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Ein Blick in Balzacs Dichterwerkstatt.

Würde man das Werk, das hier vorliegt, für sich betrachten, dann könnte man sich über den Verfasser die seltsamsten Gedanken machen. Diese Welt von Dirnen, Zuhältern, Spionen, Verbrechern, Hochstaplern, Pressepiraten in buntem Gewirr zwischen Fürstinnen, Gräfinnen, Hofbeamten und Ministern könnte ja zu dem einzigen Zweck zusammengestellt sein, die Rührseligkeit und niedersten Instinkte eines wenig wertvollen oder doch gering eingeschätzten Lesers zu wecken; und ein oberflächlicher Blick würde den Gedanken an jene Erzeugnisse nahelegen, die wir als Schundliteratur bezeichnen und verwerfen. Tatsächlich aber liegen die Dinge ganz anders, und nicht nur der Name Balzac allein belehrt uns eines besseren. Einen Kampf gegen die Heuchelei nannte einst in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe (1844) der Dichter das Werk, das er der Öffentlichkeit übergab. Es steht in der großen Reihe der Bücher, die er unter dem Namen »Menschliche Komödie« später zusammengefaßt hat, und es gehört im engeren Sinne zu den Schilderungen des Pariser Lebens. Er wollte den Kampf zwischen Gesellschaftsklassen schildern, da äußere Kennzeichnung sich in seiner Zeit allgemeiner Verflachung immer mehr verwischte, und er durfte im Verfolg seiner Absicht nicht an Gestalten vorbeigehen, die ein so wichtiges Moment in diesem Ganzen bildeten. Einst wurde das als Mangel empfunden, – in jener Zeit, als man nur »Klassiker« und »Romantiker« kannte und ihn stracks zu diesen letzteren rechnete. Seitdem hat sich der Sinn des Wortes gewandelt, aber die Bezeichnung ist an ihm – gedankenlos wie immer – hängen geblieben, um ihn, nun freilich ohne Tadel, irgendwo unterzubringen. Er selbst empfand sich vielmehr als Naturalisten. In dem genannten Vorwort bemerkt er gegen das Ende hin: »Vielleicht wird man später einmal dem Autor Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man sieht, mit welcher Sorgfalt er die so merkwürdigen Gestalten der Kurtisane, des Verbrechers und ihrer Umgebung eingeführt hat und mit welcher Geduld er bemüht war, ihre Kennzeichen zu finden, mit welcher Wahrheitsliebe er die schönen Seiten ihres Wesens herausfand, mit welchen Banden er sie an die Gesamtdarstellung des Menschenherzens geknüpft hat.« Tatsächlich ist er so wenig Romantiker, wie etwa Zola Naturalist. Es ist eine der bedauerlichsten Folgen unserer Literaturgeschichtsstudien, daß die Leute mit einem Stempel versehen werden, wie die Tiere auf der Weide, und ihre Namen dann mit dieser unauslöschlichen Marke versehen in der Welt umherflattern. Zola, der nur Typen gibt, der trotz alles Bemühens, seelische Vorgänge aus dem gelegentlichen körperlichen Befinden zu erklären, bestenfalls Symbolist genannt werden könnte, wenn eine Klassifizierung überhaupt nötig ist, war so wenig Naturalist, wie sein unmittelbarer Vorgänger Balzac, mit dem ihn so vieles verknüpft, Romantiker gewesen ist. Ist dieses zähe Festhalten an einer einmal festgesetzten Richtlinie etwa romantisch? Ist es etwa romantisch, wenn ein Schriftsteller auf tausend verschiedenen Wegen zu einem einzigen Beweise hinstrebt, um ihn unwiderleglich zu machen? Ist es romantisch, daß er sich weit über die ihm von seiner Vor- und Umwelt gebotenen Mittel hinaus bemüht, das Getriebe der menschlichen Gesellschaft zu enträtseln und klarzulegen? Ist es romantisch, daß er den Schleier von so vielem fortzog, was der Heuchelgeist seiner Zeit schamhaft zu verdecken strebte? Ich könnte in einer gleichen Kette von Fragen begreiflich machen, daß Balzac auch kein Naturalist war, ja ich könnte, wenn es über den Rahmen dieser Betrachtung nicht hinausginge, sogar den Beweis führen, daß es einen Naturalismus in der Kunst überhaupt nicht gibt, denn in dem Augenblick, wo sich eine Schöpfung auf die Höhe dessen erhebt, was wir Kunst nennen, hört die nackte Natur auf. Wir besitzen abgesehen von einigen naturalistischen Versuchen tatsächlich nirgends ein wirkliches Kunstwerk, das mit Recht auf den Begriff Naturalismus Anspruch erheben könnte.

So bliebe höchstens die Frage, ob Balzac gleich Zola etwa als Symbolist bezeichnet werden könnte. Manches Anzeichen mag dazu verführen. Er hat den Versuch gemacht, in einigen seiner Personen gewisse Gesellschaftsklassen, Anschauungen und Richtungen zu symbolisieren Die Schlußworte in seinem Roman »Das Chagrinleder« beantworten die Frage nach einer der Hauptpersonen (Feodora) mit der Hindeutung: »Sie werden sie schon treffen! … Sie war gestern im Bouffe, geht heute abend in die Oper, ist überall. Sie ist, wenn Sie so wollen, die Gesellschaft, wie dies schließlich jeder größere Künstler bewußt oder unbewußt getan hat und künftighin tun wird. Solche Personen, die er als typisch in einem oder dem anderen Werke hinreichend scharf umrissen hatte, verwendete er dann in anderen Werken, ohne noch einmal genauer auf sie einzugehen. Diese Tatsache läßt sich nicht ableugnen, und mit ihr muß man bei fast jedem seiner Werke rechnen. Die Wiederkehr seiner von ihm erschaffenen Personen in den verschiedensten Teilen der »Menschlichen Komödie« ist also jedenfalls nicht auf den zumal heut beliebten Gedanken mancher Autoren zurückzuführen, der ›geneigte Leser‹ könne besondere Freude daran haben, einige ihm vertraut gewordene Gestalten von neuem zu treffen, oder etwa der kecken Spekulation zuzuschreiben, daß er dadurch ein neues Werk leichter einführen könnte. Es ist oft darauf hingewiesen worden, wie vollkommen die Gestaltungen seiner Phantasie für ihn und in ihm lebten, ja daß sie für ihn fast tatsächlicher wurden, als die eigentliche Umwelt. Aber auch abgesehen davon bildeten sie für ihn, wie gesagt, einen Gedankenkomplex, den er nicht zum zweiten Male zu formen brauchte, weil er ihm abgerundet und vollkommen schien, und er bediente sich ihrer, wie ein Maler sich der vorhandenen Farben auf seiner Palette bedient, wenn es gilt, eine bewährte oder auch eine neue Farbenmischung zu schaffen. Vor Erstarrung zu reinen Symbolen schützt ihn seine Art, Personen, die er in verschiedenen Werken verwertet, meist in ganz verschiedenen Phasen ihres Lebens auftauchen zu lassen.

Aber er ging nicht chronologisch vor. Es geschah, daß er in einem früheren Werke die letzte Lebensphase einer Persönlichkeit schilderte, um viele Jahre später dieselbe Gestalt in einem weit zurückliegenden Lebensabschnitt vorzuführen. Doch auch umgekehrt verfuhr er bisweilen und da die Fäden verschiedener Romane sich kreuzen, ist es nicht leicht, die Handlungen genau zeitlich anzuordnen. Da es ihm aber möglich gewesen ist, wenigstens den größten Teil seines gewaltigen Planes zur Ausführung zu bringen (kaum zwanzig der von ihm beabsichtigten Werke sind unausgeführt oder unvollendet geblieben), so ist doch der Leser des Gesamtwerkes in der Lage, sich von fast allen der hier und da auftauchenden Gestalten ein geschlossenes Bild zu machen, und ein einfallsreicher Kopf hat es denn auch einmal unternommen, den Lebenslauf der verschiedenen Dichtergestalten Balzacs der Reihe nach zusammenzustellen.

Die große Kunst des Verfassers besteht darin, daß er in jedem der einzeln erschienenen Werke eine in sich abgeschlossene Handlung bietet, die auch ohne Kenntnis des Vorangegangenen durchaus verständlich bleibt. Mit zwei Strichen sind scheinbare Lücken überbrückt, und Typen, die er ohne Erläuterung einführt, wirken als Schmuck und bilden eine meist wertvolle Abrundung des Ganzen. Trotzdem wird manchem eine kleine Ergänzung willkommen sein, die ein helleres Streiflicht auf einzelne der in dem Roman vorkommenden Personen wirft und winzigen Andeutungen zu größerer Bedeutsamkeit verhilft. Die männliche Hauptperson der vorliegenden Handlung oder, wenn man den Flüchtling des Bagnos in gleiche Höhe rücken will, der Held des Liebesromanes, Lucien von Rubempré ist auch die Hauptperson eines anderen Werkes von Balzac, das die ersten Erlebnisse des Apothekerssohnes Lucien Diestel behandelt und zu dem die »Kurtisanen« die unmittelbar anschließende Fortsetzung bilden. Dort wird er uns als das geschildert, was er ursprünglich war, der jugendliche Dichter, dem der Lokalpatriotismus der kleinen Provinzstadt Angoulême den Kopf verdreht, die Liebe zu einer adligen Dame Mut macht, sein Glück in Paris zu versuchen, und der bei seiner kläglichen Heimkehr nur »Verlorene Illusionen« (so heißt auch jenes Werk!) hinter sich läßt.

Diesem zum Teil auch in der Entstehungszeit vorausgehenden Werke können wir die Schilderung des Jünglings entnehmen, der später nur noch kurz als die, alle Damenherzen bezaubernde Schönheit gekennzeichnet wird. Balzac vergleicht ihn mit einem ›indischen Bacchus‹. »Sein Gesicht besaß die feinen Linien antiker Schönheit: griechische Stirn und Nase, die lichte Farbe und den Schmelz von Frauen, Augen von einem so tiefen Blau, daß es fast schwarz erschien, und voller Liebe, Augen, darin das Weiß wie bei einem Kinde glänzte. Darüber wölbten sich Brauen, als wären sie mit einem feinen chinesischen Pinsel gezeichnet, und lange kastanienbraune Wimpern warfen ihre Schatten darüber. Auf den Wangen erschimmerte seidiger Flaum von demselben Blond wie das natürlich gelockte Haar. Über den weißen Schläfen lag ein goldiger Hauch. Unvergleichlicher Adel sprach aus dem kurzen, ein wenig emporgebogenen Kinn. Auf seinen Korallenlippen, deren Rot das Weiß der Zähne noch hob, schwebte das Lächeln gefallener Engel Er besaß die Hände eines Menschen von vornehmer Abkunft, elegante Hände, deren Wink sich die Männer fügen müssen, und die Frauen gern küssen. Er war schlank, mittelgroß; sah man seine Füße, dann hätte man ihn für ein verkleidetes junges Mädchen halten mögen, zumal er gleich der Mehrzahl listiger, vielleicht sogar hinterhältiger Männer Hüften hatte wie eine Frau. Dies Kennzeichen stimmte auch, wie beinah immer, für Lucien, dessen rühriger Geist bei Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zu Gedanken der Verderbtheit hinneigte, wie sie Diplomaten zu eigen sind, die auch die schimpflichsten Mittel durch den Erfolg rechtfertigen. Große Verstandesanlagen haben nun einmal den bedenklichen Fehler, notwendig alles zu umfassen, Laster sowohl wie Tugenden.«

Dieser Charakter, der ebenso treffend wie bedeutungsvoll für den Gang der Handlung ist, mußte notwendig bei den ersten Pariser Verführungen zweierlei Folgen nach sich ziehen: Erstens alle Fehler, die Eitelkeit im Umgange mit der Gesellschaft zur Folge hat, und zweitens die Abwendung von ernsthaften Schwierigkeiten des Berufes, die Sucht, zu schnellen, glänzenden Erfolgen zu gelangen.

Vielleicht ist das effeminierte Wesen der Gegenwart einer der Hauptgründe dafür, daß sich die Verhältnisse wirtschaftlich so gestaltet haben, wie wir es seit dem Ausgange des vorigen Jahrhunderts in zunehmendem Maße erleben. Woher könnte man sonst die Erklärung für die Abneigung nehmen, ruhig und hartnäckig, langsam aber sicher emporzusteigen, für den Drang, – gleichgültig auf welchem Wege – zu schnellstem Erfolge zu gelangen, wenn auch die Gewähr für jede Dauer fehlt? Ich halte es für eine der glücklichsten Beobachtungen Balzacs, daß er mit dieser Charakteristik Luciens nicht nur seine Schwäche gegenüber Einflüssen begründet wie sie ein Collin auf ihn ausübt, sondern auch den erfolgsüchtigen Drang des Dichters, der ihn bald auf den Gipfel äußerlicher Ehren, bald in die Tiefen verachtungsvollen Elendes wirft. Nicht alles, was er bei seinem ersten Auftreten in Paris erlebt, hängt freilich damit zusammen. Die Abwendung seiner adligen Freundin, einer Kusine der Marquise d'Espard, ist genügend durch die Veränderung der Umgebung erklärt, die den Provinzjüngling neben eleganten Pariser Herrschaften, sogar neben dem frischgeadelten Châtelet, begreiflicherweise recht kläglich erscheinen läßt. Und für die schändlichen Verhältnisse der Journalistenkreise, in die er gutmeinend gerät, kann man ihn auch nicht verantwortlich machen. Aber daß er zum völligen Sklaven einer Schauspielerin recht lockeren Lebenswandels wird, daß er aus ihrer Tasche lebt, um seiner Eitelkeit und seinen Genüssen zu frönen, das gehört genau so zu seinem Charakter, wie der haltlose Zusammenbruch als die verliebte Freundin Coralie in ihrer Laufbahn scheitert und vor Gram und Aufregung ihr Leben einbüßt. Man vergleiche mit diesen Erlebnissen den Lebensgang einer anderen Persönlichkeit, die Balzac fast unter den gleichen Verhältnissen aus der gleichen Gegend nach Paris kommen und sich aus völliger Mittellosigkeit zu höchsten Stellungen emporarbeiten läßt: Eugen von Rastignac! Er, dessen erste Schritte in Paris Balzac in der Erzählung »Vater Goriot« schildert, hält sich von vornherein an die guten gesellschaftlichen Beziehungen, die sich ihm, nicht viel günstiger als Lucien, bieten. Aber wenn er auch ebenfalls bedenkenlos in der Benutzung fremder Geldbeutel ist, und gleich Lucien eine Frau für seine Bedürfnisse sorgen läßt, so versteht er es doch wenigstens, Personen zu gewinnen, die seiner Entwicklung von wirklichem Vorteil sind: Die schöne Frau des Barons von Nüßingen, des rücksichtslosen Spekulanten (Luchs!) und Großkapitalisten, der auch in der vorliegenden Geschichte eine bedeutsame Rolle spielt, ist zwar die schlichte Tochter eines in der Revolution reichgewordenen Mehlhändlers, und dadurch besonders darauf angewiesen, aus ihrem Hause, das ein recht zweifelhafter Adel ziert, durch einen jungen Mann aus edler Familie in die wirklich gute Gesellschaft zu gelangen; aber dafür kann sie dem jungen Mann auch ihrerseits etwas bieten, und eine andere Geschichte Balzacs, »Das Haus Nüßingen« (Balzac gebraucht eine Französisierung dieses Namens – Nucingen –, die in einer deutschen Übertragung überflüssig erscheint) schildert eine der großen Schiebungen, der auch Rastignac ein ansehnliches Vermögen verdankt. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Jünglingen ist der durchaus männliche Zug im Wesen Eugens, der weibliche im Wesen Luciens. Durch diesen Unterschied wird der eine Minister, der andere ein auf schwankendem Boden stehender Salonlöwe, den unvermeidlich eines Tages das Verhängnis vernichten muß.

Balzac hat gern derartige jungaufstrebende Männer, und zumal Dichter geschildert, und fast immer ließ er sie den Weg aus der Ruhe der Provinz, nicht nach Paris im allgemeinen, sondern in und durch die Sümpfe der Pariser Gesellschaft nehmen. Er zeigte, wer zum Ziele kommt, wer scheitern muß, und selbst seine Lieblingsgestalt, der Dichter d'Arthèz, in dem er zum Teil sich selbst abmalte, kann trotz allen edlen Charakterzügen und schönen Tugenden nicht ohne eine Kapitulation vor Pariser Sittenlosigkeit auskommen. Denn in so viel hochstehende Empfindungen er auch dessen Liebe zu der Herzogin von Maufrigneuse einwickelt, – am Ende ist es doch eine Dame, die ein reich bewegtes Liebesleben bereits hinter sich hat, und auch hierin kann also der besondere Zug, der dem Begriffe Pariser Leben anhaftet, nicht verleugnet und umgangen werden.

Obgleich Balzac ihm in anderen Romanreihen der »Menschlichen Komödie« auch das stillere, reinere Leben der Provinz gegenüberstellt (in der vorliegenden Geschichte ragt es in den Gestalten der Schwester und des Schwagers von Lucien wie eine Insel in das bewegte Pariser Lebensmeer hinein), so war er doch geneigt, überall dort, wo wirkliches Leben pulst, gewisse Grundgesetze für unabweislich zu halten, die er gelegentlich unzweideutig einigen seiner Gestalten in den Mund legt und natürlich immer wieder auf Paris bezieht.

Rastignacs hochgestellte Verwandte, Frau von Beauséant, belehrt ihren unerfahrenen Vetter in einem Augenblick von ganz ungesellschaftlicher Offenheit über die Mittel, durch die es ein über den Dingen stehender Mensch zum Erfolge bringt, mit den Worten: »Behandeln Sie die Welt, wie sie es verdient! … Sie sollen kennen lernen, wie tief verderbt die Frauen, wie jämmerlich eitel die Männer sind … Je kühler Ihr Urteil ist, um so weiter werden Sie es bringen. Schlagen Sie mitleidlos drein, dann wird man Angst vor Ihnen haben! Betrachten Sie Männer und Frauen nur als Postpferde, die bei jeder Station von Ihnen ausgewechselt werden, und die Sie krepieren lassen: dann kommen Sie ans Ziel Ihrer Wünsche … Besitzen Sie wahre Gefühle, dann verhehlen Sie das wie einen Schatz; lassen Sie es niemanden ahnen, sonst sind Sie verloren. Statt des Henkers wären Sie dann das Opfer. Sollten Sie etwa lieben, dann behüten Sie sorglich Ihr Geheimnis, lassen Sie nichts davon merken, bevor Sie wissen, wem Sie Ihr Herz enthüllen. Um solche Liebe zu verbergen, bevor Sie noch in Ihnen emporwächst, lernen Sie, der Welt zu mißtrauen … Machen Sie sich zum Ritter einer schönen (gutgestellten) Frau! Dann werden die Frauen wie närrisch hinter Ihnen her sein. All ihre Nebenbuhlerinnen, ja gerade die besten Freundinnen werden alles darauf anlegen, um Sie ihr auszuspannen. Manche Frauen lieben nur einen Mann, den eine andere sich erwählt hat … Dann also haben Sie Erfolge, und in Paris sind Erfolge alles: sie sind der Schlüssel zur Macht. Finden die Frauen, daß Sie Geist und Gaben haben, dann werden auch die Männer es glauben, wenn Sie diese nicht enttäuschen. Dann können Sie nach dem Höchsten greifen, überall den Fuß hinsetzen, lernen die Welt kennen und erfahren, daß sie nur aus einem Haufen von Dummköpfen und Schwindlern besteht. Aber lassen Sie sich weder mit den einen noch mit den andern ein!« (Vater Goriot.)

Das sind die Grundsätze, deren Befolgung Rastignac seinen Aufstieg verdankt. Sie erklingen im Munde einer schönen Frau der Hofgesellschaft. Aber sind sie so wesentlich von den Lehren unterschieden, die Collin, der zu Zwangsarbeiten verurteilte, mehrmals dem Bagno entsprungene Fälscher und Häuptling der Verbrecherwelt seinem Hausgenossen Rastignac gibt, weil er ihn gern zum Schüler haben möchte, wie er später Lucien zu seinem Werkzeug macht? Balzac wollte in ihm die Verkörperung des gesetzlosen bösen Willens im Kampfe mit der Gesellschaft darstellen, er wollte die bedenkenlose Verderbtheit in all ihren verhängnisvollen Eigenschaften kennzeichnen, die so wenig einer gewissen Größe in des Dichters Augen entbehren, wie umgekehrt die gerade besten Eigenschaften ihre bedenklichen Seiten für ihn haben. Sicherlich ist es eine der schönsten und lockendsten Aufgaben für einen Sittenschilderer, die Nachteile menschlicher Vorzüge wie die Vorzüge menschlicher Fehler zu erfassen und begreiflich zu machen. Vielleicht ist es sogar das wichtigste aller Probleme im Menschenleben, daß alle Dinge zwei Seiten haben, die niemals miteinander zu vereinigen sind, obgleich sie durch ihre Zugehörigkeit zu demselben aufs innigste vereinigt scheinen. Wäre einer der vielen Kämpfe, die zu allen Zeiten in der Menschheit ausgefochten worden sind und weiter durchgekämpft werden, überhaupt denkbar, wenn nicht je nach der Art der Anschauung dem einen diese, dem anderen jene Seite eines Problems als die natürliche, selbstverständliche und überzeugende erschiene? Ein Teil der Menschheit sieht eben nur das Recht, der andere nur das Unrecht einer Sache, und wer beide sieht, bleibt gewöhnlich unentschlossen, tatenlos vor dem Problem stehen! Eine milde Gabe kann Glück und Unglück stiften, Krieg wie Frieden können als Schaden oder die Grundlage zu schönstem Gedeihen hingestellt werden, jeder politische Grundsatz hat Überzeugendes für sich und wider sich. Wäre das nicht, dann wäre die eine Hälfte der Menschheit nur ein Haufen von Idioten, der am besten in einer Irrenanstalt untergebracht würde!

Ein Mensch wie Collin sieht natürlich vor allem das, was er in seiner Verbrechernatur begreiflich und überzeugend finden kann, er verficht seinen Standpunkt mit einem Geschick, das vor allem schwache Naturen, wie Lucien, blenden muß, aber auch andere, die nicht von flachster Spießbürgerlichkeit verblödet sind, nachdenklich machen muß. So bleiben denn bei Rastignac manche seiner Anschauungen nicht unbeachtet, und man versteht, daß die dämonische Glut dieses höllischen Lehrmeisters auf den ehrgeizigen jungen Mann, der schon aus schönem Munde so eigenartige Wahrheiten vernommen hatte, ansteckend wirken mußte. Collin faßt seine Lehren, die wir als die Grundlage der Verwandlung in Lucien hierhersetzen müssen, in die aufpeitschenden Worte:

»Auf schnellstem Wege Schätze sammeln ist ein Ziel, das heute mindestens fünfzigtausend junge Leute in der gleichen Lage wie Sie vor Augen haben … Denken Sie sich nun einmal, was sie für Kräfte aufzuwenden, wie sie zu kämpfen und abzuschlachten haben! Diese Leute müssen einander auffressen, wie Spinnen in einem Topf, denn es gibt selbstverständlich keine fünfzigtausend glänzende Stellungen. Wissen Sie, wie man hier seinen Weg macht? Dazu braucht man funkelnde Gaben oder gewandte Verruchtheit. Entweder man dröhnt in diese Menschenfülle hinein wie eine Kanonenkugel, oder man schleicht sich ein wie die Pest. Ehrenhaftigkeit ist nutzlos: vor der Macht des Genius beugen sich die Leute, hassen ihn, suchen ihn anzuschwärzen und zu stürzen, denn er nimmt, ohne mit andern zu teilen. Aber man beugt sich doch, wenn er sich durchzusetzen weiß. Kurz: kann man ihn nicht im Kot begraben, dann wirft man sich vor ihm auf die Knie. Aber Genie ist selten, Verruchtheit häufig. Sie ist daher die Waffe des Mittelmaßes, und darum werden Sie überall darauf stoßen … Der Ehrenmann ist für alle der Feind. Aber wen halten Sie eigentlich für einen Ehrenmann? In Paris ist es ein Mensch, der den Mund hält, ohne dafür etwas abzubekommen. Von den armen Dienstseelen, die danklos für andere in die Bresche springen, will ich nicht reden. Bei ihnen wohnt freilich in all ihrer blühenden Dummheit die Tugend, aber auch das Elend … Wollen Sie also schnell Ihr Glück machen, dann müssen Sie reich sein oder es wenigstens scheinen. Um reich zu werden, muß man einen großen Schlag tun, sonst ist es nur ein jämmerliches Karrenschieben! Bringen es in hundert der Ihnen erreichbaren Berufe zehn Männer zu Erfolgen, dann kennzeichnet die Öffentlichkeit sie als Diebe. Machen Sie sich das klar: so ist das Leben! Wenig anmutend, übelriechend, wie eine Küche, in der man sich die Hände besudelt, um ein gutes Essen zu haben. Die Hauptkunst besteht darin, sich rein zu waschen. Das ist die ganze Moral unserer Zeit … Aber so ist die Welt immer gewesen; Moralprediger werden sie nicht ändern. Der Mensch ist eben unvollkommen. Bald heuchelt er mehr, bald weniger, und Toren nennen ihn dann sittlich oder unsittlich. Mir scheint der Reiche keineswegs schlimmer als der Pöbel: der Mensch bleibt sich gleich, ob er nun oben, unten oder in der Mitte steht. Auf jede Million dieser höchsten Lebewesen kommen vielleicht zehn ganze Kerle, die sich über alles hinwegsetzen, auch über das Gesetz! Sind Sie ein überragender Mensch, dann gehen Sie geradezu und erhobenen Hauptes Ihren Weg voran. Aber das heißt: mit Neid, Verleumdung, Mittelmäßigkeit, – mit der ganzen Welt kämpfen … Paris ist wie ein Urwald in der Neuen Welt, in dem zwanzig wilde Völker umherziehen und allesamt von den Erträgnissen der verschiedenen Gesellschaftsklassen leben. Auch Sie sind ein Millionenjäger, und um die Million zu erhaschen, müssen Sie sich der Fallen, Schlingen und Lockmittel bedienen. Es gibt verschiedene Jagdweisen: Die einen jagen einer Mitgift nach, die andern einer Erbschaft; hier werden Leute mit schlechtem Gewissen gefischt, dort die Opfer mit gebundenen Händen und Füßen verhandelt. Wer mit voller Jagdtasche heimkommt, wird feierlich begrüßt und in die gute Gesellschaft aufgenommen …«

Nicht umsonst zieht dieser Mann, der solche Grundsätze aufstellt, die Welt mit solchen Augen betrachtet, fortwährend Vergleiche zwischen seiner Denkart und den Anschauungen bzw. Handlungen rücksichtsloser Eroberernaturen, wie die Geschichte sie uns, und besonders dem Balzac zum Beginne des 19. Jahrhunderts in Napoleon eindringlich vor Augen hielt. Auch Collin kämpft nicht für sich allein: wie er für Balzac der Vertreter einer ganzen Menschenschicht ist, die sich nicht in den Rahmen der in Europa herrschenden Gesellschaftsregeln ohne gewisse Katastrophen hineinpressen, darin erhalten kann, so vertritt er auch in seinem Kampfe diese Klasse, die er stets hinter sich fühlt. Nicht nur aus rein technischen Gründen hat ihn sicherlich Balzac zum »Treuhänder« der Bagnobewohner gemacht: er ist der König, der »Dab« der Verbrecher, weil er ihr Vorkämpfer ist. Ihm vertrauen sie das gestohlene und erbeutete Geld an, das er für sie verwaltet, dem entlassenen Sträfling mit Zinsen aushändigt oder der Geliebten oder sonst einem Erben des Hingerichteten zuweist. Collins Taten in Paris, die das vorliegende Buch schildert, sind entweder ein schwerer Verstoß gegen die zwischen Verbrechern geltenden unantastbaren »Rechtsgrundsätze«, die kameradschaftliche Ehrlichkeit atmen, oder sie sind eine gewagte Spekulation, die der entlaufene Sträfling nicht allein um seinetwillen, sondern auch zugunsten des ihm anvertrauten Kapitals macht, indem er es zur Begründung seiner pfiffig erdachten Laufbahn benutzt. Balzac läßt diese Frage bis zu einem gewissen Grade unentschieden. Der ursprüngliche Vertrauensbruch wird im letzten Teile in ein anderes Licht gerückt, und das Ende des Romans eröffnet zugleich mit der Umkehr zu einem geregelten Beruf auch die Aussicht, daß die »Vermögensverwaltung« wieder in die alten Bahnen zurückkehrt.

Dieser Mensch, dessen Erlebnisse über den Rahmen des eigentlichen Liebesromanes ziemlich weit hinauslangen, wird im »Vater Goriot« in einer früheren Phase seines Lebens äußerlich genauer geschildert: »Er gehörte zu den Leuten, die der Volksmund einen ›prächtigen Kerl‹ nennt. Breite Schultern, eine gewölbte Brust, eherne Muskeln, dicke, eckige, glührote Hände mit dichten Haarbüscheln an sämtlichen Fingergliedern. Die Härte seines tiefdurchfurchten Gesichts widersprach seinem freundlichen, anschmeichelnden Wesen. Die tiefe Stimme paßte zu seiner derben Fröhlichkeit und war recht ansprechend. Er spaßte gern, legte es immer darauf an, sich beliebt zu machen. Schlösser, die nicht gingen, schraubte er ab, reinigte, ölte, feilte sie und brachte sie wieder in Ordnung. In allem wußte er Bescheid: Schiffahrt, Meereskunde, Frankreich, dem Ausland; kannte Geschäfte, Menschen, Ereignisse, Gesetze, Gasthöfe und Gefängnisse … Alles, was seine Umgebung betraf, wußte oder erriet er, während keiner von seinen Gedanken oder Handlungen etwas ahnte. Aber hinter seiner scheinbaren Gutmütigkeit, der ewigen Freundlichkeit und Lustigkeit ragte eine Art Schutzmauer zwischen ihm und den anderen, und dahinter gähnte etwas wie ein furchtbarer Abgrund in seinem Wesen.«

Ein anderer als Balzac hätte mit solcher Gestalt einen Kriminalroman erschaffen, aber dem Dichter kam es darauf an, nicht nur in das Verbrecherleben, sondern auch in das Gerichtswesen, die Einzelheiten des Gefängnislebens, des Untersuchungsverfahrens und anderer sozialer und politischer Dinge hineinblicken zu lassen, die Balzac selbst in seiner Lehrzeit als Rechtsanwaltsgehilfe mit allen ihren Vorzügen und Schattenseiten kennen gelernt hatte. Vieles hat auch für die Gegenwart und uns Geltung, aber noch mehr ist nur für den von Interesse, der sich mit Zuständen vergangener Zeiten beschäftigen und diese Kenntnis in Roman-Form erwerben will. Balzac verfiel dabei, wie bei all seinen Schilderungen von Örtlichkeiten, Zuständen, Klassen und Personen in den Fehler arger, in solchem Zusammenhang oft unerträglicher Breiten, die allein die Schuld tragen, wenn der Glanz des Balzacschen Buches zeitweilig verblaßt schien. Deshalb war es eine Sorge der vorliegenden Bearbeitung, solche Dinge auszuscheiden, die in einer Sonderbehandlung zweifellos noch heute wirkliches Interesse wecken können. Ebenso mußten die vielen historischen Reminiszenzen, aber auch die Andeutungen und Einflechtungen fallen, die mehr in Rücksicht auf andere Werke ihren Platz in dem vorliegenden Roman gefunden hatten, ohne die Handlung wesentlich zu bereichern. Es wäre ein Unglück, wenn die wirklich noch durch und durch lebensfrischen Schöpfungen des Dichters um solcher Einzelheiten willen leiden sollten. All diese Menschen, die uns der Dichter vorführt, leben um uns, wenn sie hier auch auf die höhere Plattform gehoben sind, die das Kunstwerk erfordert. Das Schicksal des emporstrebenden, erfolgsuchenden Provinzpoeten mit schönen Gaben und schwachem Charakter, der in der Großstadt sein Glück sucht, kehrt täglich wieder, täglich kämpft ein Kreis von Menschen mit den Fesseln europäischer Gesetze und Gesellschaftsnormen, statt sich, wie es ja dennoch ernstlich zu bedenken wäre, in ungebundeneren, etwa kolonialen Verhältnissen seinen Anlagen gemäß zu betätigen. (Hat man denn immer noch vergessen, daß ein großer Kern der weißen amerikanischen Bevölkerung auf Menschen zurückzuführen ist, die als lästige Mitbürger oder sogar als Verbrecher geflüchtet oder deportiert worden sind?) Noch immer gibt es unglückliche Mädchen, die in den Schmutz des Großstadtlebens hineingestoßen sind und sich mit allen Fibern ihrer Seele in ein reineres, schöneres Dasein hineinsehnen. Noch immer und vielleicht noch mehr als früher Geldmenschen wie diesen Nüßingen, der erst als Greis in einer verspäteten Liebe sein Herz und seine lebenslang schlummernden, weicheren Gefühlssaiten entdeckt und zum Schwingen gebracht sieht. Noch immer gibt es Gerichtspersonen, die in den Tiefen ihres Herzens die Konflikte ihres Berufes und ihrer Stellung durchleben, gibt es bedenkenlose Ehrgeizlinge, sittenlose Gesellschaftsmenschen, Journalisten, die ihres erhabenen Berufes nicht wert sind, Spione, Polizeispitzel und wie die Scharen alle heißen mögen, die des Dichters Schöpferkraft uns in buntem Wirbel vorführt. Sie mögen in diesem neuen Gewande die Aufgabe erfüllen, die ihnen mit auf den Weg gegeben wurde, als Balzac sie erschuf: Bekehren, ergreifen und unterhalten!

Theodor Ritter von Riba.


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