was sie für eine Köchin hatte? Ich kenne die Leute gar nicht, von denen Sie da sprechen.

»Also werden wir Sie jetzt trotz Ihrem Leugnen Leuten gegenüberstellen, die Ihre Sicherheit etwas erschüttern werden.«

»Wer schon einmal erschossen worden ist, ist an alles gewöhnt,« versetzte Collin sanft.

Jetzt kam auch der Gerichtsdiener mit der erwarteten Meldung, daß Bibi-Lupin eingetroffen sei.

»Lassen Sie ihn eintreten,« antwortete Camusot.

 

Erneuerung alter Bekanntschaften.

Als Bibi-Lupin eintrat, erwartete man den Ausruf: »Natürlich ist er's!«

Aber er blieb überrascht stehen. In diesem blatternarbigen Gesicht erkannte er seinen Kunden nicht. Dies Zögern verblüffte den Richter.

»Seine Gestalt, sein Wuchs ist es ja,« meinte der Agent – »jawohl, du bist's, Jakob Collin,« fuhr er fort, indem er die Augen, die Stirn und die Ohren prüfte. »Manches läßt sich doch nicht verändern … Sicher ist er's, Herr Camusot … Er hat übrigens eine Narbe am linken Arm, von einem Messerstich. Wenn er den Rock auszieht, werden Sie es sehen.«

Von neuem mußte Collin den Rock ausziehen, Bibi-Lupin streifte den Ärmel des Hemdes hoch und zeigte die Narbe.

»Das stammt von einer Kugel,« erwiderte Herrera. »Da sind noch ganz andere Wunden.«

»Ach, – natürlich ist das seine Stimme,« rief Bibi-Lupin.

»Ihre Gewißheit dient einfach nur als Auskunft, nicht als Beweis,« meinte der Richter.

»Ich weiß,« versetzte Bibi-Lupin demütig. »Aber ich werde Zeugen finden. Eine Pensionärin aus dem Haus Vauquer steht schon draußen …« sagte er mit einem Blick auf Collin. Dessen ruhiges gefälliges Gesicht zuckte nicht.

»Lassen Sie sie eintreten,« bestimmte Camusot, dessen Unzufriedenheit durch seine anscheinende Gleichgültigkeit hindurchleuchtete.

Diese Regung merkte Collin, der wenig auf das Wohlwollen seines Untersuchungsrichters rechnete. Er versank in eine Gleichgültigkeit, die Folge heftigsten Nachdenkens über den Grund dieser Unzufriedenheit.

Der Gerichtsdiener führte Frau Poiret ein, deren unerwarteter Anblick den Sträfling leicht erbeben machte, aber der Richter, der sich anscheinend schon entschieden hatte, merkte es nicht.

»Wie heißen Sie?« fragte er, um die Formalitäten zu erfüllen, die jedem Verhör vorangehen. Frau Poiret war eine alte runzlige Frau, die sich mit Zimmermieten ernährte, hatte Christine Michonneau gehießen und Herrn Poiret geheiratet.

»Haben Sie in den Jahren 1818-19 in der Pension Vauquer gewohnt?«

»Freilich, dort lernte ich Herrn Poiret kennen, der später mein Mann wurde … Seit einem Jahr liegt er im Bett. Deshalb kann ich auch nicht lange außer Hause bleiben.«

»War damals in dieser Pension ein gewisser Vautrin?«

»Ach ja, das ist eine ganze Geschichte! Das war ein schrecklicher Galeerensträfling …«

»Sie haben an seiner Verhaftung mitgewirkt.«

»Das stimmt nicht …«

»Sie stehen vor Gericht, nehmen Sie sich in acht!« sagte Camusot streng. Frau Poiret schwieg.

»Frischen Sie Ihr Gedächtnis auf. Erinnern Sie sich noch an den Mann? Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Ich denke doch.«

»Ist es dieser Mann hier?« fragte der Richter.

Frau Poiret setzte die Brille auf und betrachtete den Abbé Herrera.

»Seine Gestalt, sein Wuchs ist's ja, aber … nein … ja … – wenn ich seine Brust entblößt sehen könnte, dann würde ich ihn sofort wiedererkennen!«

Der Richter und der Schreiber mußten trotz dem Ernst unwillkürlich lachen. Auch Collin stimmte ein, natürlich mit Maß. Da er seine Jacke noch nicht wieder angezogen hatte, öffnete er bereitwillig das Hemd.

»Der Haarwuchs ist es … aber grau ist er geworden, Herr Vautrin!« rief Frau Poiret.

 

Der Beschuldigte ist kühn.

»Was sagen Sie dazu?« fragte der Richter den Gefangenen.

»Die Frau ist verrückt!« erwiderte Collin.

»Gott, ich habe ja gezweifelt, denn das Gesicht ist ganz anders, aber die Stimme genügt … Natürlich ist er es, der mich bedroht hat … Ja, das ist sein Blick!«

»Der Polizeiagent hat sich mit der Frau nicht verständigen können,« wandte sich der Richter an Collin, »keiner hat Sie vorher gesehen, und doch sagen beide dasselbe. Wie erklären Sie das?«

»Das Gericht hat schon schlimmere Irrtümer begangen als die Anerkennung einer Aussage von einer Frau, die einen Mann an den Haaren seiner Brust erkennt, oder des Verdachtes von einem Polizeiagenten. Die Ähnlichkeit von Stimme, Blick und Wuchs mit einem Schwerverbrecher ist doch schon recht ungewiß. Über die Erinnerungen, die Beziehungen zwischen dieser Frau und mir bezeugen könnten, über die sie nicht errötet, – darüber haben Sie doch selbst gelacht. Wollen Sie im Interesse der Wahrheit, die ich selbst festgestellt sehen möchte, Frau … Foi...«

»Poiret!«

»… Poret – entschuldigen Sie … ich bin Spanier – wollen Sie sie bitte fragen, ob sie sich erinnert, wer in diesem Hause wohnte … Wie nannten Sie es doch?«

»Eine bürgerliche Pension,« sagte Frau Poiret.

»Ich weiß gar nicht, was das ist.«

»Ein Haus, wo man im Abonnement ißt oder frühstückt.«

»Sie haben recht,« rief Camusot, und ein Nicken seines Kopfes begütigte Collin, denn diese offenbare Gutwilligkeit, mit der er selbst die Wege zu einer Aufklärung wies, überraschte ihn. »Versuchen Sie sich zu erinnern, wer alles bei Jakob Collins Festnahme zu den Gästen dort gehörte.«

»Da war Herr von Rastignac, Dr. Bianchon, Vater Goriot, Fraulein Taillefer …«

»Schön,« meinte der Richter, der Collins unbewegliches Gesicht betrachtete. »Also Vater Goriot?«

»Der ist tot,« sagte Frau Poiret.

»Ich traf mehrmals bei Lucien einen von Herrn Rastignac,« bemerkte Collin, »der, glaube ich, dann Beziehungen zu Frau von Nüßingen hatte. Wenn von ihm hier die Rede ist, dann hat er mich jedenfalls niemals für den Sträfling gehalten, mit dem ich hier durchaus verwechselt werden soll …«

»Herr von Rastignac und Dr. Bianchon nehmen so angesehene Stellungen in der Gesellschaft ein,« meinte der Richter, »daß ein günstiges Zeugnis von ihnen genügen würde, um Sie frei zu machen. – Coquart, schreiben Sie die Vorladungen aus.«

Nach wenigen Minuten waren die Förmlichkeiten für Frau Poirets Aussagen erledigt, der Schriftsatz wurde verlesen und von ihr unterzeichnet. Aber der Gefangene verweigerte die Unterschrift mit einem Hinweis auf seine Unkenntnis der französischen Gerichtsbräuche.

 

Ein Zwischenfall.

»Für heute ist es genug,« erklärte Camusot. »Sie brauchen sicher etwas Stärkung; ich werde Sie also in die Vogtei zurückführen lassen.«

»Ach, ich leide viel zu sehr, um essen zu können,« sagte Collin.

Camusot wollte seinen Rückweg in die Zeit verlegen, wo die Gefangenen im Gefängnishof spazieren gehen. Aber noch erwartete er die Mitteilung des Vogteidirektors über den heut früh erlassenen Befehl und schellte daher nach dem Gerichtsdiener. Als dieser hereinkam, berichtete er, daß die Pförtnersfrau im Hause am Kai Malaquais einen wichtigen Brief überbracht habe, der sich auf Herrn von Rubempré bezog. Dieser Zwischenfall war so gewichtig, daß Camusot seine Absicht darüber vergaß.

»Sie soll eintreten!« sagte er.

»Verzeihen Sie, entschuldigen Sie,« begrüßte die Pförtnersfrau abwechselnd den Richter und den Abbé. »Mein Mann und ich waren bei den zwei Besuchen der Beamten so verwirrt, daß wir im Schranke einen Brief vergaßen, der an Herrn Lucien gerichtet ist. Er ist zwar aus Paris, aber weil er so schwer ist, mußten wir zehn Sous bezahlen. Bekomme ich das von Ihnen zurückbezahlt? Gott weiß, wann wir unsere Mieter wieder zu sehen bekommen!«

»Wurde der Brief durch den Briefträger abgegeben?« fragte Camusot, nachdem er den Umschlag aufmerksam geprüft hatte.

»Jawohl.«

»Coquart, nehmen Sie diese Aussage auf. Also, liebe Frau, Ihr Name, Ihr Stand …«

Während dieser Förmlichkeiten prüfte Camusot die Marke, den Stempel mit den Stunden und dem Tage der Einlieferung und Auslieferung. Dieser Brief war am Morgen nach Esthers Tode bei Lucien abgegeben und offenbar am Tage der Katastrophe geschrieben und eingeworfen worden.

Man kann sich Camusots Überraschung beim Lesen dieses Briefes vorstellen, den die Frau geschrieben und unterzeichnet hatte, die bei Gericht als das Opfer eines Verbrechens galt.

 

Genug!.

Montag, den 15. Mai 1830

Mein letzter Tag, um zehn Uhr morgens.

Mein Lucien,

Ich habe keine Stunde mehr zu leben. Um elf Uhr bin ich tot und ich sterbe ohne jeden Schmerz. Ich habe fünfzigtausend Franken für ein reizendes kleines schwarzes Beerchen bezahlt, das ein tödliches Gift von blitzschneller Wirkung enthält. Du kannst Dir also sagen, Liebchen: »Meine kleine Esther hat nicht gelitten …« Ja, ich leide nur, während ich dir diese Seiten schreibe.

Das Ungeheuer, das mich so teuer gekauft hat, trotzdem es wußte, daß der Tag, an dem ich mich als sein Eigen betrachten würde, kein Morgen haben wird, – Nüßingen ist jetzt fort, trunken wie ein Bär, den man besäuselt hat. Zum ersten und letzten Mal meines Lebens konnte ich meinen einstigen Beruf als Freudenmädchen mit dem Leben der Liebe vergleichen, die Zärtlichkeit, die im Unendlichen erblüht, mit dem Schauer der Pflicht überdecken, die sich so vollkommen vernichten möchte, daß selbst für einen Kuß kein Raum bliebe. Dieser Ekel war die nötige Vorbedingung, damit ich den Tod anbetungswürdig finden konnte … Ich habe ein Bad genommen.

Ich hätte gern den Beichtiger des Klosters kommen lassen, wo ich die Taufe erhielt, hätte gern gebeichtet, um auch meine Seele rein zu baden. Aber diese Prostitution genügte; ich hätte ein Sakrament entheiligt, und im übrigen fühle ich mich in den Wassern aufrichtiger Reue gebadet. Gott wird mit mir nach Gefallen tun. Lassen wir also diese Rührseligkeiten, – ich will für Dich bis zum letzten Augenblick Deine Esther sein, will Dich nicht mit meinem Tode, der Zukunft und dem lieben Gott langweilen, der nicht gut wäre, wenn er mich im anderen Leben quälen würde, nachdem ich in diesem Leben so viel Schmerz schlucken mußte …

Vor mir steht Dein reizendes Bild, das Frau von Mirbel gemacht hat. Dies Elfenbeinblättchen hat mich über Deine Abwesenheit hinweggetröstet; ich blicke es liebestrunken an, während ich Dir meine letzten Gedanken schreibe, das letzte Pochen meines Herzens male. Ich lege das Bild mit in den Brief, denn ich will nicht, daß man daran herumstöbert oder es verkauft. Der Gedanke allein, das, was meine Freude war, könnte in der Auslage eines Kaufmanns zwischen allerlei Damen- und Offiziersbildern oder chinesischen Kinkerlitzchen geraten, gibt mir einen Todesschreck. Laß das Bild verschwinden, Liebster, gib es niemandem … Es sei denn, wenn dies Geschenk Dir das Herz der wandelnden, kleidertragenden Latte, dieser Clotilde von Grandlieu zurückerobert, die Dir schwarze Flecken machen wird, so spitze Knochen hat sie …

Ja, damit bin ich einverstanden, denn ich wäre Dir ja dann noch für etwas gut, wie zu Lebzeiten. Ach, könnte ich Dir damit Freude machen, würde es Dich selbst nur zum Lachen bringen, dann würde ich mich mit einem Apfel im Munde über ein Kohlenfeuer beugen, um ihn für Dich zu schmoren! Mein Tod wird Dir also von Nutzen sein … Ich hätte sicher Dein Eheglück gestört … Oh, diese Clotilde, ich verstehe sie nicht! Sie kann Deine Frau sein, kann Deinen Namen tragen, braucht Dich weder tags noch nachts zu verlassen, kann ganz Dein sein und macht noch Umstände! Dazu muß man schon aus der Vorstadt Saint-Germain stammen und keine zehn Pfund Fleisch auf dem Buckel haben …

Armer Lucien! Du teurer, gescheiterter Ehrgeizling, – ich denke an Deine Zukunft. Warte nur, Du wirst noch manches Mal Deinen armen getreuen Hund vermissen, dies gute Ding, das für Dich zu stehlen bereit war, das sich zur Sicherung Deines Glückes vor den Gerichtshof hätte schleppen lassen, das nur an Deine Freude dachte, Freuden für Dich ersann, in jedem Haare, den Füßen, den Ohren von Liebe überfloß, kurz, Deine »Ballerina«, deren Blicke sämtlich Segenswünsche für Dich waren. Sechs Jahre hat sie nur an Dich gedacht, war ganz Dein Eigen, so vollkommen, daß ich nichts war, als eine Ausstrahlung Deiner Seele, wie das Licht die Ausstrahlung der Sonne ist. Aber das Geld, die Ehre fehlt, und, ach, so kann ich Deine Frau nicht sein …

Stets habe ich für Deine Zukunft gesorgt, habe Dir alles gegeben, was ich hatte … Sowie Du nun diesen Brief erhalten hast, dann komm eilends herbei und nimm, was unter meinem Kopfkissen liegt, denn ich mißtraue den Leuten im Hause …

Siehst Du, ich will im Tode schön sein, und so werde ich mich niederlegen, werde mich in meinem Bett ausstrecken, werde eine schöne Haltung einnehmen, und dann zerdrücke ich die Beere an der Schranke des Gaumens und werde weder durch Krämpfe noch durch lächerliche Verrenkung entstellt sein.

Ich weiß, Frau von Sérizy hat sich um meinetwillen mit Dir verkracht; aber, siehst Du, mein Kätzchen, wenn sie erst weiß, daß ich tot bin, dann wird sie Dir verzeihen, Du wirst um sie herum sein, und sie wird Dich gut verheiraten, wenn die Grandlieus sich weiter weigern.

Mein Süßes, ich will nicht, daß Du bei der Nachricht von meinem Tode ein groß Geschrei anstellst. Vor allem laß Dir sagen: die elfte Stunde an diesem Montag, den 13. Mai, bedeutet nur das Ende einer langen Krankheit, die an dem Tage begann, als Ihr mich wieder in meinen alten Beruf zurückgeschleudert habt.

Es gibt Krankheiten der Seele, wie es körperliche gibt. Nur kann die Seele nicht so dumm die Leiden hinnehmen wie der Körper: der Körper stützt nicht die Seele, wie die Seele den Körper, und die Seele besitzt nur ein Heilmittel in Überlegungen, die Näherinnen das Kohlenbecken als Zuflucht weisen.

Vorgestern schenktest Du mir ein ganzes Leben, als Du mir sagtest, Du würdest mich heiraten, wenn Clotilde Dich nochmals zurückwiese. Das wäre für uns zwei ein großes Unglück gewesen, denn ich wäre gewissermaßen noch mehr gestorben; es gibt ja bittere und weniger bittere Tode. Die Gesellschaft hätte uns doch niemals aufgenommen.

Zwei Monate lang denke ich nun schon an so mancherlei. Siehst Du, ein armes Mädel steckt im Kot, wie ich vor meinem Eintritt ins Kloster; die Männer finden sie hübsch, lassen sie ihren Freuden dienen, indem sie jede Rücksicht beiseite schieben, schicken sie zu Fuß heim, nachdem sie im Wagen kamen, um sie abzuholen; spucken sie ihr nicht ins Gesicht, so unterbleibt das nur, weil ihre Schönheit sie vor diesem Schimpf schützt; aber moralisch tun sie schlimmeres.

Nun also, solch Mädchen erbt fünf oder sechs Millionen, und plötzlich laufen ihr Prinzen nach, alles grüßt sie mit Hochachtung, wenn sie in ihrem Wagen vorbeifährt, sie kann unter den ältesten Abkömmlingen Frankreichs und Navarras sich aussuchen, wer ihr beliebt. Diese Gesellschaft, die auf uns schimpfen würde, wenn sie zwei schöne Wesen in Einigkeit und Glück sähe, hat sich vor Frau von Staël trotz ihren vielen Liebesromanen gebeugt, weil sie zweihunderttausend Livres Rente hatte. Die Welt, die sich vor dem Gelde und dem Ruhme verneigt, will sich vor dem Glück und der Tugend nicht beugen, – denn, wieviel Gutes hätte ich getan … wieviel Tränen getrocknet! Ich glaube so viel, wie ich vergossen habe!

Das sind die Betrachtungen, die mir den Tod begehrenswert, anbetungswürdig machen. Also, Kätzchen, nur kein Gejammere! Sage Dir ja recht oft: »Es gab einmal zwei gute Mädels, zwei schöne Geschöpfe, die alle beide für mich gestorben sind, ohne auf mich böse zu sein, die mich alle beide vergötterten!« Errichte in Deinem Herzen einen Gedenkstein für Coralie, einen für Esther, und – dann mach' Deinen Weg!

Erinnerst Du Dich des Tages, wo Du mir eine alte verschrumpelte Greisin in melonengrünem Kopftuch und flohfarbenem Mäntelchen mit schwarzen Fettflecken zeigtest, die die Geliebte eines Dichters vor der Revolution gewesen war? Die Sonne wärmte sie kaum, obgleich sie sich in den Tuilerien wie eine Statistin hingestellt hatte, und sich um einen schrecklichen Mops sorgte, den jämmerlichsten aller Möpse? Du weißt, sie hat früher Lakaien, Equipagen, einen Palast gehabt! Und da sagte ich Dir: »Lieber mit dreißig Jahren sterben!« Siehst Du, damals fandest Du mich nachdenklich und machtest allerlei Tollheiten, um mich zu zerstreuen. Und zwischen zwei Küssen sagte ich Dir weiter: »Täglich gehen die hübschen Frauen vor dem Ende des Stückes aus dem Theater …!« Kurz, auch ich wollte nicht den letzten Akt mit ansehen.

Sicher findest Du mich geschwätzig, aber das ist ja meine letzte Pappelei. Ich schreibe Dir, wie ich mit Dir gesprochen hätte, und ich will lustig mit Dir plaudern. Über die kleinen Schneiderinnen, die ein groß Gejammer anstellen, war ich immer entsetzt; Du weißt, daß ich schon einmal recht gut zu sterben wußte, damals, als ich von dem verhängnisvollen Opernball heimkehrte, und wo man mich Dir als eine ehemalige Dirne gekennzeichnet hatte, nicht wahr?

Ach nein, Süßer, gib dies Bild niemals aus der Hand! Wüßtest Du, mit welch überströmender Liebe ich mich eben in Deine Augen versenkt habe, während ich sie in einer kleinen Pause liebestrunken betrachtete, dann könntest Du die Liebe wieder zurücknehmen, die ich in dies Elfenbeinblättchen zu verschmelzen suchte, und Dir sagen, daß die Seele Deines heißgeliebten Schätzchen darinnen ist.

Ach wie komisch: eine Tote, die um eine milde Gabe bittet! … Nein, man muß sich im Grabe ruhig zu halten verstehen.

Du weißt ja gar nicht, wie heldenhaft den Dummköpfen mein Tod vorkäme, wenn sie wüßten, daß mir heut Nacht Nüßingen zwei Millionen für den Fall bot, daß ich ihn ebenso lieben würde, wie ich Dich geliebt habe. Er wird sich schön bestohlen fühlen, wenn er hört, daß ich ihm Wort hielt, indem ich ›an ihm‹ abkratzte. Ich habe alles getan, um auch weiterhin die Luft atmen zu können, die Du atmest. Ich habe diesem fetten Dieb gesagt: »Wollen Sie so, wie Sie es wünschen, geliebt sein? Ich verpflichte mich sogar, Lucien niemals wiederzusehen …« – »Was gehört dazu?« fragte er. – »Geben Sie mir zwei Millionen für ihn!« … Nein wenn Du sein Gesicht gesehen hättest … Ach, ich hätte darüber gelacht, wenn es nicht für mich so tragisch gewesen wäre. »Ersparen Sie mir eine Abweisung,« sagte ich. »Ich sehe, Sie hängen mehr an den zwei Millionen, als an mir. – Eine Frau ist immer sehr zufrieden, wenn sie weiß, wieviel sie wert ist,« fügte ich hinzu und drehte ihm den Rücken zu.

In ein paar Stunden weiß der alte Schuft, daß ich nicht gespaßt habe.

Wer wird Dir nun so schön einen Scheitel ziehen wie ich? Ach laß nur, ich will an nichts in diesem Leben mehr denken, mir bleiben nur noch fünf Minuten, und die weihe ich Gott. Sei nicht eifersüchtig darauf, liebster Engel, ich will mit ihm von Dir reden, will ihn für den Preis meines Todes und meiner Strafen im Jenseits um Dein Glück anflehen. Es ist mir freilich sehr unangenehm, in die Hölle zu kommen, – lieber hätte ich die Engel gesehen, um zu wissen, ob sie Dir ähnlich sind …

Leb wohl, Süßes, leb wohl! Ich segne Dich für all mein Unglück.

Bis in das Grab

Deine
Esther.

Eben schlägt es elf. Ich habe mein letztes Gebet verrichtet und lege mich jetzt zum Sterben nieder. Nochmals – leb wohl!

Ich wollte, die Wärme meiner Hand ließe hier meine Seele zurück, wie ich hierhin einen letzten Kuß drücke, und noch einmal will ich Dich mein liebstes Schätzlein nennen, obgleich Du der Grund bist für den Tod

Deiner Esther.

 

Wo man sieht, daß das Gericht herzlos ist und sein muß.

Mit einer Regung von Eifersucht preßte sich das Herz des Richters zusammen, während er diesen Brief zu Ende las, den einzigen Selbstmörderbrief, den er so fröhlich geschrieben sah, wenn auch diese Fröhlichkeit die fieberhafte, letzte Anstrengung blinder Zärtlichkeit war.

»Was hat er eigentlich besonderes, um derart geliebt zu werden?!« dachte er und wiederholte damit nur, was alle Männer sagen, denen die Gabe fehlt, den Frauen zu gefallen.

»Wenn Sie nicht nur beweisen können, daß Sie nicht der ausgebrochene Sträfling Jakob Collin, sondern wirklich Don Carlos Herrera sind,« wandte er sich an Collin, »dann werden Sie in Freiheit gesetzt, denn die Gerechtigkeit meines Amtes zwingt mich, Ihnen zu sagen, daß ich eben einen Brief von Fräulein Esther Gobseck bekam, in dem sie die Absicht ausspricht, sich zu töten, und gegen ihre Dienstboten einen Argwohn äußert, der diese als Raubesurheber oder Räuber der siebenhundertfünfzigtausend Franken vermuten läßt.«

Während er sprach, verglich er die Schrift des Briefes mit der des Testaments, und es war ganz deutlich, daß beide von derselben Hand geschrieben waren.

»Sie haben es zu eilig gehabt, an ein Verbrechen zu glauben, also überstürzen Sie sich wenigstens nicht, jetzt an einen Diebstahl zu glauben.«

»Glauben Sie nicht, daß ich mich durch die Behauptung bloßstellen werde, auch diese Summe könne sich wiederfinden,« fuhr Collin fort und gab dem Richter zu verstehen, daß er seinen Argwohn begriff. »Das arme Mädchen wurde von seinen Leuten sehr geliebt. Wäre ich frei, dann würde ich die Suche des Geldes übernehmen, das jetzt dem mir teuersten Wesen gehört, Lucien! … Hätten Sie die Güte, mich diesen Brief lesen zu lassen? Ich bin ja gleich damit fertig … Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich ihn vernichte, denn er beweist ja die Unschuld meines teuren Kindes … und davon sprechen werde ich nicht, denn ich sitze ja in Einzelhaft.«

»Dort werden Sie nicht länger bleiben!« rief der Beamte. »Ich selbst bitte Sie, so schnell als möglich Ihren Stand aufzuklären. Wenn Sie wollen, wenden Sie sich an Ihren Gesandten …« Und er reichte Collin den Brief.

Im Grunde war er heilsfroh, aus dieser Klemme zu kommen und zugleich den Generalstaatsanwalt, die Herzogin von Maufrigneuse und Frau von Sérizy zufrieden zu stellen. Trotzdem betrachtete er kalt und neugierig das Gesicht des Gefangenen, während dieser den Brief las, und trotz der aufrichtigen Gefühle, die sich darin malten, sagte er sich:

»Das ist doch ein Bagnogesicht.«

»Ja, das heißt lieben!« sagte Collin und reichte ihm den Brief zurück.

So bekam Camusot ein tränenüberströmtes Gesicht zu sehen.

»Ach, wenn Sie ihn doch kennten,« fuhr er fort. »Was ist es doch für eine junge frische Seele, welch prächtige Schönheit, was für ein Kind, ein Dichter … Man kann einfach nicht anders, man muß sich für ihn opfern!«

Und in dem Wunsch, sein Werk zu vollenden, ging er auf den Richter zu, führte ihn ans Fenster und begann wie ein Kirchenfürst, der über vertrauliche Dinge redet:

»Ich liebe dies Kind so heiß, daß ich mich, wenn es nötig wäre, für den Verbrecher ausgeben würde, für den Sie mich halten, wenn ich diesem meinem Abgotte eine Unannehmlichkeit ersparen könnte,« sagte er leise. »Ich würde es dem armen Ding gleichtun, daß sich getötet hat, um ihm von Nutzen zu sein. Darum bitte ich um die besondere Gunst: setzen Sie Lucien sofort in Freiheit!«

»Dem widerspricht meine Pflicht,« sagte Camusot wohlwollend. »Aber das Gericht kennt Rücksichten, und wenn Sie mir irgendwelche brauchbare Gründe nennen können … sprechen Sie nur, jetzt wird ja nichts davon aufgeschrieben.«

»Ich weiß,« versetzte Collin, der sich durch Camusots Wohlwollen täuschen ließ, »was dies arme Kind in diesem Augenblick durchmachen muß. Er ist imstande, sich das Leben zu nehmen, weil er sich im Gefängnis sieht …«

»Oh, was das betrifft …« reckte sich Camusot.

»Sie wissen nicht, wen Sie sich verpflichten, wenn Sie sich mich verpflichten,« fügte Collin hinzu, um noch andere Seiten anzuschlagen. »Sie leisten einem Orden einen Dienst, der mächtiger ist als eine Gräfin Sérizy, als eine Herzogin von Maufrigneuse, die es Ihnen doch niemals vergeben werden, daß Sie in Ihrem Büro ihre Briefe gehabt haben,« er wies auf zwei duftende Briefpäckchen.

»Mein Orden weiß sich zu erinnern …«

»Genug! Bitte andere Gründe,« rief Camusot. »Ich habe ebensoviel Pflichten gegenüber dem Angeschuldigten wie gegenüber der Öffentlichkeit.«

»Ich kenne Lucien, er hat eine Frauenseele, keine Festigkeit, keinen Willen,« fuhr Collin fort, der den Richter gewonnen zu haben glaubte. »Sie sind von seiner Unschuld überzeugt, also quälen Sie ihn nicht, fragen Sie ihn nicht. Geben Sie ihm diesen Brief, erzählen Sie ihm, daß er Esthers Erbe ist, und geben Sie ihm die Freiheit zurück … Handelten Sie anders, dann würden Sie selbst darüber in Verzweiflung geraten. Lassen Sie ihn aber einfach hinaus, dann erkläre ich Ihnen morgen, heut abend schon (aber behalten Sie mich ruhig im Gefängnis!), was Ihnen noch in dieser Sache geheimnisvoll scheinen mag und die Gründe der heftigen Verfolgung, die sich gegen mich richtet. Ich wage mein Leben dafür, – man hat es ja schon seit fünf Jahren auf meinen Kopf abgesehen. Ist Lucien frei, reich und mit Clotilde von Grandlieu verheiratet, dann ist meine Aufgabe hienieden vollendet und ich brauche meine Haut nicht mehr zu verteidigen … Mein Verfolger ist ein Spion Ihres letzten Königs.«

»Ach so, Corentin!«

»Aha, Corentin heißt er? … Danke schön … Also, wollen Sie mir versprechen, meine Bitte zu erfüllen?«

»Ein Richter darf und kann nichts versprechen – Coquart, weisen Sie den Gerichtsdiener und die Schutzleute an, den Gefangenen in die Vogtei zurückzuführen … – Ich gebe Anordnung, daß Sie heut abend in Vorzugshaft kommen,« sagte er sanft mit einem leichten Gruß zu dem Gefangenen hin.

 

Der Richter gewinnt wieder seine Überlegenheit.

Camusot wurde sofort wieder mißtrauisch, denn bei Collins auffälliger Bitte erinnerte er sich seines Drängens, als erster vernommen zu werden. Während er seinem ungewissen Argwohn nachhing, sah er den angeblich Totkranken wie einen Herkules einherschreiten, ohne all die gutgespielten Äffereien, die sein Kommen gekennzeichnet hatten.

»Hören Sie mal …«

Collin drehte sich um.

»Trotz Ihrem Weigern, das Protokoll zu unterschreiben, wird Ihnen mein Schreiber die Niederschrift Ihres Verhörs vorlesen.«

Der Gefangene war strahlend gesund. Die Art, wie er sich niedersetzte, war für den Richter ein entscheidender Lichtstrahl.

»Sie sind aber schnell geheilt!« meinte er.

»Jetzt bin ich gehascht,« dachte Collin. Laut erwiderte er: »Die Freude ist das einzige Heilmittel … Dieser Brief, dieser Beweis einer Unschuld, an der ich nicht zweifelte, hat mir meine ganze Gesundheit wiedergegeben.«

Der Richter folgte dem Gefangenen mit einem nachdenklichen Blicke, als die Wachen ihn umgaben. Dann machte er eine Bewegung, wie einer, der erwacht, und warf Esthers Brief auf den Tisch seines Schreibers:

»Coquart, schreiben Sie den Brief ab!«

Wenn schon ein Mensch von Natur mißtrauisch ist gegen eine Bitte, sobald sie gegen seine Interessen oder seine Pflicht geht, oft sogar, wenn sie gar nichts damit zu tun hat, so wird diese Empfindung für den Untersuchungsrichter zum Gesetz. Je mehr Wolken dieser Gefangene, dessen Stand noch nicht erwiesen war, für den Fall von Luciens Vernehmung am Horizonte ahnen ließ, um so notwendiger schien Camusot dies Verhör. War es auch formell nicht nötig, so erforderte es die Feststellung von Herreras Persönlichkeit.

Auch ohne Neugier, nur von Berufs wegen, als Ehrensache eines Beamten, hatte er Lucien verhört wie Collin, das heißt mit allen Listen eines rechtschaffenen Richters. Erst kam die Wahrheit, dann der Wunsch, Dienste zu tun, vorwärts zu kommen. Er konnte ja die Wahrheit verschweigen.

Er trommelte an die Fensterscheiben, überließ sich dem Strome der Vermutungen. Wahrheitsdurstige Beamte sind wie eifersüchtige Frauen: sie geben sich tausend Verdachtsgründen hin, machen vor dem Wahrscheinlichen, nicht dem Wahren, halt, und beginnen schließlich, klar zu sehen. Eine Frau fragt den geliebten Mann aus, wie der Richter den Verbrecher: In solcher Lage genügt die winzigste Andeutung, um Klärung zu bringen.

»Vielleicht hat er das Geld aus ›Vorsicht‹ in Sicherheit gebracht, weil er von dem Testament nichts wußte. So, wie er seine Ergebenheit schilderte, scheint das durchaus möglich. Er war der Wächter im Hause der Dirne … Daher wohl sein Versprechen, den Raub wieder aufzufinden. Herr von Rubempré schuldet sich selbst und dem Gericht, den Stand seines Vaters aufzuklären … So ein Kerl! Mir den Schutz seines Ordens, seines Ordens zu versprechen!«

Er klingelte, befahl dem Gerichtsdiener, Herrn von Rubempré zu rufen, wies ihm aber an, daß der Gefangene mit niemandem unterwegs in Verbindung treten dürfe. Es war jetzt zwei Uhr mittags.

»Irgendein Geheimnis steckt dahinter,« sann er. »Es muß sehr wichtig sein. Dies Chamäleon denkt: ›Der Dichter ist schwach wie eine Frau, nicht stark wie ich Herkules der Diplomatie, und dem könnt ihr leicht unser Geheimnis entreißen.‹ Schön, wir werden von dem Unschuldigen alles erfahren …«

Wie wunderlich unsere Verstandeskräfte arbeiten! Alle denkbaren Verbrechen vermutete Camusot, an dem einzigen tatsächlichen ging er vorbei: der Testamentfälschung zugunsten Luciens!

 

Die Gefahren des Gerichts für die Unschuld.

Bald sah Camusot Lucien von Rubempré bleich, zerbrochen, mit geröteten, geschwollenen Augen, kurz, in einem solchen Zustand der Vernichtung eintreten, daß er Natur und Kunst, den wahren Todeskandidaten mit dem sterbenden Schauspieler vergleichen konnte. Der Weg zum Richter zwischen den Schutzleuten hatte Luciens Verzweiflung die Krone aufgesetzt. Solch Dichter zieht die Hinrichtung einem Urteile vor. Camusot tat der Anblick solcher Mutlosigkeit leid, ihn dauerte der leichte Sieg und diese Mißachtung ließ ihn entscheidende Schläge führen, denn sein Geist blieb unbeeinflußt, wie der des Schützen, der nur Puppen beschießt.

»Beruhigen Sie sich, Herr von Rubempré, Sie stehen vor einem Beamten, der gern ein unwillkürliches Unrecht wieder gut machen will, wenn diese vorläufige Verhaftung unbegründet war. Ich halte Sie für schuldlos, Sie werden gleich frei sein, denn hier ist ein Beweis Ihrer Schuldlosigkeit: ein Brief, den die Pförtnersfrau in Ihrem Hause hatte liegen lassen und den sie jetzt erst brachte, weil die Haussuchungen schuld daran waren, daß sie ihn vergaß. Er kommt von Fräulein Esther Gobseck … Lesen Sie ihn!«

Lucien nahm den Brief, las ihn und zerfloß in Tränen. Er schluchzte, konnte kein Wort vorbringen, und als ihm nach einer viertel Stunde der Schreiber die Abschrift vorlegte und um Bestätigung der Übereinstimmung mit dem Original bat, verließ sich Lucien vollkommen auf seine Versicherung. Nun begann der Richter voller Wohlwollen:

»Immerhin kann ich Sie nicht so ohne weiteres frei lassen. Ich muß einige Förmlichkeiten erfüllen und einige Fragen stellen … Sie sind für mich fast eine Art Zeuge. Ich brauche Sie wohl nicht darauf aufmerksam zu machen, daß eine Versicherung Ihrerseits, die reine Wahrheit zu sagen, nicht nur einen Anruf an Ihr Gewissen, sondern auch eine Notwendigkeit bedeutet, die Ihre vorläufig noch ungewisse Lage erfordert. Wie die Wahrheit auch lauten mag, Ihnen kann sie nichts schaden, aber eine Lüge brächte Sie vor den Gerichtshof und würde mich nötigen, Sie in die Vogtei zurückführen zu lassen. Antworten Sie offen, dann schlafen Sie heut abend daheim und Sie werden durch die Zeitungsnachricht reingewaschen, daß der gestern verhaftete Herr von Rubempré nach kurzem Verhör wieder in Freiheit gesetzt worden ist.«

Diese Erklärung machte auf Lucien lebhaften Eindruck, und als der Richter diese Stimmung merkte, fuhr er fort:

»Sie stehen in dem Verdachte der Mitschuld bei einem Giftmord an Fräulein Esther. Jetzt ist ihr Selbstmord erwiesen, aber es wurden siebenhundertfünfzigtausend Franken gestohlen, die zum Nachlaß gehören und Sie sind der Erbe. Das ist unglücklicherweise ein Verbrechen, das der Testamentsöffnung voranging. Das Gericht nimmt an, daß jemand, der ebenso an Ihnen hing wie Fräulein Esther, diese Tat für Sie begangen hat … Ich will noch nicht fragen,« winkte er Lucien ab, der reden wollte, »ich will bloß andeuten, wie sehr Ihre Ehre mit dieser Frage verknüpft ist. Streifen Sie jedes falsche Ehrgefühl ab, das Helfershelfer verknüpft, und sagen Sie die reine Wahrheit.«

Das Mißverhältnis bei solchem Kampfe zwischen Beschuldigten und ihren Untersuchungsrichtern wurde schon in seinem übertriebenen Ausmaß dargetan. Gewiß kann geschicktes Leugnen einem Angeklagten genügen, aber findet der Dolch des Verhörs eine Lücke in diesem Panzer, dann wird dieser für ihn erdrückend. Genügt Leugnen nicht mehr, weil erwiesene Tatsachen gegenüberstehen, dann ist der Angeklagte dem Richter auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Ein Halbschuldiger wie Lucien, der durch die Errettung aus einem ersten Schiffbruche der Tugend ein nützliches Glied der Gesellschaft werden könnte, kommt sicher in den Fallen der Untersuchung um. Ein trockenes Protokoll verzeichnet Fragen und Antworten, von den heuchlerisch väterlichen Reden des Richters bleibt nichts übrig. –

»Also,« fragte Camusot nach einer Pause, »Sie heißen … wurden geboren …« Und Lucien wurde auf den Weg einer Generalbeichte geleitet.

»Seit Sie wieder nach Paris kamen, lebten Sie wie ein Mann mit sechzigtausend Franken Rente. Wer gab Ihnen das Geld?«

»Mein Beschützer, der Abbé Carlos Herrera. Ich lernte ihn auf der Landstraße kennen, als ich mir das Leben nehmen wollte …«

»Haben Sie in Ihrer Familie, Ihre Mutter von ihm reden hören? Haben Sie, hat Ihre Mutter den Spanier je getroffen oder davon erzählt?«

»Niemals!«

»Polizei und Gericht erfahren alles, was sie wissen wollen,« fuhr Camusot fort. »Bedenken Sie das, und nun sagen Sie mir: Wissen Sie, wer dieser angebliche Carlos Herrera ist? …«

»Ja, aber ich erfuhr es zu spät.«

»Wie so – zu spät? Erklären Sie das.«

»Er ist weder ein Priester noch ein Spanier, sondern …«

»Ein entflohener Sträfling?« fragte der Richter lebhaft.

»Ja! Als ich das Geheimnis erfuhr, war ich an ihn gebunden, – ich hatte mich einem ehrwürdigen Geistlichen zu verpflichten geglaubt …«

»Jakob Collin …« begann der Richter den Satz.

»Ja, so heißt er: Jakob Collin.«

»Schön, Jakob Collin wurde eben durch jemanden wiedererkannt, und verleugnet er auch noch seine wahre Persönlichkeit, so tut er es, glaube ich, nur um Ihretwillen. Jetzt frage ich Sie nach ihm, weil ich einen anderen Betrug dieses Collin aufdecken muß.«

Lucien durchzuckte es, als wenn sich glühendes Eisen in seine Eingeweide bohrte, als er diese Bemerkung hörte.

»Wissen Sie,« fuhr der Richter fort, »daß er Ihr Vater zu sein behauptet, um seine ungewöhnliche Zuneigung zu Ihnen zu erklären?«

»Er, mein Vater! … Oh, hat er das gesagt!?«

»Ahnen Sie, woher das Geld kam, das er Ihnen gab? Später bekamen Sie ja alles Geld von diesem armen Fräulein Esther. Aber jahrelang mußten Sie doch, wie Sie selbst zugeben, ohne diese Beihilfe glänzend leben.«

»Ich muß Sie selbst fragen, wo Sträflinge Geld hernehmen! … Ein Collin wäre mein Vater! … Oh, meine arme Mutter! …«

Er zerfloß in Tränen.

»Schreiber, lassen Sie den Gefangenen die Stelle in dem Verhör des angeblichen Carlos Herrera hören, wo er sich als Vater von Lucien von Rubempré bezeichnet …«

Der Dichter hörte der Verlesung schweigend, mit wahrhaft quälender Haltung zu. »Ich bin verloren!« rief er.

»Auf dem Wege der Ehre und der Wahrheit geht man nicht verloren,« sagte der Richter.

»Aber Sie schleppen doch Collin vor das Schwurgericht?« fragte Lucien.

»Freilich,« meinte Camusot, um Lucien weiter zum Reden zu bringen. »Sprechen Sie nur Ihre Gedanken weiter aus.«

 

Der Keulenschlag.

Aber trotz allen Vorstellungen des Richters antwortete Lucien nicht mehr. Zu spät war ihm die Überlegung gekommen, wie bei allen Männern, die Sklaven ihrer Empfindungen sind. Lucien blieb finster und bleich: er sah sich in der Tiefe des Abgrundes, in den ihn der Untersuchungsrichter mit seiner bestrickenden Gutmütigkeit gestürzt hatte. Er hatte nicht nur seinen Wohltäter, sondern auch seinen Mitschuldigen verraten, der mit Löwenmut und Gewandtheit zugleich seine Stellung mit verteidigt hatte. Die gemeine Lüge, die ihn so in Entrüstung brachte, war der Schirm gewesen, der eine noch viel gemeinere Wahrheit verdeckte. Jetzt saß er, der bei dem Betreten des Richterzimmers schuldlos gewesen war, jählings als ein Verbrecher in seinen eigenen Augen da. Er hatte zu seinem eigenen Schaden das Gesetz der Solidarität verkannt, das ihn zwang, zu schweigen und Collin die eigene Verteidigung zu überlassen. Mehr noch! er hatte ihn belastet, während es sein eigener Vorteil gewesen wäre, daß dieser Mann für ihn und alle Zeit Carlos Herrera hieß.

Camusot genoß seinen Sieg: jetzt hielt er zwei Schuldige in der Hand. Er hatte einen Liebling der Gesellschaft mit der Faust des Gerichtes niedergeschlagen und den unauffindlichen Jakob Collin entdeckt. Er mußte den Ruf eines der tüchtigsten Untersuchungsrichter erlangen. Er ließ also den Gefangenen in Ruhe, studierte aber dies entsetzte Schweigen, sah Schweißtropfen auf dem verfallenen Gesichte sich ballen und mit Tränenströmen vermischt niederrieseln.

»Warum weinen, Herr von Rubempré? Wie ich Ihnen sagte, sind Sie Fräulein Esthers Erbe, deren Nachlaß fast acht Millionen beträgt, wenn die verschwundenen siebenhundertfünfzigtausend Franken wieder auftauchen.«

Das war der letzte, ärgste Schlag. Wie Collin in dem Zettel geschrieben hatte: »Haltung während weniger Minuten!« Dann hätte Lucien das Ziel all seiner Hoffnungen erreicht! Er konnte sich von Collin frei machen, wurde reich, heiratete Fräulein von Grandlieu. Nichts bezeugt beredter als dieser Auftritt die Macht, die ein Untersuchungsrichter durch Einzelhaft und Trennung der Beschuldigten besitzt, und den Wert von Mitteilungen, wie Collin sie durch Asien erhielt.

»Wie recht hat man doch,« sagte Lucien mit dem bitteren Spott eines Mannes, der sich sein Unglück zum Piedestal macht, »wenn man das: ›ein Verhör durchmachen‹ nennt! Hätte ich die Wahl zwischen der körperlichen Marter der Vergangenheit und der seelischen Qual unserer Zeit, dann würde ich die Leiden vorziehen, die einst ein Henker einem zuteil werden ließ. Was wollen Sie noch von mir?« fragte er stolz.

»Hier habe nur ich Fragen zu stellen,« suchte der Beamte dem Dichterstolz gröblich zu erwidern.

»Ich habe das Recht, Antworten zu verweigern,« murmelte der arme Lucien, dem der klare Verstand wiedergekehrt war.

»Schreiber, lesen Sie dem Beschuldigten das Protokoll vor …«

»Ich bin wieder Beschuldigter,« sagte sich Lucien. Während der Schreiber vorlas, faßte Lucien einen Entschluß, der ihn zwang, Herrn Camusot zu schmeicheln … Sobald die Verlesung zu Ende war, fragte er spöttisch:

»Komme ich frei, wenn ich das unterschreibe?«

»Noch nicht, aber morgen nach der Gegenüberstellung mit Collin wahrscheinlich. Wir müssen doch wissen, ob Sie an den Verbrechen teil haben, die dieser Kerl seit seinem Ausbruch begangen hat. Aber ich will dem Direktor schreiben, daß Sie das beste Zimmer im Vorzugsgefängnis bekommen.«

»Finde ich dort etwas zum Schreiben?«

»Sie bekommen alles, was Sie wünschen, ich werde Anweisung geben.«

Lucien unterschrieb mechanisch das Protokoll. In einem Augenblick war er geworden, was Collin gewesen war: der Mann aus Erz. Bei Leuten wie Lucien sind solche jähen Übergänge aus völliger Niedergeschlagenheit in gleichsam metallharte Anspannung die auffälligste Erscheinung des Gedankenlebens: Der Wille kehrt wieder, strömt in den bereiten Apparat, der Leichnam wird Mensch, und der Mensch stürzt sich kraftvoll in den wildesten Kampf.

Lucien legte Esthers Brief mit dem Bilde darin aufs Herz, grüßte Herrn Camusot verächtlich und ging festen Schrittes zwischen den Schutzleuten hinaus.

»Ein tiefer Schuft!« sagte der Richter zum Schreiber um sich für diese zerschmetternde Verachtung zu rächen die der Dichter ihm zum Ausdruck gebracht hatte. »Er glaubte sich zu retten, indem er seinen Helfershelfer preisgab.«

»Von den beiden ist der Sträfling der Stärkere …« bemerkte Coquart schüchtern.

 

Der Richter auf der Folter.

»Für heute laß ich Sie laufen, Coquart,« sagte der Richter. »Das genügt vorläufig reichlich. Schicken Sie die Leute fort, die warten. Sie sollen morgen wiederkommen. Ja, und dann, sehen Sie doch gleich nach, ob der Herr Generalstaatsanwalt da ist, und bitten Sie ihn, mich einen Augenblick zu empfangen. – Wahrscheinlich ist er da, denn es ist erst viertel vor vier.«

Diese Verhöre kosten furchtbar viel Zeit durch das Niederschreiben. Daher kam es, daß mit diesen beiden Auftritten ebensoviel Zeit hinging, wie Asien zur Erledigung ihres Auftrages brauchte: Während sich nun Camusot die Protokolle nochmals durchlas und bedachte, sie dem Staatsanwalt zu zeigen und ihn um Rat zu fragen, meldete der Gerichtsdiener den Kammerdiener der Gräfin von Sérizy.

Der Richter las den Brief, den der Diener brachte: »In Anbetracht der vielen Ihnen begreiflichen Interessen verhören Sie Herrn von Rubempré nicht, lieber Camusot: wir bringen die Beweise seiner Schuldlosigkeit, damit er gleich freigelassen wird.

D. von Maufrigneuse, L. von Sérizy.

P. S. Verbrennen Sie den Brief vor dem Boten.«

 

Camusot begriff, welch riesigen Fehler er gemacht hatte, als er Lucien seine Fallen stellte, und begann damit, den großen Damen zu gehorchen: Er steckte eine Kerze an und vernichtete den Brief der Herzogin. Der Diener grüßte achtungsvoll.

»Frau von Sérizy wird also kommen?« fragte Camusot.

»Eben wurde angespannt,« versetzte der Kammerdiener.

In diesem Augenblick meldete Coquart, daß der Generalstaatsanwalt den Richter erwarte. Der sah sich von den Fehlern, die er zum Schaden seines Ehrgeizes, zugunsten des Rechts begangen hatte, arg bedrückt, und seine langjährige Erfahrung ließ ihn nach Waffen ausschauen gegen die Rache der beiden Damen. Die noch brennende Kerze benutzte er zum Versiegeln der dreißig Briefe von der Herzogin an Lucien und des umfangreichen Briefwechsels der Frau von Sérizy. Dann begab er sich zum Generalstaatsanwalt.

Herr von Granville hatte das Gericht nicht verlassen wollen, ohne die Angelegenheit Luciens erledigt zu wissen. Er versank bei der Anfrage des Untersuchungsrichters in die unwillkürliche Träumerei, gegen die sich auch die stärksten Geister in der Erwartung nicht wehren können. Er stand auf, ging auf und ab. Bei der absichtlichen Begegnung heut früh hatte Camusot so wenig Verständnis gezeigt: deshalb diese ungewisse Unruhe, dies Leiden. Die Würde seines Amtes verbot ihm strikt, die Unabhängigkeit eines Unterbeamten zu verletzen; und doch handelte es sich in diesem Prozeß um die Ehre und das Ansehen seines besten Freundes und eines seiner wärmsten Beschützer, des Staatsministers Grafen von Sérizy, des künftigen Kanzlers von Frankreich für den Fall, daß der derzeitige greise Inhaber dieses Amtes sterben sollte.

Herr von Sérizy hatte das Unglück, seine Frau ›trotz allem‹ anzubeten. Er deckte sie stets mit seinem Schutz, und der Staatsanwalt ahnte nur zu sehr, welch schrecklichen Lärm die Verurteilung eines Mannes, der so oft mit der Gräfin zusammen genannt wurde, in der Gesellschaft und am Hofe hervorrufen mußte. »Ja, unsere Gleichheitsmanie« – (Gesetzlichkeitsmanie wagte er nicht zu sagen) – »bringt unsere Zeit um …« Und als er gerade vor sich hingrübelte: »Sicher macht uns Camusot einen dummen Streich!« klopfte der Untersuchungsrichter zweimal an die Tür.

»Nun, lieber Camusot, wie steht die Sache?«

»Schlecht, Herr Graf. Lesen Sie und beurteilen Sie selbst …« Er reichte Herrn von Granville die beiden Protokolle, und der trat damit ans Fenster, nahm das Augenglas und durchflog sie hastig.

»Sie haben Ihre Pflicht getan,« sagte er bewegt. »Hier ist alles gesagt, das Recht wird seinen Lauf nehmen … Sie haben solchen Beweis von Geschicklichkeit erbracht, daß man sich niemals eines so tüchtigen Untersuchungsrichters berauben wird …« Hätte er gesagt: »Sie bleiben Ihr Leben lang Untersuchungsrichter …« dann wäre er auch nicht deutlicher gewesen als mit dieser schmeichelhaften Höflichkeit. Camusot durchschauerte es.

»Die Frau Herzogin von Maufrigneuse, der ich sehr viel schulde, hatte mich gebeten …«

»Ach so, die Herzogin von Maufrigneuse! Das ist ja die Freundin von Frau von Sérizy … Richtig … Sie haben, sehe ich, keine Beeinflussung geduldet. Daran taten Sie recht, Sie werden ein großer Beamter sein …«

 

Ist's zu spät?.

In diesem Augenblick öffnete Graf Octave von Bauvan ohne anzuklopfen die Tür und sagte zum Grafen Granville: »Mein Lieber, ich bringe dir da eine hübsche Frau, die nicht aus und ein wußte und sich fast in diesem Labyrinth verlaufen hätte …« Er hielt an der Hand die Gräfin von Sérizy.

»Sie hier, gnädige Frau,« rief der Staatsanwalt und schob seinen eigenen Sessel hin, »und in welchem Augenblick! … Hier steht Herr Camusot, gnädige Frau,« er wies auf den Richter. – »Bauvan,« wandte er sich an den berühmten Ministerialredner der Restauration, »erwarte mich beim ersten Präsidenten, ich komme gleich nach.«

Bauvan begriff, daß er erstens zu viel war, und daß der Staatsanwalt einen Grund haben wollte, um sein Büro verlassen zu müssen, Frau von Sérizy hatte nicht den Fehler gemacht, in ihrer prächtigen Kutsche zum Gericht zu fahren, sondern sie war auf Rat von Asien mit der Herzogin in einer Droschke gekommen. Ebenso hatte sie ein Gewand angelegt, das für Frauen etwa wirkte, wie sonst ein mauerfarbener Mantel für Männer.

»Haben Sie unsern Brief bekommen? …« fragte sie Camusot, dessen Verwirrung sie für bewundernde Achtung hielt.

»Leider zu spät, Frau Gräfin,« versetzte der Richter, der nur in seinem Amtszimmer bei Gefangenen Takt und Geist besaß.

»Wieso zu spät?« Sie blickte Herrn von Granville an und sah dessen Betretenheit.

»Es kann doch noch nicht zu spät sein!« fügte sie mit herrischer Betonung hinzu.

 

Was Frauen in Paris alles fertig bekommen.

Frauen, hübsche Frauen sind in Frankreich wie verwöhnte Kinder. Sie erlauben sich, alles zu sagen, scheuen vor keinem Fehler, keiner Torheit zurück; denn sie haben ausgezeichnet begriffen, daß sie für nichts im Leben Verantwortung tragen als für ihre Frauenehre und ihre Kinder. Lachend sprechen sie die größten Ungeheuerlichkeiten aus.

»Gnädige Frau,« sagte der Staatsanwalt, »Herr Lucien hat weder einen Diebstahl noch einen Giftmord auf dem Gewissen, aber Herr Camusot hat ihm das Geständnis eines viel schlimmeren Verbrechens abgepreßt … Er gilt jetzt als Freund und Schüler eines ausgebrochenen Sträflings,« flüsterte er ihr ins Ohr. »Dieser spanische Geistliche, Carlos Herrera soll der berüchtigte Jakob Collin sein …«

Jedes Wort des Beamten war für Frau von Sérizy ein Hammerschlag, aber der berüchtigte Name gab ihr den Gnadenstoß. »Und das Ende vom Lied? …« fragte sie mit einer Stimme wie ein Hauch.

»Der Sträfling kommt vors Schwurgericht, und wenn Lucien nicht neben ihm als Helfershelfer seiner Verbrechen vor die Geschworenen kommt, dann wird er als schwerverdächtiger Zeuge vor Gericht erscheinen …«

»Oho, das geschieht niemals!« rief sie laut mit unglaublicher Bestimmtheit. »Ein Mann, der in der ganzen Gesellschaft als mein bester Freund gilt?! … Niemals! Der König hat meinen Mann sehr gern …«

»Gnädige Frau,« sagte lächelnd der Staatsanwalt, »der König hat selbst auf den kleinsten Untersuchungsrichter und auch auf das Schwurgericht keinerlei Einfluß. Darin liegt die Größe unserer neuen Einrichtung. Ich habe eben Herrn Camusot zu seinem Geschick beglückwünscht …«

»Zu seinem Ungeschick,« verbesserte die Gräfin, der Luciens Beziehungen zu einem Banditen weit weniger beunruhigend schienen als die zu Esther.

»Wenn Sie Herrn Camusots Verhör der beiden Gefangenen lesen, werden Sie sehen, daß alles von ihm abhängt …«

Nach diesem Satz, der alles enthielt, was der Staatsanwalt sich erlauben konnte zu sagen, und mit einem wahrhaft weiblich-schlauen, oder wenn man lieber will, mit einem richterlich-schlauen Blick ging Granville zur Tür, und verabschiedete sich: »Sie verzeihen, gnädige Frau, ich habe mit Bauvan zwei Worte zu reden …« Das heißt in der Sprache der Gesellschaft so viel als: »Ich will nicht bei dem dabei sein, was zwischen Ihnen und Camusot vor sich geht.« –

»Was ist das, solch ein Protokoll?« wandte sich Leontine sanft an Camusot, der ganz geknickt vor dieser einflußreichen Dame stand.

»Gnädige Frau, ein Schreiber zeichnet die Fragen des Richters und die Antworten des Angeklagten auf und das Ganze wird vom Richter, Schreiber und Angeklagten unterschrieben. Diese Akten bilden die Grundlage des Verfahrens; sie entscheiden über die Anklage und Verweisung vor das Schwurgericht.«

»Schön, – wenn man also die Protokolle vernichten würde? …«

»Aber, gnädige Frau, solch ein Verbrechen darf ein Beamter nicht begehen! Das wäre ein Verbrechen gegen die Gesellschaft!«

»Das Verbrechen, so etwas niederzuschreiben, ist mir gegenüber noch viel schlimmer. Aber vorläufig ist es ja der einzige Beweis gegen Lucien. Also lesen Sie es mir vor, damit ich sehe, ob wir alle insgesamt noch zu retten sind. Denn es dreht sich nicht nur um mich, die ich mich kaltlächelnd töten würde, es handelt sich auch um das Glück von Herrn von Sérizy.«

»Gnädige Frau, ich habe durchaus nicht vergessen, wieviel Dank und Rücksicht ich Ihnen schulde. Bei einem anderen Richter würden Sie weitaus schlimmer daran sein, denn er hätte sich nicht mit dem Generalstaatsanwalt beraten, und nichts wäre bekannt geworden. Sehen Sie, gnädige Frau, bei Herrn Lucien wurde alles beschlagnahmt, selbst Ihre Briefe …«

»Oh, meine Briefe!«

»Hier sind sie, unter Siegel …« sagte der Richter.

In ihrer Aufregung klingelte die Gräfin, als ob sie zu Hause wäre. Der Bürodiener des Staatsanwalts trat ein.

»Licht!« befahl sie.

Der Diener steckte eine Kerze an, und stellte sie auf den Kamin, während die Gräfin ihre Briefe prüfte, zählte, zerriß und in den Kamin warf. Den letzten benutzte sie als Fackel und steckte den ganzen Haufen damit an. Camusot stand mit reichlich dummem Gesicht dabei und sah, die Protokolle in den Händen, dieses Feuerchen mit an. Die Gräfin schien nur mit diesen Beweisen ihrer Zärtlichkeit und deren Vernichtung beschäftigt, aber um die Ecke herum betrachtete sie den Richter, berechnete jede seiner Bewegungen und mit katzenartiger Gewandtheit packte sie plötzlich die beiden Protokolle und warf sie in die Flammen. Camusot holte sie sofort wieder hervor; aber nun warf sich die Gräfin auf den Richter, packte die brennenden Papiere und so entstand ein Kampf, bei dem Camusot verzweifelt rief:

»Aber gnädige Frau! Sie vergreifen sich da … Gnädige Frau! …«

Jemand stürzte ins Kabinett. Unwillkürlich stieß die Gräfin einen Schrei aus: sie erkannte den Grafen von Sérizy. Hinter ihm drein eilten die Herrn von Granville und Bauvan herbei. Aber Leontine wollte um jeden Preis Lucien retten. Sie umklammerte die schrecklichen behördlichen Papiere wie mit Eisenzangen, und ließ sie nicht los, obgleich die Flammen schon Blasen in ihre zarte Hand brannten. Schließlich schien Camusot, dessen Finger gleichfalls vom Feuer verletzt wurden, von Scham über diese Lage überwältigt. Er gab die Akten frei; aber es blieb nur noch das Wenige, das vom Feuer nicht verzehrt werden konnte, weil die beiden es in der Hand gehabt hatten. – Alles ging viel schneller, als es sich hier beschreiben läßt.

 

Eine Geschichte zum Lachen.

»Um was drehte es sich eigentlich hier zwischen Ihnen und Frau von Sérizy?« fragte der Staatsminister den Richter.

Bevor der noch antworten konnte, hielt die Gräfin die Papiere an die Kerze und warf sie auf den Haufen von Briefen, der noch nicht ganz verbrannt war.

»Ich hätte mich eigentlich über die Frau Gräfin zu beschweren,« stammelte Camusot.

»Ei, ei! Was hat sie denn getan?« fragte der Staatsanwalt und blickte abwechselnd die Gräfin und den Richter an.

»Ich habe die Protokolle verbrannt,« sagte die Modedame lachend, und sie war über ihren ›Streich‹ so glücklich, daß sie die Brandwunden noch nicht verspürte. »Wenn das ein Verbrechen ist, dann kann der Herr ja mit seinem schrecklichen Zeug noch einmal anfangen.«

»Das ist wahr,« versetzte Camusot und versuchte, seine Würde wiederzuerlangen.

»Na also, dann ist ja alles gut,« sagte der Staatsanwalt. »Freilich, teuerste Gräfin, oft dürfen Sie sich auf dem Gericht solche Freiheiten nicht herausnehmen, denn man könnte dort einmal unberücksichtigt lassen, wer Sie sind.«

»Herr Camusot hat tapfer einer Frau widerstanden, der niemand zu widerstehen vermag: also die Ehre seines Standes ist gerettet!« rief Graf von Bauvan lachend.

»Ach so, Herr Camusot hat Widerstand geleistet? …« meinte der Staatsanwalt lachend. »Ei ei, der ist stark! ich hätte mich der Gräfin nicht zu widersetzen gewagt.«

Mit einem Schlag wurde dies schwere Vergehen zu dem Späßchen einer hübschen Frau, über das Camusot selbst lachen mußte. Aber der Generalstaatsanwalt sah jetzt, daß einer der Herren nicht lachte. Die Haltung und der Ausdruck des Grafen von Sérizy erschreckten ihn mit Recht, und deshalb nahm ihn Granville beiseite. »Lieber Freund,« flüsterte er ihm ins Ohr, »zum ersten und zum letztenmal in meinem Leben bestimmt mich dein Schmerz, meine Pflicht zu verletzen.« Er klingelte und der Diener erschien. »Sagen Sie Herrn von Chargeboeuf, er möchte zu mir kommen.« Herr von Chargeboeuf war ein junger Advokat und der Sekretär des Generalstaatsanwalts.

Dann zog Herr von Granville Camusot ans Fenster und sagte:

»Lieber Freund, gehen Sie doch in Ihr Büro zurück und stellen Sie nochmals mit Ihrem Schreiber das Verhör des Abbé Herrera zusammen, der ja nicht unterschrieben hat, so daß man ohne Schwierigkeiten von neuem beginnen kann. Morgen stellen Sie den ›spanischen Diplomaten‹ den Herren Rastignac und Bianchon gegenüber, die unsern Jakob Collin nicht in ihm erkennen werden. Ist er seiner Entlassung sicher, dann wird der Kerl schon das Protokoll unterschreiben. Lucien aber lassen Sie heut abend schon los; denn er wird von dem Verhör, dessen Protokoll eben vernichtet wurde, nicht sprechen, zumal, wenn ich ihm noch eine Standrede halte. In der Gerichtszeitung steht dann morgen, daß er sofort freigelassen worden ist. Und nun, – wird das Recht unter diesen Maßnahmen leiden? Nein! Ist der Spanier der fragliche Sträfling, dann finden wir tausend Mittel, ihn wieder zu fassen, den Prozeß von vorn zu beginnen und auf diplomatischem Wege seine Vergangenheit aufzuklären. Corentin wird ihn im Auge behalten, und wir tun es auch. Behandeln Sie ihn also gut. Können wir etwa den Grafen, die Gräfin Sérizy oder Lucien für einen sehr zweifelhaften Diebstahl umbringen, der noch dazu zum Schaden von Lucien begangen worden ist? Gibt man nicht besser diese Summe als seinen Ruf dahin? … Zumal, wenn ein Staatsminister, dessen Frau und eine Herzogin ins Unglück mitgerissen würden? … Der junge Mann ist eine Apfelsine mit einem Druckfleck, – lassen Sie sie nicht verfaulen! … Alles ist in einer halben Stunde zu erledigen. Also schnell, wir warten. Es ist jetzt halb vier, Sie finden noch Richter; und wenn Sie die Freilassung erwirkt haben, melden Sie es.«

Camusot ging mit einem Gruß hinaus, aber Frau von Sérizy, die jetzt ihre Brandwunden spürte, grüßte nicht zurück. Herr von Sérizy war während dieses Gesprächs plötzlich hinausgeeilt und kam mit einem Töpfchen voll Wachs zurück. Er verband die Hände seiner Frau und flüsterte ihr ins Ohr: »Leontine, wie konnten Sie hierher kommen, ohne mir etwas zu sagen?«

»Liebster Freund,« flüsterte sie zurück, »verzeihen Sie. Ich scheine Ihnen toll, aber es handelte sich ebensosehr um Sie, wie um mich.«

»Lieben Sie meinetwegen den jungen Kerl, wenn es das Schicksal nun einmal will, aber lassen Sie Ihre Leidenschaft nicht so vor aller Welt sehen,« versetzte der arme Ehemann.

»Also, teuerste Gräfin,« meinte Granville, der inzwischen mit Bauvan geplaudert hatte, »ich hoffe, Sie können heut abend Herrn von Rubempré zum Essen bei sich haben.«

Dieses halbe Versprechen wirkte derart auf Frau von Sérizy, daß sie in Tränen ausbrach. »Ich glaubte, keine Tränen mehr zu haben,« sagte sie lächelnd. »Aber können Sie es nicht so einrichten, daß man hier auf Herrn von Rubempré warten kann?«

»Ich werde einen Gerichtsdiener rufen, damit er ihn herbringt, dann bleibt ihm die Überführung mit Schutzleuten erspart,« meinte Granville.

»Sie sind so gut wie der Herrgott,« erwiderte sie mit einer überströmenden Glückseligkeit, die ihre Stimme zu göttlicher Musik machte.

Als Herr von Granville hinausging, hielt ihn der junge Chargeboeuf auf, mit dem er die Anordnungen für die Redakteure der Gerichtszeitung besprach.

 

Dandy und der Dichter finden sich wieder.

Während schöne Frauen, Minister und Beamte zusammenarbeiteten, um Lucien zu retten, geschah in der Vogtei folgendes:

Beim Durchgang durch das Tor hatte der Dichter in der Kanzlei mitgeteilt, daß ihm Herr Camusot erlaubt hatte zu schreiben, und daraufhin um Schreibzeug gebeten. Das brachte ein Wächter auf eine leise Anordnung des Direktors alsbald zu ihm. In der kurzen Zeit, bis er zu Lucien gelangte, versank der arme junge Mann, dem der Gedanke einer Gegenüberstellung mit Collin unerträglich war, in das verhängnisvolle Grübeln, das die Absicht des Selbstmordes, die er schon gefaßt hatte, zur krankhaften Vorstellung machte. Indem er den Brief von Esther noch mehrmals las, steigerte sich die Heftigkeit seines Wunsches, zu sterben. Er schrieb also:

 

»Das ist mein Testament:

In der Vogtei am 15. Mai 1830

Ich Endesunterzeichneter gebe und vermache den Kindern meiner Schwester, Frau Eva Diestel, Gattin von David Séchard, dem früheren Drucker in Angoulême, und Herrn David Séchard all meinen beweglichen und unbeweglichen Besitz, der mir am Tage meines Todes zugehört, abzüglich der Zahlungen und Legate, deren Erledigung ich meinen Testamentsvollstrecker auszuführen bitte.

Ich ersuche Herrn von Sérizy flehentlich, dies Amt des Testamentsvollstreckers für mich zu übernehmen.

Es soll erhalten: erstens: der Herr Abbé Carlos Herrera dreimalhunderttausend Franken;

zweitens: Herr Baron von Nüßingen vierzehnhunderttausend Franken, von denen siebenhundertfünfzigtausend Franken abgehen, wenn sich die bei Fräulein Esther entwendete Summe wiederfindet.

Als Erbe von Fräulein Esther Gobseck gebe und vermache ich den Pariser Hospizen siebenmalhundertfünfzigtausend Franken zur Gründung eines Asyls für öffentliche Dirnen, die ihren lasterhaften Beruf verlassen wollen. Außerdem vermache ich den Hospizen das nötige Geld zum Ankauf von fünfprozentigen Rentenpapieren für eine Rente von dreißigtausend Franken. Die jährlichen Zinsen sollen halbjährlich zur Befreiung von Gefangenen dienen, die wegen Schulden bis höchstens zweitausend Franken verurteilt sind. Die Hospizverwalter haben unter den ehrenhaftesten Schuldgefangenen zu wählen.

Ich bitte Herrn von Sérizy, vierzigtausend Franken zur Errichtung eines Grabdenkmals im Ostfriedhof für Fräulein Esther zu verwenden, und bitte, neben ihr beerdigt zu werden. Das Grab soll nach Art alter Gräber viereckig sein; in weißem Marmor ruhen auf dem Deckel unsere beiden Gestalten, mit dem Kopf auf Kissen und mit gefalteten, gen Himmel gerichteten Händen. Das Grab soll keine Inschrift tragen.

Ich bitte den Herrn Grafen von Sérizy, Herrn Eugen von Rastignac als Erinnerung an mich mein goldenes Toilettengerät zu überreichen, das sich in meiner Wohnung befindet. Endlich bitte ich meinen Testamentsvollstrecker, für diese Amtswaltung meine Bücherei als Geschenk annehmen zu wollen.

Lucien Distel von Rubempré.«

 

Dies Testament kam in einen Brief an den Generalstaatsanwalt Herrn Grafen von Granville, der folgendermaßen lautete:

»Herr Graf, ich vertraue Ihnen mein Testament an. Wenn Sie diesen Brief entfalten, lebe ich nicht mehr. In meinem Wunsche, die Freiheit wieder zu erlangen, habe ich auf die schlauen Fragen von Herrn Camusot derart schwächlich geantwortet, daß ich trotz meiner Unschuld in einen entehrenden Prozeß verwickelt werden kann. Denn auch bei einer vorwurfslosen Freilassung würde mir die Empfindlichkeit der Gesellschaft das Leben unerträglich machen.

Bitte, übergeben Sie einliegenden Brief, ohne ihn zu öffnen, dem Abbé Carlos Herrera, und übermitteln Sie Herrn Camusot den förmlichen Widerruf, den ich beifüge. Ich denke, man wird den Verschluß eines an Sie gerichteten Briefes nicht zu verletzen wagen. Voll Vertrauen hierauf sage ich Ihnen Lebewohl, entbiete Ihnen zum letzten Male den Ausdruck meiner Hochachtung und bitte Sie zu glauben, daß diese Zeilen an Sie ein Zeichen meiner Erkenntlichkeit für all die Güte sind, mit der Sie Ihren verstorbenen Diener überhäuft haben.

Lucien von R.«

 

»An den Abbé Carlos Herrera.

Mein lieber Abbé!

Ich habe nur Wohltaten von Ihnen empfangen, und doch habe ich Sie verraten. Diese unfreiwillige Undankbarkeit tötet mich, und wenn Sie diese Zeilen lesen, bin ich nicht mehr; Sie werden nicht mehr zur Hand sein, um mich zu retten.

Sie haben mir vollauf das Recht gegeben, Sie wie einen Zigarrenstummel fortzuwerfen und zu vernichten, wenn ich darin einen Vorteil hätte finden können; aber ich habe dumm an Ihnen gehandelt. Eine Verlegenheit, eine geschickte Frage des Untersuchungsrichters führte mich, Ihr geistiges Kind, das Sie adoptiert hatten, in die Reihen derer, die Ihnen um jeden Preis ans Leben wollen und die, wie ich weiß unmögliche, Identität zwischen Ihnen und einem französischen Verbrecher behaupteten. Das sagt alles.

Zwischen einem derart machtvollen Menschen wie Sie, und mir, aus dem Sie etwas Größeres machen wollten, als ich sein konnte, dürfen im Augenblicke eines letzten Abschiedes keine Nichtigkeiten ausgesprochen werden. Sie wollten mich mächtig und ruhmvoll sehen, und stürzten mich in die Schlünde des Selbstmordes: das war's. Schon lange hörte ich des Verhängnisses Fittiche über mir rauschen. Einst sagten Sie, daß Kain und Abel, jeder von beiden seine Nachkommen hat: Kain spielt im Menschheitsdrama die Rolle des Widerspruchs, und Sie führten Ihre Abkunft von Adam auf dieser Linie fort, wo der Teufel das erste auf Eva geworfene Fünkchen ununterbrochen zur Lohe schürte. Unter den Dämonen dieser Linie tauchen bisweilen gewaltige, weithinwirkende Geister auf, die alle Menschenkräfte in sich zusammenfassen. Derartige Menschen sind in der Gesellschaft so gefährlich, wie es Löwen in der Normandie wären. Sie brauchen Nahrung, verschlingen alltägliche Menschen und weiden das Geld der Dummköpfe ab. Ihr Spiel wird so gefährlich, daß sie schließlich den demütigen Hund töten, der ihnen Gefährte, Abgott geworden war.

Will Gott es, dann werden solche Wesen zu einem Moses, Attila, Carl dem Großen, Mohamed oder Napoleon. Läßt er diese riesenhaften Werkzeuge aber auf dem Meeresgrunde einer Generation verrosten, dann wird ein Pugatschòff, Fouché, Louvel oder Abbé Carlos Herrera daraus. Sie besitzen eine riesige Macht über zarte Seelen, locken sie an sich und zermalmen sie. Das ist groß und schön in seiner Art, ist, wie die farbenprächtige Giftpflanze, die das Kind verlockt: die Poesie des Bösen. Menschen wie Sie sollten in Höhlen wohnen und nie hervorkommen.

Dies gigantische Leben ließest Du mich leben, und ich habe meinen vollen Anteil vom Dasein gehabt. Ich kann also meinen Kopf aus dem gordischen Knoten Deiner Politik ziehen und ihn in den Knoten meiner Halsbinde stecken. Um meinen Fehler wieder gut zu machen, übergebe ich dem Generalstaatsanwalt einen Widerruf meines Protokolls: ziehen Sie daraus Ihren Vorteil.

Nach den Bestimmungen eines regelrechten Testaments erhalten Sie, Herr Abbé, die Klostergelder wieder, die Sie unvorsichtigerweise aus väterlicher Liebe zu mir für mich verwandt haben.

Leb' also wohl, Du gewaltiges Gebilde des Bösen und der Verderbnis, – leben Sie wohl, der Sie auf gutem Wege größer als Richelieu geworden wären. Sie haben all Ihre Versprechen gehalten; ich aber sitze nun, nachdem ich Ihnen einen Zaubertraum zu danken gehabt habe – in der Zelle der Vogtei.

Tragen Sie mir kein Bedauern nach: meine Mißachtung für Sie war ebenso groß wie meine Bewunderung.

Lucien.«

»Erklärung.

Ich Endesunterzeichneter erkläre hiermit: Ich nehme alles zurück, was in dem heute durch Herrn Camusot festgestellten Protokoll als meine Aussage steht. Der Abbé Carlos Herrera nannte sich gewöhnlich meinen geistigen Vater, und ich habe mich wohl durch eine irrtümliche Auffassung des Richters zu einem Mißverständnis dieser Bezeichnung verleiten lassen.

Ich weiß, daß dunkle diplomatische Agenten aus politischen Gründen und im Kampfe gegen Geheimnisse der spanischen und französischen Kabinette den Abbé Carlos Herrera zu einem Sträfling namens Jakob Collin stempeln wollen; aber der Abbé Carlos Herrera hat mir darüber niemals anderes anvertrauen können als sein Bemühen, den Beweis von dem Tode oder der Existenz dieses Jakob Collin zu erbringen.

In der Vogtei, am 15. Mai 1830.

Lucien von Rubempré.«

Das Fieber des Selbstmordes verlieh Lucien die Gedankenklarheit und Gewandtheit, die man beim Fieber des Schaffenden kennt. Derart vermochte er diese vier Schriftstücke in knapp einer halben Stunde niederzuschreiben, zu verschließen, mit seinem Wappenring zu versiegeln und weithin sichtbar mitten auf den Boden zu legen. Mehr Würde konnte man wohl kaum in solcher falschen Lage beweisen, in die ihn so niedere Gemeinheit gebracht hatte: jetzt rettete er sein Andenken vor jeder Schande, und machte das dem Gefährten angetane Unrecht so gut, als ein Weltmann irgend die Wirkungen des Dichtervertrauens beseitigen konnte.

In einem strengen Gewahrsam hätte Lucien seinen Selbstmordplan nicht ausführen können. Aber in dem ihm zugewiesenen Vorzugsraume vermochten das Bett, der Tisch und der Stuhl die Tat zu erleichtern, weil sie nicht festgeschraubt waren. Lucien trug eine lange blauseidene Halsbinde; es galt nun noch, die Entfernung zum Gitter des Fensters zu kürzen und einen Stützpunkt zu finden. Stieg er auf den Tisch, so konnte er an die Scheiben des Fensters langen, zwei der enggerahmten Glasstücke entfernen oder zerschlagen und fand damit an der ersten Querleiste einen festen Halt, um den er die Halsbinde schlingen konnte. Er gedachte, sie durch eine Drehung um seinen Hals zu schnüren und dann den Tisch fortstoßen. Er schob also den Tisch zum Fenster, stieg hinauf, und sein Blick schweifte noch einmal über den herrlichen Anblick der Bauwerke hin, die vor diesem Fenster hinter dem Gefängnishofe wuchteten. Er sah die gotische Säulengallerie des Heiligen Ludwig, sah die kunstvollen Einzelheiten des Verbindungsbaues zwischen dem Silberturm und dem Tour Bonbec, sah die spitzen Türme und erstarrte in staunender Bewunderung. Sein Selbstmord wurde verzögert: er empfand dies erhebende Schauspiel wie ein poetisches Lebewohl der zivilisierten Schöpfung; während dieser Vorbereitungen zum Sterben fragte er sich, wie dies Wunder, das er in seiner ganzen ursprünglichen Schönheit bestaunte, für ganz Paris unbekannt bleiben konnte. Jetzt gab es zwei Luciens: einen Dichter, der im Mittelalter unter den Arkaden und Türmchen des heiligen Ludwig wandelte und einen, der sich zum Selbstmord vorbereitete.

 

Ein Drama in dem Leben einer Modedame.

Als eben Herr von Granville dem jungen Sekretär alle Anordnungen gegeben hatte, erschien der Vogteidirektor und sein Gesichtsausdruck ließ den Staatsanwalt Unheil ahnen. Er fragte: »Haben Sie Herrn Camusot getroffen?«

»Nein. Sein Schreiber Coquart ersuchte mich, des Abbé Herreras strenge Haft aufzuheben und Herrn von Rubempré freizulassen, aber es war zu spät.«

»Mein Gott, was ist denn geschehen?«

»Hier bringe ich einen Pack Briefe, die Ihnen die Katastrophe erklären werden. Der Gefängniswächter auf dem Hofe hörte Scherben klirren, der Nachbar von Herrn Lucien stieß schrille Schreie aus, weil er den Todeskampf des armen jungen Mannes hörte. Der Wächter kam gleich zurückgelaufen, ganz bleich von dem Bilde, daß sich seinen Augen dargeboten hatte: er sah den Gefangenen mit seiner Halsbinde am Fensterkreuz hängen.«

Obgleich der Direktor ganz leise sprach, bewies ein schrecklicher Schrei von Frau von Sérizy, daß unter besonderen Umständen unsere Sinne unberechenbar scharf sein können. Hatte sie es gehört oder geahnt, jedenfalls war sie, bevor Herr von Granville sich umwandte oder Herr von Sérizy und Herr von Bauvan sie hindern konnten, schnell wie ein Blitz davongejagt, zur Tür hinaus, die Galerie hindurch zur Treppe.

Eben legte ein Anwalt seinen Überwurf bei einem der Läden dieser Händlergalerie ab. Die Gräfin fragte ihn nach dem Eingang zur Vogtei.

»Hier hinunter, dann nach links das erste Tor am Uhrenkai.«

»Die Frau da ist wahnsinnig,« meinte die Händlerin, »man sollte ihr nachgehen.«

Aber keiner hätte Leontine folgen können, denn sie flog. Ein Arzt mag erklären, woher Weltdamen in kritischen Augenblicken solche Kräfte nehmen, da ihnen doch jede Übung fehlt. Die Gräfin schoß so schnell durch das Tor, daß der diensttuende Schutzmann sie nicht bemerkte. Wie eine Feder im Sturmwind schnellte sie zum Gitter und schüttelte die Eisenstange so wütend, daß die Barre, die sie gepackt hatte, zerbrach. Die beiden Stücke bohrte sie sich in die Brust, das Blut spritzte, sie fiel nieder und schrie: »Aufmachen! Aufmachen!« – mit einer Stimme, bei der es den Wächter eisig überlief.

Der Türschließer lief herbei.

»Machen Sie auf, der Generalstaatsanwalt schickt mich, um den Toten zu retten …«

Während die Gräfin durch die Straßen jagte, gingen Herr von Granville und Herr von Sérizy durch den inneren Bau nach der Vogtei, denn sie ahnten die Absicht der Gräfin. Aber so sehr sie sich auch sputeten, sie kamen doch erst an, als Leontine bereits ohnmächtig vor dem Gitter zusammenbrach und von den Schutzleuten aufgehoben wurde. Beim Erscheinen des Vogteidirektors wurde das Portal geöffnet und die Gräfin in die Schreibstube getragen. Aber sie sprang auf, faltete die Hände, fiel auf die Knie:

»Ihn sehen! Ihn sehen! Meine Herren, ich tue ja nichts Schlimmes! Aber wollen Sie mich nicht sterben sehen, dann lassen Sie mich tot oder lebendig Lucien schauen … Ach, da bist du ja, lieber Freund. Wähle zwischen meinem Tod und …«

Sie sank zusammen. »Du bist so gut,« stammelte sie noch »ich werde dich lieben.«

»Tragen wir sie fort!« meinte Herr von Bauvan.

»Nein, wir wollen in Luciens Zelle gehen,« erwiderte Granville, der in Herrn von Sérizys wilden Augen dessen Absichten las. Er packte die Gräfin, hob sie auf, und faßte sie unter den einen Arm, während Bauvan sie auf der anderen Seite stützte.

»Bitte hierüber tödliches Schweigen zu bewahren,« sagte Herr von Sérizy zu dem Direktor.

»Seien Sie beruhigt,« meinte der Direktor, »Sie haben sich sehr richtig entschlossen. Wenn diese Dame …«

»Es ist meine Frau …«

»Verzeihung. Also, wenn sie den jungen Mann erblickt, wird sie sicher bewußtlos, und derweile kann man sie in einen Wagen bringen.«

»Das dachte ich auch,« sagte der Graf. »Schicken sie einen Ihrer Leute zum Harleyhofe: der Kutscher soll hier ans Portal fahren!«

»Wir können ihn noch retten,« sagte die Gräfin, die mit einem Mut und einer Kraft einherschritt, die die Wächter überraschte. »Es gibt immer noch Mittel, ihn wieder zum Leben zurückzurufen.« Sie zerrte die beiden Beamten mit vorwärts und rief dem Wächter zu: »Voran doch, schneller, eine Sekunde bedeutet das Leben dreier Menschen!«

Als die Tür des Kerkers aufging und die Gräfin Lucien dort hängen sah, als wenn seine Kleider an einem Kleiderhaken hingen, sprang sie zuerst mit einem Satz auf ihn zu, um ihn zu packen und zu umarmen. Aber sie fiel mit dem Gesicht nach vorn zu Boden und stieß Schreie aus, die in einer Art Röcheln erstickten. Fünf Minuten später trug sie der Wagen des Grafen zu ihrem Hause. Sie lag der Länge nach auf einem Sitz, der Graf kniete vor ihr, und derweile suchte der Graf von Bauvan einen Arzt, um ihr den ersten Beistand zu leisten.

 

Wie alles endet.

Der Gefängnisdirektor betrachtete sich das Gitter der Vogtei und sagte zu seinem Schreiber: »Man hat doch keinerlei Kosten gespart! Die Eisenstangen waren geschmiedet und geprüft worden, sie waren sehr teuer, und doch hatte diese hier einen Fehler! …«

Als der Generalstaatsanwalt in sein Büro zurückkam, mußte er seinem Sekretär neue Anweisungen geben. Einige Augenblicke nach Herrn von Granvilles Abfahrt von dem Gerichtsgebäude zum Hause des Herrn von Sérizy traf Massol, der einer der Redakteure der Gerichtszeitung war, seinen Kollegen Chargeboeuf. Der junge Sekretär meinte: »Lieber Freund, wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, setzen Sie in die morgige Nummer Ihrer Zeitung unter die Gerichtsnachrichten folgende Mitteilung, für die Sie die Überschrift hinzufügen können:

»Es ist festgestellt, daß Fräulein Esther Gobseck sich selbst aus freien Stücken den Tod gegeben hat.«

»Das Alibi, das Herr Lucien van Rubempré erbringen und durch das er seine Unschuld nachweisen konnte macht seine Festnahme um so bedauerlicher, als er gerade zu der Zeit, wo der Untersuchungsrichter über seine Freilassung verfügte, plötzlich gestorben ist.«

»Ich brauche Ihnen ja nicht erst die größte Diskretion in bezug auf diese Gefälligkeit anzuempfehlen.«

»Da Sie so viel Vertrauen zu mir haben,« versetzte Massol, »gestatte ich mir einen Einwand. Diese Mitteilung wird Erörterungen hervorrufen, die für die Justiz kränkend wären … Mit zwei Sätzen ließe sich das Unglück vermeiden.«

Und er fügte der Notiz hinzu:

»Die Maßnahmen der Justiz haben mit diesem verhängnisvollen Ereignis nichts zu tun. Die Sektion, die sogleich vorgenommen wurde, ergab, daß der Tod auf den Bruch eines stark vorgeschrittenen Aneurisma zurückzuführen ist. Wäre Herr von Rubempré durch seine Verhaftung erregt worden, dann würde sein Tod früher stattgefunden haben. Wir können versichern, daß der Entschlafene seine Verhaftung niemals schwer nahm, sondern seinen Begleitern unterwegs lachend versicherte, daß sofort bei seinem Erscheinen vor der Behörde seine Unschuld erkannt würde.«

»Nicht wahr, damit wird alles gerettet!? …«

»Freilich, Sie haben recht.«

»Der Herr Generalstaatsanwalt wird Ihnen morgen dafür dankbar sein,« versetzte Massol fein. –

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Den meisten dürfte diese Schilderung unvollendet erscheinen, wenn nicht auch noch über Jakob Collins, Asiens, Europas und Paccards Schicksal trotz ihren schmachvollen Persönlichkeiten Näheres berichtet würde. So mag ein letzter Akt dies Sittengemälde vollenden und die Knoten der verschiedenen Interessen lösen, die durch Luciens Leben geschlungen wurden.


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